Rabenherz auf der Route 66 - Carole Enz - E-Book

Rabenherz auf der Route 66 E-Book

Carole Enz

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Beschreibung

Die Rabenherz-Teenies Margarethe, Rudy, Seraina und Leon wollen nach so vielen Zeitreisen endlich ihre Ruhe finden und einfach das Leben geniessen, doch ihre Camper-Ferien geraten ausser Kontrolle. Endlich Sommerferien! Leon macht am Monterey Bay Aquarium in den USA ein Praktikum. Als sich dieses dem Ende zuneigt, stossen Margarethe, Rudy und Seraina dazu. Zu viert mieten sie einen alten Camper und fahren vergnügt auf der Route 66 umher. Weil Rudy aus Übermut geheime Daten aus dem Silicon Valley entwendet, sind bald die Geheimdienste hinter ihnen her. Aber nicht nur in der Gegenwart werden sie gejagt. Die ruhelosen Seelen der amerikanischen Ureinwohner entführen die beiden Mädchen zurück in der Zeit. Ein verzweifelter Leon bleibt zurück. Und wie soll Zeitreise-Rabe Plonk in der fernen Schweiz begreifen, dass er dringend in den USA gebraucht wird? Die Historikerin Michèle Combaz Thyssen und die Biologin Carole Enz schicken in Teil 7 von Rabenherz ihre Helden auf einen Roadtrip durch Amerika - auf dem Asphalt und in Trance.

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Die letzte Nacht

2 Blick nach vorne und zurück

3 Zwei Engel für Rudy

4 Die Rückkehr der Seeotter

5 Gegrillt im Tal des Todes

6 Der Asphalt gehört uns!

7 Schlachtplan oder Planungsschlacht?

8 Auf glühendem Asphalt

9 Schwebende Juwelen und steinerne Raben

10 Leon und Rudy unter Zugzwang

11 Rettung auf Flügeln und Hufen

12 Auf Rabenschwingen in die Freiheit

13 Die magischen Felsfiguren

14 Ein Fenster zum Himmel

15 Die Regenbogenbrücke

16 Sieben Raben und versteinerte Bäume

17 Von Santa Fe zu den Indianerhöhlen

18 Vier Totemtiere und ein Schamane

19 Die Nacht der vier Wahrheiten

20 Die Würfel sind gefallen

21 Die Trance-Trommel

22 Das Duell

Epilog

Anhang (Historische Fakten, Dank,

Literaturverzeichnis, Autorinnen-Portrait)

Für all jene, die mit uns in den USA gewesen und teilweise sogar Abschnitte der Route 66 abgefahren sind.

Prolog

«Take it easy…», dudelt Musik aus dem Radio, welche perfekt zur Landschaft passt, die vorbeizieht, während das Wohnmobil Kilometer um Kilometer abspult. Die wilden blonden Locken des Fahrers tanzen im Fahrtwind; durch das offene Fenster weht trockene Wüstenluft herein. «Wahnsinn!», keucht die Beifahrerin, die ihre langen gebräunten Beine hochgelagert hat auf dem Armaturenbrett und ihren Ellenbogen aus dem Autofenster hängen lässt. Sie saugt die Szenerie regelrecht in sich auf: die in der Abendsonne rötlich schimmernden Felsen, den hellen Sand, die spärliche Vegetation, den Himmel, der in unglaublichen Farben über allem prangt wie eine Decke. – «Unglaublich chillig, was?», bemerkt der gut aussehende junge Mann am Steuer und lächelt seine Freundin an. Sie seufzt wohlig: «Ich kann es kaum fassen! Wir sind hier, in der Wüste, zusammen… und ich habe das Zeitgefühl völlig verloren!» – «Das ist ja nix Neues!», ruft eine männliche Stimme aus dem Bauch des Wohnmobils heraus. «Das passiert uns doch regelmässig auf unseren Reisen, egal, ob wir im Hier und Jetzt reisen oder in einer anderen Raumzeit!» – «Mein Rudolfino hat Recht wie immer!», bemerkt eine weibliche Stimme. «Aber das ist doch egal, was interessieren uns Zeit und Raum? Hauptsache, wir sind zusammen hier!»

Der Fahrer lacht zufrieden: «Das ist das wahre Leben! Einfach weiterfahren, durch die Wüste, und nie mehr anhalten!» – «Und irgendwann verhungern!», tut seine Beifahrerin ihren Sarkasmus kund, greift hinter den Autositz und angelt eine grosse Chipstüte hervor. – «Lasst Mäggy bloss nicht an die Chips, sonst ist die Packung leer!», warnt die weibliche Stimme von hinten, und als die Naschkatze erneut in die Tüte fasst, versucht eine Hand, die aus dem Dunkeln kam, ihr die Packung zu entreissen. «Hee, das sind meine Chips, die habe ich selber gekauft!», schimpft die Hungrige spielerisch, aber ihre Nahrungskonkurrentin gibt den Griff an den Leckereien nicht auf und lacht laut: «Ich will auch Chips, du Fresssack!» – «Hee, Ladies, ihr werdet euch doch nicht über ein paar lausige gebratene Kartoffelscheibchen prügeln!», grölt der Fahrer und versucht seinerseits, die Packung zu erhaschen, erwischt aber stattdessen das T-Shirt einer der Kämpferinnen um die fettigen Knabbereien. «Hee, du Wüstling!», schimpft die Ertappte scheinbar entrüstet. «Rudolfino mio, der Löwe will mir an die Wäsche!» – «Unverschämt!», reagiert der Mann aus dem Bauch des Wohnmobils unbeeindruckt. «Aber machen wir doch mal Halt an einer Fressbude, bevor die Mädels hier komplett austicken!»

Gesagt, getan. Bald gerät eine Tankstelle ins Sichtfeld der vier Reisenden, und der Fahrer hält an. Die Beifahrerin öffnet die Türe der Fahrerkabine und klettert flink hinaus. «Mäg, holst du mir eine Cola?», bittet der Fahrer, dann klappt er den Fahrersitz in die Liegeposition und macht es sich gemütlich. Rudy klettert nach vorne und setzt sich auf den Beifahrersitz: «Ich brauch mal ’ne andere Perspektive, Leo!» Dieser nickt zufrieden «Das dauert sicher ’ne Weile, denn da vorne ist noch so ’ne Art Souvenirshop», bemerkt Leon. «Da sind die Mädels beschäftigt!» – «Raina, bringst du mir ein Sandwich oder so was in der Art?», bittet Rudy seine Freundin, welche auch gerade aus dem Wohnmobil geklettert ist, allerdings durch die seitliche Türe in der Mitte des Vehikels. Munter plaudernd schlendern die jungen Frauen in Richtung Tankstellenshop. «Erst mal die lebensnotwendigen Fressalien, und dann schauen wir mal, was diese Indianerinnen dort an dem Stand verkaufen», schlägt Margarethe munter vor. – «Pscht, man sagt doch <Native Americans>, <Indianer> ist politisch nicht korrekt!», weist Seraina sie zurecht. – «Sorry, ich mein das doch nicht respektlos!», verteidigt sich Margarethe. Nach kurzer Zeit kommen sie mit Lebensmitteln bewaffnet aus dem Laden und bringen Milch, Brot, Früchte, Chips und andere gesunde oder weniger gesunde Nahrungsmittel zum Wohnmobil, wo Rudy alles durchs Autofenster entgegennimmt. Dann machen sie sich auf zum Stand, welcher die Mädchen magisch anzieht. «Schau mal, ein Amulett mit einem Raben!», erkennt Seraina schon von Weitem. – «Wunderschön, mit all den verschiedenfarbigen Steinen!», staunt Margarethe. – «Das sind alles Tiere aus der Gegend, geschnitzt aus Türkis, Karneol, Jaspis…», erklärt eine der Verkäuferinnen freundlich auf Englisch. «Hergestellt von Native Americans.» – «Wow!», staunen die Mädchen. Die Frau hält ein Messer in der Hand, mit welchem sie an einem Stein schnitzt – was für ein Tier das wird, ist noch nicht erkennbar. Der grosse Rabe in der Mitte des Amuletts hat es Margarethe ganz besonders angetan. Ihr Blick schweift vom Messer, das wie ein kleines Schwert wirkt, zur Rabenfigur. Sie betrachtet den Vogel genauer, und sie glaubt, ein Krächzen zu hören. Das kann doch nicht sein…

…Margarethe kommt wieder zu sich und spürt Holz in ihrem Rücken, als würde sie sich an einen Baum lehnen. Sie legt ihren Kopf in den Nacken und sieht farbige Fratzen über sich. «Wo zum Kuckuck sind wir?», fragt sie aufs Geratewohl und vernimmt dann neben sich die Stimme ihrer besten Freundin: «Wir stecken im Schlamassel – am Marterpfahl!»

* * *

1

Die letzte Nacht

Margarethe seufzt: «Ich bin traurig, überhaupt nicht in Stimmung. Leon legt ihr sanft einen Arm um die Schultern, zieht seine Freundin an sich und küsst sie zärtlich. Sie aber kann sich nicht so richtig auf den Kuss einlassen und blickt ins Leere, als wäre sie in Gedanken weit weg. «Brauchst du ein Hilfsmittel?», fragt ihr Freund und bietet ihr Schokolade an. «Wollen wir uns Lasses Video zu Gemüte führen? Oder einen anderen Film? Ich würde mir gern einen runterholen!» – «He, sei doch nicht so vulgär!», weist das Mädchen ihn zurecht, wohl wissend, dass ihr Liebster einen Hang zu zweideutigen Sprüchen hat. Dieser lacht: «Ach was, ich wollte doch nur einen Film vom Regal runterholen, nix anderes!» Sie grinst: «Aber das andere ist dann die Folge!» – «Blödsinn!», widerspricht er ihr und packt sie, um sie rücklings aufs Sofa zu legen. Während er seine Hand unter ihr Oberteil wandern lässt, stellt er klar: «Wenn du dabei bist, brauch ich doch kein Do-it-yourself!» Sie lächelt ihn zuckersüss an, dann reisst sie an seinem T-Shirt und zieht es ihm über den Kopf, um seinen muskulösen Rücken zu streicheln. «Na hoffentlich auch nicht, sonst wäre ich beleidigt!» Sie verwuschelt seine wilden Locken, während er sie auf die Brust küsst und mit seinen Lippen dann zu ihrem Bauchnabel hinunterwandert. Schon hat er den Knopf ihrer Jeans geöffnet… Lustvoll stöhnt das Mädchen auf.

* * *

«Das ist die letzte Nacht… für längere Zeit!», seufzt Leon erschöpft und umarmt seine Mäg erneut leidenschaftlich. Die beiden lieben sich inbrünstig in Leons Bett, Sie haben die ganze Nacht fast nicht geschlafen, und der Morgen graut bereits. «Wir haben echt langsam Ausdauer!», bemerkt Margarethe müde, aber glücklich. – «Da hat die Wellnessgrotte von Pelinn offenbar doch Wunder gewirkt!», grinst Leon. «Mit oder ohne Film!» Dann werden beide nachdenklich, und die Stimmung kippt. Die junge Frau klammert sich an ihrem Liebsten fest und jammert – verzweifelt.

«Wie soll ich das bloss überleben, ohne dich?» – «Meinst du, ohne mich oder ohne das Liebesspiel mit mir?», neckt ihr Freund sie und streichelt sie zärtlich. «Ich werde dich allerdings auch fürchterlich vermissen!» Beide sind deprimiert, wohl wissend, dass sie jetzt ganze sechs Wochen getrennt sein werden – eine kleine Zeitspanne, doch eine Ewigkeit für ein Liebespaar. Margarethe seufzt: «Das ist eine echte Tortur! Musst du wirklich nach Kalifornien?» Leon holt tief Luft und blickt verklärt in die Ferne: «Weisst du, für mich ist das eine grossartige Gelegenheit, ein Praktikum zu machen – stell dir vor, im Monterey Bay Aquarium! Das ist fantastisch!» Seine Freundin ist hin- und hergerissen zwischen zwei Emotionen: Einerseits gönnt sie es ihrem Liebsten von Herzen, dass er diese Möglichkeit hat, zu Beginn der Semesterferien, sobald die Vorlesungen des ersten Studienjahrs zu Ende sind, an einem von der Universität Zürich eingefädelten Studentenaustausch teilzunehmen. Andererseits hat sie Angst vor der Trennung und vor der Sehnsucht nach ihm. Seit sie ein Paar sind, waren sie noch nie länger als ein paar wenige Tage getrennt gewesen. «Weisst du, es ist besser, wenn ich es jetzt mache, am Anfang der Semesterferien – diesen Herbst habe ich bereits die ersten Prüfungen, die letzten sechs Ferienwochen werde ich zuhause mit Büffeln verbringen. Dafür können wir die mittleren drei Ferienwochen, anschliessend an mein Praktikum, mit einer Reise auf der Route 66 verbinden!» Margarethe lächelt, weil sie sich darauf freut, Leon im Sommer in Kalifornien zu treffen und mit ihm dann drei Wochen im Wohnmobil herumzureisen – so ist es zumindest geplant. Und ihre besten Freunde Seraina und Rudy werden mitreisen. – «Ja, ich freue mich auf die Reise! Auch wenn wir besser zwei Wohnmobile mieten würden…»

* * *

Für Margarethe fühlt sich die Zugfahrt zum Flughafen wie der Gang zum Schafott an: In weniger als einer Stunde ist die Trennung unvermeidlich: Dann wird sie Leon sechs Wochen lang nicht mehr sehen. Das Liebespaar ist sichtlich angespannt. Sie sprechen im Zugabteil kaum miteinander, die Stimmung ist am Tiefpunkt angelangt. Leon drückt seine Freundin an sich – beinahe klammernd. Margarethe ist den Tränen nahe. Und Leon, der freiheitsliebende Löwe, denkt in einem schwachen Moment daran, seine Reise einfach abzublasen und bei seiner Mäg zu bleiben. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er zwischen zwei Wünschen hin- und hergerissen: bei seiner grossen Liebe bleiben oder eine einzigartige berufliche Gelegenheit beim Schopf packen. Bisher hat er immer das getan, wonach ihm zumute war. Als er noch mit seinen Eltern unterwegs war, gab es keine solchen Entscheidungen zu treffen. Es gab nur das Forschungsprojekt der Eltern, und Leon fand in Dschungel, Savanne oder Wald einen Spielplatz ohne Grenzen vor. Anders Margarethe, sie ist ein gebranntes Kind: Die Trennung ihrer Eltern war ein einschneidender Moment in ihrem Leben. Wenn sie beim Vater war, vermisste sie ihre Mutter, und umgekehrt. Und sie war auch bei ihrem Ziehraben Plonk hin- und hergerissen: ihn einsperren und immer in Sicherheit wissen oder ihn frei fliegen lassen, dabei aber nie sicher sein, ob er in der freien Wildbahn überleben kann. Die Trennung von Leon bereitet ihr den dritten grossen Trennungsschmerz ihres Lebens – auch wenn er nur sechs Wochen dauern sollte.

Und was, wenn er in den USA ein anderes Mädchen kennenlernt und dort bleibt, suhlt sich Margarethe in dunklen Gedanken. Sie blickt hoch zu Leon, ihre linke Wange streift dabei seine muskulöse rechte Schulter. Hat er Tränen in den Augen, oder meint sie das nur? «Leon», flüstert sie. Er schaut zu ihr, ihre Blicke treffen sich. Margarethe kullern dicke Tränen die Wangen hinunter. Leon atmet tief ein und spricht in ruhigem Tonfall: «Es sind nur sechs Wochen. Du hast sechzehn Jahre ohne mich überlebt!» Margarethe grinst und wischt sich mit der rechten Hand die Tränen aus dem Gesicht. «Ja, aber nur, weil ich damals noch nicht gewusst habe, dass es dich gibt. Jetzt weiss ich es, und jetzt habe ich einen Grund, dich zu vermissen!», bringt sie es auf den Punkt, doch Leon lässt es nicht gelten: «Der Buddhismus lehrt uns, dass sich alles dauernd verändert – heute fliege ich fort, in sechs Wochen treffen wir uns wieder. Alles hat seine Zeit, lass es einfach geschehen…» – «Du bist definitiv schlimmer als Rudy, wenn du so anfängst!», lacht Margarethe und zwickt ihn in den Bauch. Leon quiekt, dass sich die Leute im Nebenabteil nach den beiden umschauen. Dann meint er selbstzufrieden: «Aber mein Ziel habe ich erreicht: Du lachst.» Margarethe seufzt und fühlt sich schon etwas besser – ihr Liebster weiss, wie er sie aufmuntern kann.

Am Flughafen angekommen, vergessen die beiden vor lauter Check-In-Stress für einige Minuten, dass sie sich bald trennen werden. Erst als sie vor der Passkontrolle stehen, schleicht sich wieder dieses bedrückende Gefühl des Auseinandergerissenwerdens in ihre Herzen. «Hier muss ich alleine durch, Mäg, ich…», Leon versagt die Stimme, und Margarethe heult los. Sie wirft sich ihm um den Hals und umklammert ihn wie eine Ertrinkende. Er streichelt ihr beruhigend den Rücken. Als die Durchsage ertönt, dass das Boarding für den Flug nach San Francisco in wenigen Minuten erfolgt, muss sich Leon widerwillig von seiner Mäg losreissen. Mit belegter Stimme spricht er: «Mäg, wo immer ich bin, du bist in meinem Herzen!» Unter Schluchzen antwortet Margarethe: «Und du in meinem! Ich vermisse dich jetzt schon! Geh nicht!» – «Ich muss, aber wir sehen uns wieder. Konzentriere dich auf jenen Moment, nicht auf diesen hier!», versucht er sie zu trösten, dann kramt er etwas aus seiner Tasche. «Diesen kleinen Stein habe ich in Kenya gefunden. Seither bin ich nie ohne ihn in der Tasche irgendwohin gegangen. Er ist ein Teil von mir. Bring ihn mir wieder, in sechs Wochen.» Margarethe nimmt den Kiesel an sich und umklammert nun in ihrer rechten Hand einen grün schillernden Stein und findet: «Wie deine Augen…» – «Eben! Ein Teil von mir bleibt bei dir, Liebste.» Und sie küssen sich zum Abschied inniglich. Dann wendet sich Leon der Passkontrolle zu. Als alle Formalitäten erledigt sind, dreht er sich noch einmal zu Margarethe um und schickt ihr einen Kussmund, und sie ihm – dann geht er durch die automatischen Schiebetüren hindurch Richtung Gate.

2

Blick nach vorne und zurück

«Leon arbeitet doch nicht, der surft sicher die ganze Zeit!», flachst Rudy, als Margarethe ihn und Seraina trifft. – «Im Gegensatz zu dir auf richtigen Wellen – du würdest ja nur im Internet surfen», bemerkt Seraina. «Mein allerliebster Cyborgino!» Margarethe grinst: «Cooler Kosename!» Der Genannte reagiert leicht indigniert, dann kommt prompt die Retourkutsche: «Also, ich sage jetzt nicht laut alle Kosenamen, die du und Leon einander in euren Nachrichten schreibt… und auch sonst ist da noch einiges darunter…», fügt Rudy süffisant hinzu, «…meine Fresse, Raina, was ihr euch so alles schreibt, du und Mäggy, das hätte ich nie von euch gedacht!» – «Waaah, Smartiefon weit wegwerfen, aus dem Radius des Radars meines Cyborgs!», warnt Seraina, und Margarethe ist drauf und dran, dem Rat zu folgen. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie Rudy an: «Echt jetzt, hast du in der kurzen Zeit alle Schweinereien gelesen, die ich mit Leon und Raina heute Vormittag ausgetauscht habe? Wie peinlich!» Er lacht: «Ihr habt es faustdick hinter den Ohren, das ist ja unerhört, was ihr einander schreibt! Also das mit dem Swingerclub im Wohnmobil könnte man sich ja noch überlegen, aber das mit den Handschellen geht schon etwas zu weit…» – Margarethe wird krebsrot und keucht: «Du bist mir echt unheimlich, Rudy! Nächstes Mal lasse ich mein Smartiefon zuhause!»

Rudy nämlich liess sich auf seiner letzten Reise – in eine postapokalyptische Zukunftswelt – mehr oder weniger freiwillig Hightech-Implantate einsetzen, die ihm erlauben, Zugriff auf alle Geräte in seiner Nähe zu haben. Seither kann er sich mit Fug und Recht als Cyborg bezeichnen. Er lacht hämisch: «Hahaha, irgendwie ist es ja lustig, was man so alles über seine Pappenheimer erfährt!» – «Du hast eine sadistische Ader!», erwidert Seraina indigniert. – «Und was muss ich denn über euch Mädels erst sagen? Also bitte, Mäggy, ich bin doch kein Mobility- Leihwagen!» – Margarethe fühlt sich wie ein Dampfkochtopf und würde vor Scham am Liebsten im Boden versinken: «Lies gefälligst nicht unsern Chat, wenn Rai und ich herumblödeln!» Seraina ist hin- und hergerissen zwischen Lachen und Ärger: «Aber Rudolfino, ich teile doch alles schwesterlich mit Mäg!», witzelt sie und klappert mit ihren Augenlidern. – «Trotzdem, man kommt sich ja vor wie auf dem Viehmarkt!», brummt Rudy halb amüsiert, halb indigniert. «Wenn ich euch nicht besser kennen würden, müsste ich jetzt direkt Angst haben!» – «Keine Sorge, an dein Cybertool lass ich Mäg nicht ran!», flachst seine Freundin. Margarethe ist immer noch krebsrot und verbirgt ihren Kopf theatralisch schuldbewusst unter ihren Armen. Rudy setzt noch einen drauf: «Sonst muss ich mir nochmals überlegen, ob wir ein Hotelzimmer zu dritt teilen auf der Reise, bevor Leo dazustösst, oder ob mir das zu gefährlich ist!»

Die drei Freunde können es kaum erwarten, in den Sommerferien in die Vereinigten Staaten zu fliegen. Sie wollen zuerst eine Woche zu dritt in San Francisco verbringen, Leon in Monterey besuchen und mit ihm weiterreisen, sobald sein Praktikum zu Ende ist. Geplant sind drei Wochen zu viert im Wohnmobil auf Achse. Weil sie sich schon den teureren Direktflug gönnen, haben sie beschlossen, aus Kostengründen in San Francisco zu dritt ein Zimmer zu belegen – die King-Size-Betten in den US-Hotels sind ja gross genug. «Aber kommt mir ja nicht auf dumme Gedanken, Mädels!», warnt Rudy scherzhaft und geniesst jedoch offensichtlich seine Rolle als Hahn im Korb. – «Wir müssen dann noch auskäsen, wer in der Mitte pennt», bemerkt Seraina. «Also mir wäre ein Randplatz lieber, sonst fühle ich mich bedrängt.» – «Dann nehmen wir den Hahn im Körbchen in die Zange!», grinst Margarethe schelmisch. Dieser ist allerdings nicht einverstanden: «In der Mitte ist es nicht bequem, wenn es einen Spalt hat! Ich überlasse dir gern die Ehre, Mäggy!» – «Danke, du bist mir ja gastfreundlich!», seufzt sie. «Dann darf ich in der Ritze schlafen… Aber dann spiele ich den Anstands- Wau-Wau: ist vielleicht gar nicht schlecht, dann kommt ihr nicht auf dumme Gedanken!», fügt sie grinsend hinzu. Seraina lacht ihrerseits verschmitzt: «Könnte dann halt passieren, dass dich einer von uns in der Nacht verwechselt…» – «Oh Graus!», schaudert es ihre Freundin. – «Im schlimmsten Fall wirst du eben von beiden Seiten beknuddelt!» Margarethe wird wieder rot: «Jetzt fühle ICH mich aber bedrängt!»

* * *

Die Zeit ohne Leon ist schwierig für Margarethe; sie vermisst ihren Liebsten schmerzlich mit allen Fasern. Zum Glück hat sie liebe Freunde, die sie ablenken und trösten: zuerst einmal ihren Raben Plonk, den sie fast täglich besucht im Horgenbergwald, wohin sie meist mit dem Fahrrad hinaufstrampelt. Manchmal stattet der prächtige Kolkrabe seiner Ziehmutter auch selbst einen Besuch ab in ihrem Garten. Dann hopst er munter auf dem Sitzplatz umher und pickt da und dort an einem Baumstamm oder Tischbein herum, bis sie ihn mit Nüssen füttert, die er besonders gern hat. Er ruft sie «Grrrita!», und sie spricht mit ihm in Menschensprache und ist überzeugt, dass er jedes Wort versteht. «Leo, ey!», krächzt Plonk, und Margarethe staunt über ihren Raben, den sie aufgezogen hat. «Ja, Leon ist weg… in Monterey! Meintest du das?» Die Gesellschaft ihres gefiederten Freundes, der sie nun schon seit sechs Jahren begleitet, lenkt sie ab vom Trennungsschmerz.

Seraina sieht sie täglich in der Schule, und die beiden Mädchen unternehmen oft etwas zusammen, gehen schwimmen, Minigolf spielen, in den Zoo, und häufig ist auch Rudy mit von der Partie.

Die drei sind sogar schon zusammen ausgeritten, wobei Margarethe ihr Stahlross bevorzugt, während Seraina und Rudy hoch zu Ross sind. Je nachdem, wo sie unterwegs sind, gesellt sich manchmal Plonk zu ihnen, der es sich gewöhnt ist, grössere Distanzen zu fliegen. Da er früher sein Revier am Katzensee hatte, ist es für ihn buchstäblich ein Katzensprung bis zu Rudys Reitgebiet.

Nach den Pferden zu schauen, sie zu füttern und täglich auszureiten, den Stall zu reinigen – dafür fehlt Rudy mehr und mehr die Zeit, weil sein aufwändiges Studium ihn sehr beansprucht. So ist er nicht mehr so häufig im Stall wie früher, obwohl der gleich neben seinem Elternhaus steht – ein modern renoviertes Bauerngehöft oberhalb von Wädenswil – allerdings wird dort schon lange nicht mehr Landwirtschaft betrieben, und seit der Umzonung ist die Umgebung mit Einfamilienhäusern übersät.

Bis vor rund drei Jahren hatte Rudy die Stallarbeiten nebenbei erledigen können, wobei er wenig zu tun hatte, da sein Pferd Merry Cherry ursprünglich in einem grösseren Pferdestall Kost und Logis genoss und in Gesellschaft eines Ponys und der Pferde des Bauern aufwuchs. Denn Pferde dürfen in der Schweiz nicht einzeln gehalten werden, weil sie sonst vereinsamen und leiden. Als Merry Cherry ein Fohlen bekam, waren es plötzlich zwei Pferde, und Rudys Eltern willigten ein, einen Stall auf ihrem Grundstück zu bauen und sich selber um die Tiere zu kümmern. Das gab mehr zu tun, als sie sich vorgestellt hatten. Nach dem Tod der Mutterstute musste eine Lösung gefunden werden für das Fohlen Foxy, mittlerweile eine stattliche Fuchsstute, und daher traf es sich gut, dass Rudy seiner Freundin Seraina den Wallach Blacky als Weihnachtsgeschenk kaufte – von seinem Anteil des Nobelpreises, den er für das Heilmittel erhalten hat während der Pandemie. Rudys Eltern hatten früher auch eigene Pferde, doch aus beruflichen Gründen hatten sie das Reiten aufgegeben. Weil sie bemerkten, dass ihr Sohn in der Primarschule den Kontakt zu Gleichaltrigen eher mied, kauften sie ihm ein Pferd, um seine Emotionen zu schulen – es gibt keinen besseren Lehrer als ein Tier, wenn es um das Überwinden von inneren Blockaden geht. Der Umgang mit dem Pferd entwickelte sich schnell zu einer willkommenen Abwechslung für den «hirnlastigen» Rudy; und so war er auch genügend an der frischen Luft und nicht nur vor dem Computer. Mittlerweile liegt es an Seraina, dafür zu sorgen, dass ihr Rudolfino trotz Studium immer noch regelmässig ausreiten geht. Sie selbst, die früher mit Pferden nichts anfangen konnte, besucht jetzt die Tiere regelmässig, reitet ab und zu auch zusammen mit Rudys Mutter aus, oder die jeweilige Reiterin nimmt das zweite Ross einfach ungesattelt mit auf einen Spaziergang. Mit der Zeit musste die Familie jedoch einsehen, dass sie mehr Unterstützung brauchen und jemanden anstellen müssen, der sich um die Stallarbeit kümmert, damit die Tiere nicht vernachlässigt werden. Seraina hat die Lösung umgehend in ihrer Schule gefunden: Da es viele junge Mädchen gibt, die sich gerne ihren Ausritt und ein kleines Taschengeld verdienen, kommt nun eine 14-jährige Schülerin fast jeden Tag nach der Schule und manchmal auch über Mittag nach den Pferden schauen. Zuerst war Rudy skeptisch, aber Seraina hat gleich Vertrauen gefasst zu dem Mädchen und ihr gerne ihren Blacky anvertraut.

Die vielen Prüfungen und der anspruchsvolle Schulstoff halten nämlich auch die Gymnasiastinnen auf Trab, denn gerade absolvieren sie die Vor-Matur, und nach den Sommerferien beginnt das Matura-Jahr bis zum Schulabschluss im Sommer 2023. Seraina und Margarethe treffen sich oft, um Hausaufgaben zu lösen und sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Manchmal sind sie auch froh um Rudys Unterstützung. Beide sind jedoch zuversichtlich, auch das letzte Schuljahr heil zu überstehen. Die Vor-Matur ist fast schon geschafft, es fehlt nur noch eine Französisch-Prüfung. Die Matura-Arbeit hingegen stresst die Mädchen weniger, da Margarethe und Seraina sie fast schon fertig haben, während die meisten anderen Mitschüler noch nicht so weit sind. Wie Margarethe damals gegenüber Leon erklärt hatte, als sie sich gemeinsam in die Recherche über Pandemien früherer Zeiten vertieft hatten, ist die Auswertung ihrer Erkenntnisse unter Erwähnung des alten Heilmittels, das sie aufgespürt hatten, tatsächlich zur gemeinsamen Maturaarbeit gereift, die sich sehen lassen darf. Natürlich mussten die beiden Mädchen gewisse Aspekte anpassen und abschwächen: Die Sache mit der Zeitreise hätte für Kopfschütteln gesorgt, daher mussten sie das Auffinden des Heilmittels samt Begegnung mit dem Bader in London 990 und «Workshop» bei Hildegard von Bingen zwar nicht weglassen, aber etwas diffuser formulieren. «Mit akribischer Recherche kann man viele Rückschlüsse ziehen, und wenn wir die Personen etwas lebendiger schildern, so wird uns unsere Geschichtslehrerin sicher nicht den Kopf abreissen», bemerkt Margarethe, und Seraina fügt hinzu: «Zumal Frau Battaglia selber gerne verrückte Geschichten liest und, wie ich gehört habe, sogar historische Fantasyromane schreibt!» Bei dieser Geschichtslehrerin müssen sie sich beileibe keine Sorgen machen, da sie in der Tat auch fleissig recherchiert und mehr Bücher als Internet-Links konsultiert haben, was die Expertin schätzt. Ausserdem spricht der Nobelpreis für sich. «Die Maturaarbeit haben wir in der Tasche, letztendlich könnte man sogar sagen, dank Pandemios!», seufzt Margarethe. Seraina schickt ihr einen fragenden Blick: «Wieso dank Pandemios? Wir haben doch bereits früher nachgeforscht, bevor der auf den Plan trat.» – «Ja, aber der Bösewicht hat die Sache verkompliziert, und ohne ihn wären wir nicht noch zu Hildegard von Bingen gereist», gibt Margarethe zu bedenken. «Und Frau Battaglia hat ja genau betont, dass die Erwähnung der Mystikerin ihr besonders gefallen hat, weil sie die Arbeit noch vielseitiger und lebendiger macht. Das ganze Wissen über die Heilkräuter, die Visionen und die lebendige Schilderung, wie das Antidot gemixt wird, könne man sich so gut vorstellen!» Beide Mädchen lachen, sich wohl an die Begegnung mit der berühmten Mystikerin erinnernd. Dann wird Seraina wieder nachdenklich: «Den Pandemios haben wir natürlich nicht erwähnt, der wäre sogar bei unserer Fantasy-Liebhaberin nicht so gut angekommen! Aber schon komisch, dieser Hexer Pandemios… warum… ich hab das nie so richtig verstanden!» – «Was denn, was meinst du? Warum er das getan hat? Warum der eine Pandemie gestreut hat?» – «Ja… und dass er so – wie ein Schachtelteufel – einfach so aus der Ruine in Venedig sprang, war schon ziemlich kurios», fügt Seraina hinzu. «Wo kam er her? Aus welcher Zeit? Der war immer genau dort, wo er eigentlich vernünftigerweise nicht sein sollte… konnte… und seine Motivation war mir nie ganz klar.» – «Der wollte doch unbedingt Rabe und Schwert für sich. Der hat alles getan, um uns aus dem Weg zu räumen und an unsere lebende Zeitmaschine zu kommen. Ich vermute, er wollte damit Herr der Zeit werden. Er hatte zwar schon den Raum der Zeit, aber dieser war halt ein Zimmer auf einem Schiff, ziemlich klobig und unpraktisch. Da ist so ein Rabe mit Schwert viel handlicher, den kann man überall mitnehmen!», sinniert Margarethe. «Jedoch hat er die Rechnung ohne Plonk gemacht – und ohne uns! Plonk lässt sich nicht einfach für unlautere Zwecke missbrauchen, und ich tu alles für meinen Raben!» – Seraina fügt hinzu: «Und er hatte zu Recht Angst, dass wir das Rezept gegen seine allerneuste Pandemie finden!» – «Stimmt, die MAE-CD-20 war sicher auch sein Werk – dieses Scheusal! Kein Wissenschaftler konnte bisher herausfinden, woher damals die multiresistenten Bakterien und die mutierten Viren kamen, auch zwei Jahre später nicht. Und er hatte sicher Schiss, wir würden ihm die Millionen von Toten nicht gönnen, die es gegeben hätte, hätten wir das Rezept nicht gefunden!», ereifert sich Margarethe wütend, und Seraina fügt grinsend hinzu: «Aber dem haben wir’s gezeigt!» Und Margarethe doppelt nach: «Aber sowas von!»

3

Zwei Engel für Rudy

Die Mädchen spazieren nach der Schule manchmal am See entlang und gönnen sich ein Eis bei Tina. Weil für Rudy ja bereits die Semesterferien begonnen haben, ist er oft mit von der Partie. Leon weilt unterdessen schon seit zwei Wochen in Kalifornien. Die drei verwundert es nicht, dass sie im Park, der das Ufer säumt, ihrem Schulkollegen Gerry begegnen. Dieser zieht stets mit zwei Kumpels durch die Gegend. Seine «Bodyguards» haben nach Einschätzung von Margarethe und ihrer Freunde nicht besonders viel Hirnkapazität, dafür sind ihre Muskeln nicht zu unterschätzen. An einem Nachmittag treffen sich zufällig zwei Trios am gewohnten Begegnungsort. «Ich glaub, mein Schwein pfeift!», zischt Rudy, und Seraina kichert: «Dabei ist Leon doch gar nicht da!» Rudy grinst, und auch Margarethe muss lachen, obwohl ihr jede Erinnerung an ihren geliebten Leon einen Stich ins Herz versetzt. Wenn sie ihn kitzelt, quiekt er meist, was bei dem grossen und muskulösen Jungen besonders komisch wirkt. Seraina ruft laut: «Ach, DIESES Schwein meinst du!», wohl darauf bedacht, dass Gerry die Bemerkung mitbekommt. Er nähert sich und brüllt als Retourkutsche: «Das ist ja Rudy mit seinem Harem!» Gerry hat die Absicht, die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen, darauf hoffend, dass es Rudy und den Mädchen peinlich ist. Diese jedoch hatten bereits früher schon demonstriert, dass sie am längeren Hebel sind, wenn es darum geht, auszuteilen. «Er kann es nicht lassen, dieser Dödel!», raunt Margarethe. «Dabei hat unser Cyborgino ihn letztes Mal so was von fertiggemacht!» Genau das scheint der Betroffene dem Nerd übel zu nehmen. «Vielleicht sollten meine Kumpels mal den kopflastigen Kerl in die Zange nehmen!», brummt Gerry. «Wo der ja bekanntlich auf Sadomaso steht!» Seraina drängt sich vor Rudy: «Glaubst du echt, deine Gorillas können es mit uns Powerfrauen aufnehmen?» Ihr Gegenüber lacht nur hämisch: «Jetzt legen die Dominas los; dann zeigt mal, was ihr draufhabt!» Seraina packt jedoch nicht Gerrys, sondern Margarethes Arm und fährt fort: «Schau mal, Mäggys Muskeln; die macht Kleinholz aus dir!» Margarethe ist das etwas unangenehm, zumal Gerry seinerseits nach ihrem Arm greift. Unwillkürlich spannt sie ihre Armmuskeln an, um sich seinem Griff zu entringen, und Gerry pfeift: «Meine Fresse, das ist ja unheimlich, Mäggy! Da krieg’ ich ja Angst!» – «Warte nur, bis Raina in Fahrt kommt, die macht dich fertig!», warnt diese ihrerseits den Jungen und kämpft ihren Arm aus seiner Umklammerung frei. Rudy steht derweil unschlüssig einen Schritt hinter den aggressiv auftretenden Mädchen und kommt sich etwas überflüssig vor. Als würde er dies spüren, wendet sich Gerry flugs an ihn: «Um deine Kampfweiber beneide ich dich, Rudy! Und du hast deinen Stil verändert, mit Dreitagebärtchen und längeren Haaren, o là là!» Seine Kumpels lachen blökend, aber Rudy richtet sich zu seiner vollen Grösse auf, sodass sich zeigt, dass er unterdessen auch Gerry überragt. Tatsächlich trägt er sein dunkles und dichtes Haar ein bisschen länger als üblich, also nicht mehr ein paar Zentimeter oder gar Millimeter kurz und auch im Nacken nicht mehr so stark ausrasiert wie früher – beides auf Serainas Wunsch, die fand, so schönes, volles Haar müsse doch nicht millimeterkurz geschoren werden: «Du bist doch kein Schaf, Rudolfino mio!», hatte sie gesäuselt, und seufzend hatte er klein beigegeben, obwohl er seine neue Frisur unpraktischer findet. Stolz bemerkt Seraina jetzt in Gegenwart von Gerry: «Mein Rudy hat halt Stil, und nicht alle haben in dem Alter einen gleichmässigen Bartwuchs, gell, Gerry!» Damit trifft sie ins Schwarze und bringt ihren langjährigen Klassenkameraden zum Erröten, welcher offensichtlich bemüht ist, sich einen Bart wachsen zu lassen, was ihm aber nicht so recht zu gelingen scheint. «Ein Stilmerkmal ist es auch, dass klar erkennbar ist, ob man einen Bart kultiviert oder schlicht zu faul ist, sich zu rasieren!», setzt sie obendrauf. Gerry wird noch röter, und seine Gorillas blöken belämmert. Rudy fasst Selbstvertrauen und umfasst die Taillen beider Mädchen, was sein Widersacher trotz seines Ärgers kommentiert: «Glaub bloss nicht, dass du unbesiegbar bist, weil du zwei der drei Engel für Charlie als Sidekicks hast – weiss der Kuckuck, was die an dir finden!» Belustigt spielen die Mädchen mit, schmiegen sich auf jeder Seite an Rudy und drücken ihm beide gleichzeitig einen Kuss auf die Wange. Der umschwärmte Junge ist verblüfft, fühlt sich aber enorm geschmeichelt und strahlt überlegen, und Gerry zieht verärgert eine Schnute und faucht: «Los, Männer, gehen wir, dieser arrogante Gockel nervt.» Seraina versetzt frech: «Ich sag’s ja: Schmollmund sieht bei Männern besonders doof aus!» Margarethe und Rudy pflichten ihr lachend bei, und Gerry zieht seine Mundwinkel betroffen nach unten. Er sieht aus, als koche er vor Wut, aber er ist nicht schlagfertig genug, um eine Antwort wie aus der Pistole geschossen zu formulieren. Stattdessen brummt er etwas Unverständliches und signalisiert seinen Bodyguards: «Abmarsch!» Als die drei von dannen ziehen, aktiviert Rudy seine Cyborg-Fähigkeiten und ruft ihnen hinterher: «Schon wieder am Schummeln beim Spielen, Gerry? Ich muss mich doch sehr wundern… und dein Filmgeschmack hat sich nicht wesentlich verbessert… Körbchengrösse XX, ist das noch deutlich mehr als Wassermelonen?» Gerry erwidert nichts, und Margarethe und Seraina prusten los.

* * *

Der Sommer rückt näher, und während die Studenten der Universität und der ETH im Juni schon Semesterferien haben, müssen die Gymnasiastinnen noch ein paar Wochen durchhalten bis zu den Schulferien. Nun, wo auch die letzte Vormatur-Prüfung überstanden ist, fiebern die drei Freunde der grossen Reise entgegen. Und Margarethe und Leon schicken einander täglich Dutzende von Nachrichten. «Wie haben Verliebte bloss früher überlebt, als es noch keine Kurznachrichten gab?», stellt Margarethe eine rhetorische Frage, die Seraina achselzuckend ergänzt: «…und ohne Smartiefon, ohne Internet…» – «…das war ja pure Steinzeit!», seufzt Rudy fassungslos, der das Gespräch mitbekommt, obwohl er am ebengenannten Taschentelefon herumhantiert. – «Ja, für dich Weiterentwicklung schon, Cyborgino mio!», seufzt Seraina und zieht ihre Stirne kraus. «Aber stell dir vor, wie romantisch das auch war… richtige Briefe schreiben und darauf warten, bis sie ankommen… telefonieren mit einem altmodischen Kabeltelefon, das mit dem geringelten Kabel, mit dem man so schön spielen kann…» – «Was schwärmst du so über dieses vorsintflutliche Zeug?», versetzt er abschätzig. – «He! Das haben unsere Eltern noch erlebt!», erinnert sich Margarethe. «Und die haben sich auch verliebt und so weiter. Irgendwie war es vielleicht schon romantischer, aber ich vermisse Leon auch so ganz schrecklich. Und dann erst recht, wenn er sechs Wochen in Monterey mit den Seeottern und Meeresfischen rumhängt, und da würde ich durchdrehen, wenn ich nicht täglich von ihm hören würde!» Seraina schickt ihrer Freundin einen mitfühlenden Blick.

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Endlich sind die Sommerferien angebrochen! Nur noch wenige Tage trennen Margarethe von der Wiedervereinigung mit ihrem Leon. Die Nervosität steigt – auch bei ihrer Mutter, welche die Siebzehnjährige nur sehr ungern so weit fliegen lässt. Doch sie vertraut immerhin Margarethes Freunden; und Leon ist bereits volljährig. So hat sich ihre anfängliche Skepsis verflüchtigt. Margarethes Vater dagegen hatte seine Tochter bestärkt in ihrem Unterfangen. Er findet es sinnvoll, dass eine junge Frau auch mal ohne Eltern verreist. Rudys Eltern haben Verwandte in Kalifornien – somit wissen sie, dass ihr Sohn sich jederzeit an diese wenden kann, sollte etwas Unvorhergesehenes passieren. Serainas Tante war am schwierigsten zu überreden. Sie legte sich lange quer, was eigentlich erstaunt, weil Seraina sie nie als «Glucke» wahrgenommen hatte, die ihre Nichte verhätschelt und umsorgt. Aber offenbar hängt sie doch mehr an ihrer Pflegetochter, als sie bisher gezeigt hatte. Doch dank Rudys Logik, der sie sich noch nie hat entziehen können, kam auch sie zum Schluss, dass es problemlos war, die jungen Leute ziehen zu lassen.

Margarethe verabschiedet sich am Vorabend der Reise von ihrem Raben, was ihr schwerfällt: Einerseits freut sie sich riesig, nach der langen Trennung endlich mit ihrem Leon wiedervereint zu sein, andererseits bedeutet das eine vierwöchige Trennung von ihrem Rabenziehsohn! «Ich bin schon komisch, Plonk – egal, wie ich es mache, ich vermisse immer einen meiner Liebsten!», spricht sie zu ihm und seufzt. Als der letzte Sonnenstrahl den Baum des Raben streift, passiert etwas Magisches: Mensch und Vogel verständigen sich auf mysteriöse Weise – auf einer unterbewussten Ebene. Margarethe scheint plötzlich telepathisch mit Plonk zu kommunizieren: als wäre ein Schalter umgelegt. Sie fasst Vertrauen, dass sie ihren geliebten gefiederten Freund auch während dieser vier Wochen Abwesenheit spüren wird – ihr Rabe vermittelt ihr dieses Gefühl. Das lindert den Trennungsschmerz.

* * *

Nun sind sie startbereit. Rudys Mutter bringt die Teenager mit ihrem Tesla direkt an den Flughafen – schliesslich haben sie drei grosse Koffer und je ein Handgepäck dabei. Sie lässt die drei Freunde im Kurzparkierbereich hinaus und umarmt Rudy zum Abschied mütterlich. Ihm ist dies jedoch ziemlich peinlich, jedoch will er auch nicht seine Mutter vor den Kopf stossen – so lässt er es über sich ergehen, kriegt aber knallrote Ohren. Als sie endlich mit dem Wagen davonbraust, atmet Rudy auf und meint zu seinen Reisebegleiterinnen: «Ich liebe meine Mam, aber sie wird mich noch wie einen kleinen Jungen behandeln, wenn ich schon 50 bin…» – Margarethe zuckt mit den Achseln: «Kein Wunder, sie denkt wohl, du kommst nur im Internet zurecht!» Rudy schickt ihr einen vernichtenden Blick, da geht Seraina dazwischen: «Hallo Leute! Nicht schon in die Luft gehen, bevor wir überhaupt im Flugzeug sind!» – Die Angesprochenen verdauen kurz die Worte und müssen dann unwillkürlich über das treffende Wortspiel lachen. Derart wieder entspannt, nehmen sie den Check-In in Angriff.

Dann hängen sie in der Sicherheitskontrolle fest, weil Rudys Cyborg-Implantate Alarm auslösen. Er wird von den andern getrennt und in einem durch Vorhänge abgeschirmten Bereich durchsucht. «Ich hatte mal einen Unfall. Das sind Metallplatten, die den Knochen in der richtigen Position gehalten haben, damit er optimal zusammenwächst», erklärt Rudy dem Sicherheitsmann, der ihn von Kopf bis Fuss filzt. Der Beamte glotzt ihn schief an, doch er kann nichts Verdächtiges an Rudy finden, also lässt er ihn durch. Jetzt können sie zum Gate.

«Diese Warterei auf dem Flughafen ist übel. Da wartet man vor dem Check-In, vor den WCs, vor der Passkontrolle, vor der Sicherheitskontrolle, am Gate und jetzt dann bald im Flugzeug! Ist jedes Mal so gewesen, wenn ich mit meinem Papi weggeflogen bin – eine einzige Warterei! Und wenn man Pech hat, sitzt man beim Zielflughafen auf einigen Kilometern Höhe in einer Warteschlaufe fest, bis endlich die Landeerlaubnis kommt!», grummelt Margarethe vor sich hin. Seraina bekommt es mit und meint: «Ich fahre lieber Zug, da kannst du in Ruhe essen und trinken und die Landschaft bewundern. Und es ist umweltfreundlicher!» – «Ach was!», klinkt sich Rudy ins Gespräch rein, «Mit dem Auto ist es am gemütlichsten, da kannst alles mitnehmen, was du willst. Und du kannst überall anhalten, wenn dich was interessiert.» – «Besonders, wenn beim Tesla der Strom ausgeht, dann will ich sehen, wie dir die Sicherungen durchbrennen!», flachst Seraina und erntet einen bösen Blick von ihrem Liebsten. Jetzt ist es an Margarethe, dazwischenzustehen: «Runter vom Gas, Leute! Nicht dass wir noch verhaftet werden, weil sie Randale im Flugzeug befürchten!» In dem Moment kommt die Durchsage, dass jetzt das Boarding beginnt. Im Nu bewegen sich alle Anwesenden Richtung Flugticketkontrolle. «Ich sag’s ja, eine einzige Warterei!», zischt Margarethe, und Seraina macht «Pscht!». Rudy grinst und macht seine Begleiterinnen darauf aufmerksam, dass sie jetzt an die Reihe kommen. Margarethe flachst: «Hoffentlich kriegt er ihn wenigstens schnell hoch…» Und sie erntet eine hochgezogene Augenbraue von Rudy, worauf sie sich beeilt, hinzuzufügen: «…der Pilot das Flugzeug, meine ich!»

Endlich im Flugzeug, beziehen sie ihre Plätze. Sie lassen Rudy ans Fenster, weil die Mädchen so den Gang zur Toilette rascher unter die Füsse nehmen können. Als sich das Flugzeug endlich in Bewegung setzt, sind erst einmal die Sicherheitsanweisungen fällig – wo die Schwimmwesten zu finden sind, wie man sie anzieht, was zu tun ist, wenn die Sauerstoffmasken von der Decken baumeln…

Als die Starterlaubnis kommt, drehen die Düsen voll auf. Das ganze Flugzeug beginnt zu vibrieren, und langsam setzt es sich in Bewegung. Immer schneller wird es. Als die Teenager das Gefühl haben, jetzt könne es gar nicht mehr schneller gehen, da drückt sie der finale Schub voll in die Sitze, und der Metallvogel hebt ab. In einer leichten Kurve schraubt sich der Flieger hoch. Rudy blickt auf einen langgezogenen, bananenförmigen See, den Zürichsee, dessen Wasseroberfläche glitzert, als wären Millionen Perlen darüber verstreut. Er meint sogar, sein Elternhaus entdeckt zu haben. Nach ein paar Minuten haben sie die Flughöhe von über zehn Kilometern erreicht. An den Flügeln verändern sich die Positionen der Klappen, und die Düsen hören sich nun ruhiger und gleichmässiger an. Nun gilt es, mehr als elf Stunden totzuschlagen. Sobald es wieder erlaubt ist, benutzt Rudy sein Smartiefon. «Super, der hat einen Fensterplatz, glotzt aber nur noch auf sein Ding», grummelt Margarethe. Seraina grinst, doch Rudy ist viel zu sehr mit seinem Handy beschäftigt, um etwas davon mitzubekommen. Weil das Flugzeug entgegen der Erdrotation fliegt, fahren sie quasi mit der Sonne mit. Der Vorteil: Der Jetlag beim Hinflug lässt sich besser verkraften, weil das Licht einen langen Tag vorgaukelt. Beim Rückflug wird eine lange Nacht zu schläfrigen Passagieren führen, die kurz vor Mittag verwirrt und übernächtigt in der Heimat landen werden. Doch daran denken sie vorerst nicht, die drei reiselustigen Teenager, denn jetzt freuen sie sich erst einmal auf eine Woche in San Francisco, dann auf drei Wochen unterwegs auf der Route 66.

4

Die Rückkehr der Seeotter

Endlich ist die Westküste der USA erreicht. Des Filmeglotzens sind die drei schon überdrüssig, und die Lektüre ist ihnen ausgegangen. Schon sinkt das Flugzeug rapide. Margarethe wird es mulmig zumute, denn ihr scheint, dass es etwas gar zu schnell hinuntergeht. Rudy kann sie auch nicht wirklich beruhigen mit seinen technischen Details. Hier fehlt ihr klar Leons Gelassenheit, um die aufkommende Panik im Keim zu ersticken. Margarethe sitzt zwar nicht zum ersten Mal in einem Flugzeug, aber ein Langstreckenflug über ein grosses Gewässer ist eine andere Sache als eine kurze Europa-Städtereise. «Da ist ja nur Wasser!», ruft Seraina aus und bekommt es nun ebenfalls mit der Angst zu tun. «Der landet auf dem Wasser!» Margarethe ist schon kreidebleich, als Rudy locker hinzufügt: «Die Piste in San Francisco beginnt am Strand. Kein Grund zur Aufregung, die Landeklappen kommen jetzt hoch…» – «Bei mir… kommt gleich… das Mittagessen hoch», würgt Margarethe. Seraina nimmt sie in die Arme. Da finden Margarethes Finger Leons Stein in der Hosentasche. Sie zieht ihn heraus und hält ihn in ihrer Faust umklammert – die Übelkeit löst sich langsam auf. Im nächsten Moment rumpelt es, und das Flugzeug hat auf der Landebahn aufgesetzt. Die Passagiere klatschen, um den Piloten für die geglückte Landung zu danken.