Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule -  - E-Book

Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule E-Book

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Beschreibung

SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten zeigen häufig auch Probleme im Verhalten - und umgekehrt. Für SchülerIinnen und Lehrkräfte sind solche gleichzeitig auftretende Phänomene eine große Herausforderung, die mit Fragen zur gezielten Unterstützung dieser Zielgruppe einhergeht. Das Buch fokussiert das Phänomen gleichzeitig auftretender Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule mit dem Ziel, Grundlagen- und Handlungswissen zu dem Thema zu vermitteln. Dabei richtet sich das Werk gleichermaßen an interessierte PraktikerInnen, Studierende und Forschende, die sich aus verschiedenen Anlässen mit dem Thema auseinandersetzen wollen. In insgesamt 25 Kapiteln bearbeiten ausgewiesene ExpertIinnen aus der Sonderpädagogik, der Psychologie, der Erziehungswissenschaft und der Bildungsforschung verschiedene Themen, die für das gemeinsame Auftreten von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule relevant sind.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Teil 1: Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule

Lernschwierigkeiten

1 Lernschwierigkeiten als Oberbegriff

2 Formen von Lernschwierigkeiten

Lernstörungen und Lernschwächen

Lernbehinderung

Sonderpädagogischer Förderbedarf Lernen

3 Ursachen von Lernschwierigkeiten

Interne Bedingungen

Externe Bedingungen

4 Fazit

Literatur

Verhaltensschwierigkeiten

1 Einleitung

2 Definitionen und Erscheinungsformen

3 Begriffe, Definitionen und Klassifikationen

4 Auswirkungen und Folgen von Verhaltensschwierigkeiten in der Schule

5 Prävalenz von Verhaltensschwierigkeiten

6 Erklärungsansätze

7 Fazit

Literatur

Der Zusammenhang von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

1 Kausale Mechanismen in der Komorbidität multifaktorieller Auffälligkeiten

2 Modelle zur Erklärung kausaler Zusammenhänge multifaktorieller Auffälligkeiten

3 Fazit und Ausblick

Literatur

Teil 2: Erklärungsmodelle und -variablen von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

Genetische und neurologische Risikofaktoren

1 Lern- und Verhaltensschwierigkeiten als Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung

Störungsbegriff und diagnostische Kriterien

Komorbidität

2 Die genetische und neuronale Ebene des Multiple-Deficit-Modells

Von der Genetik bis zur Verhaltensmanifestation

Genetische und Umwelteinflüsse

Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

3 Relevanz genetischer und neurologischer Befunde für die pädagogische Praxis

Literatur

Selbstregulation im Kontext von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

1 Einleitung

2 Selbstregulation – Begriffsklärung

3 Facetten der Selbstregulation

Kognitive Regulation

Verhaltensregulation

Motivationsregulation

Emotionsregulation

Selbstreguliertes Lernen

4 Selbstregulation – Relevanz für die (schulische) Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

Literatur

Soziale Kontextfaktoren

1 Exo- und Makrosystemische Einflussfaktoren

2 Mesosystemische Einflussfaktoren

3 Mikrosystemische Einflussfaktoren in Familie und Schule

4 Implikationen

Literatur

Wertschätzung kultureller Vielfalt und Abbau sozialer Ungerechtigkeiten als Schutzfaktoren gegen Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

1 Lern- und Verhaltensschwierigkeiten entlang der Differenzlinien familiäre Zuwanderungsgeschichte und kulturelle/ethnische Zugehörigkeit

2 Erfahrungen, die mit familiärer Zuwanderungsgeschichte und kulturellen/ethnischen Zugehörigkeiten einhergehen, als Risiko- und Schutzfaktoren

Risikofaktoren

Schutzfaktoren

3 Konkrete Handlungsmöglichkeiten

4 Fazit

Literatur

Unterrichtsqualität

1 Unterricht und Lernerfolg

2 Professionelle Kompetenzen von Lehrpersonen

3 Schul- und Schulklasseneffekte

Literatur

Soziale Vergleichsprozesse in der Schule

1 Die Funktionen sozialer Vergleichsprozesse

2 Soziale Vergleichsprozesse im Verlauf der Kindheit und Jugend

3 Schulische Referenzgruppeneffekte beim sozialen Vergleich

4 Differentielle Effekte sozialer Vergleichsprozesse auf Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

5 Praktische Implikationen der Forschungsergebnisse zum sozialen Vergleich

Literatur

Bullying-Prozesse bei Schüler*innen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

1 Bedeutung sozialer Partizipation/Ausgrenzung für die Entwicklung von Schüler*innen

2 Soziale Partizipation/Ausgrenzung von Schüler*innen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in Schulen des Gemeinsamen Lernens

3 Bullying

4 Bullying in Schulen des Gemeinsamen Lernens

5 Bullying-Prozesse bei Schüler*innen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

6 Risikofaktoren für Bullying-Prozesse bei Schüler*innen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

7 Lern- und Verhaltensschwierigkeiten als Ursache sowie Folge von Viktimisierung

8 Verhaltensschwierigkeiten als Ursache sowie Folge von Viktimisierung

9 Lernschwierigkeiten als Ursache sowie Folge von Viktimisierung

10 Fazit und Ausblick

Literatur

Internalisierende Schwierigkeiten des Erlebens und Verhaltens – und ihre Auswirkungen als Lernschwierigkeiten

1 Einleitung

2 Eine interaktionistische Sicht auf Verhaltensstörungen

3 Internalisierende Verhaltensschwierigkeiten – Bestimmung und Ausdifferenzierung

4 Auswirkungen internalisierender Schwierigkeiten auf Lernschwierigkeiten

Relevante Personvariablen

Relevante Situationsvariablen

Interaktionistisch bedeutsame Aspekte

Aspekte der Perspektive der Beobachter-Wahrnehmung

5 Fazit

Literatur

Mathematikangst bei Schulkindern: Einführung und Wirkmodelle

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmung

3 Wirkmodelle der Mathematikangst

4 Wechselwirkung der Mathematikangst mit Alter und Geschlecht

5 Auswirkungen der Mathematikangst auf das Lernverhalten

6 Fazit

Literatur

Schulabsentismus (als Ursache von Lernschwierigkeiten)

1 Grundlagen

2 Wechselwirkungen zwischen Verhaltens- und Lernschwierigkeiten

3 Angsterleben und Lernschwierigkeiten in der Schule

Angst und Lernen

Angst vor Versagen in der Schule

Angst durch Aggression, Mobbing/Bullying

Angstbedingte Schulmeidung

4 Schulschwänzen und Lernschwierigkeiten in der Schule

Schulschwänzen und Bildungsrisiken

Die Bedeutung der Peers

Schulschwänzen und Schulversagen

Folgen für das Lernen und die Leistungserbringung

5 Ausgewählte Handlungsoptionen

Literatur

Externalisierende Verhaltensschwierigkeiten als Ursache von Lernschwierigkeiten

1 Einleitung

2 Individuelle Faktoren auf Seiten der Schüler*innen

Selbstregulation und Lernen

Sozialverhalten und schulische Leistungen

3 Bedeutung familiärer Faktoren

4 Faktoren auf Seiten der Lehrperson

5 Bedeutung interaktionaler Merkmale

6 Fazit

Literatur

Teil 3: Handlungsmöglichkeiten – Kognitive, emotionale und behaviorale Fördermaßnahmen

Leistungsbewertung und Leistungsattribution

1 Leistungsbewertungen durch die Lehrkraft

Bezugsnormen

Bezugsnormorientierung

Auswirkung der Bezugsnormorientierung auf Lernende

2 Leistungsattribution

3 Fazit

Literatur

Selbstregulationsförderung: Gelingensbedingungen und Herausforderungen bei Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

1 Selbstregulation beim Lernen

Objekt- und Metaebene

Interaktion von Strategien im Lernprozess

Herausforderungen bei Strategieerwerb und Strategieeinsatz

2 Gelingensbedingungen der Förderung von Selbstregulation beim Lernen

Indirekte Förderung durch konstruktivistische Lernumgebungen

Direkte Förderung durch Strategieinstruktion

3 Selbstregulationstrainings bei Lernenden mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

Was macht Selbstregulationsförderung bei Lernenden mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten besonders wirksam?

Strategieförderung am Beispiel des Self-Regulated Strategy Development (SRSD)

4 Implikationen

Implikationen für weitere Forschung

Implikationen für die Praxis

Literatur

Pädagogisches Handeln und schulische Förderung bei internalisierenden Auffälligkeiten

1 Schulische Bedeutung internalisierender Auffälligkeiten

2 Reduktion dysfunktionalen Denkens

3 Vermittlung von Entspannungstechniken

4 Reduktion von Vermeidungsverhalten

5 Verhaltensaktivierung in der Schule

6 Psychoedukation bei internalisierenden Auffälligkeiten

7 Stärkung von Self-Compassion

Literatur

Förderung bei Matheangst

1 Einleitung

2 Wie entsteht Matheangst?

3 Fördermöglichkeiten bei Matheangst

Pädagogisch-unterrichtliche Maßnahmen

Physiologische Entspannung und Aufmerksamkeitsfokussierung

Kognitive Neubewertung

Expressives Schreiben

4 Fazit

Literatur

Schulische Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen

1 Einleitung

2 Rahmenmodelle zur effektiven Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen

Rahmenmodelle im Überblick

Anforderungen an effektive schulische Prävention und Intervention

Zentrales Fundament der Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen in der Schule: positive Beziehungsgestaltung

3 Strategien zur effektiven Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen

Sozial-emotionales Lernen

Weitere Strategien

4 Die präventive Schule im Netzwerk der Hilfen

Literatur

Maßnahmen und Programme zur Prävention und Intervention bei Mobbing und Viktimisierung

1 Schulbasierte Präventionsansätze

Fairplayer.Manual

Wirksamkeit

2 Schulbasierte Interventionsansätze

Shared-Concern Methode (SCM)

Wirksamkeit

3 Gelingensbedingungen

4 Prävention und Intervention als gesamtschulischer Ansatz

Literatur

Förderung der Achtsamkeit

1 Einführung

2 Achtsamkeitsbasierte Verfahren

Indikation

3 Achtsamkeitsprogramm für Kinder und Jugendliche (AKJ)

Sitzungsinhalte

4 Ausblick

Literatur

Operante Methoden zur Förderung von Lern- und Sozialverhalten

1 Belohnung als Problemlösung?

2 Kennzeichen operanter Methoden

Grundlagen des operanten Lernens

Operante Förderung von Lern- und Sozialverhalten

Zusammenfassung der Wirkannahmen

3 Schulpraktische Anwendung – Positive Verhaltensmodifikation (PVM)

Auswahl des positiven Zielverhaltens

Zielvereinbarung

Auswahl der Verstärker

Einsatz der Verstärker

Erfolgskontrolle und Evaluation

4 Zusammenfassung

Literatur

Psychoedukation in der Schule

1 Einleitung

2 Was ist Psychoedukation?

3 Bedarf an Psychoedukation bei Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

4 Grundlegende Prinzipien zur Umsetzung von Psychoedukation in der Schule

Inhalte

Gestaltung

Durchführende

5 Psychoedukative Interventionen in der Schulklasse

6 Fazit

Literatur

Teil 4: Handlungsmöglichkeiten – Settingbasierte Fördermaßnahmen

Förderung sozialer Integration in der Schule

1 Soziale Integration

2 Ebenen sozialer Integrationsförderung

Sozialverhalten

Feedback

Sozialkontakte

3 Integrierte Maßnahmen zur Förderung sozialer Integration in Schule und Unterricht

Verhaltensorientierte Maßnahmen

Feedbackorientierte Maßnahmen

Kontaktorientierte Maßnahmen

4 Fazit

Literatur

Effektives Classroom Management – Strategien für positive unterrichtliche Entwicklungsbedingungen im Kontext von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

1 Ziele und Verständnis von Classroom Management

2 Wirksamkeit spezifisch im Kontext von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten

3 Prinzipien und grundlegende Strategien

4 Konkrete Handlungsstrategien

Das KlasseKinderSpiel

Lob und Feedback im Kontext des Classroom Management

6 Konklusion

Literatur

Verzeichnisse

Die Autorinnen und Autoren

Die Herausgebenden

Dr. Moritz Börnert-Ringleb ist Professor für Pädagogik bei Beeinträchtigung des Lernens am Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover.

Dr. Gino Casale ist Professor für Methodik und Didaktik in den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung am Institut für Bildungsforschung in der School of Education der Bergischen Universität Wuppertal.

Dr. Moritz Herzog ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildungsforschung in der School of Education der Bergischen Universität Wuppertal.

Dr. Miriam Balt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungsforschung in der School of Education der Bergischen Universität Wuppertal.

Moritz Börnert-Ringleb, Gino Casale,Miriam Balt & Moritz Herzog (Hrsg.)

Lern- und Verhaltensschwierigkeitenin der Schule

Erscheinungsformen – Entwicklungsmodelle – Implikationen für die Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-040424-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-040425-0epub: ISBN 978-3-17-040426-7

Vorwort

Michael Grosche

Üblicherweise wird das Vorwort zu einem wissenschaftlichen Werk von einem anerkannten Experten mit imposantem Œuvre, einer Meisterin ihres Fachs, einem Ordinarius, einer Koryphäe geschrieben. Ob diese arrivierten Zuschreibungen tatsächlich auf mich zutreffen, mögen andere beurteilen. Die Selbstbewertung fällt jedenfalls ernüchternder aus. Deshalb war ich mehr als überrascht, als ich um dieses Vorwort gebeten wurde, und schlug sogleich Namen von »älteren« und damit zumeist erfahreneren, klügeren oder gar weiseren Kolleg*innen vor. Die Herausgeberin und die Herausgeber teilten mir aber mit, dass sie sich bewusst an mich wendeten. In diesem Sinne betrachte ich es als eine große Ehre, diesem Buch ein Vorwort voranstellen zu dürfen.

Ich kenne alle vier Herausgeber*innen gut. Gino Casale war mein erster Doktorand und ist inzwischen mein Kollege an der Universität Wuppertal. Moritz Börnert-Ringleb begann zeitgleich zu meinem Erstruf an die Universität Potsdam seine Doktorarbeit im Arbeitsbereich von Jürgen Wilbert – ebenso wie Miriam Balt im Arbeitsbereich von Antje Ehlert. Nach der Promotion wechselte Moritz als Juniorprofessor an die Universität Hannover und stellte dort Miriam als Post Doc ein, die ich ihm aber etwas später für eines meiner Forschungsprojekte abwarb. Das Bewerbungsverfahren von Moritz Herzog am Arbeitsbereich von Gino begleitete ich vom ersten Tag an und wir lehren heute die Parallelvorlesungen im selben Modul. Alle vier Personen teilen die enorme Begeisterung für unser Fach, das große wissenschaftliche Interesse, die penible Akribie in Theorie und (quantitativer) Empirie, die uns als Wissenschaftler*innen auszeichnet, sowie ihren großen Ehrgeiz.

Das vorliegende Buch bildet für mich den aktuellen Höhepunkt »meiner« persönlichen wissenschaftlichen Trilogie über den Zusammenhang von Lern- und Verhaltensproblemen, die mich auf meinen bisherigen wissenschaftlichen Stationen begleitet hat. Das erste Buch las ich als Student des sonderpädagogischen Lehramts und nutze es in meiner Abschlussarbeit: »Lernbeeinträchtigung und Verhaltensstörung. Konvergenzen in Theorie und Praxis« von Ulrich Schröder, Manfred Wittrock, Sandra Rolus-Borward und Uwe Tänzer (2002). Insbesondere das darin enthaltene Kapitel von Roland Stein diente mir sehr. Das zweite Buch erlebte ich als Doktorand, als ich an der akademischen Feier zum 60. Geburtstag von Gerhard W. Lauth teilnahm. Als Geschenk überreichten ihm Friedrich Linderkamp und Matthias Grünke (2007) das ihm zu Ehren gewidmete Werk »Lern- und Verhaltensstörungen: Genese – Diagnostik – Intervention«. Das dritte Buch erreicht mich nun, einige Jahre später und vielleicht schon in einer Phase des wissenschaftlichen Establishments. Ich halte den Herausgeberband »Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule. Erscheinungsformen, Erklärungsmodelle und Implikationen für die Praxis« von Moritz Börnert-Ringleb, Gino Casale, Miriam Balt und Moritz Herzog (2022) in den Händen.

Alle drei Bücher hatten und haben dasselbe Ziel: Während die beiden Förderbereiche Lernen und Verhalten meist isoliert betrachtet werden, werden sie in diesen drei Werken gemeinsam analysiert. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass die Erkenntnisse aus dem jeweiligen singulären Förderbereich das gemeinsame Auftreten von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten rein additiv angemessen erklären könnten. Vielmehr ergibt sich durch das Zusammenwirken beider Förderbereiche eine neue und ungeahnt hohe Komplexität. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das Unterfangen dieser gleichzeitigen Betrachtung verdient daher größten Respekt!

Das Ihnen vorliegende und vorläufig letzte Buch »meiner« Trilogie fasst den aktuellen Wissensstand zum gemeinsamen Auftreten beider Förderbereiche zusammen, skizziert Erscheinungsformen und Erklärungsmodelle des gemeinsamen Auftretens und liefert Beschreibungen gezielter Fördermethoden zur Prävention und Intervention. Erklärtes Ziel der Herausgeberin und der Herausgeber ist es, das komplexe, multifaktorielle und transaktionale Bedingungsgefüge von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten besser begreifen zu können und dieses Wissen praktisch nutzbar zu machen.

Wissenschaft muss die Komplexität der Wirklichkeit reduzieren, um sie untersuchbar zu machen. Diesem Credo folgt auch das vorliegende Buch, in dem die Autor*innen bewusst nicht ganzheitlich vorgehen. Vielmehr greift jedes Kapitel ganz spezifische Aspekte des gemeinsamen Auftretens von Lern- und Verhaltensproblemen auf und bearbeitet diese aus der jeweiligen wissenschaftlichen Perspektive der Autor*innen.

Dabei ist es Moritz, Gino, Miriam und Moritz gelungen, die Expertise so vieler Personen in einem gleichzeitig übersichtlichen wie tiefgehenden Buch zu bündeln. Ihr wissenschaftliches Netzwerk, das sie für dieses Buch aktivieren konnten, ist groß und beeindruckend – und umso beeindruckender, als dass die Promotionen aller vier Personen noch gar nicht allzu lange her sind. In diesem Sinne verstehe ich das Buch als neuen Impuls der nachfolgenden wissenschaftlichen Generation, indem sowohl viele altbekannte Namen als Autor*innen wiederzufinden als auch zahlreiche neue Autor*innen kennenzulernen sind. Und nur falls Sie sich fragen, warum ich keinen Beitrag zum Buch beigesteuert habe: Ich hatte damals keine Zeit und musste absagen, wäre aber gerne dabei gewesen.

Sie als Leserin oder Leser werden eine meist pädagogisch und immer schulisch geprägte Analyse der Begriffe und Konzepte vorfinden. Sie werden differenzierte und tiefgehende Annahmen zum gemeinsamen Auftreten von Lern- und Verhaltensproblemen lesen. Sie werden Fördermöglichkeiten kennenlernen, die zur Prävention und Intervention komorbider Lern- und Verhaltensprobleme sinnvoll erscheinen. Und sie werden ganz sicher – so wie ich – beim Lesen zahlreiche Impulse für Ihre Forschung und Lehre, für Ihr Studium oder für Ihre Praxis entwickeln. In diesem Sinne vertraue ich darauf, dass das vorliegende Buch für Sie inspirierend sein wird.

Michael Grosche Wuppertal im Herbst 2022

Teil 1: Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule

Lernschwierigkeiten

Moritz Börnert-Ringleb

Schulisches Lernen variiert in Erfolg, Form und Inhalt sowohl zwischen Kindern und Jugendlichen als auch im Laufe der Entwicklung eines Kindes. Erfolgreiche Lernprozesse hängen dabei von zahlreichen Faktoren auf unterschiedlichen Einflussebenen ab. Neben internen Bedingungen erfolgreichen Lernens (wie z. B. kognitive Fähigkeiten, Arbeitsgedächtnis, Motivation oder auch emotionale Zustände) kann Lernen ebenfalls durch kontextuelle, externe Einflüsse und Bedingungen (z. B. die Qualität des unterrichtlichen Angebotes) beeinflusst werden. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Einflussvariablen erscheint es naheliegend, dass sich beim schulischen Lernen auch Formen von Schwierigkeiten manifestieren. Gleichzeitig stellt jedoch das Feld der Lernschwierigkeiten ein in sich äußerst vielfältiges Feld dar, welches in der Praxis und Forschung gelegentlich mit vermeintlich synonymen Begriffen wie z. B. Lernstörungen, Lernbehinderung oder sonderpädagogischer Förderbedarf Lernen gleichgesetzt wird (Mähler, 2020). Bei Betrachtung des Forschungsfeldes wird jedoch deutlich, dass sich das Feld der Lernschwierigkeiten und der angewandten Begriffe in verschiedene Perspektiven unterscheiden lassen kann, welche gleichzeitig mit eigenen Annahmen, diagnostischen Kriterien und Perspektiven für die Förderung einhergehen. Vor diesem Hintergrund sollen in diesem Kapitel diese verschiedenen Perspektiven betrachtet, Überschneidungen aufgezeigt und Differenzlinien erörtert werden.

1 Lernschwierigkeiten als Oberbegriff

Vor dem Hintergrund der Vielfalt an Begriffen, die erschwerte schulische Lernprozesse beschreiben, stellt der Begriff der Lernschwierigkeiten einen Oberbegriff für verschiedene Ausprägungsformen dar. Gold (2018) beschreibt Lernschwierigkeiten in Anlehnung an Zielinski (1980) dahingehend, dass Lernschwierigkeiten dann vorliegen, wenn im schulischen Lernen »wichtige individuelle, soziale oder institutionelle Normanforderungen dauerhaft verfehlt werden« (zitiert nach Gold, 2018, S.18). Diese Definition umschließt somit eine ganze Reihe von Szenarien, in welchen Lernschwierigkeiten auftreten können, da sie die Gesamtheit an möglichen Bezugsrahmen in der Beurteilung von schulischen Lernergebnissen umfasst. Eine Differenzierung der Gesamtheit erscheint jedoch insbesondere mit Bezug auf drei zentrale Dimensionen sinnvoll:

1.

Der zeitlichen Dimension der Problematik: Fast alle Lernenden haben zu einzelnen Zeitpunkten ihrer schulischen Laufbahn kurzfristige Schwierigkeiten im Lernen. So können beispielsweise temporäre ungünstige motivationale und emotionale Zustände, Verständnisschwierigkeiten oder auch fehlendes Interesse dazu führen, dass Lernprozesse temporär nicht erwartungskonform verlaufen. Gleichzeitig erfordern diese temporären Einschränkungen nicht notwendigerweise besondere Formen von Unterstützung im Sinne zusätzlicher Ressourcen oder Förderung. Weniger Lernende zeigen langandauernde und übergreifende Schwierigkeiten beim Lernen, welche nicht allein durch nur kurzfristig wirkende Variablen erklärt werden können. Solche Formen von Lernschwierigkeiten überdauern im zeitlichen Verlauf und benötigen spezifische Formen der Unterstützung.

2.

Der Schwere der Schwierigkeiten: Lernschwierigkeiten unterscheiden sich neben der zeitlichen Umfänglichkeit auch mit Bezug auf die Intensität. Wie schon in der oben angewandten Definition beschrieben, können die Bezugsrahmen für die Beurteilung abweichender Lernprozesse variieren. So können Lernergebnisse zwar noch eine soziale Bezugsnorm erfüllen, dennoch im Kontext individueller Bezugsrahmen als problematisch beschrieben werden (oder vice versa). In diesem Sinne können somit auch interindividuelle als auch intraindividuelle Verständnisse von Lernschwierigkeiten ergeben. Neben der Wahl des Bezugsrahmens erscheint zudem die Bezugsgröße (im Sinne der Diskrepanz gezeigter Leistung und angewandter Norm) variabel.

3.

Dem Umfang der Schwierigkeiten: Das Phänomen der Lernschwierigkeiten umfasst sowohl bereichsspezifische als auch bereichsübergreifende Lernschwierigkeiten. Besonders prominent werden Schwierigkeiten beim Lernen beschrieben, die insbesondere den Erwerb der Kulturtechniken (Rechnen, Lesen und Rechtschreiben) betreffen. Diese Schwierigkeiten können sowohl isoliert in einzelnen Kompetenzbereichen als auch in Kombination auftreten. Darüber hinaus können jedoch auch weitere Lernsituationen betroffen sein. So können sich Lernschwierigkeiten auch durch eine übergreifend eingeschränkte Fähigkeit der Regulation des Lernprozesses kennzeichnen

Die verschiedenen Ausprägungsformen bzw. Begriffsverständnisse von Lernschwierigkeiten können sich entlang dieser zentralen Dimensionen unterschieden. Die begriffliche Kategorisierung von unterschiedlichen Formen von Lernschwierigkeiten ist hierbei zudem abhängig von der entsprechenden Bezugswissenschaft bzw. dem entsprechenden Unterstützungssystem (»Provinienz«; Koßmann, 2019, S. 26). So haben sich im Kontext klinisch-psychologischer bzw. medizinischer Forschung und Praxis insbesondere die Termini unterschiedlicher Lernstörungen etabliert. Mit Bezug auf das System Schule sind hingegen die Begriffe der Lernbehinderung, der Lernbeeinträchtigungen wie auch die Bezeichnung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen zu finden. Darüber hinaus existieren weitere Begriffe im englischen Sprachraum wie »learning disabilities«.

2 Formen von Lernschwierigkeiten

Lernstörungen und Lernschwächen

Das Begriffsfeld der Lernstörungen ergibt sich insbesondere mit Blick auf eine psychologisch-medizinische Perspektive auf Lernschwierigkeiten. In diesem Sinne entsprechen auch diagnostische Kriterien in den einschlägigen klinisch-diagnostischen Manualen (DSM-V, ICD-10) dieser Perspektive. Nach DSM-V handelt es sich bei Lernstörungen demnach um ein »grundlegendes Störungskonzept [...], das sich in verschiedenen spezifischen Formen im Bereich des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens darstellt« (Schulte-Körne, 2014, S. 269). Als wesentliches diagnostisches Kriterium wird bei der Feststellung einer Lernstörung dabei auf eine festgestellte Diskrepanz zwischen gezeigter Leistung und sozialer Norm verwendet. Es handelt sich hierbei somit um eine nicht alters- bzw. klassenstufengerechte Leistung im Erwerb einer bzw. mehrerer Kulturtechniken. Gleichzeitig erscheint das Ausmaß der Diskrepanz zwischen gezeigter Leistung und Norm nicht abschließend spezifiziert und »sollte in einem Bereich [...] von 1 – 2.5 Standardabweichungen« (Schulte-Körne, 2014, S. 270) liegen. In der englischsprachigen Version der DSM-V werden Lernstörungen unter dem Begriff »specific learning disabilities« geführt. Im deutschsprachigen Bereich wird im Kontext der Lernstörungen insbesondere auf die ICD-10 verwiesen, in welcher diese als »umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten« (z. B. Hasselhorn & Schulte-Körne, 2015) beschrieben werden. Im Weiteren werden diese in Rechenstörung, Lese-Rechtschreibstörung sowie eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten unterschieden. Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten können somit sowohl isoliert in einzelnen Kompetenzbereichen als auch kombiniert auftreten. Sowohl in DSM-V als auch ICD-10 ist zudem auszuschließen, dass die Schwierigkeiten nicht durch allgemeine Entwicklungsverzögerungen bzw. Intelligenzbeeinträchtigungen zu erklären sind. Fischbach et al. (2013) weisen hier jedoch auf uneinheitliche Definitionen unbeeinträchtigter Intelligenz hin (IQ < 70 bzw. IQ < 85). Trotz deutlicher Überschneidungen der Diagnosekriterien zur DSM-V liegt ein wesentlicher Unterschied in der ICD in der Forderung nach doppelter Diskrepanz. Neben einer Abweichung von sozialer Klassen- und Altersnorm sollte die gezeigte Leistung zudem in Diskrepanz zur erfassten Intelligenz stehen, also geringer sein, als es aufgrund von Alter und Intelligenz zu erwarten wäre. Dieses doppelte Diskrepanzkriterium führt somit zum Ausschluss zahlreicher Szenarien, in denen die Schulleistung nach wie vor deutlich unter der Leistungsnorm liegt. In diesem Zusammenhang werden häufig auch die Begriffe der Lernschwäche (nicht erfüllte Diskrepanz zur Intelligenz) und Lernstörung (erfüllte Diskrepanz zur Intelligenz) unterschieden (Fischbach et al., 2013). In der Prävalenzstudie beschreiben Fischbach et al. (2013) zudem, dass ca. 23 % aller Kinder und Jugendlichen eine Form der Lernschwäche zeigen, von diesen jedoch lediglich 57 % auch eine »Diagnose mit Störungswert« (S. 69) (im Sinne doppelter Diskrepanz) aufweisen. Nicht ohne Grund hinterfragen daher zahlreiche Arbeiten den Nutzen und die Sinnhaftigkeit dieses Kriteriums (z. B. Ehlert et al., 2012; Mähler, 2020). So fasst Mähler (2020) zusammen, dass »die Vorstellung von grundsätzlichen Unterschieden zwischen lernschwachen Kindern mit versus ohne Diskrepanz zur Intelligenz unzutreffend ist« (S. 9).

Lernbehinderung

Im Gegensatz zur Lernstörung handelt es sich bei der Lernbehinderung nicht um ein klinisch definiertes Phänomen. Vielmehr verorten Grünke und Grosche (2004) die Wurzeln des Begriffs in einer Neuordnung des Förderschulwesens in Deutschland (s. auch Kanter, 2007). Es handelt sich somit um eine schuladministrative Kategorie, welche sich aus dem Bezugsfeld Schule als Einordnung für Lernende, die sich durch ein »deutliches Zurückbleiben schulischer Leistungen hinter [...] schulischen Normen« (S. 77) charakterisieren lassen, entwickelt hat. An dieser Stelle werden zwar Parallelen zur Lernstörung deutlich, da es sich auch hier somit um normabweichende Schulleistungen handelt. Diese bestehen auch dahingehend, als dass sich auch Lernbehinderungen insbesondere auch im Erwerb der grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Rechnen und Rechtschreiben als Manifestation kognitiv-verbaler und abstrakter Inhalte abbilden und ebenfalls über einen längeren Zeitraum überdauern (mehrere Jahre) (Grünke & Grosche, 2004). Im Gegensatz zu Formen von Lernstörungen müssen die auftretenden Schwierigkeiten jedoch notwendigerweise mehrere Unterrichtsfächer betreffen und scheinen daher am ehesten vergleichbar mit einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten. Das Scheitern in verschiedenen Anforderungsbereichen wird dabei auch durch fehlende grundlegende Voraussetzungen für erfolgreiche Lernprozesse erklärt (Heimlich et al., 2016). Der wesentlichste Unterschied zum Feld der Lernstörungen ist jedoch darin zu sehen, dass Lernbehinderungen in Zusammenhang mit Rückständen der allgemeinen Intelligenz stehen. Grünke und Grosche (2014) gehen hier von einem IQ zwischen der ersten und dritten Standardabweichung aus (IQ 55 – 85). Mit Lernbehinderung wird somit eine potenzielle Gruppe von Schülern und Schülerinnen beschrieben, welche zwar ähnliche Schwierigkeiten im schulischen Lernen (im Sinne der Diskrepanz gezeigter Schulleistung zur sozialen Norm) zeigt, gleichzeitig jedoch nicht die Kriterien der Diagnose einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten (im Sinne der Diskrepanz zur Intelligenz) bzw. zur Lernschwäche (im Sinne eines IQ > 85) erfüllen (Skowronek et al., 2018). Die Feststellung und Kategorisierung einer Lernbehinderung als schulorganisatorische Perspektive wurde mittlerweile durch die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs/Förderschwerpunkt Lernen abgelöst. Gleichzeitig erscheint in diesem Kontext die Kategorie Lernbehinderung nach wie vor implizit synonym verwandt zu werden (Koßmann, 2019).

Sonderpädagogischer Förderbedarf Lernen

Genauso wenig wie Lernbehinderung beschreibt sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) im Lernen eine empirische Kategorie, sondern bezieht sich erneut auf eine schuldadministrative Entsprechung, welche mit dem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot einhergeht. Generell beschreibt diese »Schülerinnen und Schüler mit erheblichen Schwierigkeiten im schulischen Lernen« die wesentlichen Grundvoraussetzungen zum Lernen aufweisen, »die bei der Begegnung und Auseinandersetzung mit schulischen Lerngegenständen zu einer Irritation bzw. Desorientierung führen können« (Kultusministerkonferenz der Länder, 2019, S. 5). Unter der Prämisse, dass es diesen Kindern und Jugendlichen über einen längeren (nicht näher spezifizierten) Zeitraum, auch unter Umsetzung der verfügbaren grundständigen schulischen Unterstützung, nicht gelingt, die schulischen Mindeststandards zu erreichen, kann, den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) der Länder (2019) folgend, dementsprechend ein sonderpädagogischer Förder- bzw. Unterstützungsbedarf angenommen werden. Mehr oder weniger explizit formulierter Zweck ist dabei, eine Passung von unterrichtlichem Angebot und Lernvoraussetzungen des Kindes herzustellen. Darüber hinaus werden je nach Bundesland spezifische Empfehlungen zur Feststellungsdiagnostik angelegt. Übergreifend ist das auslösende Moment für die Beurteilung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs hier jedoch die angewandte Norm der jeweiligen Klassenlehrkraft/Klassenlehrkräfte (im Sinne des Erreichens einer Belastungsgrenze der Lehrkraft). Diese kann sich jedoch nach individuellen Erwartungen, individueller Entwicklung, aber auch sozialer Norm innerhalb einer Klasse unterscheiden (s. auch Koßmann, 2020). Natürliches Ergebnis einer so vielschichtigen und variierenden Betrachtung von nicht erwartungskonformer Lernentwicklung ist eine starke Vielfalt innerhalb der Gruppe von Schülerinnen mit SPF Lernen. Deutlich wird in den KMK-Empfehlungen jedoch, dass die mit Bezug auf Lernbehinderung zentral gesetzte Beeinträchtigung der Intelligenz nicht weiter als zentrale kausale Erklärung eines SPF Lernen erkennbar wird. Darüber hinaus existiert jedoch eine gewisse Unschärfe mit Bezug auf kriteriale Setzungen, welche sich auch in der Umsetzung und verschiedenen Förderquoten in den verschiedenen Bundesländern abbildet (siehe auch Sälzer et al., 2015). Vor dem Hintergrund dieser Unspezifität bleibt lediglich als übergreifendes Merkmal festzuhalten, dass es sich bei der Feststellung eines SPF um eine Feststellung fehlender Passung zwischen individuellem Profil und unterrichtlichem Angebot handelt, welches zu einer nicht erwartungskonformen Lernentwicklung führt. Das Auftreten der Lernschwierigkeit wird hier nicht allein durch das Kind immanente Variablen erklärt, sondern auch aus einem (bislang) unzureichenden bzw. unpassenden unterrichtlichen Angebot.

3 Ursachen von Lernschwierigkeiten

Lernschwierigkeiten können vielfältig operationalisiert werden. Die unterschiedlichen Operationalisierungen umfassen dabei in Teilen auch schon Vermutungen zu kausalen Bedingungsfaktoren (z. B. eingeschränkte Intelligenz oder unterrichtlichem Angebot). Die Entwicklung von Lernschwierigkeiten wird in diesem Kontext jedoch selten durch einzelne Variablen erklärt, sondern lässt sich vielmehr im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Bedingungsgefüges erklären (Gold, 2011). In solchen Modellen werden Lernschwierigkeiten als das Produkt unterschiedlicher Einflussfaktoren und -ebenen erklärt, welche insgesamt in interne und externe Bedingungen unterschieden werden können (Kretschmann, 2007). Je nach Perspektive werden dabei einzelne Einflussebenen bzw. -variablen in unterschiedlichem Maße gewichtet.

Interne Bedingungen

Die Entstehung von Lernschwierigkeiten wird häufig in Zusammenhang mit internen Lernvoraussetzungen und Variablen gebracht. So nehmen insbesondere kognitive Variablen eine zentrale Rolle ein (Fletcher & Grigorenko, 2017). Grigorenko und Kollegen*innen (2019) fassen in ihrem Beitrag jedoch zusammen, dass Lernschwierigkeiten hier weniger auf globale Einschränkungen kognitiver Fähigkeiten zurückzuführen sind als mit spezifischen Schwierigkeiten in unterschiedlichen kognitiven Prozessen einhergehen. In diesem Kontext werden Variablen wie das Arbeitgedächtnis (z. B. Mähler & Schuchardt, 2012), Verarbeitungsgeschwindigkeit (z. B. Moll et al., 2016), Aufmerksameit , exekutive Funktionen und Selbstregulation (z. B. Toll et al., 2011), (meta)-kognitive Strategienutzung (z. B. Börnert-Ringleb & Wilbert, 2018; Rosenzweig et al., 2011), aber auch spezifische Vorläufer wie phonologische Bewusstheit (Melby-Lervåg et al., 2012; vgl. hier auch INVO-Modell zum erfolgreichen Lernen; Hasselhorn & Gold, 2017) genannt.

Die Einschränkungen im Lernprozess und im Wissenserwerb werden dabei auch durch neurologischen Variablen erklärt. So fassen Grigorenko et al. (2019) zusammen, dass unterschiedliche strukturelle neurologische Auffälligkeiten (z. B. geringere Aktivität in einzelnen Gehirnarealen) beobachtet werden können, welche in Verbindung mit mehr oder weniger erfolgreichem Lernen stehen.

Darüber hinaus werden auch Einflussfaktoren beschrieben, welche auf einer genetischen Dispositionsebene zu diskutieren sind. So erscheint das Risiko der Entwicklung von Leseschwierigkeiten vergrößert bei Vorliegen von Lernschwierigkeiten im familiären Umfeld (z. B. von Eltern) (Snowling & Melby-Lervåg, 2016). Gleichzeitig ist die Erklärung solcher Befunde schwierig, da neben genetischen Variablen insbesondere auch sozialisationsbedingte Variablen in Abhängigkeit des Elternhauses variieren. Nichtsdestotrotz werden genetischen Einflüssen (bzw. bestimmten Genen) eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Lernschwierigkeiten zugeschrieben (für eine Überblick siehe Grigorenko et al., 2019; Fletcher & Grigorenko, 2017).

Neben kognitiven, neurologischen und genetischen Variablen gehen weitere kindbezogene psychosoziale Variablen mit der Genese von Lernschwierigkeiten einher. Diese beeinflussen einerseits den Lernprozess, werden jedoch auch wiederum durch den Verlauf des Lernens beeinflusst. Diese Variablen umfassen Konstrukte wie die Motivation (s. auch Wilbert, 2010), das akademische Selbstkonzept (Schuchardt et al., 2015), aber auch emotionale Schwierigkeiten (Fischbach et al., 2010). Festzuhalten ist somit, dass unterschiedliche Lernvoraussetzungen auf verschiedenen Einflussebene auf Seiten des Kindes mit der Genese von Lernschwierigkeiten einhergehen. Häufig besteht hier doch zudem eine Wechselwirkung mit Variablen aus der Umwelt der Kinder.

Externe Bedingungen

Mit Bezug auf die zuvor beschriebenen Befunde zu familiären Häufungen des Auftretens von Formen von Lernschwierigkeiten muss neben internen Bedingungen insbesondere auch auf die Rolle von externen Bedingungen von Lernschwierigkeiten hingewiesen werden. So nehmen Merkmale der Umwelt wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Zahlreiche dieser Einflüsse sind dabei mit dem familiären Hintergrund der Kinder assoziiert. Wocken (2000) beschreibt beispielsweise, dass Eltern von Kindern, welche eine Förderschule Lernen besuchen, selbst niedrigere Schulabschlüsse vorweisen. Zudem berichten sie von geringeren Beschäftigungszeiten als die Eltern Gleichaltriger aus Regelschulen. Es zeigen sich Unterschiede in der materiellen Ausstattung im Elternhaus sowie in der Qualität der Freizeitgestaltung. Werning und Lütje-Klose (2016) beschreiben in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass Förderschüler überwiegend aus armen, sozial benachteiligten Milieus kommen. Die Auswirkungen der sozialen Herkunft auf die Entwicklung von Lernschwierigkeiten können dabei vielfältig sein (siehe hierzu auch die Ausführungen in Werning und Lütje-Klose, 2016).

Neben Einflüssen auf familiärer Ebene nehmen auch die Sozialbeziehungen zu Gleichaltrigen Einfluss auf die Genese von Lernschwierigkeiten (vgl. Gold, 2011). Sozialbeziehungen zu Gleichaltrigen stellen dabei eine Ressource dar (Gold, 2011). In zahlreichen Studien wurde die soziale Position von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten betrachtet. Hier zeigen sich ambivalente Ergebnisse. Krull und Kollegen (2018) konnten etwa zeigen, dass ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Lernen zu einer geringeren sozialen Akzeptanz führt, jedoch kein Einfluss sozialer Akzeptanz/Ausgrenzung auf die Entwicklung von Lernschwierigkeiten besteht. Schwalbe und Kollegen (2021) weisen in diesem Zusammenhang auf die Relevanz von Schulleistung als Norm für den sozialen Status hin. Henke und Kolleg*innen (2017) dokumentierten keinen Unterschied zwischen dem sozialen Status von Kindern mit bzw. ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Gold (2011) weist zudem darauf hin, dass existierende Peerbeziehungen auch in einem negativen Verhältnis zu Schulleistungen stehen können, wenn sich die Norm positiver Schulleistungen in einzelnen sozialen Cliquen verkehrt und als nicht erstrebenswert betrachtet wird.

Eine wesentliche externe Bedingung der Genese von Lernschwierigkeiten stellt darüber hinaus die Qualität des unterrichtlichen Angebotes dar. So unterscheiden sich zwar durchaus die Lernvoraussetzungen von Kindern mit einem Risiko für Lernschwierigkeiten, jedoch entsteht erst durch eine fehlende Passung zwischen unterrichtlichem Angebot bzw. unterrichtlichen Erwartungen und Voraussetzungen auf Seiten der Lernenden ein unerwünschtes Scheitern im Lernprozess. Die Individualisierung von unterrichtlichem Angebot mit Bezug auf Bedarfe auf Seiten des Lernenden erscheint hier zentral und notwendig. In diesem Zusammenhang spielt das (frühzeitige) Erkennen von Lernvoraussetzungen und -bedarfen eine zentrale Rolle. Darüber hinaus erscheinen spezifische Merkmale der Unterrichtsqualität von besonderer Relevanz für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Gold (2011) beschreibt hier bestehende Befunde und betont die Relevanz von effizienter Klassenführung und konstruktiver Unterstützung für Kinder mit geringen Vorkenntnissen. Diese Befunde stellen somit besondere Herausforderungen an Kompetenzen und Profile von Lehrkräften als weitere externe Bedingungen von Lernschwierigkeiten. Wilbert und Börnert-Ringleb (2015) betonen hier insbesondere die zentrale Rolle diagnostischer Kompetenz als wesentliches Element zirkulärer Unterrichtsprozesse.

4 Fazit

Lernschwierigkeiten stellen ein heterogenes Feld unterschiedlicher Formen von scheiternden schulischen Lernprozessen dar. Diese variieren in Umfang und Intensität. Je nach Perspektive auf Lernschwierigkeiten werden dabei unterschiedliche Einflussvariablen in verschiedenem Maße als besonders relevant für die Entwicklung von und die Förderung bei Lernschwierigkeiten betrachtet.

Aus schulischer (und hier insbesondere sonderpädagogischer) Perspektive scheint die stärkste Fokussierung im Kontext von Lernschwierigkeiten auf der Herstellung von Passung unterrichtlicher Angebote und individuellen Profilen der Kinder und Jugendlichen zu liegen. Hierbei wird stets auch das unterrichtliche Angebot als wesentliches bedingendes Element der unterrichtlichen Schwierigkeiten im Rahmen der Förderplanung berücksichtigt, welches zu den kindlichen Profilen passen (und hier auch insbesondere Ressourcen und Interessen berücksichtigen) sollte. Nichtsdestotrotz impliziert die Fokussierung von fehlender Passung auch immer die Betrachtung internaler Bedingungen von Lernschwierigkeiten. Die Förderung selbiger stellt damit einen weiteren zentralen Baustein dar, welcher jedoch mit einer starken Fokussierung des unterrichtlichen Vorgehens einhergeht.

An dieser Stelle scheint sich die Perspektive mit Bezug auf Lernstörungen abzugrenzen. So stehen hier insbesondere internale Bedingungen im Zentrum der Betrachtung und Förderung. Gleichzeitig werden auch im Kontext der Forschung zu Lernstörungen bzw. »learning disabilities« Perspektiven eröffnet, welche den Unterricht als Bezugsreferenz nutzen. So werden learning disabilities als eine ausbleibende Reaktion (»Response«) auf effektive Unterrichtmethoden (»effective instruction«) operationalisiert (vgl. Ausführungen zu IDEA 2004 in Grigorenko et al., 2019, 39). Dieser Argumentation folgend handelt es sich somit bei Lernstörungen weniger um ein Passungsproblem als ein Konstrukt, welches unabhängig von der unterrichtlichen Qualität existiert.

Literatur

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Verhaltensschwierigkeiten

Gino Casale & Moritz Herzog

1 Einleitung

Die Schule ist ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen und auf vielfältige Weise sozial interagieren und kooperieren. In den seltensten Fällen sind die sozialen Interaktions- und Kooperationspartner frei gewählt: in Deutschland besteht eine Schulpflicht für Kinder und Jugendliche und der Schulbesuch wird administrativ vor allem pragmatisch über regionale Verteilungsparameter organisiert. Dadurch entstehen im schulischen Kontext zahlreiche soziale Interaktionen sowohl unter den Schüler*innen als auch zwischen Schüler*innen und Lehrkräften, in denen sozial kompetentes Verhalten von Lehrkräften und Schüler*innen erforderlich ist, um das Zusammenleben in der Schule zu gestalten. In den meisten sozialen Gemeinschaften, so auch in der Schule, gibt es anerkannte formelle und informelle Vereinbarungen über die Gestaltung sozialer Interaktionen: sogenannte Verhaltensregeln. Das Erlernen grundlegender Verhaltensregeln mit dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe stellt ein schulisches Lernziel dar. Dort, wo diese Regeln von den Menschen nicht beachtet werden (können), entstehen Verhaltensschwierigkeiten, die sich zwangsläufig auf das soziale Miteinander auswirken. Im vorliegenden Kapitel soll es um diese Verhaltensschwierigkeiten in der Schule gehen und darum, wie diese im (sonder)‌pädagogischen Kontext konzipiert werden können. Ziel ist es, verschiedene phänomenologische Erkenntnisse zusammenzubringen und die Quintessenz für den schulischen Kontext herauszuarbeiten.

Die Relevanz eines solchen Beitrags ergibt sich zum einen aus der großen Bedeutung, die Verhaltensschwierigkeiten für das Gelingen von Unterricht, Entwicklung und Erziehung im Schulkontext zukommt. Die Bedeutsamkeit des Beitrags ergibt sich aber zum anderen auch aus der Vielzahl der Fachdisziplinen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Jede Disziplin verwendet ihre eigenen Begriffe, Erklärungsmodelle und epidemiologischen Informationen, so dass es Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen schwerfällt, den Überblick zu behalten und sich selbst bezüglich des Phänomens zu positionieren. Hier wollen wir mit diesem Kapitel dazu beitragen, den aktuellen Kenntnisstand zu den verschiedenen Definitionen sowie den davon abhängigen Folgen, Prävalenzen und Erklärungsmodellen dieses pädagogisch hoch bedeutsamen Themas zu sortieren und nutzbar zu machen.

2 Definitionen und Erscheinungsformen

Im einfachsten Fall sind Verhaltensschwierigkeiten immer Verhaltensweisen, die von konkreten Verhaltenserwartungen im sozialen Umfeld abweichen. Verhaltenserwartungen in der Schule sind spezifische und beobachtbare Verhaltensweisen, die Erwartungen zur Schaffung eines sicheren, erfolgreichen und vorhersehbaren Lernumfelds ausdrücken (Sugai & Horner, 2006). Sie entwickeln sich einerseits auf sozialer Ebene (Verhaltensnormen), andererseits auf individueller Ebene (Verhaltenswerte) (Frese, 2015). Weichen soziale Verhaltenserwartungen und individuelle Verhaltenswerte voneinander ab, spricht man von Verhaltensschwierigkeiten, die zum einen durch eine Überanpassung des Verhaltens an den sozialen Kontext bzw. durch eine unverhältnismäßig starke Berücksichtigung der eigenen Person in Erscheinung treten.

Verhaltensschwierigkeiten können hinsichtlich ihrer Intensität und ihrer Ökologie eingeordnet werden. Unter Intensität wird zum einen der Schweregrad der Diskrepanz zwischen gezeigtem Verhalten und Verhaltenserwartung und zum anderen die Persistenz, mit der diese Abweichung überdauert, verstanden. Die Ökologie bezeichnet die sozialen Settings, in denen die Verhaltensschwierigkeiten auftreten. Je stärker die Intensität und je settingübergreifender die Verhaltensschwierigkeiten auftreten, desto höher ist der professionelle Handlungsbedarf, sei es durch zusätzliche (sonder)‌pädagogische Unterstützungsangebote oder durch therapeutische Maßnahmen.

Verhaltensschwierigkeiten in der Schule werden je nach Bezugsdisziplin unterschiedlich bezeichnet und definiert. Dabei wird die Begriffsbildung vor allem vor dem Hintergrund von Stigmatisierungs- und Etikettierungseffekten kritisch diskutiert (Cloerkes & Markowetz, 2003; Herz, 2014). Jeder Begriff weist spezifische Vorteile (z. B. die interdisziplinäre Verwendung des Begriffs Gefühls- und Verhaltensstörung) und Nachteile (z. B. der Fokus auf das Individuum beim Störungsbegriff) auf und die Diskussion der verschiedenen Assoziationen und Wirkungen von Begriffen auf die betroffenen Personen sowie die damit verbundenen Handlungsmaßnahmen ist wichtig und alternativlos. An dieser Stelle wollen wir jedoch nur einige häufig genutzte Begrifflichkeiten benennen und kurz erläutern. Anschließend konzentrieren wir uns stärker auf die Erscheinungsformen von Verhaltensschwierigkeiten, die sich in nahezu allen Definitionen wiederfinden, sowie deren Auswirkungen insbesondere im schulischen Kontext. Den Darstellungen zugrunde liegt ein Verständnis von Verhaltensschwierigkeiten, das diese als Teilhabebarrieren an verschiedenen Funktionsbereichen unserer Gesellschaft, die aus den Interaktionen zwischen Individuen und diversen Kontextfaktoren resultiert, versteht.

3 Begriffe, Definitionen und Klassifikationen

Verhaltensschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen werden insbesondere (aber nicht ausschließlich) im klinischen, psychologischen, bildungspolitischen und pädagogischen Kontext definiert.

Im klinischen Kontext wird der Begriff der psychosozialen Störungen bzw. der Gefühls- und Verhaltensstörungen verwendet. Darunter werden Verhaltensschwierigkeiten in der Schule als behaviorale und emotionale Reaktionen beschrieben, die von altersangemessen, kulturellen und ethischen Normen abweichen und sich bedeutsam auf wesentliche Funktionsbereiche auswirken (Merikangas et al., 2009). Orientiert an dieser Definition sind in den Klassifikationssystemen International Classification of Diseases (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) der American Psychiatric Association (APA) spezifische Kriterien und Symptome definiert, die der Absicherung der Diagnose von Gefühls- und Verhaltensstörungen dienen. Für eine Störungsdiagnose werden die bereits genannten Kriterien der Intensität und Ökologie um das Kriterium der Integration (i. S. eines Erfordernisses spezifischer Hilfen für Teilhabe an der Gesellschaft) erweitert. Aus klinischer Sicht werden Verhaltensschwierigkeiten als spezifische Störungsbilder, die von außenstehenden Personen stärker (z. B. ADHS) oder schwächer (z. B. Angststörungen) wahrnehmbar sind, klassifiziert und deren Diagnose, Reduktion und Prävention im Vordergrund steht.

Im psychologischen Kontext werden Verhaltensschwierigkeiten vor allem als Resultat von Problemen in der emotional-sozialen Entwicklung des Individuums betrachtet und demnach häufig als sozial-emotionale Kompetenzdefizite definiert. Unter sozial-emotionalen Kompetenzen sind ganz grundlegend Fertigkeiten zu verstehen, die einerseits den adaptiven Umgang mit den eigenen sowie den Emotionen anderer und andererseits ein Kommunikations- und Interaktionsverhalten zur Erreichung eigener sozialer Handlungsziele unter Berücksichtigung der sozialen Ziele anderer umfassen (Holodynski et al., 2013). Sind diese Kompetenzen beeinträchtigt, äußert sich dies unmittelbar auf der Verhaltensebene der betroffenen Kinder und Jugendlichen und somit auch in beobachtbaren Verhaltensschwierigkeiten. Eine besondere Rolle für das konkrete Verhalten spielen aus psychologischer Sicht kognitive, emotionale und soziale Selbstregulationskompetenzen, denen u. a. exekutive Funktionen des Arbeitsgedächtnisses zugrunde liegen (Bailey & Jones, 2019). Daher wird auf die Förderung von Selbstregulation und exekutiven Funktionen fokussiert.

Bildungspolitisch werden Verhaltensschwierigkeiten vor allem unter dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung subsumiert, der in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK, 2000, S. 10) als »Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung, des Erlebens und der Selbststeuerung« definiert wird, die sich so massiv auf die Lern- und Entwicklungspotentiale auswirken, dass sie durch reguläre Unterstützungsangebote nicht zu mildern sind. Der bildungspolitische Umgang mit Verhaltensschwierigkeiten ist also vor allem durch die formale Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich Emotionale und soziale Entwicklung gekennzeichnet, wenngleich in vielen Bundesländern zunehmend eine Lösung formal festgestellter Förderbedarfe von sonderpädagogischer Unterstützung umgesetzt wird (siehe z. B. das 9. Schulrechtsänderungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen).

Eine vollumfänglich anerkannte und einheitlich genutzte (sonder)‌pädagogische Definition von Verhaltensschwierigkeiten existiert bisher noch nicht; vielmehr werden unterschiedliche Terminologien, wie z. B. Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Erziehungsschwierigkeiten nachvollziehbar begründet verwendet (Hillenbrand, 2008). Myschker und Stein (2018, S. 56) beschreiben bspw. Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen als ein Verhalten, das

·

maladaptiv ist;

·

von zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnomen abweicht;

·

organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist;

·

mehrdimensional, häufig und schwerwiegend auftritt;

·

die Entwicklungs-‍, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und

·

ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann.

Sonderpädagogische Förderung im Sinne einer »Förderung von Bildung und Erziehung unter erschwerten Bedingungen« (Wember, 2003, S. 32) wird bei Verhaltensschwierigkeiten durch eine zusätzliche Unterstützung mit vielfältigen schulischen, außerschulischen, therapeutischen, medizinischen und/oder schulpsychologischen Methoden umgesetzt. Ein wichtiges Merkmal ist die multiprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit (Hennemann & Casale, 2015).

4 Auswirkungen und Folgen von Verhaltensschwierigkeiten in der Schule

Weiterhin werden Schüler*innen, die Verhaltensschwierigkeiten zeigen, im Klassenraum häufig durch Gleichaltrige sowie Lehrkräfte abgelehnt und sind demnach vergleichsweise schlecht sozial integriert (Huber, 2009; Krull et al., 2018). Schließlich gehen Verhaltensschwierigkeiten im Kindes- und Jugendalter mit einem erhöhten Risiko für Substanzmissbrauch und -abhängigkeit, Delinquenz, Gewaltbereitschaft, Beschaffungskriminalität, Gewaltverbrechen sowie finanziellen Problemen und Arbeitslosigkeit im Erwachsenenalter einher (Haller et al., 2016; Moffitt et al., 2002).

Verhaltensschwierigkeiten wirken jedoch auch auf andere Unterrichtsbeteiligte. So berichten Lehrkräfte, dass Verhaltensschwierigkeiten eine der größten Herausforderungen im pädagogischen Alltag darstellen und häufig zu körperlichen und psychischen Stress führen (Nash et al., 2016). Auch Mitschüler*innen im Klassenraum fühlen sich durch Verhaltensschwierigkeiten gestört (Schönbächler et al., 2011).

5 Prävalenz von Verhaltensschwierigkeiten

Eine Analyse der Prävalenz von Verhaltensschwierigkeiten im Sinne einer Diskrepanz zwischen gezeigten Verhaltensweisen und Verhaltenserwartungen ist unmöglich, da Verhaltensschwierigkeiten zum einen extrem häufig vorkommen und zum anderen norm-‍, werte- und kontextgebunden variieren. Um die Häufigkeit, die Stabilität und die Erscheinung des Phänomens zahlenmäßig eingrenzen zu können, ist ein Bezug zu den dargestellten Bezugsdisziplinen erforderlich. Deren unterschiedliche terminologische Zugänge wirken sich auch auf die Forschung zur Prävalenz von Verhaltensschwierigkeiten aus. Je nach Bezugsdisziplin und verwendeter Begrifflichkeit unterscheiden sich Operationalisierungen, befragte Personengruppen und Erhebungsinstrumente. Die zumeist befragten Personengruppen sind Lehrkräfte oder Erzieher*innen, Eltern und die Kinder und Jugendlichen selbst (Achenbach, 2017). Zur Erfassung von Verhaltensschwierigkeiten existiert eine Bandbreite an verschiedenen methodischen Zugängen (z. B. Verhaltensbeobachtungen, Verhaltensbeurteilungen, Entwicklungstest), die allesamt verschiedene Stärken und Schwächen haben und zweckgerichtet eingesetzt werden müssen (zusammenfassend bei Casale et al., 2015).

Im klinischen Kontext lässt sich – abhängig von der zugrunde gelegten Definition sowie den einbezogenen Informationsquellen – national wie international eine Zahl von 12 – 18 % an Kindern und Jugendlichen mit Gefühls- und Verhaltensstörungen identifizieren (Kovess Masfety et al., 2016; Polanczyk et al., 2015). Darunter treten internalisierende Störungen, wie z. B. Ängste, häufiger auf als externalisierende Schwierigkeiten, wie z. B. ADHS (Kovess Masfety et al., 2016). In Deutschland werden seit 2003 im Rahmen des Kinder- und Jugend-Gesundheitssurveys (KiGGS) bzw. der Zusatzbefragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten (BELLA) psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren erhoben. In der Basiserhebung (2003 – 2006) zeigten rund 20 % der Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten (Hölling et al., 2007). Dieser Wert hat sich auch in den Folgejahren kaum geändert (Hölling et al., 2014). Im Rahmen der BELLA-Studie werden zusätzlich Funktionsbeeinträchtigungen der bestehenden Probleme mit erhoben. Insgesamt zeigen fast 15 % aller Kinder und Jugendlichen eine Verhaltensauffälligkeit mit Funktionsbeeinträchtigung und ca. 5 – 9 % Symptome einer psychosozialen Störung (Ravens-Sieberer et al., 2008). Dabei sind Jugendliche und Mädchen häufiger betroffen als Kinder und Jungen (Otto et al., 2021). Während der Corona-Pandemie stiegen diese Zahlen deutlich: 30,4 % aller Kinder und Jugendlichen zeigten während der Pandemie psychische Auffälligkeiten (Ravens-Sieberer et al., 2021).

Beim Großteil der vorliegenden epidemiologischen Studien ist allerdings einschränkend zu konstatieren, dass den Studien eine spezifische Definition zugrunde gelegt wurde, die Erfassung des Phänomens meistens mono-perspektivisch erfolgte und lokale wie regionale Einflussfaktoren (und damit kulturgebundene Normvorstellungen), die jedoch nachweislich einen Einfluss auf die Entwicklung von Verhaltensproblemen haben, kaum berücksichtigt werden (Ford & McManus, 2020; Kovess-Masfety et al., 2016).

Im Vergleich dazu erscheint die Zahl offiziell diagnostizierter Förderbedarfe relativ niedrig. Im Schuljahr 2019/2020 hatten insgesamt 57.142 Schüler*innen einen Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung, was einem Anteil von unter 1 % aller Schüler*innen in Deutschland entspricht (KMK, 2020). Der Großteil dieser Schüler*innen (ca. 60 %) wird in integrativen bzw. inklusiven Settings beschult (KMK, 2020). Über 80 % der Schüler*innen im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung zeigen klinisch bedeutsame Verhaltensprobleme im o. g. Sinne (Hennemann et al., 2020).

Unabhängig von klinischen Auffälligkeiten und formalen Diagnosen treten nahezu in jeder Schulsituationen und vor allem im Unterricht verschiedene Formen von Verhaltensschwierigkeiten auf. Wenngleich diese Schwierigkeiten keinesfalls immer eine Störung indizieren, hemmen sie dennoch Unterrichtsprozesse und damit auch den Lern- und Entwicklungserfolg von Schüler*innen. Sie sind somit ebenfalls Ziel pädagogischer bzw. sonderpädagogischer Interventionen. Verhaltensschwierigkeiten in der Schule werden als solche in Abhängigkeit der Belastungsgrenzen von Lehrkräften und Schüler*innen situativ und subjektiv wahrgenommen. Daher ist eine objektive Schätzung der Häufigkeit von Verhaltensschwierigkeiten unmöglich und empirische Analysen beziehen sich tendenziell eher auf Unterschiede in der Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen in konkreten Situationen (z. B. Altmeyer et al., 2020; Wettstein et al., 2017). Die Ergebnisse dieser Analysen weisen unter anderem auf die hohe Bedeutsamkeit von Kontextfaktoren (z. B. Rollen von Lehrkräften, Qualität von Interaktionen, pädagogische Gestaltung des Unterrichts) für die Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen sowie auf die häufige Selbstverursachung durch die Lehrkräfte hin.

6 Erklärungsansätze

Verhaltensschwierigkeiten sind multifaktoriell bedingt. Sie können weder nur als individuelles Problem eines Kindes oder Jugendlichen noch als ausschließlich durch den sozialen Kontext verursacht definiert werden. Einem interaktionistischen Entwicklungsverständnis folgend, ist eine Verhaltensschwierigkeit das Resultat eines komplexen Interaktionsprozesses zwischen Individuum und Umfeld, in dem psychologische, biophysische und soziale Einflussfaktoren wirken (Stein, 2013). Diese Interaktionsprozesse führen zu einer Diskrepanz zwischen gezeigtem und erwartetem Verhalten.

In der Psychopathologie wird zunehmend davon ausgegangen, dass allen psychischen Störungen bzw. Gefühls- und Verhaltensstörungen eine gemeinsame Dimension zugrunde liegt, die die Entstehung der Störungen erklären kann (Caspi et al., 2014; Lahey et al., 2012). Dieser sogenannte p-Faktor bzw. Generalfaktor der Psychopathologie beeinflusst also die Entwicklung verschiedener Erscheinungsformen von Verhaltensstörungen (z. B. externalisierend, internalisierend) und ist dem g-Faktor der allgemeinen Intelligenz (Carroll, 1993) konzeptionell sehr ähnlich (Caspi et al., 2014). Die Hypothese eines p-Faktors wird allerdings überwiegend in Studien mit nur einer Informationsquelle (z. B. nur Lehrkräfte) und bezogen auf einzelne Kontexte gestützt; in Multi-Informanten-Studien über mehrere Kontexte hinweg reduziert sich die Stärke des p-Faktors (Watts et al., 2021). Diese Erkenntnis weist darauf hin, dass die Entstehung von Gefühls- und Verhaltensstörungen stärker multifaktoriell beeinflusst sein dürfte und sich spezifische Störungsformen in verschiedenen Kontexten (z. B. Schule, Elternhaus) unterschiedlich manifestieren (Watts et al., 2021).

Sogenannte transaktionale Entwicklungsmodelle versuchen die multifaktorielle Entstehung von Verhaltensschwierigkeiten abzubilden (Messick, 1983). Grundsätzlich berücksichtigen sie drei kontextuelle Variablen, die zur Entstehung einer psychosozialen Störung beitragen: (1) kindbezogene Faktoren, (2) die Verflechtung verschiedener Umweltsysteme (z. B. Peers, Familie, Schule) und (3) die Dynamik der menschlichen Entwicklung (Messick, 1983). Ausgehend von diesen drei Variablen strukturieren transaktionale Entwicklungsmodelle verschiedene biophysische, psychologische und soziale Risikofaktoren und deren Bedeutung über den Entwicklungsverlauf junger Menschen und gewichten unterschiedliche Risikofaktoren für bestimmte Entwicklungsphasen und Kontexte. Diese Risikofaktoren interagieren untereinander, sie kumulieren über die Zeit und sie wirken besonders stark in Transitionsphasen, wie bspw. beim Übergang von der Kita in die Grundschule (Beelmann & Raabe, 2007). Transaktionale Entwicklungsmodelle müssen für spezifische Erscheinungsformen von Verhaltensschwierigkeiten operationalisiert werden, wie z. B. für aggressiv-dissoziales Verhalten (z. B. Beelmann & Raabe, 2007), ADHS (Döpfner et al., 2021) oder Angst (z. B. Spence & Rapee, 2016).

Transaktionale Entwicklungsmodelle streben nach einem möglichst holistischen Abbild der Ätiologie von Störungen. Für einzelne Formen von Verhaltensschwierigkeiten sowie in der konkreten pädagogischen bzw. therapeutischen Arbeit sind meistens einzelne Risikofaktoren bzw. Kompetenzdimensionen besonders prominent zu berücksichtigen. Für aggressiv-dissoziales Verhalten hat sich bspw. die sozial-kognitive Informationsverarbeitung (Crick & Dodge,1994; Lemerise & Arsenio, 2000) als besonders relevant und hilfreich für konkrete Förderung erwiesen. Im Kontext von ADHS in der Schule spielen vor allem die exekutiven Funktionen (v. a. die inhibitorische Kontrolle, das Arbeitsgedächtnis und die kognitive Flexibilität) eine wichtige Rolle, da diese bei zahlreichen schulischen Anforderungssituationen (z. B. individuelle Stillarbeitsphasen, Organisation des Arbeitsprozesses, Prüfungssituationen) besonders gefordert werden (z. B. Pineda-Alhucema et al., 2018). Ein gut untersuchter und sehr stabiler Prädiktor für Ängste und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen ist die Verhaltenshemmung, ein Temperamentsstil, der im Säuglings- und frühen Kindesalter auftritt und sich in einer übertriebenen kognitiven Sensibilität für neuartige auditive und visuelle Reize und in einer Vermeidung von ungewohnten Situationen und Personen äußert (Clauss & Blackford, 2012; Kleberg et al., 2021).

7 Fazit

Verhaltensschwierigkeiten werden aus den Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen konzeptualisiert, die mit unterschiedlichen Definitionen und Klassifikationssystemen arbeiten und unterschiedliche Symptome in den Vordergrund rücken. Daraus und aus Unterschieden in der Erfassung von Verhaltensschwierigkeiten ergeben sich zum Teil deutliche Differenzen bezüglich der Prävalenz von Verhaltensschwierigkeiten. Darüber hinaus heben unterschiedliche Erklärungsmodelle die grundsätzliche Bedeutung der Interaktion von individuellen und Umweltfaktoren hervor, zugleich werden diese in den verschiedenen Disziplinen unterschiedlich stark gewichtet.

Damit stellen sich Verhaltensauffälligkeiten für die (sonder)‌pädagogische Forschung und Praxis als ein differenziertes Feld dar, in dem es sich zu orientieren und positionieren gilt. Basierend auf einer Analyse – und gegebenenfalls auch Synthese – der verschiedenen Definitionen und Erklärungsmodelle sind spezifische Methoden der Diagnose und Förderung zu gestalten. Ziel dieser Methoden ist es, die individuelle Teilhabe aller Schüler*innen am Unterricht und in der Folge am gesellschaftlichen Leben bestmöglich zu gewährleisten.

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