Lernen in der Schule (E-Book) - Daniel Escher - E-Book

Lernen in der Schule (E-Book) E-Book

Daniel Escher

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Um bei Schüler*innen Lernprozesse anzuregen, zu begleiten, zu unterstützen und zu bewerten, benötigen Lehrpersonen ein solides Grundlagenwissen über die verschiedenen Arten, Prozesse und Bedingungen des Lernens. Das Studienbuch vermittelt in leicht verständlicher Weise lernpsychologische Grundlagen und verortet sie im schulischen Alltagsgeschehen. Der Band richtet sich an alle Stufen. Für die 3. Auflage wurden mehrere Kapitel von Grund auf überarbeitet und inhaltlich erweitert.

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Seitenzahl: 476

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Daniel Escher, Helmut Messner

Lernen in der Schule

Studienbuch Lernpsychologie

ISBN Print: 978-3-0355-2174-0

ISBN E-Book: 978-3-0355-2175-7

3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Lernverständnis in Alltagssprache und Psychologie

Einleitung

Alltagsverständnis des Lernens

Das Lernverständnis der Psychologie

Lernen: Ein vielschichtiger Prozess

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 2Lernen am Erfolg – operante Konditionierung

Einleitung

Grundbegriffe der operanten Konditionierung

Instrumentelles Lernen im Unterricht: Auf- und Abbau von Gewohnheiten in komplexen Situationen

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 3Verhaltensänderung durch Signallernen – klassische Konditionierung

Einleitung

Wie die Lernpsychologie auf den Hund kam …

Grundbegriffe der klassischen Konditionierung

Emotionale Reaktionen – die Konditionierung von Befindlichkeiten

Signallernen durch Werbung

Signallernen im Unterricht

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 4Lernen am Modell – die sozial-kognitive Lerntheorie

Einleitung

Albert Bandura begründet die sozial-kognitive Lerntheorie

Prozesse des Lernens am Modell

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 5Wissenserwerb und Begriffsbildung

Einleitung – die kognitive Wende

Was ist Wissen?

Entwicklung des Wissens und Denkens – Jean Piaget

Das konstruktivistische Verständnis des Lernens

Über die gegebene Information hinausgehen – Jérôme Bruner

Vom sinnvollen verbalen Lernen – David P. Ausubel

Die Ausubel-Bruner-Kontroverse: Instruktion oder Konstruktion?

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 6Lernen im sozialen Austausch – die soziokulturelle Theorie von Lev Vygotskij

Einleitung

Lev Vygotskij begründet die soziokulturelle Theorie der kognitiven Entwicklung

Die Zone der nächsten Entwicklung

Stützprozesse des Lernens durch eine erfahrene Person

Vom sozialen Sprechen zum individuellen Denken

Folgerungen für den schulischen Unterricht: dialogische Unterstützung des Lernens durch die Lehrperson

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 7Gedächtnis: Behalten, Erinnern, Vergessen

Einleitung

Das Gedächtnis – ein komplexes System verschiedener Prozesse und Strukturen

Das Mehrspeichermodell des Gedächtnisses

Teilsysteme des Langzeitgedächtnisses

Abrufen und Vergessen von bewussten Gedächtnisinhalten

Für besseres Behalten und Erinnern

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 8Lernstrategien und Metakognition

Einleitung – das Lernen lernen

Lernstrategien und Lerntechniken

Kognitive Lernstrategien

Stützstrategien des Lernens

Metakognitive Kontrollstrategien der Lernregulation

Metakognitives Wissen

Lernstile, Lerntypen, Lernorientierungen

Fördern von Lernstrategien durch Metakognition

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 9Erwerb von Handlungswissen und Fertigkeiten

Einleitung

Was sind Fertigkeiten?

Handlungswissen oder prozedurales Wissen

Erwerb von Fertigkeiten und Routinen

Pädagogische Grundsätze zum Aufbau von Handlungsschemata und Fertigkeiten

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Kapitel 10Wissenstransfer und Problemlösen

Einleitung – Wissen und Kompetenz

Verfügbarkeit des Wissens

Transfer – der Gebrauch des früher Gelernten

Wie kann Transfer gefördert werden?

Problemlösen

Weiterführende Literatur

Studienaufgaben

Anhang

Literaturverzeichnis

Sachverzeichnis

Abbildungsnachweis

Vorwort

Lernen ist im Leben jedes Menschen ein allgegenwärtiger Prozess. Hin und wieder läuft der Lernprozess bewusst und gezielt ab, oft aber verläuft er beiläufig und unbewusst. Lernen ist eine notwendige Anpassung im Leben und beginnt lange vor der Schule.

Kleinkinder sind von Natur aus neugierig und wissbegierig. Sie wollen die Welt um sich herum kennenlernen und verstehen, wie sie funktioniert. Sie wollen sprechen können, laufen können und schreiben können wie die Erwachsenen. Kinder haben Spaß am Lernen und sind in hohem Maße interessiert. Viele Dinge probieren sie aus. Manches entdecken sie für sich, anderes schauen sie ab. Vieles erfahren sie durch Erzählungen von vertrauten Personen. Sie sind stolz, wenn sie ihr Wissen zeigen und ihre Fähigkeiten anwenden können. Im Vorschulalter erreicht die Neugier der Kinder einen Höhepunkt. Freude und Interesse sind Gefühle, die ihr Lernen begleiten.

Für nicht wenige Schülerinnen und Schüler wird dann aber das schulische Lernen zu einer recht freudlosen Tätigkeit. Sie verlieren im Verlaufe ihrer Schulzeit mehr und mehr die Lust am Lernen – manchmal bis hin zur Verweigerung. Manche fragen sich deshalb: Was geschieht in unseren Schulen? Ist es individuelles Unvermögen der Schülerinnen und Schüler? Ist es ungenügende professionelle Kompetenz der Lehrpersonen im Umgang mit den Lernenden und ihren Bedürfnissen? Sind es zu hohe Leistungserwartungen der Eltern? Sind es zu umfangreiche Lehrpläne, die zu Überforderung und Frustration bei Lernenden führen? Oder ist es die Art und Weise, wie das Lernen institutionell organisiert und formatiert wird, die Freude und Interesse am Lernen verkümmern lässt?

Die Vielfalt der Lernenden ist groß. Lehrpersonen in Kindergarten und Schule stehen vor der Herausforderung, dieser Vielfalt Raum und Zeit zu geben und sie für das individuelle Lernen der Kinder und Jugendlichen zu nutzen. Doch die Unterrichtskonzepte von Kindergarten und Schule unterscheiden sich erheblich. Der Unterricht im Kindergarten ist geprägt von einer expliziten Orientierung am einzelnen Kind und an vertrauensvollen Beziehungen. Die Lernumgebungen sind handlungsreich und themenorientiert, die Lerngruppen sind altersdurchmischt und das Lernen wird primär nach dem individuellen Fortschritt beurteilt. Das schulische Lernen dagegen ist anders formatiert: Es ist in Fächern organisiert und wird durch Stundenpläne zeitlich eng festgelegt. Die Lernumgebungen sind handlungsarm und sprachgebunden. Und der Lernerfolg wird vorrangig im Vergleich zu Leistungen der Klassenkameradinnen und -kameraden beurteilt. Die Erfahrung des individuellen Lernfortschritts tritt oftmals in den Hintergrund.

Die Wissenschaft liefert eine ganze Reihe von Theorien und Modellen zur Erklärung der vielfältigen Vorgänge des Lernens. Als Fachpersonen für das Lehren und Lernen sollten Lehrpersonen dieses Wissen für die Gestaltung des schulischen Alltags und die Reflexion des Lehrens und Lernens nutzen. Es gehört zu ihrer professionellen Kompetenz, dass sie die Lernumgebungen und die pädagogischen Maßnahmen im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen gestalten und über ein solides Verständnis der vielfältigen Prozesse und Bedingungen des Lernens verfügen.

Dieses Buch richtet sich an angehende Lehrpersonen für Kindergarten und Schule. Dabei ist es als einführendes Lehrmittel gedacht. Es soll als Lern- und Arbeitsbuch dem Selbststudium der Studierenden dienen und die komplexen Phänomene des Lernens im Lichte verschiedener lerntheoretischer Konzepte verständlich machen. Welche Ausprägungen des Lernens gibt es? Was läuft aus der Sicht des heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes bei Lernvorgängen ab? Wie kann man als Lehrperson den Lernvorgang positiv beeinflussen? Was behindert Lernprozesse? Wie kann man das Lernen lernen? Dies sind Fragen, mit denen Lehrpersonen täglich konfrontiert sind.

Ein differenziertes Lernverständnis trägt wesentlich dazu bei, den Unterricht situations- und zielgerecht zu planen und zu gestalten sowie Erfolg und Misserfolg schulischer Lernsituationen beurteilen zu können. Das lernpsychologische Ausleuchten von schulischen Alltagssituationen macht allerdings rasch klar, wie außerordentlich komplex diese Lernprozesse sind. Dabei zeigt sich auch die Unmöglichkeit, das Lernen mithilfe einer einzigen Lerntheorie zu erklären. Dem äußerst komplexen Phänomen des Lernens auf der Spur zu sein, heißt zahlreiche Handlungsstränge und Perspektiven verfolgen. Es bedeutet aber auch, sich mit unterschiedlichen (und sich teilweise widersprechenden) Lehrmeinungen auseinanderzusetzen. Die Gefahr ist deshalb groß, dass man sich in einem Labyrinth aus Fakten und Meinungen, Theorien und Dogmen verliert.

Dieses einführende Werk macht das gedankliche Grundgerüst der lernpsychologischen Theorien und Modelle in einer alltagsnahen Sprache verständlich und verortet die wissenschaftlichen Befunde im schulischen Bezugssystem. Wir wollten einen Text entwerfen, den die Studierenden gerne lesen, während sie lernen, wie die Wissenschaft die Prozesse und Bedingungen der verschiedenen Lernarten erklärt und was an den lernpsychologischen Fragestellungen, Denkweisen und Modellen so wichtig ist für den schulischen Alltag. Es ist deshalb eine der vordringlichsten Aufgaben dieses Buches, die Information überblickbar zu portionieren. Dies geht nicht ohne Vereinfachungen. Wir haben uns aber bemüht, diese nach dem Motto des amerikanischen Ökonomen und Philosophen Peter F. Drucker vorzunehmen: «Make it simple but not stupid!»

Das nun in dritter Auflage vorliegende Buch ist aus den lernpsychologischen Einführungskursen an der Pädagogischen Hochschule FHNW hervorgegangen. Dabei haben viele mitgewirkt, denen wir zu Dank verpflichtet sind: Kolleginnen, die als Dozierende an der inhaltlichen Ausgestaltung der Lehrveranstaltung mitgewirkt haben, und Studierende, die als Nutzer und Nutzerinnen der Skripte wertvolle Rückmeldungen gegeben haben. Ihnen allen möchten wir für die hilfreichen Anregungen und Kommentare danken. Die neue Auflage erscheint nun nicht nur in einem veränderten Layout, das Buch wurde auch inhaltlich gründlich überarbeitet. Die kognitiven Aspekte des Lernens sind nun in einem breiter gefassten theoretischen Rahmen dargestellt. Wir haben uns bemüht, die Ideen und Informationen so auszuwählen, zu ordnen und zu präsentieren, dass die Zusammenhänge und Bedeutungen dieser Konzepte für den schulischen Alltag sichtbar werden. Wir hoffen, dass diese Änderungen und Ergänzungen die Verbesserung brachten, die wir beabsichtigten.

Daniel Escher und Helmut Messner

Im Mai 2022

Kapitel 1

Lernverständnis in Alltagssprache und Psychologie

Als «Fachleute für das Lehren und Lernen»[1] müssen Lehrpersonen verstehen, welche Prozesse beim Lehren und Lernen in der Schule ablaufen, welches die Bedingungen für gelingende Lernprozesse sind und wie man mit Lernschwierigkeiten umgeht (Reusser, 1995). Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass sie Lehr- und Lernsituationen professionell gestalten und Schülerinnen und Schüler beim Lernen unterstützen können. In diesem Kapitel geht es zunächst um das alltägliche Lernverständnis, das in Bildern, Vorstellungen und Überzeugungen zum Lernen zum Ausdruck kommt, sodann um verschiedene Aspekte des psychologischen Lernbegriffs, auf die sich Forschung und Theorien des Lernens beziehen.

Einleitung

Eltern, Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler assoziieren mit dem Wort «Lernen» häufig den Vorgang des Einprägens von reproduzierbarem Wissen und Können, zum Beispiel das Auswendiglernen von Vokabeln, das Lernen des kleinen Einmaleins, das Lernen von geografischen Begriffen oder den Erwerb von Fertigkeiten wie Radfahren, Schwimmen, Salto rückwärts oder Ähnliches. Dieses Verständnis schließt als Ziel des Lernprozesses stillschweigend eine damit verbundene Verbesserung oder den Neuerwerb von Verhaltens- und Leistungsformen und ihren Inhalten mit ein. Dieser umgangssprachliche Lernbegriff erfasst allerdings nur ein eng begrenztes Gebiet des Lernens. Das Phänomen des Lernens ist breiter und vielschichtiger.

Die subjektiven Vorstellungen und Bilder von Lernen beeinflussen nicht nur das eigene Lernen, sondern steuern indirekt auch die Unterrichtsgestaltung von Lehrpersonen. Wer Lernen als Memorieren und Reproduzieren vorgegebener Fakten versteht, unterrichtet anders, als wer Lernen als Differenzierung und Erweiterung von subjektiven Vorstellungen und individuellen Handlungsschemata auffasst. Wer das eigene Lernverständnis reflektiert und sein Lernverhalten überprüft, lernt langfristig auch erfolgreicher, als wer an seinen erworbenen Lerngewohnheiten einfach festhält.

Aufgabe der Lehrerinnen- und Lehrerbildung ist es, dazu beizutragen, die alltagssprachlichen Lernvorstellungen von Studierenden schrittweise im Sinne des wissenschaftlichen Lernverständnisses zu erweitern und zu differenzieren (Drechsel, 2001)

Alltagsverständnis des Lernens

Das Alltagsverständnis des Lernens beruht auf subjektiven Vorstellungen und Überzeugungen, wie man lernt, was gelingende Lernprozesse sind, welches die Bedingungen für erfolgreiches Lernen sind, zu welchen Resultaten Lernen führt, wie sich Lernfortschritte zeigen und wie sie gefördert werden können. Subjektive Lernvorstellungen werden in der Regel nicht reflektiert und sind deshalb den Lernenden oft kaum bewusst. Es sind die persönlichen Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen, die subjektive Überzeugungen prägen. Erfahrungen, wie sie beispielsweise in folgenden Aussagen von Schülerinnen und Schülern zum schulischen Lernen sichtbar werden:

•«Seit ich die mathematische Formel verstanden habe, kann ich sie mir endlich merken.»

•«Seit ich beim Sport vom Barren gestürzt bin, traue ich mich nicht mehr an die Geräte.»

•«An eine Prüfung zu denken, löst bei mir Angstgefühle aus, weil ich oft nicht weiß, was die Lehrperson von mir erwartet.»

•«Ich weiß, dass substantivierte Verben und Adjektive in einem Satz großgeschrieben werden.»

•«Im Fremdsprachenunterricht habe ich gelernt, die Teile des menschlichen Körpers englisch und französisch zu bezeichnen.»

•«Das Erlernen einer ersten Fremdsprache erleichtert das Erlernen einer anderen Fremdsprache.»

In all diesen Beispielen geht es um Aspekte schulischen Lernens.

Subjektive Lernvorstellungen angehender Lehrpersonen

Wenn man Studierenden des Lehrberufs die Fragen stellt «Was verstehen Sie unter Lernen? Was fällt Ihnen spontan zu diesem Begriff ein?», so kommen häufig Antworten wie zum Beispiel «auswendig lernen», «Vokabeln büffeln», «Fakten einprägen», «Fertigkeiten (z. B. Instrument) üben» oder «Kenntnisse erwerben». Auch «etwas begreifen», «sich anstrengen» oder ähnliche Aussagen sind häufig. Die Äußerungen spiegeln ihre Vorstellungen und Bilder des Lernens, die durch Erfahrungen und Beobachtungen aus der eigenen Schulzeit geprägt sind. Lernen wird von Studierenden oft als ein Abbilden von reproduzierbaren Fakten aufgefasst mit dem Ziel, vorgegebene Inhalte zu speichern und wiederzugeben. Barbara Drechsel (2001) spricht in diesem Fall von einem reaktiven Lernverständnis, weil die Lernenden auf Anforderungen von außen reagieren, denen sie gerecht zu werden versuchen.

Aus persönlichen Erfahrungen resultiert ein subjektives Alltagsverständnis davon, wie man lernt. Aber unterschiedliche Menschen machen unterschiedliche Lernerfahrungen, und so bleibt das Alltagsverständnis persönlich. Dennoch lassen sich in den subjektiven Vorstellungen vom Lernen zwei Lernorientierungen unterscheiden, die typisch sind: Die Oberflächenorientierung (surface approach) und die Tiefenorientierung (deep approach).

Als Oberflächenorientierung wird eine Art des Lernens charakterisiert, bei der die Studierenden versuchen, die dargebotenen Informationen (v. a. Fakten, Bezeichnungen u. a. Oberflächenwissen) zu reproduzieren, um externen Bewertungsanforderungen gerecht zu werden. Sie konzentrieren sich primär darauf, die Bewertung zu bestehen – die Dinge zu verstehen, scheint ihnen weniger wichtig zu sein. Typisch für eine solche Lernorientierung sind Aussagen wie zum Beispiel:

•«Obwohl ich mir Fakten und Details merken kann, sehe ich oft nicht das Gesamtbild.»

•«Oft ertappe ich mich dabei, dass ich etwas lerne, ohne wirklich zu versuchen, es zu verstehen.»

•«Ich weiß manchmal nicht genau, was wichtig ist, dann versuche ich, so viel wie möglich zu Papier zu bringen.»

•«Im Unterricht konzentriere ich mich darauf, alles mitzuschreiben, was der Dozent sagt.»

Für die Tiefenorientierung des Lernens dagegen ist ein wesentlich stärkerer Fokus auf Struktur, Inhalt und Bedeutung des Lernstoffs charakteristisch. Die Studierenden konzentrieren sich darauf, den Sinn der Information zu verstehen. Diese Konzentration kann beinhalten, dass der Stoff anhand des Allgemeinwissens, der Alltagserfahrung oder des Wissens aus anderen Bereichen bzw. Kursen überprüft wird. Studierende, die einen tiefenorientierten Ansatz verfolgen, suchen nach Prinzipien, um die Information zu organisieren. Folgende Aussagen illustrieren diesen Lernansatz:

•«Normalerweise versuche ich, die Bedeutung dessen, was wir zu lernen haben, genau zu verstehen.»

•«Es ist mir wichtig, dass ich einem Argument folgen und die Gründe für etwas erkennen kann.»

•«Wenn ich lerne, schaue ich mir die Details genau an, um zu sehen, wie sie zum Gesamtbild des Lernstoffs passen.»

•«Ich bin nicht bereit, Dinge, die mir gesagt werden, einfach zu akzeptieren; ich muss sie mir selbst ausdenken.»

Barbara Drechsel (2001, 37 ff.) hat versucht, solche Unterschiede im subjektiven Lernverständnis von Studierenden anhand ihrer alltagssprachlichen Schilderungen empirisch zu erfassen. Dazu hat sie ihre Äußerungen gesammelt und analysiert (1) im Hinblick auf den Lerninhalt (d. h. das «Was» des Lernens), (2) bezüglich des Lernverlaufs und des Lernzugangs (d. h. das «Wie» des Lernens) und (3) hinsichtlich der Lernergebnisse oder Lernresultate. Darauf aufbauend hat sie in einem ersten Ordnungsversuch Alltagsvorstellungen der Studierenden in sechs verschiedene Erklärungsmuster gegliedert:

•Zuwachs an Wissen: Lernen wird als eine quantitative Zunahme an Wissen verstanden, was in Aussagen wie z. B. «Wissen erwerben» oder «Information speichern» zum Ausdruck kommt. Dabei werden weder der Inhalt noch die damit verbundenen Tätigkeiten («speichern», «erwerben») weiter hinterfragt und erklärt.

•Memorieren: Das Lernen ist hier auf die antizipierte Reproduktion von Wissen in einer Prüfungssituation ausgerichtet (z. B. «etwas für Prüfungen lernen und reproduzieren»).

•Erwerb von anwendbarem Wissen: Lernen wird als Erwerb von Kenntnissen und Methoden, die auf verschiedene Sachverhalte angewendet werden können, verstanden. Das heißt beispielsweise «grundlegende Methoden erwerben und diese anwenden können». Auch in diesem Fall werden Inhalt und Tätigkeit nicht weiter spezifiziert.

•Verstehen: Lernen als Abstraktion von Bedeutungen. Lernen besteht hier darin, dass die Lernenden die Bedeutung der Inhalte zu verstehen versuchen (z. B. «etwas lesen und verstehen» oder «den Dingen auf den Grund gehen»). Die konstruktive Aktivität liegt beim Lernenden.

•Etwas auf neue Art und Weise betrachten: Lernen wird als interpretierender Prozess gedeutet, bei dem die lernende Person ihre Denk- und Sichtweise über einen Gegenstand verändert, indem sie eine neue Perspektive einnimmt (z. B. «Dinge auf eine Weise betrachten, in der man sie bisher noch nicht gesehen hat»).

•Veränderungen der Person: Hier wird Lernen nicht nur auf die Veränderung einer Sichtweise fokussiert, sondern die persönliche Veränderung oder Entwicklung angesprochen (z. B. «existenzielle Erfahrungen, die eine Person verändern»).

Die ersten drei Erklärungsmuster sind dabei typisch für eine Oberflächenorientierung des Lernens. Die letzten drei Kategorien entsprechen dagegen eher einer Tiefenorientierung, weil es dabei um die subjektive Rekonstruktion von Bedeutungen durch die Lernenden geht. Solche Bedeutungen werden nicht einfach vorgefunden, sondern müssen individuell erarbeitet werden.

Abb.1.1: «Nürnberger Trichter» als Metapher vom Lehren bzw. Lernen als Eintrichtern und Speichern

Metaphern des Lernens

Auch Metaphern und Sprichwörter sind mächtige Gestalter des Alltagsverständnisses von Lehr- und Lernprozessen. Sie offenbaren deutliche Unterschiede im subjektiven Lernverständnis. Gropengießer (2005, 2006) hat eine Vielzahl solcher Metaphern zusammengetragen und im Hinblick auf Ihre Bedeutung für das individuelle Lernverständnis analysiert, zum Beispiel:

•Lernen ist Wandern und gleicht einer Reise, bei der man «vorwärtskommt», «Fortschritte macht», «ein Ziel verfolgt» oder «Umwege geht», «auf dem Holzweg ist», «sich im Kreise dreht», «in die Irre geht» usw. und dabei eine Lehrperson hat als «Begleiter», «Anführer» oder «Bergführer».

•Lehren und Lernen als Eintrichtern und Verinnerlichen, bei dem etwas «eingetrichtert», «reingestopft», «rübergebracht», «beigebracht» oder «aufgesaugt» und «verdaut» wird, das man vorher «vorgesetzt bekommen» oder «mitbekommen» hat.

•Lehren und Lernen als Bauen und Konstruieren, bei dem man «tragfähiges Wissen aufbaut», «Grundlagen legt», «Eselsbrücken baut», «amorphes Wissen festigt», «einen Rahmen schafft» oder «falsche Vorstellungen erschüttert» bzw. «zerschlägt» und «der Lehrer der Meister auf der Baustelle» ist.

•Lehrer und Lernen als Verbinden und Verknüpfen, bei dem man «Wissensnetze knüpft», «Zusammenhänge herstellt», einen «Leitfaden erstellt», sodass ein «roter Faden sichtbar wird» oder zumindest «etwas hängen bleibt» und man nicht ganz «verwirrt ist».

•Lehrern und Lernen als Pflanzen und Gärtnern, bei dem man «ein Gebiet beackert», «den Boden bereitet», die «Spreu vom Weizen trennt» oder «Wissen sät», das hoffentlich «auf fruchtbaren Boden trifft» und «Früchte trägt».

Metaphern sind freilich nicht bloß einer bildhaften Alltagssprache geschuldet, sie enthüllen auch, wie wir denken. Als Ausdruck individueller Überzeugungen repräsentieren sie durchaus unsere subjektive Art, das schulische Lernen wahrzunehmen und das unterrichtliche Handeln zu steuern. Die Verbindungen zwischen den individuell benutzten Metaphern über das Lehren und Lernen und dem konkreten Handeln im Unterricht sind eng (Marsch, 2009).

Das Lernverständnis der Psychologie

Das psychologische Lernverständnis stützt sich auf wissenschaftliche Theorien und Forschungen zu den Vorgängen und Bedingungen, die dazu führen, dass wir unser Verhalten ändern, neues Wissen erwerben, Kompetenzen aufbauen oder Einstellungen entwickeln. Dabei wird das Phänomen «Lernen» aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und erforscht – aus Perspektiven, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gründen: zum Beispiel in der Biologie, der Anthropologie, der Pädagogik, der Erkenntnistheorie, der Informationswissenschaften, der Wissenspsychologie oder der Lernpsychologie (vgl. Künzli, 2004, 620 ff.). Sie alle tragen dazu bei, Lernprozesse präziser zu beschreiben, zu erklären und zielgerichtet zu fördern.

Allerdings gibt es unterschiedliche Lernziele und dementsprechend auch verschiedene Arten des Lernens. Ein komplexes Lernziel wie zum Beispiel «eine Fremdsprache beherrschen» besteht aus verschiedenartigen Teilfähigkeiten, die auf je unterschiedliche Weise gelernt werden: Die Aussprache lernt man in erster Linie durch Nachahmen und Üben. Der Wortschatz wird durch die vielseitige Verwendung der neuen Wörter in situativen Zusammenhängen erweitert. Sprechen erfordert darüber hinaus auch die Kenntnis elementarer Regeln des Satzbaus und der Grammatik. Beim Schreiben geht es nicht nur darum, orthografisch und grammatikalisch richtig zu schreiben; auch der Aufbau und die Absicht eines Textes sind zu beachten. Diese Fähigkeiten und ihr Zusammenspiel erfordern einen langwierigen Aufbauprozess, der in der Schule meistens bewusst und zielgerichtet mithilfe von Lehrmitteln und Lernsituationen gesteuert und unterstützt wird. Andere schulische Lernziele dagegen, wie etwa der Aufbau einer konzentrierten Lernatmosphäre und die Heranbildung eines produktiven sozialen Umgangs in der Klasse, werden dagegen vor allem über die Entwicklung günstiger Gewohnheiten mit den Methoden der Verhaltensformung etabliert.

Allein schon diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass die Definition des Lernens ein schwieriges Unterfangen ist. Tatsächlich gibt es heute keine einheitliche, eigenständige Definition, die das gesamte Spektrum des Lernens umfasst. Es gibt verschiedene Definition aus unterschiedlichen Perspektiven (z. B. behavioristische, kognitive, konstruktivistische), die aber jeweils unterschiedliche Aspekte des Lernens in den Blick nehmen. Wir müssen uns deshalb pragmatisch mit beschreibenden Charakterisierungen, Eingrenzungen und Klassifikationen behelfen.

Der Vorgang des Lernens selbst ist nicht direkt zu beobachten, vielmehr zeigt er sich erst in den veränderten Leistungen einer Person und muss daraus schlussfolgernd abgeleitet werden. Die beobachtbaren Leistungen sind Verhaltensweisen, Fertigkeiten und Gewohnheiten, sprachliche Äußerungen (verbalisieren von Kenntnissen, lautes Denken), veränderte Herangehensweisen, Problemlösungen und Ähnliches. Vor allem kognitiv orientierte Psychologen schließen veränderte Bedeutungszuschreibungen mit ein, denn dadurch erhalten die Lebenserfahrungen einen Sinn und können zum Denken genutzt werden. Dazu gehören auch Einstellungen wie zum Beispiel die Vorliebe für Mathematik, die Wertschätzung klassischer Musik, persönliche Ängste oder Anpassungen an den Zeitgeist. In all diesen Phänomenen widerspiegelt sich Lernen, obschon sie sich nicht unmittelbar in messbarem Verhalten zeigen. In diesen Fällen hat man aber ein sogenanntes Verhaltenspotenzial erworben. Das heißt, man hat Wissen, Werte und Bedeutungen gelernt, die das künftige Verhalten beeinflussen.

Im Weiteren kann Lernen absichtsvoll oder beiläufig erfolgen und es kann allein oder im sozialen Austausch geschehen. Manchmal zeigt es sich erst mit Verzögerung, d. h., erst wenn sich die Gelegenheit oder die Notwendigkeit ergibt, das Gelernte zu aktivieren (z. B. bei einer neuen Aufgabe oder in einer anderen Situation). Zu guter Letzt müssen die Veränderungen relativ dauerhaft sein und auf Erfahrungen, Übung, Einsicht oder Reflexion beruhen. Dadurch wird das Lernen abgegrenzt gegenüber Veränderungen, die durch Reifung, Ermüdung, Verletzung oder aufgrund von veränderten physiologischen Prozessen (Krankheit oder Drogeneinfluss) zustande kommen (Lefrançois, 2006).

«Pädagogisch gesehen bedeutet Lernen die Verbesserung oder den Neuerwerb von Verhaltens- und Lösungsformen und ihren Inhalten» (Roth, 1971, 188). Aber psychologisch gesehen führt Lernen nicht notwendigerweise zu einer Verbesserung des Verhaltens. Es kann auch unerwünschte Wirkungen zur Folge haben (z. B. Angst vor Prüfungen, Abneigung gegenüber einem Schulfach oder einer Person, Leistungsverweigerung etc.). Im Interesse des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens bedarf das Lernen in den meisten Fällen zudem der Vermittlung. Denn in unserer Wissenskultur erwirbt der Mensch große Mengen bedeutsamer Information und zahlreiche Formen des Könnens in erster Linie durch sinnvolle Rezeption von dargebotenen Informationen (Ausubel, 2000).

Fazit: Mit Lernen werden in der Lernpsychologie relativ dauerhafte Veränderungen im Verhaltenspotenzial bezeichnet, die aus Erfahrung, Übung, Einsicht oder Reflexion resultieren und nicht durch Einflüsse wie Reifung, Müdigkeit, Drogengebrauch, Verletzungen oder Krankheiten verursacht sind (Lefrançois, 2015, 6).

Wie untersucht man Lernen empirisch?

Wie untersucht man etwas, was nicht direkt zu beobachten ist? Man erschließt es aus den beobachtbaren Leistungen! Lehrpersonen können dazu Schülerinnen und Schüler beim Lösen von Aufgaben beobachten und ihre Lösungsschritte analysieren. Sie können Fehleranalysen durchführen und mit den Lernenden über ihr Verständnis sprechen. Sie können sich in Sachfragen nach den Bedeutungszuschreibungen der Schülerin oder des Schülers erkundigen. Ein erkundendes Gespräch mit offenen Fragen, darauf ausgerichtet, den Lernenden die Formulierung des eigenen Denkens und Wissens zu ermöglichen, bietet aufschlussreiche Einblicke in die Vorgänge des Lernens.

Die empirische Lernpsychologie arbeitet dagegen häufig mit systematischen Versuchen in standardisierten Laborsituationen und quantitativen Analysen der gemessenen Daten, um allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Lernens formulieren zu können. Schon Hermann Ebbinghaus (1850–1919), ein Pionier der empirischen Lernpsychologie, hat mit Reihen sinnloser Silben (z. B. bol, har, zup, buc) systematisch experimentiert, um das Behalten und Vergessen beim Lernen zu untersuchen. Dabei hat er geprüft, wie viele Durchgänge nach einer bestimmten Zeit noch nötig sind, um eine einmal gelernte Reihe wieder auswendig reproduzieren zu können. Ebbinghaus entdeckte mit dieser sogenannten Ersparnismethode die inzwischen allgemein bekannte Vergessenskurve (siehe Kapitel 7).

Auch die behavioristisch[2] orientierten Lernpsychologen haben sich in den Anfängen der Lernforschung strikt auf Laboruntersuchungen bezogen, um zu erfahren, wie durch Belohnung und Verstärkung Reize mit Reaktionen verbunden werden und zielorientiertes Handeln bewirken. Bei den entsprechenden Lernexperimenten wurde in der Regel mit Tieren (z. B. Tauben, Ratten, Katzen) gearbeitet und beobachtet, unter welchen Bedingungen sie ihr Verhalten ändern oder sich in einem Labyrinth zurechtfinden. Die auf diese Weise festgestellten Gesetzmäßigkeiten elementarer Lernprozesse wurden in theoretischen Modellen formalisiert und auf menschliches Lernen übertragen. Heute aber beruht behavioristische Forschung zum Lernen im Rahmen von Verhaltenstherapien oder beim Mentaltraining in der Regel auf qualitativen Analysen von detaillierten Handlungs- und Gesprächsprotokollen.

Auch die außerordentlich einflussreiche Theorie von Piaget beruht ausschließlich auf qualitativen Forschungsmethoden[3]. Piagets Werkzeug war das Gespräch mit den Kindern in Alltagssituationen und das Abfragen ihrer Begründungen und Schlussfolgerungen. In freien, erkundenden Gesprächen mit offenen Fragen, manchmal im Anschluss an das Lösen von zuvor gestellten Aufgaben, befragte er Kinder zu ihrer Sicht auf die Dinge und gab ihnen großen Spielraum für die Antworten. Auf diese Weise gewann er Einblicke in die reichhaltigen Vorstellungen der Kinder, konnte ihre Lösungsschritte und Irrtümer mit ihren Erläuterungen verknüpfen und so die Denkweise der Kinder verstehen lernen.

Jean Piaget: Die «kritische Methode»

«Diese ‹kritische Methode› (wenn man die Weiterentwicklung der Verfahren, die wir ursprünglich von der ‹klinischen Methode› der Psychiater übernommen hatten, so nennen darf) besteht […] in einem freien Gespräch mit der Testperson, anstatt sich auf feste und standardisierte Fragen zu beschränken, und behält somit alle Vorteile eines kindgerechten Gesprächs, das darauf ausgerichtet ist, dem Kind ein Höchstmaß an Bewusstwerdung und Formulierung seiner eigenen Überzeugungen zu ermöglichen; sie verpflichtet aber dazu, Fragen und Diskussionen nur im Anschluss an oder im Verlaufe von Objektmanipulationen einzuführen, die eine bestimmte Handlung des Kindes hervorrufen.»

(Jean Piaget (1967). Le jugement et le raisonnement chez l’enfant. Neuchâtel: Delachaux et Niestlé. S. 7.)

Auch in neueren Untersuchungen zu den komplexeren Lernprozessen, wie etwa das Bilden von Begriffen (z. B. Zahlbegriff) oder das Problemlösen (z. B. Schachspielen, Lösen von Textaufgaben oder Denksportaufgaben), werden die Lernenden in der Regel mit qualitativen Methoden beim Lösen der gestellten Aufgaben beobachtet und aufgefordert, ihre handlungsleitenden Gedanken laut zu formulieren. Durch das «laute Denken» werden die kognitiven Prozesse der Probanden beobachtbar. Um den Einfluss von individuellen Vorkenntnissen und Voreinstellungen auf das Problemlösen zu untersuchen oder die Wirkung von unterschiedlichen Lernmethoden auf das Lösen komplexerer Aufgabenstellungen festzustellen, werden Lösungswege und Lösungszeiten detailliert beobachtet und dokumentiert. In der jüngeren Lernforschung werden komplexe Lern- und Denkprozesse oft auch mithilfe von Simulations- oder Planspielen erforscht (Dörner, 1993), indem die Lösungswege und -vorschläge dokumentiert und analysiert werden.

Fazit: Die empirische Lernforschung stützt sich auf systematische Beobachtungsreihen bei Menschen und Tieren in verschiedenen Situationen und bei unterschiedlichen Aufgabenstellungen.

Lerntheoretische Grundmodelle

Lernphänomene sind vielschichtig. Um diese Vielschichtigkeit zu reduzieren, sind in der Lernpsychologie verschiedene Theorien und Konzepte entwickelt worden, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Lernens in den Blick nehmen und modellieren. Sie alle erklären, wie Lernen funktioniert – aber eben immer in Teilen. Sie beziehen sich stets auf einen eingegrenzten Untersuchungsgegenstand, auf einzelne wichtige Einflussfaktoren und auf erzielte Lernergebnisse. Sie unterscheiden sich daher hinsichtlich ihres Geltungsbereichs für spezifische Lernprozesse. Die Entwicklung der Lerntheorien ist eng mit der Geschichte der Lernpsychologie verknüpft, in deren Verlauf sich sowohl ihr Fokus als auch die Art der Forschung verändert und weiterentwickelt hat.

Behavioristische Lernpsychologie

Behavioristisch orientierte Lernpsychologen sahen in der Änderung des Verhaltens das entscheidende Kriterium für die Definition von Lernen. In dieser Sichtweise geschieht Lernen entweder als Folge einer assoziativen Verknüpfung des eigenen Verhaltens mit seinen Folgeerscheinungen («Lernen am Erfolg») oder durch eine assoziative Verknüpfung von neuen Reizen mit bestehenden Verhaltensmustern («Signallernen»). Eine große Bandbreite von Verhalten lässt sich als Produkt von solchen assoziativen Lernprozessen bzw. Konditionierungen verstehen. Die behavioristische Lernpsychologie untersucht damit aber elementare Lernphänomene, die sich vor allem in der Ausprägung von Gewohnheiten zeigen. Im Zentrum dieses lernpsychologischen Modells stehen die Bedingungen und Folgen des Verhaltens; die inneren Prozesse (Black Box), die diesen sichtbaren Verhaltensänderungen zugrunde liegen, werden in diesem Lernmodell dagegen ausgeblendet bzw. nicht untersucht. Dennoch lassen sich viele elementare soziale und emotionale Reaktionen (z. B. Angst, Vorlieben, störendes Verhalten, Strafen, Belohnungen), die im Klassenzimmer täglich zu beobachten sind, damit erklären und formen. Zur Etablierung günstiger Gewohnheiten im Dienste eines guten Klassenmanagements bieten diese Modelle hilfreiche Prinzipien an (z. B. Verhaltensformung) (siehe Kapitel 2 und 3).

Kognitive Lernpsychologie

Die kognitive Lernpsychologie befasst sich mit deutlich komplexeren Lernprozessen. Sie untersucht, wie Begriffe (z. B. Wetter, Menge, Ursache, Denken) gelernt werden, wie individuelles Wissen über umfangreiche Konzepte (z. B. Evolution, Klimazonen, Lerntheorien) erworben wird, wie früher gelerntes Wissen gebraucht wird, um neue Informationen zu verstehen, oder wie Probleme (z. B. Konstruktionsaufgaben in der Geometrie, Textaufgaben) gelöst werden. Das schulfachbezogene Lernen umfasst über weite Strecken solche komplexen kognitiven Prozesse. Dieses lernpsychologische Modell richtet das Augenmerk vor allem auf die inneren Prozesse und Repräsentationen in der sogenannten Black Box, welche die Grundlage für das Handeln in komplexen Situationen oder für fachgebundene Leistungen im Unterricht darstellen. Neue Begriffe und Erkenntnisstrukturen entstehen nach diesem lernpsychologischen Modell durch die aktive Auseinandersetzung des Lernenden mit den Inhalten und den Anforderungen der konkreten Lernumgebung. In einem mentalen Prozess der Anpassung werden neue Lerninhalte in die bestehenden Wissensstrukturen der lernenden Person integriert oder «einverleibt», wodurch diese Strukturen erweitert, differenziert oder verändert werden. Dieses Modell kognitiven Lernens wurde von Jean Piaget (1896–1980)[4] begründet, der in seinen Forschungsarbeiten zur Entwicklung der Intelligenz untersuchte, wie sich das Denken von Kindern und Jugendlichen im Verlaufe der Entwicklung verändert. Er beschrieb den Aufbau und die Veränderung von Wissen als einen aktiven, selbstgesteuerten Prozess der lernenden Person, die in einem beständigen Austausch mit ihrer Umwelt steht. Wissen ist in diesem Sinne kein äußerer Gegenstand, der sich von der Lehrperson in den Kopf der Schülerin und Schüler transportieren lässt und von diesen nur noch angenommen werden muss. Die Lernenden müssen sich das dargebotene Wissen vielmehr in einem aktiven Prozess selbstgesteuert aneignen, d. h. sinnvoll in ihr Vorwissen einbauen. Damit dies gelingt, müssen sie die grundlegende Struktur des dargebotenen Wissens erfassen können. Auch Lev Vygotskij (1896–1934)[5] war ein Wegbereiter dieser neuen Sicht auf den Wissenserwerb. Ihn interessiert die Frage, wie die Kultur Teil der Natur eines jeden Menschen wird. Daher begann er in einer psychologisch sehr bedeutsamen Anwendung der Theorie des dialektischen Materialismus[6] den Aufbau von Wissensstrukturen und Bedeutungen bei Kindern und Jugendlichen zu untersuchen. Er charakterisierte den Vorgang des Lernens als einen durch und durch sozialen Prozess, in dem lernende Kinder durch gemeinsame Aktivitäten und im sozialen Austausch mit erfahrenen Personen kulturelle und wissenschaftliche Inhalte gemeinsam konstruieren und diese später sukzessive verinnerlichen. Bei allen Vorgängen des kognitiven Lernens kommt daher der Sprache als Trägerin von Bedeutungen und Sichtweisen eine Schlüsselfunktion zu. Andere Autoren wie Wertheimer (19642) und Aebli (1963) haben darüber hinaus auch die Bedeutung der Einsicht und des Verstehens von Situationen und Vorgehensweisen für das Problemlösen und Handeln hervorgehoben (siehe Kapitel 10).

Konstruktivistische Lernpsychologie

Diese lernpsychologische Auffassung deutet Lernen in Anlehnung an die konstruktivistische Erkenntnistheorie von Glasersfeld (1997)[7] als einen «aktiven und konstruktiven Prozess, der von der individuell verfügbaren Wissensbasis und den dadurch gegebenen Verstehenshorizonten abhängt. Lernen ist in dieser Sichtweise also das Gegenteil von extern vermittelter, passiv aufgenommener und mechanisch verarbeiteter Information» (Weinert, 1997, 8). Mit anderen Worten: Wissenserwerb ist eine persönliche Rekonstruktion mit den eignen Mitteln, auf der Basis des eigenen Vorwissens. Da dieser konstruktive Prozess aber nur gelingen kann, wenn eine hinreichende Basis an Vorwissen zur Verfügung steht, kann auch aus der Sicht eines wissensbasierten Konstruktivismus dennoch nicht auf instruktionale Anleitung und Unterstützung verzichtet werden (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2001). In der Auseinandersetzung mit konkreten Lernaufgaben und Situationen entwickeln und erweitern die Lernenden ihre Vorstellungen und ihre Kompetenzen, indem sie neue Bedeutungen und mentale Modelle über die Wirklichkeit und über Lerngegenstände (z. B. Phänomene, Texte, Abbildungen, Zeichen) bilden. Sie stützen sich dabei auf ihre individuellen Vorkenntnisse und Lernabsichten, aufgrund derer sie den neuen Lernstoff mit dem jeweils vorhandenen Vorwissen verknüpfen (Ausubel, 2002). Für Ausubel bildet das Vorwissen daher die zentrale Bedingung für kognitives Lernen in einem Fachgebiet. Durch die Verknüpfung neuer Inhalte mit dem Vorwissen wird dieses erweitert, differenziert oder verändert. Lernen gilt deshalb als eigenständige Leistung, die individuell höchst unterschiedlich verläuft. Bei fachlichen Lernprozessen geht es vielfach darum, bestehende Vorkenntnisse und Kompetenzen zu differenzieren oder neu zu vernetzen. Die konstruktivistische Lernpsychologie spricht in diesem Zusammenhang von «conceptual change» (Schnotz, 1998, 55 ff.) und bezeichnet damit die Veränderung von subjektiven Denkweisen und Vorstellungen durch die Auseinandersetzung mit neuen Aufgaben und Inhalten. Diese Veränderungen erfolgen stets mit eigenen Mitteln. Das heißt, das Interpretieren, das Suchen nach Bedeutung und das Auswählen, Organisieren und Abstimmen der Informationen liegen «in den Händen» der lernenden Person. Aber verbale Äußerungen der Lernenden können aufschlussreiche Einblicke in diesen Prozess vermitteln und der Lehrperson Möglichkeiten eröffnen, den Prozess des «conceptual change» zu formen.

Folgender Protokollausschnitt mag dies verdeutlichen (Vosniadou, 1994; zitiert nach Mietzel, 2007). Darin erkundigt sich eine Lehrerin bei einem Unterstufenkind danach, welche Vorstellungen es von der Form der Erde hat:

Lehrerin:    Welche Form hat die Erde?

Kristi: Rund.

Lehrerin: Kannst du mir eine Zeichnung machen, welche die wirkliche Form der Erde zeigt?

Kristi: (Kind zeichnet einen Kreis)

Hätte sich die Lehrerin mit diesen Antworten begnügt, so wäre ihr bestätigt worden, dass Kristi wiedergeben kann, was sie zuvor gelernt hat, und sie könnte schlussfolgern, dass die Schülerin weiß, was sie wissen sollte. Aber erst durch Nachfragen erfährt sie Aufschlussreiches über Kristis Vorstellungen und Interpretationen:

Lehrerin: Wenn du immer geradeaus gehst, viele Tage lang, immer einer geraden Linie entlang gehst, wo wirst du endlich ankommen?

Kind: In einer anderen Stadt.

Lehrerin: Gut, und wenn du immer noch weitergehst?

Kristi: Eine Menge verschiedener Städte, Länder. … Und wenn man hier ankommt und weitergeht (Kristi zeigt mit dem Finger auf den «Rand» des Kreises, den sie gezeichnet hat, um die Erde darzustellen), läuft man direkt aus der Erde raus.

Lehrerin: Du würdest direkt aus der Erde rauslaufen?

Kristi: Ja, man geht genau diesen Weg und man kommt an den Rand und dann muss man schon ganz gut aufpassen.

Lehrerin: Kann man vom Rand der Erde runterfallen?

Kristi: Ja, wenn man an dem Rand spielt.

Diese Vorstellungen sind dem Kind sicherlich nie im Unterricht vermittelt worden. Aber aus konstruktivistischer Sicht ist klar, dass Wissen eine Interpretation der Wirklichkeit und der Bedeutungsinhalt eines Begriffs individuell konstruiert sind. Denn Lernen wird im Konstruktivismus als ein konstruktiver, kumulativer, reflexiver und selbstgesteuerten Prozess definiert.

Sozialkonstruktivistische Lerntheorien

Viele Lerninhalte werden jedoch im Gespräch und sozialen Austausch mit anderen, erfahrenen Personen erworben oder vertieft. Kinder entwickeln ihr Wissen, ihre Fertigkeiten und ihre Werte in enger Kooperation mit erfahrenen Personen. In Interaktionen mit erfahrenen Personen werden Bedeutungen und Begriffe geklärt und erweitert, werden Erklärungen nachvollzogen und eigene Vorstellungen entwickelt. Erst später werden die gemeinschaftlichen Ko-Konstruktionen allmählich verinnerlicht und zu individuellem Wissen und Können gefestigt. Dies ist der Grundgedanke sozialkonstruktivistischer Lerntheorien, die auf den russischen Psychologen Lev Vygotskij (1896–1934) zurückgehen. Eine entscheidende Bedingung für den Erfolg sozialen Lernens besteht darin, dass der Austausch auf einem Niveau angesiedelt ist, das an die Verstehensstufe der Lernenden anknüpft, aber gleichzeitig neue Anforderungen stellt, sodass eine weitere Entwicklung möglich ist. Vygotskij spricht in diesem Zusammenhang von der «Zone der proximalen Entwicklung» (siehe Kapitel 6).

Gedächtnispsychologie

Damit Gelerntes genutzt werden kann und längerfristig verfügbar ist, muss es im Gedächtnis gespeichert und konsolidiert werden. Dies gilt sowohl für Wissensinhalte wie auch für praktische Fähigkeiten (z. B. Anwenderkompetenz beim Computer) und ebenso bei komplexen Leistungen wie Lesen und Schreiben. Die Gedächtnispsychologie erklärt das Einprägen und Behalten von neuen Kenntnissen und Fähigkeiten mit neuronalen Verbindungen und Vernetzungen im Gehirn. Das Gedächtnis ist bei allen Lernprozessen beteiligt, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Das Gehirn wählt Informationen aus und verknüpft diese mit bestehenden neuronalen Strukturen. Wenn zu viele Informationen gleichzeitig in unserem Gehirn eintreffen, werden jene ausgewählt, die subjektiv als wichtig eingestuft werden, unwichtige werden herausgefiltert. Auf diese Weise schützen sich Menschen vor Überforderung und Desorientierung. Die Gedächtnispsychologie beschäftigt sich mit der Frage, was Lernen aus neurobiologischer Sicht erleichtert bzw. verhindert. Vester (1978) und Spitzer (2006) sind in ihren Forschungen solchen Fragen nachgegangen und haben dazu wichtige Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten formuliert.

Fazit: Die verschiedenen lernpsychologischen Theorien oder Modelle stützen sich auf unterschiedliche Annahmen über Lernprozesse und Lernbedingungen. Sie tragen dazu bei, unterschiedliche Lernphänomene zu erklären und förderliche Lernsituationen herzustellen.

Individuelle und situative Einflussfaktoren des Lernens

Lernen ist keine rein verstandesmäßige Angelegenheit. Neben der Intelligenz spielen auch Interesse, Wille, Motivation, Gefühle eine wichtige Rolle. Man wirft seine ganze Persönlichkeit in die Waagschale, wenn die Lernaufgabe vielversprechend ist (Polya, 1949/1995). Das ist vor allem den Schülerinnen und Schülern sehr bewusst, wie folgende Aussagen illustrieren:

•«Seit ich einen neuen Lehrer in Mathematik habe, habe ich keine Angst mehr und bin schon viel besser geworden.»

•«Ich lerne erst, wenn eine Prüfung ansteht, ohne Druck funktioniert das bei mir nicht.»

•«Damit ich etwas kann, muss ich es selbst ausprobieren.»

•«Wenn ich Erfolg habe, fällt mir das Lernen leicht.»

Schon diese wenigen Beispiele verweisen auf eine ganze Reihe von inneren Faktoren, die Lernen ebenfalls beeinflussen, nämlich lernbezogene Emotionen, die Fähigkeit mit Leistungsdruck umgehen zu können, die Möglichkeiten zur Selbststeuerung, die Motivation, der Wille und andere mehr.

Der Begriff Lernemotionen (academic emotions) bezeichnet summarisch diejenigen Emotionen, die Lernende in Bezug auf Situationen des Lernens und Leistens erleben. Dazu gehören beispielsweise Gefühle wie Stolz, Scham oder Enttäuschung als Reaktion auf Erfolg oder Misserfolg, aber auch prospektive Gefühlslagen wie Vorfreude und natürlich die Angst. Dazu gehören aber auch prozessbezogene Emotionen wie Freude oder Langeweile, die den Vorgang oder den Inhalt des Lernens selbst betreffen. Auch bezüglich der Situation im Klassenverband und gegenüber der Lehrperson erleben die Schülerinnen und Schüler ähnliche förderliche oder hinderliche Emotionen. Die Selbststeuerung oder die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Stimmungen zum Beispiel durch einen inneren Dialog zu beeinflussen und zu steuern, ist daher ein wichtiger Erfolgsfaktor für das schulische Lernen.Die konkreten Lernprozesse und der Lernerfolg werden durch vielfältige Wechselwirkungen zwischen personenbezogenen (inneren) und situativen (äußeren) Bedingungen beeinflusst und bestimmt. Das folgende Schema stellt verschiedene schulische Lernprozesse und -ergebnisse in ihrer persönlichen und situativen Bedingtheit im Sinne eines vereinfachten Modells dar, das aber der Analyse und Erforschung schulischer Lernprozesse dient.

Abb. 1.2: Allgemeines Modell zur Analyse schulischer Lernprozesse

Die verschiedenen lernpsychologischen Richtungen unterscheiden sich nicht zuletzt auch darin, wie sie die situations- und die personenbezogenen Faktoren des Lernens gewichten. Die behavioristische Lernpsychologie fasst Lernen als einen extern gesteuerten Prozess auf, der vorwiegend durch situative Bedingungen und Folgen (Reize, Situationen, Wirkungen) gesteuert wird. Dies gilt insbesondere für elementare Prozesse der Konditionierung bzw. des Reiz-Reaktions-Lernens, die oft auch unabsichtlich und beiläufig geschehen.

Demgegenüber sind kognitive Lernprozesse in stärkerem Maße von personenbezogenen, emotionalen, motivationalen und kognitiven Voraussetzungen der Lernenden abhängig und deshalb stärker innengesteuert. Sie geschehen meist absichtsvoll und auf der Basis des individuellen Vorwissens und des persönlichen Interesses. Diese Prozesse können durch geeignete Aufgabenstellungen von außen auch angestoßen und durch Lernhilfen unterstützt werden.

Fazit: Lernen beruht auf vielfältigen Wechselwirkungen von personenbezogenen Merkmalen der Lernenden und Kontextmerkmalen der Lernsituation, die je nach Lernaufgabe bzw. Lernziel unterschiedliches Gewicht haben.

Lernresultate und Lernerfolg

Lernen führt zur Veränderung von Verhaltens- und Erlebensweisen, zur Bildung von Gewohnheiten oder zur Erweiterung von Fähigkeiten und Wissensstrukturen. Im Prinzip verändert Lernen jedoch nicht das Verhalten selbst, sondern die kognitive Basis des Verhaltens in der Form von Wissens- oder Handlungsstrukturen oder Dispositionen (d. h. Einstellungen, Motive, Überzeugungen), die Verhalten und Handeln erst ermöglichen. Insofern sind Lernergebnisse nicht direkt beobachtbar, sondern können lediglich aus konkreten Leistungen und Verhaltensweisen erschlossen werden. Konkrete Leistungen und Verhaltensweisen dienen deshalb als Indikatoren von Lernprozessen und Lernfortschritten. Lernresultate unterscheiden sich qualitativ u. a. darin, wie Gelerntes genutzt werden kann. Wenn Gelerntes bloß wiedergegeben oder einfach wiedererkannt wird, hilft es uns, vertraute Situationen zu bewältigen. In neuen Situationen muss Gelerntes indessen häufig umstrukturiert oder neu rekonstruiert werden, um eine Aufgabe oder ein Problem selbstständig lösen zu können. Erst ein flexibles und vielseitig vernetztes Wissen und Können bildet die Grundlage für das selbstständige Weiterlernen und für die Nutzung des Gelernten (den Transfer) in neuen Situationen oder bei neuen Aufgaben.

Fazit: Die Qualität von Lernergebnissen bemisst sich daran, ob Gelerntes in neuen Situationen genutzt werden kann.

Lernen: Ein vielschichtiger Prozess

Lernen ist offensichtlich kein einheitlicher, sondern ein vielschichtiger Prozess, der sich je nach Inhalt und Zielsetzung aus unterschiedlichen Teilprozessen zusammensetzt. Dabei sind die Lernprozesse im Einzelnen immer multifaktoriell bestimmt und weisen deshalb auch keine lineare Prozessstruktur auf. Die Bedingungen für erfolgreiches Lernen sind je nach Lernziel, Inhalt und Lernvoraussetzungen der Lernenden unterschiedlich und nicht generalisierbar. Insbesondere schulisches Lernen ist häufig gegenstandsspezifisch, d. h. von den Strukturen und Funktionen des jeweiligen Lerninhalts abhängig. Für das Erlernen einer Fremdsprache beispielsweise gelten andere Bedingungen als für das Bewegungslernen im Sportunterricht. Robert Gagné (1969)[8] vertrat daher die Auffassung, dass es je nach Art der Lernziele und der zugrunde liegenden Bedingungen viele verschiedene Arten des Lernens gibt, angefangen bei den einfachsten Formen der Konditionierung bis hin zu den komplexen Formen des Problemlösens.

Die Lernhierarchie von Gagné

In seinem Buch «Die Bedingungen des menschlichen Lernens» hat Gagné (1969) acht verschiedene Lernarten oder Situationsklassen menschlichen Lernens unterschieden, die sich nicht nur hinsichtlich der Bedingungen ihres Auftretens unterscheiden, sondern auch durch unterschiedliche Prozesse gekennzeichnet sind und zu verschiedenen Lernresultaten führen. In seinem Modell des «kumulativen Lernens» ordnet er die verschiedenen Klassen des Lernens in eine hierarchische Stufenfolge. Dabei stellt er fest, dass die Fähigkeit zur erfolgreichen Bewältigung von Aufgaben einer bestimmten Stufe voraussetzt, dass die Anforderungen der jeweils unteren Stufen bereits beherrscht werden. Gagnés Modell der Lernarten entspricht also einer hierarchischen Gliederung entsprechend der Komplexität der Lernprozesse (siehe Abbildung 1.3).

Bei komplexeren Lernprozessen, wie sie in der Schule häufig sind, sind nach Auffassung von Gagné meistens mehrere Lernarten zur gleichen Zeit beteiligt, wobei die beteiligten Prozesse von je unterschiedlichen Bedingungen abhängig sind.

Lernart 1: Signallernen

Dies ist die elementarste Form des Lernens (siehe Kapitel 3). Hierbei geht es um die assoziative Verknüpfung von zwei Dingen, die an sich unabhängig voneinander sind, aber wegen des gleichzeitigen Auftretens als zusammenhängend wahrgenommen werden. Die neue Assoziation löst in der Folge die klassisch bedingte Reaktion aus (klassische Konditionierung). Beispiele: In der Schule läutet die Pausenglocke und alle beenden auf dieses Signal hin den Unterricht auf ihre Weise. Eine Schülerin erlebt ihren Lehrer als angsteinflößend und verknüpft ihre Angst mit dem Lernprozess selbst.

Lernart 2: Reiz-Reaktions-Lernen

Durch die assoziative Verknüpfung des eigenen Verhaltens mit dessen Folgeerscheinung lernt man, sich in bekannten Situationen zielgerecht zu verhalten (Lernen am Erfolg oder operante Konditionierung, siehe Kapitel 2). Beispiel: In der Schulklasse wird erwünschtes Schülerverhalten von der Lehrperson durch Lob und Anerkennung belohnt, um eine günstige Lernatmosphäre herzustellen

Lernart 3: Motorische Kettenbildung

Hierbei handelt um die Verknüpfung von zwei oder mehr Reiz-Reaktions-Verbindungen (einfache Handlungen oder Verhaltensweisen) zu einer Handlungssequenz, die sich auf das motorische Lernen beziehen. Beispiel: Erlernen einer Bewegungs- oder Handlungssequenz, zum Beispiel Wörter schreiben, Auto starten, Spiegelei zubereiten, Weitsprung.

Lernart 4: Sprachliche Kettenbildung

Bei dieser Lernart geht es um die assoziative Verknüpfung von zwei oder mehr verbalen Einzelelementen zu einer längeren sprachlichen Sequenz. Beispiel: Verknüpfen von Namen und Telefonnummern, Auswendiglernen des Alphabets oder von Sprichwörtern.

Lernart 5: Multiples Diskriminationslernen (Unterscheidungslernen)

Die Lernenden erwerben die Fähigkeit, auf verschiedene, aber ähnliche Reize unterschiedlich zu reagieren. Verschiedene gelernte Assoziationsketten werden zu Mehrfachunterscheidungen verbunden. Beispiele: Schülerinnen und Schüler lernen, auf verschiedene technische Ausdrücke zu reagieren. Jugendliche lernen, verschiedene Autotypen oder Musikstile zu unterscheiden und zu benennen.

Lernart 6: Begriffslernen

Von Begriffslernen sprechen wir, wenn Lernende die Bedeutungen von Wörtern und Symbolen erkennen, einordnen und bilden können. Beispiel: Schülerinnen und Schüler lernen im Deutschunterricht die Bedeutung der verschiedene Wortarten (Adjektive, Substantive usw.) und Satzglieder (Subjekt, Objekt, Adverbial, Prädikativum) zu unterscheiden, oder sie lernen im Biologieunterricht die Bedeutung des Begriffs Biodiversität usw. Entscheidend ist dabei, dass diese nicht nur sprachlich unterschieden und bezeichnet werden können, sondern in ihrer Bedeutung verstanden und richtig angewendet werden.

Lernart 7: Regellernen

Beim Regellernen erkennt der Lernende regelhafte Zusammenhänge (Gesetzmäßigkeiten) zwischen Sachverhalten und Ereignissen. Beispiel: In einem Satz richtet sich das Prädikat nach dem Subjekt; Kochsalz besteht aus den Elementen Natrium und Chlor, die ein Kristallgitter bilden (Natriumchlorid).

Lernart 8: Problemlösen

Beim Problemlösen werden bekannte Regeln durch Nachdenken und Probieren genutzt, um neue Anforderungen zu meistern. Der Lernende erwirbt die Fähigkeit, mehrere Regeln zu kombinieren und Leistungen höherer Komplexität zu zeigen. Beispiel: Planen einer Route für eine neue Reise, Durchführen eines geometrischen Beweises (z. B. Pythagoras).

Abb. 1.3: Hierarchisches Modell der Lernarten nach Gagné

Eine Taxonomie aus konstruktivistischer Sicht

Viele der heute praktizierten Lehr-Lern-Konzepte orientieren sich an einer konstruktivistischen Sicht und konzentrieren sich deshalb verstärkt auf den aktiven, kognitiven und konstruktiven Prozess, der zu einem sinnvollen Lernen führt (siehe Kapitel 5). Das Ordnungssystem von Gagné erscheint daher heute manchen Lernpsychologen als zu wenig differenziert, was die komplexen Lernarten am oberen Ende der Hierarchie anbelangt. Sie verlangen nach einer «konstruktivistischeren» Taxonomie. Denn die Hinwendung zu einer konstruktivistischen Sichtweise erfordert eine differenziertere Betrachtung der kognitiven Prozesse und führt zu einer stärkeren Betonung dessen, was die Lernenden bereits wissen und wie sie über das, was sie wissen, denken. Denn damit die Lernenden verstehen, womit sie sich beschäftigen, müssen sie den neuen Lerninhalt sinnvoll in ihr Vorwissen einbauen und Zusammenhänge herstellen können. Die Aktivierung des relevanten Vorwissens und die Beherrschung der kognitiven Operationen, mit denen die Lernenden auf dieses Wissen einwirken, stehen im Zentrum konstruktivistischer Lehr-Lern-Konzepte.

In ihrer revidierten Taxonomie des Lernens im Unterricht haben Anderson & Krathwohl (2001) deshalb die beiden Dimensionen des Lernens, das Wissen und die kognitiven Prozesse, miteinander verbunden und deutlich stärker differenziert. Die Dimension «Wissen» haben sie in vier Hauptkategorien mit jeweils zwei oder drei Unterkategorien gegliedert und die Dimension «kognitive Prozesse» in sechs Hauptkategorien mit jeweils zwei oder mehr spezifischen kognitiven Prozessen. Die Taxonomie ist als eine zweidimensionale Tabelle aufgebaut. Die Zeilen enthalten die definierten Kategorien der Wissensinhalte; die Spalten enthalten die definierten Kategorien der kognitiven Prozesse. In den Zellen der Tabelle verbinden sich die Wissensinhalte und die kognitiven Prozesse zu Lernzielen (siehe Tabelle 1.1). Nach Ansicht der Autoren sollte es damit möglich sein, jedes schulische Lernziel, das einen kognitiven Schwerpunkt hat, in eine oder mehrere Zellen der Tabelle einzuordnen.

Tabelle 1.1: Taxonomie des Lernens, Unterrichtens und Bewertens von Anderson & Krathwohl (2001)

Dimension kognitive Prozesse

Die Kategorien für die kognitiven Prozesse der Schülerinnen und Schüler reichen von den am häufigsten in den Lernzielen vorkommenden kognitiven Prozessen, die mit «Erinnern», «Verstehen» und «Anwenden» in Verbindung gebracht werden, bis hin zu den weniger häufig vorkommenden Prozessen des «Analysierens», «Bewertens» und «Kreierens». Jede dieser sechs Hauptkategorien ist mit zwei oder mehr spezifischen kognitiven Teilprozessen verbunden (insgesamt 19).

•Erinnern bedeutet, relevantes Wissen aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen. Dazu gehören die Teilprozesse (1.1) Erkennen und (1.2) Abrufen.

•Verstehen wird definiert als das Erfassen der Bedeutung von lehrreichen Mitteilungen, einschließlich mündlicher, schriftlicher und grafischer Kommunikation. Dazu gehören die Teilprozesse (2.1) Interpretieren, (2.2) An Beispielen erläutern, (2.3) Klassifizieren, (2.4) Zusammenfassen, (2.5) Schlussfolgern, (2.6) Vergleichen und (2.7) Erklären.

•Anwenden bedeutet, ein Verfahren in einer gegebenen Situation auszuführen oder anzuwenden. Dazu gehören die Teilprozesse (3.1) Ausführen und (3.2) Implementieren.

•Analysieren bedeutet, Material in seine Bestandteile zu zerlegen und festzustellen, wie die Teile zueinander sowie zur Gesamtstruktur oder zum Zweck in Beziehung stehen. Dazu gehören die Teilprozesse (4.1) Unterscheiden, (4.2) Ordnen und (4.3) Zuschreiben.

•Evaluieren bedeutet, auf der Grundlage von Kriterien und/oder Standards Urteile zu fällen. Dazu gehören die Teilprozesse (5.1) Überprüfen und (5.2) Kritisches Würdigen.

•Kreieren schließlich bedeutet, Elemente zu einem neuen, kohärenten Ganzen oder zu einem originellen Produkt zusammenzufügen. Dazu gehören die Teilprozesse (6.1) Annehmen bzw. Aufstellen von Hypothesen (6.2) Planen und (6.3) Produzieren.

Dimension Wissen

Die Klassifizierung des Wissens erfolgt gemäß der in der heutigen Wissenspsychologie üblichen Unterscheidung der Wissensinhalte (siehe Kapitel 5). Jede dieser vier Hauptkategorien ist mit zwei oder drei Kategorien verbunden (insgesamt 11):

•Faktenwissen (Factual Knowledge) beinhaltet die grundlegenden Tatsachen, die Schülerinnen und Schüler wissen müssen, um ein Fachgebiet zu beherrschen oder Probleme in diesem Fachgebiet zu lösen. Dazu gehören: (Aa) Kenntnis der Terminologie; (Ab) Kenntnis spezifischer Details und Elemente.

•Begründungswissen (Conceptual Knowledge) beinhaltet Zusammenhänge und Erklärungen und bezieht sich auf die Wechselbeziehungen zwischen den Grundelementen innerhalb einer größeren Struktur. Dazu gehören: (Ba) Wissen über Klassifikationen und Kategorien, (Bb) Wissen über Prinzipien und Verallgemeinerungen, (Bc) Wissen über Theorien, Modelle und Strukturen.

•Prozedurales Wissen (Procedural Knowledge) bezieht sich darauf, wie etwas zu tun ist (Untersuchungsmethoden und Kriterien für die Anwendung von Fähigkeiten, Algorithmen, Techniken und Methoden). Dazu gehören: (Ca) Kenntnis fachspezifischer Fertigkeiten und Algorithmen; (Cb) Kenntnis fachspezifischer Techniken und Methoden; (Cc) Kenntnis von Kriterien zur Bestimmung des richtigen Zeitpunkts für die Anwendung geeigneter Verfahren.

•Metakognitives Wissen (Metacognitive Knowledge) beinhaltet sowohl das Wissen über Kognition im Allgemeinen als auch das Bewusstsein und Wissen über die eigene Kognition. Dazu gehören (Da) Strategisches Wissen; (Db) Wissen über kognitive Aufgaben, einschließlich geeigneter kontextbezogener und bedingter Kenntnisse; (Dc) Selbsterkenntnis.

Weiterführende Literatur

Drechsel, B. (2001). Subjektive Lernbegriffe und Interesse am Thema Lernen bei angehenden Lehrpersonen. Münster: Waxmann.

Spitzer, M. (2006). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaften.

Studienaufgaben

1.Verschiedene Lernarten im Unterricht

Analysieren Sie die folgenden Unterrichtssituationen (aus Gasser, 2000, 15 ff.) auf der Primar- und Sekundarstufe hinsichtlich der daran beteiligten Lernprozesse bei Schülerinnen und Schülern unter Bezugnahme auf die Lernarten von Gagné. Welche Lernarten sind jeweils involviert?

→ Situation 1

Christine sitzt in ihrem Zimmer. Leise spricht sie: «Der Bauer steht vor seinem Feld und zieht die Stirne kraus in Falten, äh …» Dann blickt sie ins Buch und liest: «Ich habe den …» Und dann fährt sie leise fort: «Ich hab den Acker wohl bestellt, auf reine Aussaat streng gehalten.» Dann beginnt sie wieder von vorn: «Der Bauer steht vor seinem Feld …»

Diesmal gelingt der Übergang zum zweiten Satz.

→ Situation 2

Die Schülerinnen und Schüler der dritten Klasse haben ein Diktat vorbereitet. Franz macht zehn Fehler. Der Lehrer sagt zu Franz: «Ich glaube, du hast zu Hause zu wenig geübt. Schreib jetzt jedes Wort, das falsch ist, fünfmal hintereinander. Dann diktiere ich dir die Sache noch einmal. Du wirst sehen, dass du nur noch wenige Fehler machen wirst.»

Wie gesprochen, so getan. Und Franz macht beim zweiten Versuch tatsächlich nur noch zwei Fehler.

→ Situation 3

Eine Schulklasse hat mit den Fahrrädern einen Ausflug gemacht (Geografie). Am nächsten Tag stellen die einzelnen Schülergruppen den Weg mit verschiedenen Mitteln dar (Wandtafel, Sandkasten, Karton, Papierstreifen auf dem Boden, Kreidezeichnung auf dem Schulhausplatz usw.).

→ Situation 4

Im Geschichtsunterricht hat die Lehrerin verschiedene Burgen behandelt. Die Schülerinnen und Schüler kennen danach die Teile und Funktionen einer Burg. Nun erhält jede Schülergruppe eine Pavatexplatte, auf der Lehmberge aufgebaut sind. Mit Holzklötzen und Karton ist eine Burg aufzubauen.

→ Situation 5

Im Mathematikunterricht präsentiert der Lehrer an der Wandtafel folgende Gleichung (die nachher von je zwei Schülerinnen bzw. Schülern in Partnerarbeit besprochen wird):

→ Situation 6

Die Hälfte einer 5. Klasse sitzt im Kreis. Die Lehrerin eröffnet das Gespräch:

«Gestern ist über unserem Dorf ein furchtbares Gewitter niedergegangen.» Die Schülerinnen und Schüler berichten, was sie erlebt haben, welche Schäden das Gewitter angerichtet hat. Ein Schüler berichtet, dass daheim der Keller unter Wasser stand. Nach und nach lenkt die Lehrerin das Gespräch auf andere Naturereignisse und Katastrophen: Überschwemmung, Dürre, Lawinen, Erdbeben, Orkane, Waldbrände, Erdrutsche, Vulkanausbrüche usw.

Und schließlich kommen die Schülerinnen und Schüler darauf zu sprechen, wie man sich vor derartigen Ereignissen schützen, wie der Mensch überhaupt auf bedrohliche Naturereignisse reagieren kann (Flucht, Vorsorge, Katastrophenhilfe, einander beruhigen usw.).

→ Situation 7

Karl sitzt am Küchentisch und macht Hausaufgaben. Eine Aufgabe lautet:

«Eine Bäuerin hat 10 Tiere, nämlich Hühner und Kaninchen. Zusammen haben die Tiere 28 Beine. Wie viele Hühner hat die Bäuerin?»

Karl muss diese Aufgabe lösen und danach selbst drei ähnliche Aufgaben erfinden.

2.Worin unterscheidet sich das wissenschaftliche Lernverständnis vom Alltagsverständnis des Lernens?

3.Wie zeigen sich Lernprozesse in Schule und Alltag?

4.Vergleichen Sie implizites und explizites Lernen von Kindern und Jugendlichen. Was lernen sie bewusst und zielgerichtet (explizit), was eher beiläufig und wenig bewusst (implizit)?

Kapitel 2

Lernen am Erfolg – operante Konditionierung

Änderungen des Verhaltens beruhen vielfach auf elementaren Prozessen der Gewohnheitsbildung. Wiederholte Erfahrungen von angenehmen oder unangenehmen Konsequenzen des spontanen Verhaltens führen dazu, dass wir unser Verhalten sukzessive ändern. Die Lernforschung bezeichnet diesen Vorgang als Lernen am Erfolg oder operante Konditionierung. In diesem Kapitel lernen Sie, verschiedene Faktoren und Bedingungen dieses Konditionierungsprozesses zu unterscheiden sowie im schulischen Alltag zu erkennen und zu berücksichtigen.

Einleitung

Lernen ist ein allgegenwärtiger Anpassungsprozess. Manchmal läuft er absichtsvoll und bewusst ab, manchmal unbewusst und beiläufig – und hin und wieder verläuft er komplett im Widerspruch zu den pädagogischen Absichten der Lehrperson, wie bereits Gerhard Steiner (1996) in seinen Szenarien aus dem Schulalltag deutlich machte. Das mag schon am ersten Schultag beginnen, wie folgendes Beispiel zeigt.

Die engagierte neue Lehrerin stellt sich der Klasse vor. Sie ist interessiert, bietet sich den Schülerinnen und Schülern als persönliche Bezugsperson an und will ihre Erlebnisse, Motive und Gefühle kennenlernen. – Die Buben in der Klasse wollen aber eigentlich nur eines wissen: Wie läuft das nun hier drin, wer ist hier der Chef?

Während also Laura auf die Fragen der Lehrerin eingeht und über ihre Erlebnisse berichtet, tuschelt Liam mit seinem Tischnachbarn. «Liam, sei bitte ruhig!», mahnt ihn die Lehrerin nach einiger Zeit. Die Mahnung hält nicht lange vor. Bald tuschelt Liam wieder mit seinem Tischnachbarn. «Hör auf zu schwatzen, Liam!», weist ihn die Lehrerin erneut zurecht, diesmal schon etwas ärgerlich. Auch diesmal ist der Erfolg nicht von langer Dauer. Bald schimpft die Lehrerin: «Liam, jetzt hör auf zu schwatzen! Du störst!» Nach einiger Zeit beginnt Liam wieder zu tuscheln. «Gopfridstutz, Liam, wie oft muss ich dir sagen, du sollst deinen Nachbarn nicht mit Schwatzen stören. Wenn du weiterschwatzt, stell ich dich vor die Tür!» Die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler gilt jetzt vor allem Liam und nicht mehr dem Unterricht. Der Unterricht wird zunehmend mühsam. Nach einiger Zeit streckt Liam die Hand hoch. Er schnippt mit den Fingern und fuchtelt mit der Hand in der Luft herum. Dabei unterstreicht er jede Bewegung mit Stöhnen. Die Lehrerin ruft Liam sofort auf: «Liam!» – «Äh, ich muss aufs WC! Darf ich?» – Gelächter in der Klasse. Sogar Nico, der ihn auf dem Pausenplatz noch als Feigling beschimpft hat, lächelt. Liam verlässt den Raum. Unterdessen versucht die Lehrerin, die Klasse wieder zu sammeln. Nach einer Weile kommt Liam ins Klassenzimmer zurück. «Sie!», ruft er der Lehrerin zu, «das WC-Papier ist alle!» Erneutes Gelächter in der Klasse. In diesem Moment knallt die Türe zu, die Liam losgelassen hat. «Donnerwetter, jetzt pass doch auf!», herrscht ihn die Lehrerin an. Liam geht schlurfend an seinen Platz und schaut dabei zu Nico. Der grinst ihm zu.

Diese kurze Geschichte führt uns mitten in eine sehr komplexe Lernsituation hinein: in eine Schulstunde. Allerdings handelt die Geschichte nicht vom schulischen Wissenserwerb, sondern von anderen, elementaren Lernvorgängen, die als sogenannte Konditionierungsprozesse ablaufen und zu Gewohnheiten führen. Aber erfolgreicher Wissenserwerb und andere Formen des schulischen Lernens sind auf vielfältige Weise mit günstigen Gewohnheiten verschränkt, die in Konditionierungsprozessen gelernt und verändert werden. Wir wollen in den kommenden Abschnitten die Grundlagen schaffen für ein angemessenes Verständnis dieser Formen des Lernens und Verlernens.

Grundbegriffe der operanten Konditionierung

Die Kenntnisse über diese Grundform des Lernens gehen im Wesentlichen auf die theoretischen und experimentellen Beiträge von Edward L. Thorndike[9] und vor allen Dingen von Burrhus F. Skinner[10] zurück. Diese Lerntheoretiker haben mit ihren bahnbrechenden Untersuchungen die moderne Lernpsychologie begründet. Thorndike hat vor über hundert Jahren mit seiner Formel «Lernen am Erfolg» das Prinzip der Verstärkung entdeckt und damit großen Einfluss auf die Pädagogische Psychologie ausgeübt. Skinner hat dieses Prinzip in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts weiter verfeinert und zu einer behavioristischen Theorie des instrumentellen Lernens erweitert.

Burrhus F. Skinner

Wie viele andere Psychologen begann auch Burrhus F. Skinner seine Karriere als Biologe und wandte sich unter dem Einfluss der frühen lerntheoretischen Arbeiten von Iwan P. Pawlow[11] und John B. Watson[12] der Psychologie zu. Ihr Ziel war es, das beobachtbare Verhalten mit wissenschaftlichen Methoden vorherzusagen und zu steuern und nicht – wie die meisten Psychologen zu Beginn des Jahrhunderts – die Psyche und das Bewusstsein durch die Schilderung der eigenen, subjektiven Gefühle und Gedanken zu beschreiben und zu erklären. Nachdem Skinner 1931 an der Harvard University promoviert hatte und danach in der Forschung tätig war, veröffentlichte er bereits 1938 sein wichtigstes wissenschaftliches Werk «The Behavior of Organisms». Darin führte er die Grundprinzipien des operanten Konditionierens, d. h. des instrumentellen Lernens, aus. Die fundamentale Annahme Skinners, dass der Aufbau bestimmter Verhaltensweisen vor allem von ihren Folgen, d. h. von den «Reaktionen» der Umwelt auf ein gezeigtes Verhalten, abhänge, war zwar bereits durch die Forschungsergebnisse von Thorndike vorbereitet worden. Skinner verfeinerte aber das Prinzip der Verstärkungstheorie so, dass jede minimale Verhaltensänderung in Richtung des angestrebten Endverhaltens gleich belohnt wurde (Skinner-Box). Mit dieser Form der Verhaltenssteuerung gelangen ihm eindrucksvolle Lernexperimente an Tieren. In der heftig geführten Diskussion um die aufkommenden Lerntheorien wurde er zu einem der markantesten und radikalsten Vertreter der Verhaltenspsychologie («Behaviorismus»). Seine Untersuchungen haben aufgezeigt, wie wichtig die sogenannten Umweltkontingenzen für das Lernen von Verhaltens- und Handlungsweisen sind und wie die Folgen eines Verhaltens über sein künftiges Auftreten entscheiden.

Die Bezeichnung für diese elementare Grundform des Lernens ist je nach Autor verschieden. Bis heute hat sich leider keine einheitliche Wortwahl durchgesetzt. Manche Autoren sprechen vom «Lernen am Erfolg», weil der Erfolg eines Verhaltens darüber entscheidet, ob es in Zukunft häufiger auftritt, also gelernt wird. Viele Autoren nennen diese Art des Lernens «operantes Konditionieren», weil unter bestimmten Bedingungen (Konditionen), nämlich je nach Art der Konsequenz, die Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens (operant behavior) erhöht oder gesenkt wird. «Instrumentelles Lernen» wird diese Grundform des Lernens genannt, weil das Verhalten das Instrument oder das Mittel ist, das die entsprechende Konsequenz hervorruft. Oft wird es auch als Versuch-und-Irrtum-Lernen bezeichnet.

Instrumentelles Verhalten

Skinner unterscheidet klar zwischen Antwort- und Wirkverhalten. Beim Antwortverhalten (responsiv oder respondent behavior) antwortet das Individuum auf vorangegangene Signalreize. Wenn wir zum Beispiel bei einer roten Ampel stoppen, so antworten wir mit unserem Verhalten auf den Signalreiz (Rot). Mit dem Wirkverhalten oder instrumentellen Verhalten übt dagegen das Individuum spontan von sich aus Wirkung auf seine unmittelbare Umwelt aus. Sein Verhalten hat Folgen – angenehme oder unangenehme. Das Verhalten ist somit das Instrument, das die entsprechende Konsequenz hervorruft. Natürlich wirken bei diesem spontanen Verhalten stets auch Reize auf