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"Lesbisch zu sein ist für mich immer subversiv, liebevoll parteilich für Frauen und Feminismus." Ahima Beerlage, langjährige Aktivistin, Moderatorin, Queer-Party-Veranstalterin und Autorin, erzählt aus ihrem bunten, facettenreichen und oft turbulenten Leben, in dem eines bei allen Metamorphosen prägend bleibt: ihre lesbische Identität. Indem sie ihre Geschichte erzählt, möchte Ahima Beerlage sowohl dazu beitragen, dass Lesben und ihre Geschichte(n) nicht verschwinden, als auch den Dialog neu zu beleben – zwischen Alten und Jungen, Queer-AktivistInnen und Feministinnen und allen, die mehr Trennendes als Verbindendes sehen ...
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Seitenzahl: 164
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FRAUEN IM SINN
Verlag Krug & Schadenberg
Literatur deutschsprachiger und internationalerAutorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,historische Romane, Erzählungen)
Sachbücher und Ratgeber zu allen Themenrund um das lesbische Leben
Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de
Ahima Beerlage
K+S digital
Für meine Frau Sabine, meine Löwin,meine Freundin, meine Ratgeberin.
Für meine Freundin Uta, die mir die richtigen Fragengestellt und so wunderbar mit mir gelesen hat.
Die im Buch geschilderten Ereignisse beruhen auf meinen Erinnerungen. Sie sind emotional und nicht chronologisch geordnet. Namen, Orte und Berufe sind teilweise verändert, um die Persönlichkeitsrechte der Genannten zu wahren.
Einleitung
Impuls
Wurzeln
Hässliche Worte und Sprechverbote
Bücherschränke, die fehlen, und Männer, die zu viel reden
Mit Frauen wach sein
Doppelleben
Autonom leben und kämpfen
Revolution und Liebe
ELDORADIO – Cowgirls und AIDS-Krise
Kalte Herzen
Seelenverwandtschaft
Privilegien und individueller Schmerz
Reality-Check oder: Der Boden der Tatsachen
Virtuelle Realität
Cyberspace
Cliffhanger
Metamorphose
Fazit
Danksagung
Anmerkungen
Die Autorin
Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich 1980 auf dem Rand des verwitterten Brunnens mitten auf dem Marktplatz in Marburg saß, und ich spüre noch die Frühlingssonne auf meiner Haut, das Kribbeln und diese Wärme in meinem Bauch, die sich langsam ausbreitete in Arme und Beine, bis ich nicht anders konnte, als laut loszuschreien. Leute drehten sich verwundert zu mir um, aber mir war das egal. Ich hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, richtig in der Welt zu sein. »Ich bin lesbisch.« Das war der Satz, der mir Einsamkeit und Scham nahm und das Gefühl, krank oder einfach nur falsch zu sein. Ein überwältigend schönes Gefühl.
Wochenlang war ich immer wieder ins Frauencafé des ASTA, des Allgemeinen Studentenausschusses, wie er damals hieß, gegangen und hatte Monika, der lesbischen Mitbewohnerin meiner Schwester, die dort arbeitete, von einer Freundin erzählt, die sich in Mädchen verknallte. Geduldig hat sich Monika meine Geschichten angehört. Natürlich wusste sie, dass ich von mir sprach. Aber sie hatte über meine Schwester erfahren, wie streng katholisch meine Familie war und wusste daher, wie hoch die Hürde für mich war, mir und anderen einzugestehen, dass ich Frauen liebe.
Und dann war der Tag da, an dem ich ihr strahlend sagte, dass ich diese Freundin war, von der ich ihr erzählt hatte. Sie hat mich umarmt und mir zu diesem Schritt gratuliert. Ich fühlte mich wohl in ihrer Umarmung – echt, wahr und frei. So viele Jahre hatte ich jede Berührung mit Mädchen oder Frauen, die ich mochte, vermieden, weil sie vermeintlich verbotene Gefühle in mir ausgelöst hatten. Mit coolen Sprüchen wie »Nich am Bär packen und keine Sentimentalitäten bitte!« hatte ich mir jede Irritation buchstäblich vom Leib gehalten – bis zu dieser ersten Umarmung, die sich richtig anfühlte.
Natürlich war ich in diese Frau verknallt – wie sich wohl fast alle Mädchen und Frauen in die Lesbe oder Bi-Frau verknallen, die ihnen hilft, zu sich zu stehen. Es fühlte sich einfach fantastisch an, einmal nicht »ins Leere« hinein verliebt zu sein. Monika liebte ebenfalls Frauen und vielleicht sogar mich. (Dass sie eine Freundin hatte, wusste ich an diesem Tag zum Glück noch nicht.) Ich war so überwältigt von diesem Gefühl, dass ich nur flüchten und für mich sein wollte. Also habe ich mich aus ihrer Umarmung gewunden und bin losgerannt – raus aus dem Mensagebäude, die Lahn entlang, über die Brücke auf die andere Seite des Flusses, den Hirschberg hoch, an der Jura-Fakultät hinauf bis zum Marktplatz. Atemlos ließ ich mich auf die von der Sonne gewärmten Steine am Fuße des Brunnens fallen und keuchte heftig. Und dann ist es aus mir herausgebrochen: »Ich bin lesbisch.«
Ich war nicht mehr allein, ein Fehler, eine Sünderin, eine Last, falsch gepolt. Es gab mehr als nur mich, die so empfanden. Es gab tolle Frauen wie Monika und die anderen Lesben aus dem Café. Ich war zum ersten Mal verknallt in eine Frau, die nicht mit einem Typen zusammen war. Ich hatte so lange mit mir gehadert, mit Gott, die mir diese Last gegeben hatte, mit meiner Familie, die nicht wissen durfte, was in mir vorging, mit den Mädchen, die ich anbetete und die dann doch mit pickeligen, rumschwadronierenden Jungen zusammen waren. Wie oft wäre ich gern als Junge aufgewacht, damit sich das Mädchen meiner Träume auch in mich verlieben konnte. Ich hatte gedacht, ich wäre die Einzige, die so empfand. Ich dachte, ich wäre krank und habe diesem falschen Körper Schnitte beigebracht, habe mich leichter gefühlt, wenn Blut aus diesen Schnitten quoll. Mein erster BH war wie Verrat an dem Gefühl, das ich hatte.
Aber jetzt war ich richtig. Ich lag nicht mehr quer in der Welt. Es gab Frauen wie mich, die sich in andere Frauen verliebten und die diesen Körper auch begehren konnten – und es war in Ordnung. Die lesbischen Frauen im ASTA-Café sahen auch nicht so aus wie die Mädchen auf unserer Schule. Sie wollten keinen Mann beeindrucken. Sie trugen weite Pumphosen, raspelkurze Haare, keinen BH und weite Hemden. Sie sahen stark aus, sprachen laut, kokettierten nicht.
Monika erzählte mir vom Frauenzentrum. Dort traf ich noch viel mehr Lesben. Ich bekam eine Doppelaxt1 als Anhänger an einer Kette geschenkt und lila Lesbenaufkleber für mein Fahrrad. Mit meinem neuen Blick erkannte ich Lesben auf Veranstaltungen, im Seminar, im Frauenzentrum. Mich lesbisch zu nennen war ein Befreiungsakt, war ein Liebesakt.
Ich konnte meinen Blick jetzt ganz auf Frauen richten, und es erschien mir einfach natürlich, parteilich für Frauen zu sein, sprich: Feministin zu werden. Meine Zuneigung galt allen Frauen. Ich entdeckte Schriftstellerinnen, sah Filme mit Frauenpaaren, las feministisch-lesbische Bücher.
Dieser erste Moment auf dem Brunnen in Marburg verlieh meiner Liebe einen Namen und gab und gibt mir bis heute Kraft, für Frauen zu kämpfen und Frauen zu lieben. »Lesbisch« – das ist meine Identität, mein Ich, wenn es um Liebe und Begehren geht. Ich habe Frauen im Blick, und dadurch sehe ich, was ihnen angetan wird. Lesbisch zu sein gibt mir die Achtsamkeit, jede Frau einzeln zu sehen – egal, wen sie begehrt. Mir liegt das Glück von Frauen am Herzen. Ich nehme die Kraft und das Potential jeder Frau wahr, auch wenn sie sich von mir durch ihre politischen Überzeugungen, ihre Religion, ihre gesellschaftlichen Bedingungen und ihre Geschichte unterscheidet. Und ich nehme historische Frauen, deren Leben oft nur in Bruchstücken überliefert oder hinter Männerbiografien verborgen ist, genauer wahr. Manchmal kann ich auch aus winzigen Indizien ihr verborgenes lesbisches Leben freilegen und sie somit wieder sichtbar machen. Lesbische Liebe bedeutet in einer patriarchalen Gesellschaft, frei vom emotionalen Einfluss von Männern zu leben, aber auch allein oder zu zweit meist weniger zu verdienen als Männer oder als ein heterosexuelles oder schwules Paar. Es bedeutet, von Männern oft mit schlüpfrigen Fantasien aus billigen Pornos im Hinterkopf betrachtet zu werden. Es bedeutet, als »Mannweib«, »Kampflesbe«, »verbittertes, hässliches Weib«, »Muschileckerin«, »humorlose Ziege« und ähnliches beschimpft zu werden. Es bedeutet, als Paar nicht ernst genommen zu werden. Oft wird die lesbische Beziehung als »Mädchenfreundschaft« enterotisiert und verniedlicht. Es bedeutet, so dämliche Fragen gestellt zu bekommen wie »Fehlt euch beim Sex nicht ein richtiger Schwanz?«. Es bedeutet häufig, dass die Eltern dein Zusammenleben mit einer Frau den anderen Verwandten verkaufen mit Erklärungen wie »Sie wohnt mit dieser Freundin zusammen, damit sie sich die Miete teilen können.«.
Es kann bedeuten, es nie den Eltern erzählen zu können, weil diese einer rigiden Richtung ihrer Religion angehören, in der Homosexualität eine Sünde ist, oder aus einer Kultur stammen, in der Homosexualität zum Ausschluss aus der Familie oder Schlimmerem führt.
Diese ganzen Verletzungen, Kränkungen und Missachtungen verlieren an Bedeutung, wenn ich mit anderen Lesben oder Menschen zusammensein kann, die mich so lieben, mögen oder auch nur respektieren, wie ich bin.
Dieser Glücksmoment auf dem Brunnen in Marburg ist meine innere Heimat, mein Wohlfühlort, an den ich innerlich jederzeit zurückkehren kann.
Ich bin eine Lesbe, die parteiisch für Frauen* ist. Diese Solidarität hat mich angetrieben, mich ohne Bezahlung unendlich viele Stunden für Frauenbefreiung und die Freiheit aller Menschen, die nicht der Norm entsprechen, einzusetzen – ob im Frauenzentrum, als autonome antiimperialistische Lesbe, im SO36 bei den QUEER-PARTYs und bei ELDORADIO, dem lesbisch-schwulen Radio in Berlin. Ich habe als offene Lesbe in einer Werbeagentur und bei einer Fernsehserie gearbeitet, um Geld zu verdienen, und mir viele dumme oder diskriminierende Sprüche angehört, ich habe aber auch viele tolle starke Frauen kennengelernt und einige gute Männer.
Ich beziehe nur eine kleine Rente, weil mir viele Jahre fehlen, die ich nicht in die Rentenkasse einzahlen konnte, und weil es in meiner Generation noch keine Infrastruktur geförderter Stellen oder gar Stiftungen und Institutionen gab, die Frauen und Lesben Geld zur Verfügung gestellt hätten. Und heute werden aus den wenigen Töpfen, die Frauen und Lesben zur Verfügung stehen, schon wieder Mittel herausgeschöpft und umgewidmet. Manchmal ist es ein wenig absurd, dass Frauen und andere Personen auf den wissenschaftlichen Stellen, die wir durch unbezahlte feministische Arbeit erst ermöglicht haben, Geschlecht so weit theoretisch dekonstruieren, dass radikale Missinterpretationen dieser Forschung sich praktisch gegen Frauen und Lesben als überholte und exklusive soziale Konstrukte wenden.
Ich bin eine Lesbe. Das ist mein roter Faden, das ist meine Geschichte, das ist meine Art zu lieben. Für mich ist das L nicht nur ein Buchstabe in einer ganzen Reihe von LGBTQIA+-Identitäten – es ist das, was mein Begehren und meine Perspektive bestimmt.
Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, damit wir Lesben sichtbar und im Dialog bleiben, und ich hoffe, es werden noch viele Geschichten von anderen Lesben folgen. Natürlich lässt sich ein komplexes Leben nicht auf so wenigen Seiten vollständig abbilden, und deshalb bin ich thematischen Schwerpunkten gefolgt. Hätte ich alle tollen Lesben und ihren Einfluss auf mein Leben erwähnen wollen, wäre es wohl ein dicker Wälzer geworden.
Ich hoffe, dass dieses Buch nicht nur von den Lesben gelesen wird, mit denen ich eine Geschichte teile, sondern dass auch jüngere Menschen dieses Buch lesen und sehen, dass hinter jedem Etikett, jedem Attribut ein gelebtes Leben steckt, das immer mehr ist als die Summe aller Eigenschaften. Lasst uns miteinander und nicht übereinander reden. Es würde mich freuen.
Ich habe unterschiedliche Schreibweisen für Geschlechter gewählt. Dies geschah aber nicht willkürlich, sondern ich habe genau darauf geachtet, ob Identitäten bei der Nennung auch inkludiert und zu dieser Zeit sichtbar waren oder nicht, und manchmal habe ich die Schreibweise übernommen, die zu der Zeit üblich war, um auch die sprachliche Entwicklung deutlich zu machen.
Als Frau bin ich eine unterdrückte Minderheitungeachtet der zahlenmäßigen Mehrheit, aber ichkann ja nur die Frauen zählen, die sich zur Wehrsetzen, und dann sind wir eine Minderheit.Christa Reinig2
Als ich 1960 geboren wurde, waren der Zweite Weltkrieg und damit die Naziherrschaft gerade einmal fünfzehn Jahre zu Ende. Es war also fünfzehn Jahre her, dass Frauen, die Frauen liebten, aus den Konzentrationslagern befreit worden waren – sofern sie überlebt hatten. Im Konzentrationslager waren Lesben unsichtbar, denn sie waren nicht als homosexuelle Frauen gekennzeichnet worden, sondern sie mussten den schwarzen Winkel der »Asozialen« oder den grünen Winkel der »Berufskriminellen« tragen. Damit waren sie als Opfergruppe nicht erkennbar. Viele wurden gezwungen, in lagereigenen Bordellen zu arbeiten. Zum einen ging es den nationalsozialistischen Tätern darum, ihnen mit Gewalt die Rolle einer »richtigen« Frau aufzuzwingen, zum anderen wurden Lesben innerhalb der KZ-Hierarchie zur Zwangsprostitution genötigt, um sowohl sexuelle Dienstleistungen für Wachmannschaften zu bieten, als auch ein sexuelles »Belohnungssystem« für »Kapos«, Funktionshäftlinge, die andere Häftlinge beaufsichtigten, zu schaffen. Im Weltbild der Nazis gab es ausschließlich männliche Homosexuelle, die im Lager mit dem rosa Winkel gekennzeichnet wurden. Ihnen galt die ganze Wut der männerkultigen Ideologie. Eine eigenständige Sexualität von und unter Frauen gab es im konservativen Weltbild der Kaiserzeit und auch in der Welt nach dem ersten Weltkrieg nicht. Die Nazi-Ideologie hat das bestehende Bild von der braven Ehefrau und Mutter dann zum Kult erhöht, indem es Mütter mit Orden versah und den Muttertag zum Feiertag erhob. Frauen waren dazu da, dem Führer Kinder zu gebären und ihm zuzujubeln. Frauen, die sich der Produktion von Kanonenfutter entzogen, machten sich verdächtig und wurden häufig gnadenlos als Asoziale verfolgt.
Aus Erzählungen ehemaliger KZ-Insassinnen erfuhr ich, dass die ersten Homosexuellen, die verhaftet wurden, diejenigen waren, die sich entgegen ihres biologischen Geschlechts kleideten – kesse Väter3, Tunten und Transsexuelle, die sich ihrem vorbestimmten Platz in der Gesellschaft entzogen.
Lesben, die aus dem KZ kamen, und die Lesben, die sich während des Krieges versteckt oder angepasst hatten, mussten auch in der Nachkriegszeit ihre lesbische Liebe verstecken. Die Nachkriegsgesellschaft der fünfziger Jahre hüllte sich vielfach in Schweigen und wollte so »normal« wie möglich sein, um ihre Schuld zu verbergen. Gleichzeitig wirkte noch das Geschlechterbild der Nationalsozialisten in der Gesellschaft nach.
In der Welt also, in die ich hineingeboren wurde, gab es offiziell nur Heterosexuelle, die sich in tapfere Jungs und brave Mädchen aufteilten. Lesben und Schwule hatten sich dagegen in einigen größeren und mittleren Städten eine Subkultur mit Flüsterlokalen aufgebaut.
Als mein Vater freudestrahlend die Geburt seiner dritten Tochter bei seinen Eltern bekanntgab, reagierte mein Großvater harsch: »Und da wagst du Versager dich noch hierher? Kannst du keine Jungs machen? Wo bleibt der Stammhalter?« Ich, diese dritte Tochter und Schande meines Vaters, lernte in der Schule »Hauswirtschaft«, während die Jungen »Werken« hatten. Mein Alltag war voller Sprichwörter wie »Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, soll man beizeiten die Köpfe umdrehen.« oder »Langes Fädchen, faules Mädchen.«. Mein Wunsch, nur Hosen und kurze Haare zu tragen, galt als moralisch bedenklich. »Die wird dir auf der Nase rumtanzen, wenn du ihr nicht zeigst, wie sich ein Mädchen zu benehmen hat«, warnte meine Oma meine Mutter. Auch der katholische Priester, bei dem ich Messdienerin war, beobachtete mein jungenhaftes Verhalten argwöhnisch. Das sei nicht gottesfürchtig, warnte er mich kryptisch. Und dann kam natürlich die Geschichte mit Adam und Eva und dass Eva aus der Rippe Adams geschaffen wurde. Als Kind dachte ich eine Weile schadenfroh, wenn ein Junge Seitenstiche hatte, dass sein Rippenmädchen gerade schlecht über ihn redete, die Reifen seines Fahrrades zerstach oder ähnliches. Der Gedanke gefiel mir sehr – erst recht, wenn die Jungs mich beim Fußballspielen mal wieder hatten abblitzen lassen.
Mein Vater freute sich zwar über seine Mädchen, ließ mich aber auch gern wie ein Junge herumlaufen, weil er mit Jungen mehr anfangen konnte. Ich durfte auf Bäume klettern, aber eine Eisenbahn oder eine Carrera-Bahn bekam ich nicht. Sehr enttäuschend. Manchmal war ich selbst ganz konfus. Als wir im Bayerischen Wald im Urlaub waren, bin ich in der ersten Woche wie ein Junge herumgelaufen und habe nur mit den Jungen des Dorfes gespielt. Am Sonntag musste ich auf Befehl meiner Mutter ein Kleid und Lackschuhe zur Kirche tragen. Da staunten die Jungen nicht schlecht, und ich wäre am liebsten in Weihrauch aufgegangen. Es war glasklar, dass ich danach bei den Jungen unten durch war. Die Kastengrenzen waren eng gezogen. Hier die Jungs mit Bonanza-Rad, da die Mädchen mit Gummitwist. Ich kannte keine Mädchen mit eigenem Jungenspielzeug.
Ab der Pubertät geriet meine Welt aus den Fugen. Während meine Mitschülerinnen auf dem Mädchengymnasium im Unterricht durchaus intelligent kommunizierten, degenerierten sie in den Pausen zu lispelnden Idiotinnen, sobald Jungen dabei waren. Sie lauschten mit aufgerissenen Augen, wenn diese über ihre Mopeds schwadronierten oder über Fußball fachsimpelten. Da mir das lustvolle Ziel dieses Balzverhaltens fehlte, hatte ich das Gefühl, in einem Alptraum festzustecken. Meine Lieblingsgeschichte zu dieser Zeit: Auf der Galerie von Franz Kafka. In dieser Parabel sieht das erzählende Ich eine horrorhafte Szene in einem Zirkus, in der ein sadistischer Zirkusdirektor vor einem feixenden Publikum eine ausgemergelte kranke Reiterin auf einem ausgezehrten Pferd durch die Manege peitscht, während dazu eine Zirkusband schräge schepperige Musik spielt, bis das entsetzte erzählende Ich der schrecklichen Vorstellung Einhalt gebietet. In einer Parallelszene sieht ein begeistertes Publikum eine schillernde Prinzessin auf einem starken Pferd durch die Manege traben, während der Zirkusdirektor sie fürsorglich dabei anleitet. Zu harmonischen Klängen der Zirkusband wirft die strahlende Reiterin den Besuchern und damit auch dem erzählenden Ich Kusshände zu. Ich fühlte mich wie das Ich aus der Geschichte. Ich nahm die Welt anders wahr als die Menschen um mich herum. Nur ich schien zu sehen, wie schräg das Theater meiner Mitschülerinnen war und wie trottelig und angeberisch sich die Jungen verhielten. Mir fehlte der Feenstaub des sexuellen Begehrens, um aus den Troll-Jungen Prinzen zu machen. Irgendwann merkte ich, dass ich in eine meiner Lehrerinnen verliebt war, und ich ahnte, dass dieses Gefühl mein Leben auf den Kopf stellen würde.
Ich war voller Wut und Panik.
Ich war wütend, dass Gott mir solch ein verbotenes Gefühl angehängt hatte, wo ich doch immer so brav seine Gebote befolgte und sogar Messdienerin geworden war. Ich war panisch, weil diese Gefühle mein ganzes bisheriges Leben in Gefahr brachten, denn ich kannte niemanden sonst, der so empfand. Es gab keine Bücher, keine Filme und keine TV-Figuren, mit denen ich mich hätte identifizieren können. Im Gegenteil. Alle Filme drehten sich darum, dass Männlein und Weiblein sich fanden wie zwei Hälften – die andernfalls verkümmern würden –, um dann wie ein geeintes Wesen unter triefend-süßen Geigenklängen durchs Leben zu gehen. Dabei schuftet der Mann in seinem Beruf und sie schuftet für ihr gemütliches Zuhause mit Schondecken auf dem Sofa, Zierdeckchen auf den Lehnen und Kissen mit Knick. Ihre Kinder sind wagemutige Jungs und kichernde, fleißige Mädchen. Einzige Ausnahme: Pippi Langstrumpf. Zumindest schlief ich eine Weile verkehrt herum im Bett, konnte mir aber weder Affe noch Pferd leisten.
Mitte der siebziger Jahre, als ich ungefähr fünfzehn war, begann es in meinem Kopf zu rattern. Meine Wirklichkeit teilte sich in zwei Bühnen. Da war mein farbenfrohes imaginiertes Innenleben mit meiner Lehrerin und dort Kafkas vergilbter scheppernder Zirkus in meinem Außenleben. Ich fühlte mich verrutscht und quer in meinem Leben. Als ich in irgendeinem Jugendroman, der in Indien spielte, von Wiedergeburt las, wuchs in mir die fixe Idee, dass ich ein Montagsmodell und damit ziemlich fehlerhaft war. Ich beschloss, mich umzubringen, damit ich eine Chance hatte, irgendwie passender wiedergeboren zu werden. Im letzten Moment wurde ich von meiner Mutter und meiner Schwester entdeckt und gerettet. Meine Mutter prügelte vor Schreck so lange auf mich ein, bis ich halb bewusstlos war. Im Rhythmus der Schläge warf sie mir vor, die ganze Familie in Schwierigkeiten zu bringen. Schöner Schlamassel, denn von da an stand mein Außenleben unter ständiger Beobachtung. Ich tat so lange das, was meine Familie von mir erwartete, bis ich vergessen hatte, was ich wirklich wollte.
Der erste Sex mit einem Mädchen fand einige Jahre später im Vollrausch statt, untermalt von dem Alabama-Song der Doors: »Well, show me the way to the next whiskeybar«.4 Das Mädchen behauptete am nächsten Morgen, sich an nichts zu erinnern. Ich akzeptierte das. Es erschien mir sogar logisch. Es gab keinen Ausdruck für das, was wir gemacht hatten, also hatte es auch gar nicht stattgefunden. Damit musste ich mich also abfinden. Das Mädchen schaffte sich gleich in der nächsten Woche einen Freund an. Ich machte es ihr nach und suchte mir den nettesten und hübschesten Jungen aus, den ich kriegen konnte. Wenn schon, denn schon. Er war mehr der Typ, der einen »duften Kumpel« als Freundin suchte, eine Freundin, die auf dem Sozius seines Motorrades nicht quietschte und die mit ihm einen Tauchkurs machte. Das passte. Ich mochte meinen Freund. Er war lustig und ein netter Kerl mit Vollbart, und er verschaffte mir Entlastung, denn nun wurde ich nicht mehr misstrauisch gemustert – nun war ich ja vollständig und blieb in den Augen meiner Freundinnen und Mitschülerinnen nicht als vertrocknete alte Jungfer auf der Strecke. Da ich also jetzt »komplett« war, musste ich wohl glücklich sein, vermutete ich. Der Sex mit meinem Freund war mir gleichgültig bis unangenehm. Aber die gesellschaftlichen Vorteile überwogen.