Lesen, erschließen, verstehen - Ulrich Schmidt - E-Book

Lesen, erschließen, verstehen E-Book

Ulrich Schmidt

0,0

  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Wir alle stehen im Beruf wie im privaten Alltag immer wieder vor der Aufgabe, Texte verstehen zu müssen. Sei es die Bedienungsanleitung eines neuen Gerätes, die Beurteilung des Chefs oder aber auch den Brief eines (gegnerischen) Anwalts oder, oder, oder... Damit geht es uns wie einem Schüler, der einen komplizierten Text lesen und begreifen soll! Zentral ist hierbei die Frage: Wie gelange ich zu einem sicheren Verständnis des Gesagten bzw. Geschriebenen? Genau hier setzt Schmidt an, wenn er in seiner einfühlsamen und durchweg an einer Fülle von Beispielen orientierten Darstellung das vermittelt, was er als "Handwerkszeug" der Interpretation bezeichnet. Schritt für Schritt wird hier in verständlicher Weise erklärt, welche Komponenten im Detail eines Textes wie zu verstehen sind und zum Verständnis des Satz- und Textganzen beitragen. Schmidt beschränkt sich in seinen zahlreichen Beispielen nicht auf literarische Texte, sondern bezieht ebenso auch Sachtexte aus verschiedenen Bereichen in seine Ausführungen ein und bietet so für Leser unterschiedlicher Herkunft immer wieder erhellende Momente und insgesamt ein hohes Maß an Erkenntnisgewinn.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 268

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ulrich Schmidt

Lesen, erschließen, verstehen

Interpretation - Wege zum Verständnis und zur Anwendung eines wunderschönen Handwerks

© 2020 Ulrich Schmidt

Verlag & Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44,

22359 Hamburg

Coverbild: Ulrich Schmidt

ISBN

978-3-347-17896-0 (Paperback)

978-3-347-17897-7 (Hardcover)

978-3-347-17898-4 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Vorbemerkungen

1.1 Verstehendes Lesen

1.2 Vom intuitiven Verstehen zur Interpretation

1.3 Deutschunterricht und Interpretation

2 Systematischer Interpretations-Lehrgang

3 Exemplarische Einführung in die Interpretation literarischer Texte

3.1 Gedichte untersuchen

3.2 Theatertexte erschließen

3.3 Erzähltexte verstehen

3.4 Exemplarische Einführung in die Interpretation von Sachtexten

4 Anhang

4.1 Anmerkungen

4.2 Weitere Materialien

4.2.1 Beispiele zur Lyrik

4.2.2 Beispiele Dramatik

4.2.3 Beispiele Epik

4.2.4 Beispiele Sachtexte

Einleitung

Als bibliophiler Mensch habe ich in meinem Leben naturgemäß viele Bücher gelesen, um nicht zu sagen: in mich eingesogen, und bin dabei zumeist meinem ebenso intuitiven wie subjektiven Verständnis gefolgt. Als Deutschlehrer habe ich dann mein Hobby zum Beruf gemacht und auch in dieser Lebensphase eine große Zahl von Texten für und mit meine/n Schülern gelesen und interpretierend erarbeitet.

Was also lag nach meiner Pensionierung näher, als auch für diesen neuen Lebensabschnitt meine Leidenschaft für das geschriebene Wort zum Gegenstand meiner Beschäftigung zu machen. Als neue Herausforderung diente nun aber das Vorhaben, nicht nur lesend mit Texten umzugehen, sondern mögliche Wege des Verstehens auch erklärend darzustellen und an andere Leser weiter zu reichen. Menschen, die eine emotionale Nähe zur Vielschichtigkeit von Sprache und Literatur mitbringen, fällt es sicher leichter, intuitiv zu einem Verständnis von Texten zu gelangen.

Aber - und hierin liegen Grundgedanke und Zielsetzung all meiner Ausführungen - die Fähigkeit, zu einem intersubjektiven Verständnis von Texten zu kommen, muss nicht wenigen Begabten oder Privilegierten vorbehalten bleiben. Denn diese Fähigkeit basiert nicht auf einem ausschließlich exklusiven, weil angeborenen, sondern auch auf einem durchaus erlernbaren Sprachbewusstsein. Meine Ausführungen mögen dazu dienen, die dafür notwendigen Techniken und Fertigkeiten

exemplarisch aufzuzeigen.

1 Vorbemerkungen

1.1 Verstehendes Lesen

Lesen als Freizeitbeschäftigung

Sicher sind Gedichte, Theaterstücke und Romane für jeden Leser heute zunächst einmal (nur) ein Teil unserer Freizeitkultur. Buchhandlungen und Bibliotheken bieten dem Leser eine schier unendlich erscheinende Fülle an Literatur. Wir selbst sind es, die uns durch Titel, Titelbilder, Klappentexte, Rezensionen oder auch Filme inspirieren lassen, ganz bestimmte Bücher aus der riesigen Auswahl herauszugreifen. Und wenn wir gern lesen, ist die Welt, die der Autor durch seine Worte vor unserem inneren Auge entstehen lässt, für uns ein Rückzugsort der Entspannung und Entlastung vom Alltag. Natürlich muss niemand rational interpretierend an ein solches Stück Literatur herangehen - aber dennoch interpretieren wir bereits, sobald die Worte des Verfassers in uns Bilder und Phantasien auslösen. Intuitiv haben wir die Formulierungen des Verfassers in Bilder übersetzt, weil das im Text Gesagte in uns - und nur in uns - genau diese und keine anderen Bilder hervorgerufen hat. Wir haben im Lesevorgang ein subjektives Verständnis des Geschriebenen entwickelt, ein Verständnis, das uns den gelesenen Text als mehr oder weniger reizvoll und lesenswert erscheinen lässt - und die Bedeutung des Wortes interpretieren besteht ja insbesondere darin:

Die sprachlich gefasste Gedankenwelt eines anderen Menschen verstehend zu erschließen.

Lesen in der Schule

Im scheinbaren Kontrast dazu steht das, was viele Schüler als Interpretation in ihrer Schulzeit kennengelernt haben. Denn hier ist man in der Regel nicht der autonom seinen Gegenstand auswählende Leser, der selbst entscheidet, was er zur Hand nimmt und liest, hier wird ein Kanon oder eine Obligatorik abgearbeitet, die dem Schüler - wie zumeist auch dem Lehrer - vorgegeben ist. Nicht das, was einem selbst als Leser nahe ist, soll also in den Blick genommen werden, sondern Werke, die anderen Lesern zu früheren Zeiten gefallen, die sie für gut befunden haben. Während wir zudem als privater Leser das Lesen als einen mit Ruhe und Zeit verbundenen, rein konsumierenden, auf individuelles Verstehen ausgerichteten Vorgang betrachten und schätzen, stellt Lesen und Interpretieren in der Schule eine zu leistende Arbeit dar, die uns nicht nur abverlangt zu erklären, wie wir ein literarisches Werk verstanden haben, sondern auch, woran wir denn unser Verständnis festmachen, also quasi beweisen können.

Schulisches Interpretieren strebt also ein verobjektiviertes Verständnis an. Außerdem fungieren jedes literarische Werk ebenso wie jeder in der Schule behandelte Sachtext als Beispiele für viele andere, mit deren Hilfe die Sprach- und Verstehenskompetenz der Schüler zu erweitern ist. Zudem ist diese Erstellung eines Verstehensproduktes in den Stundentakt eines Unterrichtsvormittags gepresst und wird dann auch noch kriteriengeleitet beurteilt.

Die gerade genannten Faktoren - keine eigene Auswahl, keine Zeit, kein subjektives, sondern intersubjektives Verstehen, nicht Lust, sondern Last - tragen dann dazu bei, dass der dergestalt zur Interpretation genötigte Leser - nicht nur bei älteren Texten mit nicht mehr verstandenen Ausdrücken - zum Blockieren neigt und so einen Verstehensprozess gar nicht erst zulässt. Von daher kennt jeder, der sich schon einmal als Schüler oder Student mit der Interpretation von Texten zu beschäftigen hatte, den Gedanken: Interpretieren kann man entweder oder nicht! Die durchaus gefährliche Folge solcher Frustration: Viele derart lesesozialisierte Menschen meiden im weiteren Verlauf ihres Lebens, wo immer möglich, ihre in der Schule erworbene Lesefähigkeit. Die zwangsläufige Folge: Die schon erworbenen, aber kaum noch genutzten Lese- und Verstehenskompetenzen werden geringer und in Situationen, in denen das Lesen unvermeidbar ist, können sich kaum überwindbare Hürden auftun.

Lesen als unverzichtbare Kompetenz

Dennoch ist das Lesen - und damit selbstverständlich einhergehend: das Verständnis des Gelesenen - keine nur in der Schule geforderte Kompetenz. Lese- und Verstehensanforderungen stellen sich uns immer wieder in allen Bereichen unseres Lebens. In all den im Privat- wie im Berufsleben zur Kenntnis zu nehmenden Texten geht es zumeist nicht um ein Lese-Vergnügen, sondern eher um ein eindeutiges Verstehen, d.h. also um ein sachangemessenes Interpretieren des Gelesenen.

Texte im Alltag dienen dann sicher in erster Linie dazu, z.B. in beruflichen Zusammenhängen Fachwissen oder fachlich und situativ angemessene Techniken zu verstehen, zu erlernen und/oder zu vermitteln. Im Privatbereich stehen wir oft vor der Aufgabe uns mit der Funktion und Bedienung von Haushaltsgeräten oder auch dem Aufbau von im Handel erworbenen Gegenständen des täglichen Gebrauchs auseinander zu setzen, oft auch mit der Anforderung, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Anbieters nachvollziehen können zu sollen. Nicht minder bedeutsam ist in unserer verrechtlichten Alltagswelt im Zusammenhang mit Verträgen, Streitfällen o.ä. die Auseinandersetzung mit juristischen Texten.

Viele dieser Texte bieten dem um Verstehen bemühten Leser Hindernisse: Sei es aufgrund einer Tendenz zu einem verkürzenden Sprachgebrauch, sei es aufgrund einer großen Zahl von fachlichen Ausdrücken oder auch aufgrund von (schlechten) Übersetzungen.

Intuition wird hier nicht immer hinreichen, solche textlichen Aufgaben zu bewältigen. Insofern kann ein weniger vorgebildeter Leser selbst im Zusammenhang mit Sachtexten immer wieder an seine Grenzen stoßen.

Hier liegt denn auch die wesentliche gesellschaftsrelevante Begründung, warum Schulministerien ihren Schulen, insbesondere auch den Deutschlehrern, als Aufgabe stellen, die sprachliche, damit auch die Verstehenskompetenz der Schüler zu fördern.

1.2 Vom intuitiven Verstehen zur Interpretation

Der oben bereits angesprochenen, eher resignierenden Haltung: Interpretieren könne man entweder oder nicht, kann und darf man daher auf der Grundlage der bereits geschilderten unterschiedlichen Rahmenbedingungen von lesen als Freizeitbeschäftigung und lesen und interpretieren als schulische Arbeit, aber auch außerschulische gesellschaftliche Anforderung nur bedingt zustimmen. Ziel eines Unterrichtenden, der nicht einfach nur seinen Job macht, sondern seine Schützlinge an Sprache und Literatur heranführen möchte, muss es zunächst sein, die geschilderten Lese- und Verstehens-Blockaden abzubauen. Dies gelingt in den meisten Fällen, indem man die natürliche menschliche Neugier anspricht. Zwar wird es in funktionalen räumlichen Gegebenheiten - wie in Schulen oder Universitäten - kaum möglich sein, eine Atmosphäre der Muße und des Privaten zu schaffen; dennoch aber kann (und muss) es gelingen - und sei es durch den vortragenden oder auch vorlesenden Unterrichtenden - die Schüler zu öffnen für den zu betrachtenden Text. Wie bei einer privaten Lektüre muss im Schüler der Reiz geweckt werden, wissen zu wollen, worin dieses oder jenes Gefühl begründet liegt, aus welchen Motiven sich eine Figur zu welcher Handlung hinreißen lässt und zu welchem Ende denn genau diese Problematik führt. Oder auch bei einem schwierigen Sachtext: Was genau denn nun der Verfasser an Information oder auch Meinung transportieren möchte und woran man das erkennen und unterscheiden kann.

Denn sicher sollte jemand, der sich mit komplexen Texten auseinandersetzen will - und noch mehr derjenige, der dies (aus beruflichen Gründen) tun muss -, ohne Angst lesen, den Verstehensprozess nicht bewältigen zu können. Noch besser wäre es natürlich, wenn dieser Leser eine gewisse Neugier auf (literarische) Texte entwickeln könnte und zugleich eine Neigung sich emotional wie intellektuell auf die Gedanken- und Empfindungswelt, d.h. auf die spezifischen sprachlichen Gestaltungsweisen eines anderen Menschen einzulassen.

Dies gilt umso mehr, wenn Schüler im vorgegebenen Rahmen von Schule nicht nur lesen, sondern an einen rational fundierten und so intersubjektiv nachvollziehbaren Verstehensprozess herangeführt werden sollen. Umgekehrt gilt aber sicher auch, dass es ein Lehrer, der selbst keine ausgeprägte Neigung zur Auseinandersetzung mit den sprachlichen Nuancen von Texten spüren lässt, schwer haben wird, eine entsprechende Motivation zur detaillierteren Beschäftigung mit komplexeren Texten in seinen Schülern entwickeln zu helfen. Denn die Anregung und Motivation zum Lesen ist für das Gelingen des Lese- und Verstehensprozesses von Literatur eine wesentliche Voraussetzung. Hinzukommen muss nun aber noch ein Weiteres: Der Schüler soll dahin gelangen, seinen Verstehensprozess nachvollziehbar darzustellen. Dazu aber reicht es nicht, so viel Neugier und Motivation aufzubringen, wie nötig ist, das literarische Werk tatsächlich zu lesen. Denn das, was man gelesen und im besten Fall auch intuitiv verstanden hat, soll nun auch noch aus dem Bereich des intuitiven Verstehens in einen bewussten Verstehensvorgang überführt werden. Der Leser soll also erst sich selbst klar machen, welche sprachliche Ausdrucksform und welche inhaltliche Bedeutungsidee sein Verstehen ausgelöst hat und schließlich auch noch dies sein bewusstes Verstehen selbst schriftlich so darstellen, dass ein anderer, im Idealfall jeder andere, nachvollziehen und als angemessen anerkennen kann, warum sich bei diesem Leser genau dies Verständnis entwickelt hat.

Wer also von einem subjektiven Verständnis zu einem bewussten, vom Verstand gelenkten Verstehensprozess gelangen möchte, muss neben der Bereitschaft, sich auf eine fremde Gedankenwelt einzulassen, das mitbringen, was Goethe in seinem Sonett Natur und Kunst (1800) zum Ausdruck gebracht hat:

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!

Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden

Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,

Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

Das, was Goethe vor mehr als 200 Jahren für den nach Perfektion („Vollendung“) strebenden klassischen Künstler als Handlungsanweisung formuliert hat, gilt so auch für den Interpreten. Auch dieser muss sich Zeit nehmen, d.h. sich „in abgemessnen Stunden“ ernsthaft mit dem literarischen Werk oder auch einem schwierigen juristischen Text auseinander setzen und so sein „redliches Bemühen“ erkennen lassen. Mehr noch: Bevor - „wenn wir erst“ - das subjektive Verstehen des Interpreten sich dem konkreten Interpretationsgegenstand zuwenden kann, muss der (künftige) Interpret sich die allgemeinen Prinzipien von künstlerischer und/oder sprachlicher Gestaltung mit großer intellektueller („Geist“) Anstrengung, aber auch der Willenskraft, Widerstände zu überwinden („Fleiß“), angeeignet haben.

Der Interpret muss sich also das notwendige Handwerkszeug der Interpretation eines jeden Textes erst erarbeiten.

Was heißt interpretieren1

Interpretieren heißt zunächst einmal: etwas Mehrdeutigem eine Eindeutigkeit geben, indem das interpretierende Subjekt inhaltliche wie sprachliche Elemente eines Textes herausgreift und diese in erklärender Weise in einen in sich stimmigen, d.h. auch von anderen nachvollziehbaren Zusammenhang bringt.

Das subjektive Moment einer solchen Erklärung liegt in der durch den Interpreten vorgenommenen Festlegung dessen, was er als zentral und dementsprechend als wesentlich für sein Verständnis eines Textes ansieht. So verläuft im Normalfall unser alltägliches Lesen und (interpretierendes) Verstehen sei es bei der Lektüre der Tageszeitung oder auch anderer schriftlicher Äußerungen wie z.B. in einem Whatsapp-Chat.

Die Problematik solcher subjektiven Deutungen erleben wir alle in unserer alltäglichen Kommunikation mit unseren Mitmenschen: Sätze, die der eine Kommunikationspartner als zentral, völlig „normal“ oder wertungsfrei empfunden hat, werden von einem anderen Kommunikationspartner als nebensächlich, als Angriff, als Beleidigung o.ä. wahrgenommen. Worte für sich genommen, aber auch in bestimmten Kontexten können für einen Betrachter, je nachdem, wann und wo sowie unter welchen familiären und sozialen oder auch kulturellen Rahmenbedingungen er aufgewachsen ist, durchaus recht verschiedene Bedeutungen annehmen. Der subjektive Charakter eines (interpretierenden) Verstehens beschränkt sich also nicht auf die Festlegung der Deutungsschwerpunkte, sondern umfasst auch noch zumindest das im Verlauf des individuellen Lebens gebildete und geprägte Verständnis von sprachlichen Elementen.

Zu fragen ist also, wie sich das Verstehen alltäglicher oder/und literarischer Texte aus den mehr oder weniger unbewussten Fesseln der subjektiven Deutungen lösen kann?

Die Grammatik als Hilfsmittel der Interpretation

Ein Weg zu diesem Ziel kann im Erwerb des oben schon angesprochenen Handwerkszeugs der Interpretation liegen. Worin aber besteht dieses Handwerkszeug? - Zunächst einmal ist jeder Text eine sprachlich Darstellung von Empfindungen, Eindrükken, Wahrnehmungen, Handlungen. Ein sprachliches Kunstwerk möchte ebenso wie ein alltäglicher Text oder ein Fachtext einen möglichen Leser als Adressaten ansprechen und von diesem verstanden werden. Nun besteht jeder Text zumeist aus verschiedenen Sätzen, die sich gegenseitig einen Zusammenhang geben und so ein in sich sinntragendes Gebilde darstellen. Das bedeutet, dass diese Sätze zumeist - selbst in lyrischen Texten - in eine zumindest reduzierte grammatische Struktur gefasst und unter Zuhilfenahme der Grammatik auch (intersubjektiv) analysierbar und schließlich deutbar sind.

Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, folgt nun exemplarisch eine grammatisch-formale Analyse und Interpretation insbesondere eines Verses2 (Strophe vier, Vers eins) aus Franz Werfels Gedicht Die Wortemacher des Krieges:

Die Dummheit hat sich der Gewalt geliehen,

(Die Bestie darf hassen, und sie singt.)

DieAnaphern(„Die…Die…) in Strophe vier, Verse eins und zwei verweisen bereits formal auf einen engen Zusammenhang dieser beiden Verse, ein Zusammenhang, der auch durch den parallelen Aufbau derSatzglieder und die Tatsache gestützt wird, dass der erste Satz in Strophe vier erst am Ende von 4.2 mit einem Punkt als Satzschlusszeichen beendet wird. Geprägt werden diese zwei Verse zudem durch mehrerePersonifikationenvon z.T. abstrakten Begriffen. Deutlich wird so durch die Personifikation „Die Dummheit hat sich […] geliehen“(4.1), dass damit nicht eine einzelne Person, sondern eine Eigenschaft oder Haltung vieler gemeint ist, die Haltung nämlich nicht nachdenken zu wollen oder zu können und zugleich die Bereitschaft dieser vielen, Entscheidungsbefugnisse, aber auch - erkennbar am Reflexivpronomen „sich“ - Verfügungsmacht über die eigene Person abzutreten. Diese Deutung lässt sich ebenso durch den grammatischen Zusammenhang der Satzglieder in 4.1 belegen: Handelnde Figur, alsoSubjektdes(Aktiv-) Satzes, ist in diesem Fall „Die Dummheit“ (wer oder was hat [sich] geliehen?). Die Aktivität des Subjekts besteht in dem Vorgang des ´Leihens´; das Reflexivpronomen (hier: „sich“), das stets einen grammatischen Rückbezug auf die handelnde oder sprechende Person angibt, verweist zudem darauf, dass nicht irgend ein Gegenstand oder gar Geld „geliehen“ worden ist, sondern die eigene Person, die hier, in Form eines pars pro toto, durch eine ihrer Eigenschaften, die „Dummheit“, repräsentiert wird. Zielfigur bzw. Adressat des Leihvorgangs, also Leihnehmer, ist das Dativ-Objekt(wem hat die Dummheit sich geliehen?) „der Gewalt“. Das bedeutet, dass aufgrund dieses Leihvorganges die Dummen künftig das zu tun haben, was der Leihnehmer, also die hier ebenfalls personifizierte Gewalt, anordnet. Auch mit der Gewalt sind natürlich Menschen gemeint und zwar diejenigen, die gewaltbereit sind, worunter im Kontext dann in erster Linie die im Titel genannten „Wortemacher des Krieges“ zu verstehen sind. [die komplette Interpretation des Gedichtes findet sich im Anhang/Kapitel Lyrik]

Dies Beispiel mag deutlich machen, dass ein erster möglicher Weg, das eigene intuitive Verständnis intersubjektiv nachvollziehbar zu veranschaulichen, darin bestehen kann, die (objektiv festmachbaren) grammatischen Bezüge und Verhältnisse in den zu interpretierenden Texten zu untersuchen und die dabei gewonnenen Einsichten für die Darstellung des eigenen Verständnisses zu nutzen.

Differenzierung von Analyse und Interpretation

Ausgangspunkt jeglichen Bemühens um Verstehen ist also zunächst ein Text oder zumindest ein frag-würdiger Auszug aus einem Text, in unserem zweiten Beispiel die folgende Sequenz:

„Soseies“,flüsterteder Delinquent, als das

Fallbeil auf ihnherabgelassen wurde.

Die Analyse der sprachlichen Elemente könnte dann wie folgt lauten:

Im Beispielsatz finden sich bei den Unterstreichungen drei Modalformen von Verben, von denen die erste „sei“ im Konjunktiv I, die zweite „flüsterte“ im Prät.Ind.Aktiv und die dritte „herabgelassen wurde“ im Prät. Ind. Passiv steht. Zudem liegt im Teilsatz „als das…wurde. “ ein Temporalsatz der Gleichzeitigkeit vor.

Festgestellt worden sind hier auf der Ebene der Grammatik die in den Teilsätzen verwendeten Modalformen der Verben sowie die Art des gefundenen Nebensatzes.

Verknüpft man nun diese Analyseergebnisse mit den Erklärungen zur üblichen Funktion des Festgestellten und denen zur konkreten, aus dem Zusammenhang erschließbaren Bedeutung, dann lässt sich im folgenden, fett hervorgehobenen Teil erkennen, inwieweit die Interpretation über die Analyse hinausgeht:

Im vorliegenden Satz finden sich drei Modalformen von Verben, von denen die erste „sei“ im Konjunktiv I steht. Der Konjunktiv I der indirekten Rede drückt üblicherweise die sachliche Wiedergabe des von einem anderen Gesagten aus und gibt hier das - eher gequälte - Zugeständnis des Delin-quenten zu dem, was er ohnehin nicht mehr ändern kann, wieder. Das, was er nicht mehr ändern kann, ist seine Hinrichtung, damit sein Tod; denn offenbar liegt er ja schon als für schuldig Befundener und zum Tode Verurteilter („Delinquent“) auf dem Schafott. Die zweite, im Prät.Ind.Aktiv gehaltene Modalform „flüsterte“ stellt aus dem Erzähltempus Präteritum die leise Redeweise des Hinzurichtenden unmittelbar vor seinem in der Vergangenheit erfolgten Tod heraus, während die dritte, im Prät. Ind. Passiv stehende Modalform „herabgelassen wurde“ zum Ausdruck bringt, dass das Fallbeil keine selbstständige, also aktive Handlung begeht, sondern von einer nicht genannten Person bedient wurde. Diese Person hat den Auslösemechanismus des Fallbeils im gleichen Moment („als…“) betätigt und es damit an seine Aufgabe geschickt, in dem der Hinzurichtende seine letzten Worte „flüsterte“.

Die Verständnisanforderungen hier gehen also davon aus, dass der Leser als Handwerkszeug der Interpretation die Arten von Nebensätzen und ihre Funktion ebenso wie die Modalformen der Verben und ihre sprachliche Bedeutung kennt und auf textlichinhaltliche Zusammenhänge anwenden kann. Dies ist eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe, die natürlich so noch nicht von Fünftklässlern bewältigt werden kann.

Die hohen Hürden jeder Interpretation

Nun ist die Grammatik noch das rationalste Hilfsmittel, das eigene Verständnis eines Textes auch für andere nachvollziehbar zu gestalten.

Schwieriger wird jede Deutung, wenn man sich auf die Ebene der Wortbedeutung begibt: Zu Zeiten, in denen es in einem Sprachraum eine vorherrschende Verkehrssprache gibt, sind neben überregional festgelegten Ausspracheregelungen zumindest die Hauptbedeutungen von Einzelworten den meisten in diesem Sprachraum lebenden Menschen präsent und gemeinsam. Neben diesen Hauptbedeutungsströmungen existieren aber zumeist regional oder auch lokal, gelegentlich sogar familiär differente Nebenbedeutungsströmungen, die jeder im Heranwachsen intuitiv vermittelt bekommt und nutzt. Da Autoren in der Regel ebenfalls unter solchen Umständen heranwachsen, nutzen sie neben den Haupt- , vermutlich auch solche Nebenbedeutungen.

Dass jede Interpretation von Unterschiedlichkeiten im Verständnis von Ausdrücken - sowohl auf Seiten des Autors wie auch der des jeweiligen Interpreten - bedingt sein kann, ist somit eine zweite Rahmenbedingung von Interpretation.

Da Wortbedeutungen jedoch nicht nur lokal, sondern auch im Ablauf von Zeit Veränderungen unterworfen sind, kommt eine dritte Erschwernis für eine um Eindeutigkeit bemühte Interpretation hinzu. Denn das jeweilige Verständnis der Bedeutung von Worten hängt letztlich davon ab, in welcher wie entwickelten und von welchen Einflüssen geprägten Welt ein Mensch lebt.

So wird in einer nicht von historischem Denken geprägten und technisch wenig entwickelten Welt das Wort `Kreis´ orientiert sein an der Vorstellung von einer Form ohne Anfang und Ende. Verbunden worden sein wird dieses Wort zugleich mit dem Staunen darüber, dass es sonst in dieser Welt nichts ohne einen Anfang und ein Ende gibt. Die Idee vom Kreis wird also zu einer idealisierten, den Alltag übersteigenden Vorstellung. Wieder in den Alltag gebracht wird die Form Kreis zum Rad, das es ermöglicht, auch vorher nicht transportable Lasten bewegen zu können.

Und heute, was verbinden wir heute noch mit dem Wort Kreis? Eine geometrische Figur, deren Flächeninhalt wir berechnen können, dessen praktische Nutzung seit Jahrhunderten so universell geworden ist, dass der einzelne Kreis als Rad im Alltag zur Normalität geworden ist und so an staunenswerter Bedeutsamkeit eingebüßt hat.

Die Unterschiedlichkeiten in Wortgebrauch und Wortverständnis sind also nicht nur lokal, sondern auch zeitlich bedingt. Kein Interpret kann zugleich alle Wortbedeutungsvarianten für Autoren seiner Zeit, geschweige denn für die aller Zeiten kennen und im Rahmen seiner Deutung berücksichtigen. Dies gilt nicht minder dann, wenn man die textimmanente Deutung noch ergänzen möchte um z.B. historische, sozialgeschichtliche oder gar psychologische Gesichtspunkte, wie sie zur Entstehungszeit des Werkes bedeutsam gewesen sein sollen. Jedoch sind alle Informationen, auf die wir über die Entstehungszeit und die Gemütsverfassung des Autors zurückgreifen könn(t)en, ebenfalls äußerst deutungsbedürftig. Insofern besteht immer die Gefahr, dass durch den Bezug auf solche Zusatzinformationen weitere Fehlerquellen für das Verständnis eines Textes eröffnet werden.

Über das Lernen von Demut oder: Grenzen der Interpretation

Zu lernen ist aus diesen jede Interpretation bedingenden Aspekten insbesondere eines: Demut! Und zwar die Demut dessen, der w e i ß , dass es eine einzige, eindeutig gültige Interpretation jeder schriftlichen Äußerung, d.h. dessen, was der Autor denn nun gemeint h a t , nicht gibt. Das gilt natürlich nicht nur für literarische Texte, sondern ebenso für die Aussagen eines Menschen in einer alltäglichen Gesprächssituation. Als Zuhörer auch eines Sprechenden sind wir immer zugleich Interpreten und wir müssen stets damit rechnen, dass wir etwas überhört haben, etwas anders verstanden haben, als es vom Sprechenden gemeint war, aber natürlich auch, dass der Sprechende sprachlich nicht bewusst genug gestaltet - d.h. um Eindeutigkeit bemüht - und so den Verstehensprozess des von ihm Gemeinten erschwert.

Möglichkeiten der Interpretation

Muss man dann nicht jede Deutung akzeptieren oder heißt das sogar, wir können es auch gleich sein lassen?

Natürlich nicht - außer bei der privaten Lektüre! Aber die „öffentliche“ Beschäftigung mit der Deutung von Texten ist nicht in die willkürliche Beliebigkeit des deutenden Subjektes zu stellen! Es gibt zwar keinen Wahrheitsanspruch hinsichtlich einer Interpretation, aber wir können - wie oben bereits angedeutet - durchaus einiges dafür tun, um uns zumindest möglichst genau dem anzunähern, was ein Autor mit dem von ihm Gesagten oder Geschriebenen gemeint haben k ö n n t e .

Maßstab einer als angemessen zu bezeichnenden Interpretation kann zunächst einmal nur der intersubjektiv erkennbare und nachvollziehbar zutreffende Bezug auf den interpretierten Text sein! Denn es gilt nicht, über dem Text schwebend zu phantasieren, sondern im Text dem Zusammenhang von Worten in Sätzen erklärend auf den Grund zu gehen. Hier auch liegt in erster Linie die Basis der Möglichkeit einer Interpretation jedes Textes!

1.3 Deutschunterricht und Interpretation

Im Deutschunterricht - aber auch in jedem anderen Sprachunterricht - der weiterführenden Schulen wird das oben exemplarisch eingesetzte, für Analyse und Interpretation nötige Handwerkszeug als Fachwissen vermittelt. Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, geschieht dies über mehrere Jahre verteilt.

Das beinhaltet natürlich - angesichts der in zehn weiteren Unterrichtsfächern ebenfalls zu erlernenden Fachkenntnisse - den Vorteil, dass die Kenntnisse so noch erlernbar sind.

Von Nachteil ist jedoch, dass diese Kenntnisse oft als Lernstoff im Rahmen von zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgeführten Lernerfolgsüberprüfungen genutzt, abgefragt und anschließend in der Fülle anderer Unterrichtsgegenstände nicht oder nicht mehr explizit nachgefragt werden. Die Konsequenz: Der Schüler legt diesen Kenntnissen keine große Bedeutung bei und vergisst sie wieder, da der Anwendungsbezug: Analyse und Interpretation, erst Jahre später im Lehrplan steht.

Ein weiterer Nachteil: der grammatische Stoff wird von Schülern oft als lästiges, auswendig zu lernendes Fachvokabular (miss-) verstanden, dessen Lern-Sinn nicht verstanden wird, weil zum einen der Anwendungsbezug im (Schul-) Alltag fehlt, zum anderen dieser Anwendungsbezug nicht hinreichend mitgelernt und aufgezeigt wird.

Insofern muss im Deutschunterricht auch der unteren Klassen der Einzelgegenstand vom Lehrer immer auch im Kontext der gesamten fachlichen Schullaufbahn gesehen werden: Grammatik lernt man nicht um des Grammatiklernens oder des Gedächtnistrainings willen, sondern um das Handwerkszeug zur Erzielung eines besseren, d.h. genaueren Textverständnisses zu erwerben. Das Detail eines Textes, also z.B. ein bestimmtes sprachliches Bild, deutet man nicht in erster Linie wegen des diesem innewohnenden ästhetischen Gehalts, sondern weil die Kompetenz zur Entschlüsselung von frag-würdigen Textdetails hilft, einen Text, jeden Text als Ganzes besser zu verstehen.

Grammatikvermittlung als Teil des Deutschunterrichts

Dieser Möglichkeit zur Erschließung dient in der Schule die Vermittlung eines grammatischen Handwerkszeugs zur Annäherung an ein intersubjektives Verständnis. Dabei werden in den jeweiligen Jahrgangsstufen einzelsprachlich-grammatische Phänomene mit dem Ziel betrachtet, dem Schüler zu ermöglichen, diese in Texten zu erkennen und zu benennen.

Beispiel

Analyse

Klasse

1) Peter ging in die Schule und kam an einem Baum vorbei.Hilfreich: Absprachen zur Vereinheitlichung der Terminologie in allen an einer Schule vermittelten Sprachen

- Wortarten - Satzglieder, ihre grammatische Funktion und inhaltliche Aufgabe

5

2) Peter wird … gebracht haben…Alle sechs Tempusformen des Indikativ Aktiv

- Tempusformen und ihre Bedeutung für das Verständnis und die Unterscheidung von Zeitebenen in Texten

5

3) Peter wird.. gebracht…Insbesondere Vorgangspassiv

- Aktiv/Passivund deren Bedeutung für Subjekte und Objekte

6

4) Peter gehe… und komme…- Formen des Konjunktiv I, abgeleitet vom Indikativ Präsens Aktiv,- verwendet zumeist in der 3.Person Singular- nur bei Übereinstimmung mit dem Indikativ (z.B. in der 1.Person Singular „ich gehe“) erfolgt Umschreibung mit dem „würde“-Konjunktiv: „ich würde gehen“

- Konjunktiv I (Realis) der indirekten Rede zur Darstellung (= sachlichen Wiedergabe) des von anderen Gesagten [Funktion für den Verwender der indirekten Rede] - Indirekte Rede macht deutlich, dass das Gesagte nicht vom Sprecher oder Schreiber selbst stammt, sondern dass er einen anderen (indirekt) zitiert [Funktion für den Interpreten von Sprache]

7

5) Peter ginge…und käme…

- Konjunktiv II (Irrealis) dient dem Sprachverwender zur Distanzierung; er will ausdrücken, dass er an eine Realisierung oder an etwas Behauptetes nicht glaubt- Für den Interpreten gilt es, diese Distanzierung zu erfassen, die ja bedeutet, dass der Sprachverwender sagen will: Peter wird nicht gehen!

7

6) Peterging.7) Peter ging einen großen Umweg. Ging Peter einen großen Umweg?

Satzlehre:- der einfache Satz aus Subjekt und Prädikat- der um Objekte erweiterte Satz- die

5

8) Weil Peter einen großen Umweg ging, kam er an einem Baum vorbei.

Unterscheidung der Satzarten: Aussagesatz,Fragesatz,…- die Unterscheidung von Hauptsatz und Nebensatz

 

9) Als Peter… ; während Peter… ; wenn Peter… ; Peter sagte, dass…; Peter sagte zu Sebastian, den er…

Arten von Nebensätzen und ihre inhaltlich-gedankliche Funktion für den Gesamtsatz

7

Diese durchaus gut gemeinte Verteilung und didaktische Reduktion des Lernstoffs bedeutet, dass für die ja noch sehr jungen Schüler zunächst einmal das Erlernen von Fachbegriffen in einfachen textlichen Sinnzusammenhängen in den Vordergrund gerückt wird. Ein Problem, das hierbei oft beklagt wird, ist, dass Schüler diesen Lernstoff nur im Hinblick auf eine anstehende Klassenarbeit lernen. Steht dann ein anderer Lerngegenstand - wie z.B. die Konzentration auf den Inhalt einer Lektüre - im Vordergrund, gerät schnell das für die letzte Arbeit gelernte (grammatische) Handwerkszeug in Vergessenheit.

Daher sollten während der gesamten Lernlaufbahn die Fachbegriffe stets anhand exemplarischer Übungen wiederholt werden. Dies gilt auch für die damit einhergehende sukzessive Erweiterung des Wissens um die inhaltliche Bedeutung und Funktion dieser Begriffe. Um der Nachhaltigkeit des Lernerfolgs willen sollte das so stabilisierte und erweiterte Wissen immer wieder in kleineren Teilaufgaben von Klassenarbeiten mit überprüft werden.

Interpretation als Zusammenschau von Form und Inhalt

Im folgenden Abschnitt soll an drei Beispielsätzen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades der in der Überschrift benannte Zusammenhang erläutert werden.

a  Vom einfachen zum komplexeren Satz

Die Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten der Interpretation sollen nun am ersten Satz aus der obigen Tabelle veranschaulicht werden:

„Peter ging in die Schule und kam an einem Baum vorbei.“

Schon dieser recht einfache, zwei Aussagen - „Peter ging in die Schule“ sowie „kam an einem Baum vorbei“ - umfassende Satz ist nicht gänzlich eindeutig: Problematisch ist hier die Mehrdeutigkeit mit sich bringende Verknüpfung der beiden Hauptsätze durch „und“: wann „kam“ er denn nun „am Baum“ vorbei ? Auf dem Weg zur oder etwa gar in der Schule? Auch dieser scheinbar so einfache Satz bedarf also einer Interpretation, die eine Entscheidung dieser Zweifelsfrage ermöglicht. Da der betrachtete Satz selbst keine Entscheidungshilfe für den Interpreten gibt, könnte ein Interpret den (hier nicht gegebenen) textlichen Zusammenhang in den Blick nehmen, um dort nach Hinweisen zu suchen, die helfen zu einer eindeutige(re)n Deutung zu gelangen (z.B. durch die Aussage, dass es in der Schule ein Begrünungsprojekt gibt, das die Schule durch Pflanzen/Bäume in Pflanzkübeln oder durch die Gestaltung eines Innenhofes lebenswerter machen will).

Noch problematischer (und deutungsbedürftiger) würde ein Text, wenn die einfache Form des obigen Beispiels durch sprachliche Bilder und grammatische Modifikationen abgewandelt wird:

a)  Peter geht in dieSchule des Lebensund kommt amBaum der Erkenntnisnicht vorbei.

Die oben hervorgehobenen Verständnisschwierigkeiten dieses Beispiels sind unterschiedlicher Natur: Problematisch hinsichtlich der Satzstellung ist die Position von „nicht“. Eindeutig (grammatisch!) wäre der Satz lediglich bei folgender Formulierung: „…und kommt nicht…“, die aufzeigte, dass Peter keine räumliche Berührung mit dem „Baum…“ bekommt, da dieser nicht auf seinem Weg liegt.

Mehrdeutig ist dagegen die Stellung von „nicht“ , wie sie das Beispiel zeigt; zum einen ist hier das oben aufgeführte Verständnis möglich, zum anderen aber auch, dass Peter auf seinem Lebensweg auf besagten „Baum…“ trifft, an ihm „nicht vorbei-kommt“, also: es nicht vermeiden kann auf ihn zu treffen und von ihm beeinflusst zu werden.

Auf der Ebene der Analyse lassen sich die Satzglieder „in die Schule des Lebens“ und „am Baum der Erkenntnis“ grammatischformal als Adverbiale Bestimmungen des Ortes mit jeweils integriertem, die Deutung erschwerendem Genitiv-Attribut („der Erkenntnis“ und „des Lebens“) bestimmen; auf der Ebene der sprachlichen Analyse sind beide Adverbiale als Metaphern einzuordnen. Die beiden Genitiv-Attribute geben den beiden vergleichsweise eindeutigen Ding-Nomen „Schule“ und „Haus“ eine vom Ursprung abgehobene Bedeutung. So ist das Nomen Schule definiert als ein Gebäude, in dem zumeist jüngere Menschen das an Wissen - z.B. über die Geschichte Europas, die Vokabeln der englischen Sprache etc. - und Fähigkeiten – wie z.B. lesen, schreiben etc. - erlernen, das sie für eine gesellschaftliche Teilhabe benötigen. Wenn jedoch dem Nomen „Schule“ das Genitiv-Attribut „des Lebens“ hinzugefügt wird, macht das deutlich, dass es hier nicht um ein Gebäude im obigen Sinne geht, sondern um das, was jeder Mensch durch sein Dasein in einer ganz bestimmten Gesellschaft und zu einer ganz bestimmten Zeit an Erfahrungen wie z.B. hinsichtlich der Konventionen des alltäglichen Umgangs miteinander erwirbt, die ihn in seinem Denken und Handeln prägen.

Ebenso gelten alle Pflanzen, die über einen kompakten Stamm mit einer Krone verfügen, als „Baum“ ; hätte man nun das Adverbial „am Baum der Nachbarn“, dann wäre dem dinghaften Nomen „Baum“ ein ähnlich konkretes und eindeutig definiertes Nomen „Nachbarn“ hinzugefügt worden: der Ausdruck insgesamt bliebe im Bereich des Konkreten, leicht Fassbaren. Im Unterschied dazu ist in der Metapher vom „Baum der Erkenntnis“ dem dinghaften Nomen „Baum“ mit dem Ausdruck „Erkenntnis“ ein abstraktes Nomen hinzugefügt worden, durch das der Ausdruck insgesamt aus dem Bereich des Konkreten in die Sphäre des Abstrakten gerückt wird. Das bedeutet dann, dass es sich bei dem Ausdruck „Baum der Erkenntnis“ um keinen konkreten Baum handelt, der in irgendeinem Park wächst, sondern dass hier ein (der Bibel entlehntes) Bild vorliegt. Dieses verweist auf eine Veränderung in der inneren Orientierung der Menschen, hier die Abkehr von einer naiven und unhinterfragten Hinnahme der Gegebenheiten hin zu einer Haltung, die verstehen will, warum etwas so und nicht anders ist, und zudem Wissen über die Zusammenhänge allen Seins erwerben will.

b  Das Beispiel eines komplexen philosophischen Satzes

Ebenso wie bei dem oben untersuchten konstruierten Beispiel lässt sich auch bei allen anderen, älteren wie neueren, Textauszügen verfahren. Dies soll nun an einem berühmten Satz, dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant, veranschaulicht werden. Philosophische Texte streben geistige Erkenntnisse auf der Basis rationaler, also rein geistiger Prozesse an und gehören zur Kategorie der Sachtexte. Der kategorische Imperativ ist Teil eines umfangreicheren Werkes von Kant, in dem er die Grundlagen einer vernunftgeleiteten Ethik erläutert und lautet:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Die Anzahl der im Satz verwendeten Verbformen („Handle“, „wollen kannst“ und „werde“) lässt erkennen, dass der Gesamtsatz aus drei Teilsätzen besteht; die jeweilige Stellung der Verbformen - „Handle“ am Satzanfang, die beiden anderen am Ende ihres Teilsatzes -, macht, aufgrund der Definitionen der Satzarten, deutlich, dass der durch „Handle“ eingeleitete Teilsatz ein Hauptsatz ist, während die beiden anderen Teilsätze Nebensätze sind. Berücksichtigt man nun, dass Hauptsätze in der Regel die Grundaussage eines Gesamtsatzes transportieren, Nebensätze zumeist gedankliche Präzisierungen hinzufügen, ist auf der grammatisch-analytischen Ebene noch zu untersuchen, welche inhaltlichen Bezüge die grammatische Verknüpfung von Hauptsatz und Nebensätzen noch erkennen lässt. Der Anschluss „durch die“ nach dem ersten Komma bezieht sich mit dem Artikel „die“ auf das vor dem Komma stehende Nomen „Maxime“. Daran ist abzulesen, dass der zweite Teilsatz ein Relativsatz ist. Relativsätze leisten eine genauere inhaltliche Ausführung zu dem Bezugsnomen des vorausgehenden Teilsatzes. Anders gelagert ist die Verknüpfung der beiden Nebensätze. Auch das „dass“ am Anfang des dritten Teilsatzes bezieht sich auf den vorangehenden Teilsatz; da in diesem jedoch kein Bezugsnomen zu finden ist, bezieht sich „dass“ auf die vor dem Komma stehende Verbform und liefert im zugehörigen Teilsatz die Erklärung, was es denn ist, was „du“ „wollen kannst“.