Letzte Gespräche - Benedikt XVI. - E-Book

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Benedikt XVI.

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Beschreibung

Erstmals in der Geschichte des Christentums: Ein Papst zieht die Bilanz seiner Amtszeit In den Gesprächen, die Papst Benedikt XVI. mit dem Journalisten Peter Seewald kurz vor und nach seinem Rücktritt geführt hat, blicken sie auf das Pontifikat des deutschen Papstes zurück. Nie zuvor hat Benedikt XVI. so offen über die Hintergründe seiner überraschenden Demission und die Erneuerung des Glaubens als das große Thema seines Pontifikats gesprochen, aber auch über kontroverse Themen seiner Amtszeit, etwa das Verhältnis zu Juden und Muslimen/Islam, Vatileaks oder die Affäre um die Piusbruderschaft. Und nie zuvor hat dieser Papst so persönlich über seinen Zugang zum Glauben, die gegenwärtigen Herausforderungen für das Christentum und die Zukunft der Kirche Auskunft gegeben. Seine Erinnerungen an die Familie, an wichtige Weggefährten und prägende Ereignisse seines Lebens unterstreichen den besonderen Charakter dieses Buches. Nach den Interviewbüchern "Salz der Erde", "Gott und die Welt" und "Licht der Welt", die Benedikt XVI./Joseph Ratzinger und Peter Seewald veröffentlicht haben und die allesamt Bestseller waren, sind die "Letzten Gespräche" das Vermächtnis des deutschen Papstes, einem der bedeutendsten Denker und Theologen unserer Zeit. Er hat acht Jahre lang die Geschicke des Vatikan geleitet und als Pontifex Maximus an der Spitze der katholischen Kirche mit ihren 1,3 Milliarden Mitgliedern bedeutende Wegmarkierungen gesetzt und wichtige Impulse für die Kirche des 3. Jahrtausends gegeben. Über den Bestseller "Licht der Welt" notierte die "Süddeutsche Zeitung": "Seewalds Interviewbuch mit dem Papst ist selbstverständlich eine Sensation: So ausführlich hat noch nie ein Papst Rede und Antwort gestanden" (SZ, 20.12.2010). Benedikt XVI., 1927 als Joseph Ratzinger geboren, war Professor für Theologie, Erzbischof von München und Freising (1977-1982) und Präfekt der Glaubenskongregation (1982-2005), bevor er im Konklave 2005 zum Papst gewählt wurde; 2013 überraschte er die Welt mit seinem Rücktritt. Peter Seewald, Jahrgang 1954, arbeitete als Journalist für den SPIEGEL, den STERN und das Magazin der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Er gilt heute als einer der erfolgreichsten religiösen Autoren Deutschlands. Seine bekanntesten Bücher sind neben "Salz der Erde", "Gott und die Welt" und "Licht der Welt" die Werke "Jesus Christus. Die Biografie" und "Gott ohne Volk?" (zus. mit Bischof Stefan Oster).

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Benedikt XVI.

Letzte Gespräche

Mit Peter Seewald

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

MottoAbbildungVorwortAbbildungTeil IStille Tage in Mater EcclesiaeDer Rücktritt»Ich gehe nicht weg vom Kreuz«Teil IIElternhaus und KindheitKriegStudent, Kaplan, DozentGreenhorn und StartheologeKonzil: Traum und TraumaProfessor und BischofTübingen (1966–1969)PräfektTeil IIIUnd plötzlich PontifexAspekte des PontifikatsReisen und BegegnungenVersäumnisse und ProblemeResümeeAbbildung
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»Glauben ist nichts anderes,

als in der Nacht der Welt die Hand Gottes berühren

und so – in der Stille – das Wort hören,

die Liebe sehen.«

 

Benedikt XVI. zum Abschluss der Fastenexerzitien

für die Römische Kurie, vor dem Ende seines Pontifikats,

23. Februar 2013

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Vorwort

Es war ein Sommer ins Land gezogen und ein Winter, und als ich am 23. Mai 2016 noch einmal den steilen Weg hinauffuhr, in das Kloster Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten, fürchtete ich, es könnte unser letztes langes Gespräch sein. Schwester Carmela öffnete die Tür, aber diesmal nicht mit Schürze, sondern in einem eleganten Kostüm. Im Empfangsraum hing ein Bild, das den Heiligen Augustinus zeigte, den großen geistigen Lehrer, der ihm so viel bedeutete, weil an ihm das dramatische, das so menschliche Ringen um die Wahrheit des Glaubens zu studieren ist.

Statt der roten Slipper trug Benedikt XVI. nun Sandalen wie ein Mönch. Dass er auf dem linken Auge seit vielen Jahren erblindet war, wussten nur wenige, inzwischen hatte auch sein Gehör nachgelassen. Der Körper war abgemagert, aber seine ganze Erscheinung war weich wie nie zuvor. Und es war faszinierend zu sehen, dass der kühne Denker, der Philosoph Gottes, der erste Mensch, der sich Papa emeritus nennen darf, am Ende angekommen ist, wo Intellekt allein nicht genügt, in Stille und Gebet, der Herzmitte des Glaubens.

Es war im November 1992, als ich dem früheren Präfekten erstmals begegnete. Das Magazin der »Süddeutschen Zeitung« wollte ein Portrait veröffentlichen, und ich sollte es zeichnen. Auf einer Liste von Antragstellern, die sich um einen Termin beim berühmtesten Kardinal der Welt balgten, waren die Namen von Kollegen der »New York Times«, der »Prawda« und des »Le Figaro«. Ich stand nicht in Verdacht, besonders katholisch zu sein, aber je länger ich mich mit Joseph Ratzinger befasste, umso mehr imponierten mir seine Souveränität, seine Leidenschaft, sein Mut, mit unzeitgemäßen Gedanken gegen den Strich zu bürsten. Und seltsam, die Analysen waren nicht nur aufregend, sie schienen auch zu stimmen.

Genauer betrachtet verkörperte der vielgeschmähte »Panzerkardinal« keine Geschichte von gestern, sondern eine von morgen: eine neue Intelligenz im Erkennen und Aussprechen der Geheimnisse des Glaubens. Seine Spezialität war, komplizierte Dinge entwirren zu können, durch das nur Oberflächliche hindurchzuschauen. Wissenschaft und Religion, Physik und Metaphysik, Denken und Beten – Ratzinger brachte diese Dinge wieder zusammen, um wirklich auf den Kern einer Sache zu kommen. Wobei die Schönheit seiner Sprache die Tiefe seiner Gedanken noch weiter in die Höhe trug. »Theologie«, erklärte er, »ist Nachdenken des uns von Gott Vorgesagten, Vorgedachten«. Um freilich empfangen zu können, muss man auch ein Hörender sein. Um Menschen nicht nur zu beeindrucken, sondern auch zu Gott zu führen, braucht das Wort die Inspiration.

Wie Karol Wojtyla so hat auch Joseph Ratzinger die Folgen atheistischer Systeme am eigenen Leib verspürt. Als Kind sah er mit an, wie die Kruzifixe aus den Schulen verschwanden, als 17-jähriger Soldat, wie der Wahn, in einer Welt ohne Gott den »neuen Menschen« zu schaffen, in Terror und apokalyptischer Verwüstung endete. Die Aufgabe, das Christentum gegen die Umwertung der Werte auch argumentativ verteidigen zu müssen, wurde prägend für sein Denken, sein ganzes Werk. »Im Glauben meiner Eltern«, sagte er, »hatte ich die Bestätigung für den Katholizismus als einem Bollwerk der Wahrheit und der Gerechtigkeit gegen jenes Reich des Atheismus und der Lüge, das der Nationalsozialismus darstellte.«

Es ist ein dramatischer Weg mit Siegen und Niederlagen, der den Hochbegabten, der sich früh als einen Herausgerufenen erkennt, bis auf den Stuhl Petri führt.

Da ist der feinsinnige Schüler, der griechische Hexameter dichtet und sich für Mozart begeistert. Der blutjunge Student, der in den zerbombten Straßen Münchens von einem christlichen Aufbruch träumt. Der wissbegierige Meisterschüler, geschult am progressiven Denken der besten Theologen ihrer Zeit, der über Büchern von Augustinus, Kierkegaard und Newman brütet. Der unkonventionelle Kaplan, der Jugendgruppen begeistert. Aber auch der am Boden zerstörte Habilitand, der plötzlich am Abgrund seiner jungen Karriere steht und zu scheitern droht.

Das Schicksal will es anders. Und mit einem Mal ist der fast noch bubenhaft wirkende Professor aus einem kleinen Dorf in der bayerischen Provinz der neue Star am Himmel der Theologen.

Das frische Wort, der kreative Zugang zum Evangelium, die authentische Lehre, die er verkörpert, lassen aufhorchen. »In der Theologie eines großen Denkers«, schrieb sein Münchener Lehrmeister Gottlieb Söhngen, »bestimmen sich Gehalt und Form des theologischen Denkens gegenseitig zur lebendigen Einheit.« Ratzingers Hörsäle platzen aus allen Nähten. Die Mitschriften seiner Vorlesungen werden per Hand tausendfach vervielfältigt. Seine »Einführung in das Christentum« begeistert in Krakau einen Karol Wojtyla, in Paris die Académie des Sciences Morales et Politiques, eine der Akademien des Institut de France, deren Mitglied er später wird.

Ratzinger ist gerade einmal 35 Jahre alt, als seine Anstöße dem Zweiten Vatikanischen Konzil jene Offenheit bescheren, mit der die Kirche in die Moderne eintritt. Niemand sonst als dieser theologische Teenager, erklärt ein dankbarer Johannes XXIII., habe besser zum Ausdruck bringen können, was er als Initiator mit dem Konzil eigentlich beabsichtigt habe. Während die als progressiv gefeierten Theologen sich im Grunde recht kleinbürgerlichen Vorstellungen anpassen und meist nur den Mainstream bedienen, bleibt Ratzinger unbequem: als Professor, als Bischof von München, als Präfekt der Glaubenskongregation in Rom, der Johannes Paul II. ein Vierteljahrhundert lang den Rücken freihält – und dafür reichlich Prügel einsteckt. Das »eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde« sei es, so seine Warnung, »dass Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet«. Durch das »Erlöschen des von Gott kommenden Lichts« breche eine Orientierungslosigkeit über die Menschheit herein, »deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen«.

Seine Kirche nimmt er von Kritik nicht aus. Schon 1958 sprach er von der »Entweltlichung«. Diese sei notwendig, damit der Glaube wieder seine Wirkstoffe entfalten könne. Widerständig müsse man bleiben, unangepasst, um ohne Firlefanz wieder zu zeigen, dass mit dem Christentum eine Weltanschauung verbunden ist, die weit über alles hinausreicht, was mit einer rein weltlichen, materialistischen Haltung verbunden ist, inklusive der Offenbarung ewigen Lebens. Es sei naiv zu meinen, man bräuchte sich nur ein anderes Kleidchen anzuziehen und zu sprechen, wie alle sprechen, und plötzlich sei alles in Ordnung. Vielmehr gelte es, zurückzufinden zu authentischer Verkündigung und einer Liturgie, die das Mysterium der Messfeier wieder zum Leuchten bringt.

Unvergessen seine Anklage auf dem Kreuzweg in Rom im März 2005. »Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche«, ruft er aus, »und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?«

Der alte Kardinal war eine Art Eckstein geworden, auf den niemand mehr setzten wollte. Ratzinger selbst sehnte sich nach dem Ruhestand. Doch schon wenige Tage nach seinem Karfreitags-Aufruf zu Selbstreflexion und Reinigung trat er hinter dem Vorhang der Loggia auf dem Peterdom als der 265. Nachfolger des ersten der Apostel vor eine jubelnde Menschenmenge. Er sei der »kleine Papst«, ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn, der dem großen Karol Wojtyla folgt, stellt er sich den 1,2 Milliarden Katholiken weltweit vor – und er weiß, was zu tun ist.

Die wahren Probleme der Kirche, so macht der neue Pontifex deutlich, liegen nicht im Mitglieder-, sondern im Glaubensschwund. Es sei das Verlöschen des christlichen Bewusstseins, das die Krise bringt, die Lauheit in Gebet und Gottesdienst, die Vernachlässigung der Mission. Wahre Reform ist für ihn eine Frage des inneren Aufbruchs, der flammenden Herzen. Oberste Priorität hat die Verkündigung dessen, was man aus gesicherter Erkenntnis über Christus wissen und glauben kann. Es gehe darum, »dass das Wort Gottes in seiner Größe und Reinheit erhalten bleibt – gegen alle Versuche der Anpassung und Verwässerung«.

Viele Jahre lang ist das Pontifikat des Deutschen ein einziges Hosianna. Niemals zuvor haben so viele Menschen Papst-Audienzen besucht. Benedikts Enzykliken Deus caritas est, Spe salvi und Caritas in veritate erreichen Auflagen in astronomischer Höhe. Längst waren viele seiner Bücher Klassiker geworden, nun liefern seine Reden Schlagzeilen für die Titelseiten der Weltpresse. Allein es geschafft zu haben, nach dem langen und bewegenden Pontifikat Wojtylas einen Übergang ohne jeden Bruch zu vollziehen, wird ihm als einzigartige Leistung gutgeschrieben.

Aber der 78-jährige ist nicht nur der Papst, der das Konzil mitgestaltet hat, er ist auch der, den sich das Konzil erträumte. Nüchternheit, Dialog, Konzentration auf das Wesentliche kennzeichnen den neuen Stil, der im Vatikan einzieht. Der liturgische Aufwand wird reduziert, Bischofssynoden werden verkürzt, dafür aber kollegial als Diskussion angelegt.

Benedikt XVI. arbeitet im Stillen, auch an Dingen, die bei seinem Vorgänger liegengeblieben waren. Effekthascherei lehnt er ab. Stillschweigend schafft er den Handkuss ab, ersetzt im Wappen die mächtige Papstkrone durch eine einfache Bischofsmütze. Im Respekt gegenüber der Tradition übernimmt er aber auch Gepflogenheiten, die nicht unbedingt nach seiner Fasson sind. Er ist nicht der Chef, nicht das Kultobjekt der Kirche, das sich nach vorn drängt. Er steht nur anstelle eines anderen, der allein geliebt und an den geglaubt werden muss, Jesus Christus, das Mensch gewordene Wort Gottes.

Nach Johannes Paul II. spricht mit Benedikt XVI. ein zweiter Nachfolger Petri in einer Moschee. Erstmals aber nimmt mit dem deutschen Pontifex ein Papst an einem protestantischen Gottesdienst teil. Ein historischer Akt ohnegleichen, dass mit ihm ein katholisches Kirchenoberhaupt die Wirkstätte Luthers besucht. Er macht, auch dies ein Novum, einen Protestanten zum Vorsitzenden der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, holt einen Muslim als Professor an die päpstliche Universität. Gleichzeitig hebt er durch seine theologische und intellektuelle Potenz das Papsttum auf ein Niveau, das die katholische Kirche auch für bislang Außenstehende anziehend macht. Nicht zuletzt durch drei inhaltsstarke Themenzyklen wie das Paulus-, das Priester- und das Glaubensjahr. Dass er mit dem Erlass Summorum Pontificum Priestern erlaubt, wieder die über Jahrhunderte gültige tridentinische Form der Messe zu feiern, ohne zuerst bei einem Bischof um Genehmigung betteln zu müssen, ist ein Akt der Öffnung, der Freiheit, nicht des Rückschritts.

Benedikt XVI. hat nicht alles richtig gemacht. Und zweifellos konnte das Pontifikat das Potenzial nicht ausschöpfen, das in der Person dieses Papstes gegeben war. Vielfach wirkte das Verhalten der Brüder im Bischofsamt und von Teilen des vatikanischen Apparates wie Verweigerung. Unterlassene Hilfeleistung war es allemal. Benedikt nahm es in Demut hin. Sogar Verräter ertrug er, ganz ähnlich seinem Herrn. Aber war er wirklich der schwache Pontifex, als den ihn seine Gegner nach seinem Rücktritt darzustellen versuchen?

Wie Dauerfeuer wirkten unzählige der Coverstorys und Medienbeiträge, die auf Ratzinger niedergingen. »Wenn ein Papst nur Beifall bekäme«, antwortete der Geschlagene, »müsste er sich fragen, ob er etwas nicht richtig macht.« Tatsächlich aber war das pausenlose Papst-Bashing führender Pressehäuser, die ihre eigenen Vorstelllungen durchsetzen wollten, eine der größten Belastungen seines Pontifikats. Da spielte es keine Rolle, ob die Anschuldigungen auch berechtigt waren.

Um kurz die gerne strapazierten »Skandale« zu nennen: Der Papst habe, so ein bis heute gepflegtes Urteil, mit dem Piusbruder-Bischof Richard Williamson »einen Holocaust-Leugner wieder in die katholische Kirche aufgenommen«. Tatsächlich brachte diese Meldung im Januar 2009 eine Wende in der bis dahin von einer breiten Öffentlichkeit extrem positiv beurteilten Arbeit des Papstes. Fakt ist: Williamson war anglikanischer Konvertit. Weder wurde er von Rom als Bischof anerkannt, noch die von der katholischen Kirche getrennte Bruderschaft rehabilitiert.

Das jüdisch-christliche Thema gehörte dabei nachgerade zu den Hauptanliegen Ratzingers. Ohne ihn, so Israel Singer, 2001 bis 2007 Generalsekretär des jüdischen Weltkongresses, wäre die entscheidende historische Wende der katholischen Kirche in der Beziehung zum Judentum, die eine zweitausend Jahre alte Haltung definitiv beendete, nicht möglich gewesen. Unter Benedikt XVI., fasste Maram Stern zusammen, der Vizepräsident des jüdischen Weltkongresses, war diese Beziehung besser »als je zuvor in der Geschichte«.

Was den Skandal um den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Priester und Ordensleute betrifft, gibt es in der Tat eine Vielzahl von Versäumnissen und Fehlern, vor allem durch die zuständigen Stellen in den einzelnen Ländern. Längst wird aber auch anerkannt, dass ohne das Management Benedikts XVI. eine der größten Krisen in der Geschichte der katholischen Kirche einen noch weit größeren Schaden angerichtet hätte. Bereits als Präfekt hatte Ratzinger Maßnahmen eingeleitet, um die Fälle konsequent aufzuklären und die Täter zu bestrafen. Als Papst entließ er rund 400 Priester und definierte die kirchenrechtlichen Grundlagen, um Bischöfe und Kardinäle zu belangen, die sich der Aufklärungsarbeit verweigern.

Und die Vatileaks-Affäre? Man darf den Fall nicht bagatellisieren. Hinter den Vorgängen verbergen sich problematische Störungen in einzelnen Führungsetagen der Weltkirche. Von der angeblichen »Verschwörung im Vatikan« aber blieb am Ende kaum mehr übrig als der Diebstahl von Papieren durch einen kranken Kammerdiener. In Bezug auf die umstrittene Vatikanbank IOR hat Benedikt eine umfassende Überprüfung in Auftrag gegeben und die Neuorganisation eingeleitet. Nicht zuletzt ordnete er eine Untersuchung des gesamten Umfeldes an. Der Bericht der Kommission darüber ist unter Verschluss. Sein Umfang ist allerdings weit weniger dramatisch als angegeben.

Das alles vermissen die Anhänger Benedikts: seine klugen Reden, die den Verstand kühlen und das Herz wärmen konnten; den Reichtum seiner Sprache; die Redlichkeit in der Analyse; die unendliche Geduld beim Zuhören; die Noblesse in der Form, die er wie kaum ein anderer Kirchenmann verkörperte. Natürlich auch sein schüchternes Lächeln, seine oft ein wenig linkischen Bewegungen, wenn er wie Charly Chaplin über ein Podium schritt. Vor allem sein Beharren auf der Vernunft, die als Garant des Glaubens die Religion vor dem Abgleiten in irre Phantasien und Fanatismus schützt. Nicht zuletzt seine Modernität, die viele nicht erkennen konnten oder wollten. Ihr ist er treu geblieben, auch in der Bereitschaft, Dinge zu tun, die zuvor noch niemand getan hatte.

Bei all der Fülle an Schriften, Predigten, Meditationen, Korrespondenz – es gibt von ihm 30000 Briefe allein bis zu seinem Amtsantritt als Bischof – hat Joseph Ratzinger nie eine eigene Lehre entwickelt. Er nahm als Theologe auf, was da war, erkannte das Wesentliche, ordnete es ein in den Zusammenhang der Zeit und drückte es neu aus – um die Botschaft des Evangeliums und das Wissen aus der Geschichte des Christentums für nachfolgende Generationen zu retten. Angesichts der Bedeutung, die er dabei der Kirche zumaß, ist auch sein Kampf um diese Kirche nachvollziehbar – damit sie das rettende Zeit-Raumschiff bleibt, eine Arche Noah für die Transmission in eine bessere Welt. Er nannte das »die eschatologische Radikalität der christlichen Revolution«.

Allein das dreibändige Christus-Werk des Papstes macht dieses Pontifikat einzigartig. Benedikt XVI. schuf damit das unentbehrliche Vademekum für künftige Theologie, Katechese und Priesterbildung, kurz: das Fundament der Glaubenslehre für das 3. Jahrtausend. Nicht auf dem Lehrstuhl der Universität, sondern nur auf dem Stuhl Petri konnte sich der Kreis schließen. Und niemand anderer hatte die Bildung, die Biografie, die Kraft und die Inspiration, das bis zur Unkenntlichkeit zerkratzte Bild Jesu mit wissenschaftlicher Akribie und mystischem Realismus zu reinigen und der Menschheit neu zugänglich zu machen.

Der englische Historiker Peter Watson nennt Benedikt XVI. in einer Reihe mit Lessing, Kant und Beethoven einen der letzten Vertreter des »deutschen Genius«. Für den peruanischen Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ist er einer der bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart, dessen »neue und kühne Reflexionen« Antwort gäben auf die moralischen, kulturellen und existenziellen Probleme unserer Zeit. Die Geschichte wird darüber urteilen, welche Bedeutung diesem Papst über den Tag hinaus zusteht. Eines jedoch kann schon heute als gesichert gelten: Keiner außer Joseph Ratzinger stand mit über drei Jahrzehnten so lange an der Spitze der größten und ältesten Institution der Welt. Mit seinen Beiträgen zum Konzil, der Wiederentdeckung der Väter, der Verlebendigung der Lehre und der Reinigung und Konsolidierung der Kirche war er nicht nur ein Erneuerer des Glaubens, sondern als Theologe auf dem Stuhl Petri einer der bedeutendsten Päpste überhaupt, ein Kirchenlehrer der Moderne, wie es ihn nicht mehr geben wird. Der historische Akt seiner Demission hat nicht zuletzt das Petrusamt grundlegend verändert. Er gab ihm jene geistliche Dimension zurück, mit dem es im Ursprung beauftragt war.

Mit Benedikt XVI. ging eine Ära zu Ende, vielleicht sogar ein Äon, einer jener Zeitabschnitte, die im Jahrtausendschritt die großen Wenden in der Geschichte kennzeichnen. Die acht Jahre seines Pontifikats waren so etwas wie die großen Exerzitien, deren die Kirche bedurfte, um die innere Burg zu festigen und ihre Seele zu stärken. So gesehen hat der letzte Papst einer untergehenden Epoche die Brücke gebaut für das Kommen des Neuen – wie immer es auch aussehen mag. Benedikt XVI., so fasste sein Nachfolger zusammen, sei »ein großer Papst« gewesen: »Groß ob der Kraft und des Durchdringungsvermögens seiner Intelligenz, groß ob seines bedeutenden Beitrags zur Theologie, groß ob seiner Liebe gegenüber der Kirche und den Menschen, groß ob seiner Tugend und seiner Religiosität.« Sein Geist, so Franziskus, »wird von Generation zu Generation immer größer und mächtiger in Erscheinung treten«.

 

Die nachfolgenden Interviews wurden kurz vor und nach Benedikts Rücktritt als Hintergrundgespräch für die Arbeit an einer Biografie geführt und geben noch einmal den Blick frei auf eine der faszinierendsten Persönlichkeiten unserer Zeit. Der Text wurde vom emeritierten Papst gelesen und für diese Ausgabe freigegeben. Möge dieses Buch ein kleiner Beitrag dazu sein, falsche Bilder zu korrigieren, Licht ins Dunkel zu bringen, insbesondere auch in die Umstände seines Rücktritts, der die Welt in Atem hielt. Am Ende gilt es, den Menschen Joseph Ratzinger und den Hirten Benedikt XVI. besser zu verstehen, seine Heiligkeit zu würdigen – und vor allem: den Zugang zu seinem Werk offenzuhalten, in dem ein Schatz für die Zukunft liegt.

 

Peter Seewald

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Teil I

Die Glocken von Rom

Stille Tage in Mater Ecclesiae

Papa Benedetto, als Heiliger Vater wurden Sie von Millionen bejubelt, lebten in einem Palast, empfingen die Großen der Welt. Vermissen Sie etwas?

 

Überhaupt nicht, nein! Im Gegenteil, ich bin Gott dankbar, dass diese Verantwortung, die ich nicht mehr tragen könnte, nicht mehr auf mir lastet. Dass ich jetzt frei bin, um demütig täglich mit Ihm den Weg zu gehen, unter Freunden zu leben und von Freunden besucht zu werden.

 

Plötzlich ganz machtlos, fast eingesperrt hinter den Mauern des Vatikans – wie geht das?

 

Die »Macht« habe ich ohnehin nie so empfunden, dass ich nun stark wäre, sondern immer als Verantwortung, als etwas Schweres und Belastendes. Als etwas, wo man sich jeden Tag fragen muss: Bin ich dem gerecht geworden? Auch beim Jubel der Massen wusste ich immer, die Leute meinen ja nicht dieses armselige Männlein da, sondern meinen doch den, den ich vertrete. Insofern fällt es mir nicht schwer, darauf zu verzichten.

 

Sie hatten früh davon gesprochen, dass Ihr Pontifikat kurz sein könnte. Schon aufgrund Ihres Alters, Ihrer gesundheitlichen Situation.

 

Ich hab gedacht, dass ich nicht so viel Kraft habe, ja.

 

Mit acht Jahren ist es dann weit länger geworden als das vieler Ihrer Vorgänger. Vorab gefragt: Musste Ihre Einstellung nicht auch Auswirkungen auf das Programm Ihrer Amtszeit haben?

 

Das ist klar. Ich konnte keine langfristigen Dinge angehen. So etwas muss man machen, wenn man Zeit vor sich hat. Ich hatte das Bewusstsein, dass mein Auftrag anderer Art ist, dass ich vor allen Dingen versuchen musste, zu zeigen, was Glaube in der heutigen Welt bedeutet, wieder die Zentralität des Glaubens an Gott herauszustellen und den Menschen Mut zum Glauben zu geben, Mut, ihn in dieser Welt konkret zu leben. Glaube, Vernunft, das alles waren Dinge, die ich als meine Sendung erkannt habe und bei denen nicht wichtig war, wie lange das Pontifikat dauern würde.

 

Gab es einen Moment, in dem Sie Gott gebeten haben: »Nimm mich hinweg, ich kann nicht mehr, ich mag nicht mehr«?

 

So nicht, nein. Ich meine, dass ich den lieben Gott gebeten habe – gerade wenn man an diese Williamson-Situation denkt –, mich da loszueisen und zu helfen, das schon. Aber ich wusste, Er hat mich auf den Platz gestellt, dann lässt Er mich auch nicht fallen.

 

Sie haben nie daran gedacht, die ganze Last einmal abzuwerfen? Nicht immer nur im Dienst zu sein, mit den endlosen Verpflichtungen, den ganzen Banalitäten eines Amtes, die einen erdrücken? Einmal einfach nur Mensch sein?

 

Doch, das gab’s schon, natürlich. Das habe ich vor allem als Kardinalpräfekt oft zum Papst gesagt. Aber Johannes Paul II. hat gemeint: »Nein, Sie machen weiter!«

 

War es für Sie dann nicht auch eine Frage, ob Sie die Wahl überhaupt annehmen sollten?

 

Das war in der Tat eine sehr ernste Frage für mich. Mich hat jedoch beeindruckt, dass im Präkonklave viele Kardinäle den zu Wählenden gewissermaßen schon im Voraus beschworen haben, er müsse – auch wenn er sich nicht gewachsen fühlt, das Kreuz auf sich zu nehmen – sich dem Votum der Zweidrittelmehrheit beugen und darin ein Zeichen sehen. Dies sei eine innere Pflicht für ihn. Das ist mit so viel Ernst und Größe herausgearbeitet worden, dass ich glaubte, wenn wirklich die Mehrheit der Kardinäle dieses Votum abgibt, ist es ein Votum vom Herrn her, und dann muss ich es annehmen.

 

Gab es nie den Punkt, wo Sie sich sagten: Ich bin vielleicht die falsche Wahl gewesen?

 

Nein. Die Kardinäle haben einen gewählt, dann tut man seine Aufgabe. Und wichtig ist nicht, wie die Journalisten das beurteilen, sondern der liebe Gott.

 

Ihre große Sehnsucht war, nur der Betrachtung und dem Gebet leben zu können. Können Sie das jetzt?

 

Nicht ganz. Erstens ist es von der psychischen Kraft her nicht möglich, weil ich einfach innerlich nicht stark genug bin, um mich ständig den göttlichen und geistlichen Dingen hinzugeben, aber dann auch vom Äußeren her, weil Besuche kommen. Dass ich in einem Austausch mit den Menschen bin, die heute die Kirche tragen oder die in meinem Leben eine Rolle spielen, und sozusagen in den menschlichen Dingen verankert bleibe, finde ich auch gut. Zum anderen ist es die mangelnde physische Kraft, die mir nicht gestattet, immer sozusagen in den hohen Regionen zu bleiben. Insofern ist es ein unerfüllbarer Wunsch. Aber richtig ist, dass man viel innere Freiheit dafür hat, und das ist schon viel wert.

 

Werden Sie noch etwas schreiben?

 

Nein! Nein, nein, nach Weihnachten wusste ich, das ist Nunc dimittis, ich habe mein Werk getan.[1]

 

Gibt es Tage- oder Notizbücher?

 

Tagebücher nicht, aber ich habe mir in gewissen Abständen Besinnungen aufgeschrieben, die wegzuwerfen ich aber im Begriffe bin.

 

Warum?

 

(Lächelt.) Weil es zu persönlich ist.

 

Aber das wär doch …

 

Ein Fressen für die Historiker.

 

Sie haben ein großes theologisches Werk vorgelegt wie noch kein Papst vor Ihnen. Ihre Bücher erreichten Millionenauflagen. Fällt es Ihnen nicht ungeheuer schwer, nicht mehr zur Feder zu greifen?

 

Überhaupt nicht, nein. Ich meine, ich mache jede Woche meine Predigten für den Sonntag. Insofern habe ich eine geistige Arbeit zu tun, eine Auslegung zu finden. Aber schreiben könnte ich auch nicht mehr. Da müsste ja methodische Arbeit dahinterstehen, und das wäre mir jetzt einfach zu mühsam.

 

Sie schreiben Predigten für vier, fünf Leute?

 

Warum nicht? (Lacht.) Doch! Ob das nun drei sind oder zwanzig oder tausend. Es muss immer das Wort Gottes für den Menschen da sein.

 

Gibt es Dinge, die Sie noch unbedingt erledigen möchten?

 

Nicht in dem Sinn, dass ich der Menschheit noch etwas hinterlassen möchte. In dem Sinn aber wohl, dass ich meinen Dienst im Gebet weiterführe.

 

Der Nachlass?

 

Nachdem ich vorher schon verschiedene Male ein Testament geschrieben hatte, habe ich jetzt mein wohl endgültiges Testament festgelegt.

 

Ein theologisches Testament?

 

Nein, nein. (Lachen.) Nein, was ich an Sachen habe und hinterlasse.

 

Wie sieht die Meditation eines Papa emeritus aus? Sind Ihnen bestimmte geistige Übungen heute besonders lieb und wertvoll?

 

Na ja, ich kann jetzt vertieft und verlangsamt das Brevier beten und damit die Freundschaft mit den Psalmen vertiefen, mit den Vätern. Und ich halte jeden Sonntag, wie schon gesagt, eine kleine Homilie. Ich lasse da die ganze Woche über meine Gedanken ein bisschen darauf zugehen, dass die so langsam reifen, ich einen Text nach seinen verschiedenen Seiten abtasten kann. Was sagt er mir? Was sagt er den Menschen hier im Monasterio? Das ist eigentlich das Neue, wenn ich so sagen darf, dass ich mit noch mehr Ruhe in das Psalmengebet einschwinge, mich vertrauter damit machen kann. Und dass auf diese Weise die Texte der Liturgie, vor allem die Sonntagstexte, mich die Woche hindurch begleiten.

 

Haben Sie ein Lieblingsgebet?

 

Da gibt es schon welche. Da ist zum einen dieses vom heiligen Ignatius: »Herr, nimm meine ganze Freiheit an …« Dann eines von Franz Xaver: »Ich liebe dich nicht, weil du mich in die Hölle schicken oder in den Himmel schicken kannst, sondern weil du du bist.« Oder das von Niklaus von Flüe: »Nimm mich, wie ich bin …« Und dann mag ich ganz besonders – was ich gern im »Gotteslob« gesehen hätte, aber ich hab vergessen, es vorzuschlagen – das »Allgemeine Gebet« von Petrus Canisius aus dem 16. Jahrhundert. Es ist unverändert aktuell und schön.[2]

 

Ihr spiritueller Lieblingsort?

 

Ist natürlich, würde ich sagen, Altötting.

 

Der zentrale Punkt Ihrer Reflexionen war stets die persönliche Begegnung mit Christus. Wie ist das jetzt? Wie nahe sind Sie Jesus gekommen?

 

(Tiefes Einatmen.) Ja, das ist natürlich auch situationsmäßig verschieden, aber in der Liturgie, im Beten, in den Betrachtungen für die Sonntagspredigt sehe ich Ihn schon direkt vor mir. Immer ist Er natürlich auch groß und geheimnisvoll. Viele Evangelienworte empfinde ich in ihrer Größe und ihrem Gewicht jetzt schwerer als früher. Mir ist dabei wieder eine Episode aus meiner Zeit als Kaplan eingefallen. Eines Tages war Romano Guardini in der evangelischen Nachbarpfarrei zu Gast und meinte zu dem evangelischen Pfarrer, »im Alter wird’s nicht leichter, sondern schwerer«. Das hat dann meinen damaligen Pfarrer sehr bewegt und getroffen. Aber da ist etwas Wahres dran. Einerseits ist man sozusagen tiefer eingeübt. Das Leben hat seine Gestalt. Es sind die Grundentscheidungen gefallen. Andererseits empfindet man die Schwere der Fragen viel stärker, auch den Druck der Gottlosigkeit heute, den Druck der Abwesenheit des Glaubens bis tief in die Kirche hinein, und dann eben auch die Größe der Worte Jesu Christi, die sich der Auslegung oft mehr entziehen als früher.

 

Ist das mit einem Verlust an Gottesnähe verbunden? Oder mit einem Zweifel?

 

Zweifel nicht, aber man spürt, wie weit man doch von der Größe des Geheimnisses entfernt ist. Natürlich tun sich auch immer wieder neue Einsichten auf. Das finde ich sehr berührend und tröstend. Aber man merkt auch, dass das Wort nie ausgelotet ist. Und gerade manche Worte des Zornes, der Verwerfung, der Gerichtsdrohung werden einem unheimlich und gewaltiger und größer als früher.

 

Man stellt sich vor, der Papst, Stellvertreter Christi auf Erden, müsste ein besonders enges, intimes Verhältnis zum Herrn haben.

 

Ja, das sollte so sein, und ich habe auch nicht das Gefühl, dass Er weit weg ist. Ich kann innerlich immer mit Ihm reden. Aber trotzdem bin ich halt ein armseliger kleiner Mensch, der bis zu Ihm nicht immer hinaufreicht.

 

Gibt es da auch die »dunklen Nächte«, von denen viele Heilige sprechen?

 

So gewaltig nicht. Da bin ich vielleicht auch nicht heilig genug, um dann so tief ins Dunkel zu geraten. Aber gerade wenn im Umkreis menschlich Dinge geschehen, wo man sagt, wie kann der liebe Gott das zulassen, sind die Fragen schon sehr groß. Da muss man sich schon fest einhalten, in dem Glauben, Er weiß es besser.

 

Hat es diese »dunklen Nächte« in Ihrem Leben überhaupt gegeben?

 

Sagen wir mal, die ganz abgedunkelten nicht, aber die Schwierigkeit, wie ist es nun eigentlich mit Gott, die Frage, warum gibt’s so viel Böses und so weiter, wie kann das mit Seiner Allmacht, mit Seiner Güte vereinbar sein, die überfällt einen situationsweise doch immer wieder.

 

Wie geht man mit solchen Glaubensproblemen um?

 

Zunächst mal damit, dass ich die Grundgewissheit des Glaubens nicht loslasse, dass ich gewissermaßen in ihr drinstehe. Und dass ich weiß, wenn ich etwas nicht verstehe, dann nicht, weil es falsch wäre, sondern weil ich zu klein dafür bin. Bei manchem war das auch so, dass ich allmählich hineingewachsen bin. Immer wieder ist es ein Geschenk, dass man dann plötzlich etwas sieht, was vorher nicht erschienen war. Man merkt, dass man demütig sein muss, dass man, wenn einem die Worte der Schrift nicht eingehen, warten muss, bis der Herr es öffnet.

 

Und, öffnet Er es?

 

Nicht immer. Aber dass es Eröffnungsmomente gibt, zeigt mir, dass es eben in sich groß ist.

 

Hat auch ein Papa emeritus Angst vor dem Tod? Oder zumindest Angst vor dem Sterben?

 

In gewisser Hinsicht schon. Erstens einmal Furcht davor, dass man Menschen zur Last fällt, durch eine lange Zeit der Behinderung. Das würde ich als sehr betrüblich empfinden. Auch mein Vater hatte davor immer Angst; es ist ihm aber erspart geblieben. Das andere ist, dass man in allem Vertrauen, das ich habe, dass der liebe Gott mich nicht wegwerfen kann, man dann doch auch, je näher man vor sein Angesicht kommt, desto stärker empfindet, wie viel man falsch gemacht hat. Insofern drückt doch dann auch die Last der Schuld auf einen, obwohl das Grundvertrauen natürlich immer da ist.

 

Was drückt Sie da?

 

Na ja, dass man eben immer wieder Menschen nicht genügt hat, nicht richtig behandelt hat. Ach, da sind so viele Details, nicht ganz große Brocken, Gott sei Dank, aber eben so viele Dinge, wo man sagen muss, das hätte besser gemacht werden können und müssen. Wo man den Menschen, der Sache nicht ganz gerecht geworden ist.

 

Wenn Sie dann vor dem Allmächtigen stehen, was werden Sie Ihm sagen?

 

Ihn bitten, dass Er Nachsicht mit meiner Armseligkeit hat.

 

Der Gläubige vertraut darauf, dass das »ewige Leben« ein erfülltes Leben ist.

 

Das auf jeden Fall! Dass er dann richtig daheim ist.

 

Was erwarten Sie?

 

Da gibt es Schichten. Da ist zum einen die mehr theologische. Ein großer Trost und auch ein großer Gedanke ist hier, was der heilige Augustinus sagt. Er legt das Psalmwort »Sucht immerdar sein Angesicht« aus und sagt: Dieses »immerdar« gilt die ganze Ewigkeit. Gott ist so groß, dass wir nie fertig sind. Er ist immer neu. Es gibt eine immerwährende, unendliche Bewegung neuen Entdeckens und neuer Freude. Solche Dinge gehen in einem theologisch um. Gleichzeitig gibt es die Seite, ganz menschlich, dass ich mich darauf freue, wieder mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinen Freunden beieinander zu sein und mir vorzustellen, dass es wieder so schön sein wird, wie es bei uns zu Hause war.

 

Eschatologie, die Lehre von den »letzten Dingen« – Tod, Fegefeuer, Anbruch einer neuen Welt – ist eines Ihrer Grundthemen. Sie haben darüber, wie Sie sagten, Ihr am besten ausgearbeitetes Buch geschrieben. Können Sie heute, wo Sie persönlich ganz unmittelbar vor den eschatologischen Fragen stehen, von Ihrer Theologie profitieren?

 

Schon. Gerade auch was ich über das Fegefeuer bedacht habe, über die Art des Schmerzes, die Bedeutung, die das hat, und eben dann über den Gemeinschaftscharakter der Seligkeit, darüber, dass man sozusagen in den großen Ozean der Freude und der Liebe eintaucht, das ist mir schon sehr wichtig.

 

Würden Sie sich als einen Erleuchteten sehen?

 

Nein, nicht! (Lacht.) Nein.

 

Aber ist Erleuchtung, neben Heiligkeit, nicht auch ein definiertes Ziel christkatholischen Lebens?

 

Nun, der Begriff »erleuchtet« hat so ein bisschen etwas Elitäres an sich. Ich bin ein ganz normaler Christenmensch. Natürlich geht es darum, Wahrheit zu erkennen, die ein Licht ist. Und kraft des Glaubens ist auch ein einfacher Mensch erleuchtet. Weil er sieht, was andere, die noch so gescheit sind, nicht wahrnehmen. In dem Sinne ist der Glaube Erleuchtung. Die Taufe hieß bei den Griechen Photismus, Erleuchtung, das Zum-Licht-Kommen, das Sehendwerden. Die Augen gehen mir auf. Ich sehe diese ganz andere Dimension, die ich mit den körperlichen Augen allein nicht wahrzunehmen vermag.

Der Rücktritt

Kommen wir zu jener Entscheidung, die für sich allein genommen Ihr Pontifikat bereits als historisch erscheinen lässt. Mit Ihrer Demission ist erstmals in der Geschichte der Kirche ein wirklich regierender Pontifex von seinem Amt zurückgetreten. Mit diesem revolutionären Akt hat kein anderer in der Neuzeit das Papsttum stärker verändert als Sie. Es ist moderner, in gewissem Sinne auch menschlicher, dem Ursprung Petri näher geworden. Bereits 2010 erklärten Sie in unserem Buch Licht der Welt: Wenn ein Papst physisch oder psychisch nicht mehr in der Lage sei, sein Amt auszuüben, habe er das Recht und mitunter sogar die Pflicht, von seiner Aufgabe zurückzutreten. Gab es dennoch ein heftiges inneres Ringen um diese Entscheidung?

 

(Tiefes Luftholen.) Das ist natürlich nicht ganz leicht. Nachdem tausend Jahre kein Papst zurückgetreten ist und es auch im ersten Jahrtausend eine Ausnahme war, ist es eine Entscheidung, die man nicht leicht fällt und die man immer wieder herumwälzen muss. Andererseits war für mich die Evidenz dann doch so groß, dass kein ganz schweres inneres Ringen da war. Ein Bewusstsein der Verantwortung und der Schwere, die gründlichste Prüfung verlangt und immer wieder auch vor Gott und vor sich selber geprüft werden muss, das ja, aber nicht in dem Sinne, dass es mich gleichsam zerrissen hätte.

 

Hatten Sie damit gerechnet, dass Ihr Entschluss auch Enttäuschung, ja Fassungslosigkeit auslösen würde?