Letzte Stunde im Hyde Park - Anne Perry - E-Book

Letzte Stunde im Hyde Park E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Mitten in der Nacht wird Thomas Pitt, der Leiter des Staatsschutzes, in den Buckingham Palace gerufen. Die Queen persönlich wünscht sich von ihm Ermittlungen in einem hochbrisanten Fall. Ihr Sohn und Thronfolger, der Prince of Wales, pflegt nämlich in ihren Augen schlechten Umgang. In ihrer Sorge hat sie einen Spion in sein Umfeld eingeschleust - doch dieser wurde tot im Hyde Park aufgefunden. Angeblich bei einem Bootsunfall ertrunken. Pitt findet schnell heraus, dass ein Verbrechen dahintersteckt - ein Verbrechen, das das ganze Empire in Gefahr bringen könnte.

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Das Buch

Seiner Königin schlägt man als Staatsdiener keine Bitte ab. Darum hat Thomas Pitt, Leiter des Staatsschutzes, keine andere Wahl, als den Auftrag der besorgten Herrscherin anzunehmen. Seine Aufgabe wird es sein, Informationen über einen dubiosen Vertrauten ihres Sohnes und Kronprinzen, dem Prince of Wales, zu liefern. Die Sache scheint schon deshalb obskur, weil der ursprünglich mit dieser Aufgabe Betraute bei einem Bootsunfall im Hyde Park ums Leben gekommen ist. Für Pitt wird der Fall extrem heikel. Auf dem für ihn ungewohnten höchsten gesellschaftlichen Parkett muss er sehr geschickt lavieren, um die Gefahr abzuwenden, die sogar das Empire bedrohen könnte.

»Anne Perry schreibt viktorianische Krimis, dass Charles Dickens die Luft wegbleiben würde.«

The New York Times

Die Autorin

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen England und begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland. In der Serie um Thomas Pitt sind zahlreiche Bücher im Heyne Verlag lieferbar. Zuletzt von Anne Perry erschienen ist Todesurteil im Old Bailey, der erste Band in ihrer neuen Serie um den Anwalt Daniel Pitt, Thomas Pitts Sohn. Mehr zur Autorin und ihren Büchern erfahren Sie auch unter www.anneperry.co.uk.

ANNE PERRY

LETZTE STUNDEIMHYDE PARK

Ein Thomas-Pitt-Roman

Aus dem Englischenvon K. Schatzhauser

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe

MURDER ON THE SERPENTINE

erschien 2016 bei Headline Publishing Group, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 02/2018

Copyright © 2016 by Anne Perry

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Uta Dahnke

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Fotos von© Look and Learn / Peter Jackson Collection / Bridgeman

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-21808-9V002

www.heyne.de

Mit Dank für Rita Keeley Brown

KAPITEL 1

Der tadellos gekleidete grauhaarige Herr stand in Pitts Büro vor dem Schreibtisch, den Unterlagen zu einem halben Dutzend Fälle bedeckten, mit denen Pitt gerade befasst war. Sofern es in all den Papieren so etwas wie eine Ordnung gab, war diese ausschließlich für Pitt zu erkennen. Der Besucher bildete einen deutlichen Gegensatz zu diesem Chaos, von seiner mustergültig sitzenden dezenten Regimentskrawatte bis hin zu seinen mit einem Wappen verzierten goldenen Manschettenknöpfen und seinem akkurat gescheitelten Haar.

»Ja, Sir«, sagte er würdevoll und mit ausdrucksloser Miene. »Ihre Majestät wünscht Sie so schnell wie möglich zu sprechen. Sie hofft, dass Sie unverzüglich kommen können.« Es war durchaus vorstellbar, dass sich niemand je einer solchen Aufforderung von ihm widersetzt hatte. Königin Victoria, die 1837 den Thron bestiegen hatte, herrschte inzwischen seit zweiundsechzig Jahren, und er war lediglich der letzte in einer langen Reihe von Abgesandten.

Ein Frösteln überlief Pitt, und die Kehle wurde ihm eng. »Selbstverständlich kann ich das«, brachte er mit mühsam beherrschter Stimme heraus. Er war der Königin zweimal begegnet, hatte aber zu jener Zeit noch nicht an der Spitze des Staatsschutzes Ihrer Majestät gestanden, dessen Aufgabe es war, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten.

»Danke«, sagte Sir Peter Archibald mit einem leichten Neigen des Kopfes. »Die Kutsche wartet vor dem Haus. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir …«

Es konnte keine Rede davon sein, dass Pitt zuvor seine Papiere ordnete; die Zeit reichte lediglich, um seinem Mitarbeiter Stoker mitzuteilen, dass man ihn abgerufen hatte. Er sagte ihm nicht, wohin und warum.

»Ja, Sir«, sagte Stoker in einem Ton, als komme dergleichen täglich vor, doch seine Augen weiteten sich ein wenig. Er trat einen Schritt beiseite, damit die beiden vorbeigehen und durch die Tür in den Gang treten konnten.

Sir Peter ging Pitt die Treppe hinab voraus. Auf der Straße wartete in gewisser Entfernung eine hochherrschaftliche Kalesche mit Klappverdeck, aber ohne Wappen auf den Türen, vor einem Tabakladen. Der Kutscher nickte, als die beiden Männer einstiegen, und im nächsten Augenblick setzte sich das Gefährt in Bewegung.

»Eine Spur zu kühl für einen Frühsommertag, finden Sie nicht auch?«, sagte Sir Peter im Gesprächston – ein typisch englischer höflicher Hinweis darauf, dass er Pitt nicht zu sagen gedachte, warum die Königin mit ihm sprechen wollte. Es war ohne Weiteres möglich, dass Sir Peter selbst den Grund dafür nicht kannte.

»Ja, ein wenig«, gab Pitt zurück, »aber wenigstens regnet es nicht.«

Nachdem Sir Peter etwas gemurmelt hatte, was wie eine Bestätigung klang, verlief die Fahrt von Lisson Grove bis zum Buckingham Palast in vollständigem Schweigen.

Ganz wie von Pitt vermutet, fuhren sie an der prachtvollen Fassade vorüber zur Rückseite des Palastes. Als die Kutsche vor den Stallungen ankam, merkte er, dass sich sein Magen zusammenkrampfte, und er musste sich Mühe geben, seine ineinander verschlungenen Hände zu lösen. Kutscher und Stallburschen waren dabei, Pferde und Kutschen für die Abendausfahrten von Angehörigen des königlichen Haushalts herzurichten. Die Tiere wurden ein letztes Mal gestriegelt, das Staatsgeschirr noch einmal einem prüfenden Blick unterzogen und nachpoliert. Fröhlich pfeifend ging ein Stallbursche mit einem Eimer Wasser an ihnen vorüber.

Die Abenddämmerung war noch nicht hereingebrochen, das Licht des Tages hatte lediglich ein wenig abgenommen, und die Schatten waren etwas länger geworden.

Die Kalesche hielt an, Sir Peter stieg aus, ohne ein Wort zu sagen, und Pitt folgte ihm auf dem Fuße. Noch immer ohne die geringste Vorstellung davon, worum es ging, bemühte er sich, seinen sich jagenden Gedanken Einhalt zu gebieten. Was mochte dahinterstecken, dass ihn die Königin auf so ungewöhnliche Weise dringlich und beinahe privat zu sich beorderte? In seiner Position als Leiter des Staatsschutzes unterstand er unmittelbar der Regierung, und da gab es für mehr oder weniger alle Eventualitäten offizielle Kanäle – wenn man es recht bedachte, sogar eher zu viele. Mitunter fühlte er sich durch die Zwänge der Bürokratie geradezu erstickt.

Er hielt sich dicht hinter Sir Peter, der ihm aufrecht und mit durchgedrücktem Rücken voranging, und hatte den Eindruck, als könne der Mann diesen militärischen Schritt stundenlang durchhalten.

Nach wie vor schweigend, ging es über Treppen und durch endlose Gänge, an deren Wänden hier und da verblasste Drucke mit Sportszenen hingen, oder vielleicht waren dies auch die Originale.

Als Pitt sich gerade vage erinnerte, schon einmal in diesem Bereich des Palasts gewesen zu sein, blieb Sir Peter ruckartig stehen und klopfte an eine hohe getäfelte Tür. Sie wurde sogleich geöffnet, Sir Peter trat ein, wechselte einige Worte mit jemandem im Inneren des Raumes und bedeutete dann Pitt mit einer Handbewegung, er möge ihm folgen.

Sie traten in einen nicht sonderlich großen behaglich eingerichteten Wohnraum. Da die Vorhänge an den Fenstern noch nicht geschlossen waren, fiel der Blick auf einen herrlich angelegten Garten. Die Wände waren in mehreren Reihen übereinander nahezu vollständig mit Porträts in reich verzierten Rahmen bedeckt. Das Muster des Teppichs war durch jahrzehntelangen Gebrauch weitgehend verblasst. In einem Sessel am außergewöhnlich großen Kamin saß eine rundliche, ein wenig in sich zusammengesunkene Frau. Sie hatte eine leicht spitze Nase, dünnes, straff nach hinten gekämmtes Haar und war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, was sie noch älter aussehen ließ, als sie war. Sie wirkte erschöpft. Es war kaum noch etwas von der Energie und Lebenskraft zu erkennen, die er noch vor wenigen Jahren bei seinem Kampf gegen die Männer, die sie auf ihrem Landsitz Osborne House auf der Isle of Wight als Geisel festhielten, an ihr wahrgenommen hatte. Von diesem unangenehmen Vorfall allerdings war außer Pitt und einigen sehr engen Freunden kaum jemandem etwas bekannt.

Pitt blieb still stehen. Er hütete sich, unaufgefordert etwas zu tun oder zu sagen.

Hinter ihm schloss sich kaum hörbar die Tür.

»Guten Abend, Mister Pitt«, sagte die Königin leise. »Ich weiß es zu schätzen, dass es Ihnen möglich war, sich so kurzfristig herzubemühen. Hoffentlich halte ich Sie nicht von dringenden Aufgaben im Dienste der Öffentlichkeit ab?«

Ihm war bewusst, dass es sich bei diesen Worten lediglich um eine höfliche Einleitung handelte. Ihr gegenüber stand ein hölzerner Stuhl, doch dachte Pitt nicht im Traum daran, sich zu setzen. In Gegenwart der Monarchin blieb man stehen, ganz gleich, wie lange die Unterhaltung dauern mochte. Mr. William Gladstone hatte nicht einmal als Premierminister Platz nehmen dürfen. Dieses Privileg hatte sie lediglich Mr. Disraeli zugestanden, weil es ihm von Zeit zu Zeit gelungen war, sie zum Lachen zu bringen.

»In keiner Weise, Eure Majestät«, gab Pitt zur Antwort, wobei er den Blick ein wenig hob, ohne jedoch der Monarchin in die Augen zu sehen. »Gegenwärtig gibt es keine besonderen Unruhen.«

Sie stieß mit einem leisen Seufzer die Luft aus. »Sie wählen Ihre Worte mit großer Sorgfalt, Mr. Pitt«, gab sie zurück. »Wenn Sie behauptet hätten, es gebe gar keine, hätte ich Ihnen nicht geglaubt. Ich mag es nicht, wenn man mir etwas vormacht, weil man annimmt, ich sei außerstande, mich Schwierigkeiten zu stellen, zu alt oder zu erschöpft, um ihnen ins Gesicht zu sehen.«

Sie sagte das in einem Ton, der ihm zeigte, dass der Augenblick gekommen war, ihr ins Gesicht zu sehen. Ob sie eine Antwort von ihm erwartete? Dem Schweigen nach, das ihren Worten folgte, war das wohl der Fall. Was sollte er sagen? Er durfte ihr weder zustimmen noch widersprechen.

»Ich kann mich deutlich erinnern, Ma’am, dass ich vor nicht allzu langer Zeit gesehen habe, mit welchem Nachdruck Sie sich bewaffneten Männern widersetzt haben, die Sie gefangen hielten. Kümmernisse und die Zeit verschonen keinen von uns, aber nichts von all dem hat Ihren Lebensmut je brechen können.«

Sie nickte kaum wahrnehmbar und sagte mit dem Anflug eines Lächelns: »Ihre neue Position hat Ihnen ein wenig Schliff beigebracht, Mr. Pitt. Wahrscheinlich ist das von Vorteil und hat Sie hoffentlich nicht zu einem der üblichen aalglatten Männer gemacht.« Das war weniger als Frage denn als Herausforderung gemeint, und doch ließ die kurze Pause, die sie eintreten ließ, keine Antwort zu. »Ich habe keine Zeit für beschönigende Floskeln, mit denen man höflich so lange um ein Thema herumredet, bis niemand mehr weiß, worum es überhaupt geht.«

»Gewiss, Ma’am«, gab er mit einem leichten Neigen des Kopfes zurück. Auf den ermattet wirkenden Zügen der Monarchin erkannte er den Ausdruck einer tiefen Angst, die sie offenkundig belastete. Sie war zwei gute Handbreit kleiner als er und hatte jede jugendliche Schlankheit eingebüßt. Die Jahre fortwährender Pflichterfüllung wie auch die Einsamkeit seit dem Tod ihres Gatten, des Prinzgemahls Albert, hatten sich unauslöschlich in ihr Gesicht eingegraben.

Sie sagte nichts darauf. Es war denkbar, dass sie sich insgeheim fragte, ob sie ihm trauen durfte. Es war aber auch möglich, dass sie überlegte, wie sie ihm am besten mitteilen könnte, worum es ging, und dass ihr das schwieriger erschien, als sie angenommen hatte. Jeden anderen hätte er gefragt, aber ihr gegenüber wäre das anmaßend gewesen.

Sie holte tief Luft und wandte ihre Aufmerksamkeit erneut der Gegenwart zu.

»Sie dürfen sich setzen, Mr. Pitt. Ich habe Ihnen viel zu sagen, und ich möchte nicht zu Ihnen aufblicken müssen. Davon bekomme ich Nackenschmerzen.«

»Gewiss, Ma’am.« Fast hätte er ihr gedankt, doch gerade rechtzeitig fiel ihm noch ein, dass auch das unpassend wäre. Aufrecht setzte er sich auf den Stuhl ihr gegenüber und stellte beide Füße fest auf den Boden.

Ein Lächeln huschte über ihre Züge, ein Anflug von Belustigung, als habe er damit in ihr eine Erinnerung wachgerufen, doch schon im nächsten Augenblick war es wieder verschwunden. Während sie sprach, sah sie ihn aufmerksam an.

»Der Kronprinz hat sich vor Kurzem für einen neuen Berater in gewissen Angelegenheiten entschieden; in erster Linie geht es dabei um Rennpferde, wie ich vermute, aber es hat den Anschein, als ob sich der Mann auch mit anderen Dingen beschäftigt und an vielen Orten auftaucht.« Ihr Blick wurde schärfer, als habe sie auf Pitts Zügen eine gewisse Überraschung bemerkt. »Selbstverständlich braucht Edward Freunde, wie wir alle«, fügte sie rasch hinzu, »aber er wird eines Tages König sein, und zwar … ziemlich bald. Er kann es sich unter keinen Umständen leisten, seine Freunde auf gut Glück auszuwählen.« Sie blickte Pitt aufmerksam an, ohne auf seine Reaktion zu warten. Sie war nicht auf seine Meinung angewiesen, wollte aber wohl sehen, ob er ihr zuhörte.

Wollte sie mit Hilfe des Staatsschutzes mehr über diesen Freund ihres Sohnes in Erfahrung bringen? Schon immer hatte der Kronprinz eine Schwäche für Pferde und Galopprennen gehabt. Daher lag es nahe, dass er sich seine Freunde im Kreise von Menschen suchte, die diese Leidenschaft teilten.

Nachdem sich die Königin davon überzeugt hatte, dass Pitt ihren Worten aufmerksam folgte, fuhr sie fort: »Ich habe den Eindruck, dass dieser Mann, er heißt Alan Kendrick, keinen günstigen Einfluss auf meinen Sohn ausübt. Er ist ein …« Sie suchte sichtlich nach dem treffenden Wort. »… ein Mann von überzeugendem Wesen«, beendete sie ihren Satz. »Auch seine Frau sagt mir nicht sonderlich zu. Ihr ist nicht klar, wohin sie gehört, sie hat eine scharfe Zunge und benimmt sich gelegentlich ungehörig. Aber vielleicht vertrete ich ja auch altmodische Ansichten …« Sie sah einen Augenblick lang beiseite, und Pitt begriff, dass ihr schmerzliche Erinnerungen gekommen waren, vielleicht solche an die glücklichen Jahre ihrer Ehe. Auch ihr war Eigensinn nicht fremd, aber sie war nun einmal die Königin. Sie war erst achtzehn Jahre alt gewesen, als man sie mitten in der Nacht geweckt hatte, um ihr mitzuteilen, dass König William IV. gestorben und sie seine Nachfolgerin sei.

Erneut sah sie zu Pitt, mit unsicherem Blick, wie ihm schien. »Ich möchte wissen, ob meine Besorgnis zu Recht besteht, und würde mich freuen, wenn sich herausstellen sollte, dass es sich anders verhält«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Es gibt nur wenige Menschen, denen ich in solch heiklen Angelegenheiten trauen kann. Ich habe lange überlegt, wer so verschwiegen ist, dass ich ihn bitten kann, sich diesen Mr. Kendrick genauer anzusehen. Sie verstehen?« Es war klar, dass sie eine Antwort auf diese Frage erwartete.

»Gewiss, Ma’am«, sagte Pitt rasch. Sein Herz sank. Diese Angelegenheit ging den Staatsschutz nicht im Geringsten etwas an. Gab es eine Möglichkeit, ihr das klarzumachen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen? Verweigerte man seiner Königin je einen Dienst? Er saß in der Falle.

»Sie scheinen sich unbehaglich zu fühlen, Mr. Pitt«, hielt sie ihm vor.

Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er hatte nicht angenommen, so leicht durchschaubar zu sein.

»Wissen Sie etwas über den Mann?«, fragte sie.

»Nein, Ma’am.«

Sie brummte etwas vor sich hin, und er hätte nicht sagen können, ob sie damit ihr Missvergnügen oder lediglich ihre Ungeduld ausdrückte.

Sie sah ihn durchdringend an, als müsse sie sich unbedingt ein genaues Bild von ihm machen. Vielleicht aber hatte auch die Sehschärfe der Achtzigjährigen gelitten, und sie bemühte sich einfach, sein Gesicht deutlich zu sehen.

»Ich hatte meinen alten vertrauten Freund Sir John Halberd gebeten, sich diesen Kendrick genauer anzusehen und mir zu berichten, welchen Eindruck er von ihm hatte.« Während sie den Blick auf ihre Hände richtete, die fest ineinander verschränkt in ihrem Schoß lagen, öffnete und schloss sie die Augen in rascher Folge, offensichtlich darum bemüht, gegen eine tiefe Gemütsbewegung anzukämpfen.

Mit einem Mal empfand Pitt das Bedürfnis, sie zu trösten. Er erwartete, dass sie sagen würde, Halberd habe ihr etwas äußerst Schmerzliches mitgeteilt. Doch was auch immer das sein mochte und einen wie negativen Einfluss dieser Kendrick auch auf den Kronprinzen ausübte – es war auf keinen Fall etwas, wogegen der Staatsschutz etwas ausrichten konnte. Was Halberd zu sagen hatte, war für die Königin möglicherweise enttäuschend, wenn nicht gar peinlich gewesen, aber sicherlich waren ihr doch die Ausschweifungen ihres Sohnes nicht unbekannt? Jeder wusste davon. Außerdem hatte es ganz den Anschein, als habe er sich erkennbar gemäßigt, und das keineswegs nur wegen seines zunehmenden Alters und der damit verbundenen körperlichen Schwäche, sondern auch im Hinblick darauf, dass er dem Thron immer näher kam.

Das Schweigen wurde belastend. Die Königin schien auf Pitts Reaktion zu warten.

»Hat Ihnen Sir John berichtet, wie er den Mann einschätzt, Ma’am?«, fragte er daher.

»Nein«, sagte sie überraschend unvermittelt. »Er hat mir eine Mitteilung des Inhalts geschickt, dass er mich dringend sprechen müsse. Sie hat mich spät am Abend erreicht, und da ich mich unwohl fühlte, habe ich ihm ausrichten lassen, er könne mich am nächsten Tag zu jeder ihm genehmen Stunde aufsuchen. Mein Wohlergehen hat ihm stets besonders am Herzen gelegen.« Erneut hielt sie inne und kämpfte unübersehbar mit starken Empfindungen.

Pitt fürchtete sich vor dem, was sie als Nächstes sagen würde. Wäre sie ein Mensch wie jeder andere gewesen, hätte er den Versuch unternommen, es ihr zu erleichtern, aber seiner Königin schnitt man nicht das Wort ab. Voll Unbehagen wartete er darauf, dass sie weiter sprach.

»Er ist nicht gekommen«, sagte sie schließlich kaum hörbar.

Pitt sog scharf die Luft ein.

Sie sah ihm in die Augen, fast, als stünden sie auf einer gesellschaftlichen Stufe, eine tief bekümmerte alte Frau und ein etliche Jahre jüngerer Mann, der ihr, wie sie hoffte, helfen konnte.

Sie nickte mit fest zusammengepressten Lippen und sagte dann, was sie erkennbar große Mühe kostete: »Man hat ihn am Vormittag des besagten Tages tot aufgefunden. In einem Ruderboot auf dem Serpentine-See im Hyde Park. Oder vielmehr im Wasser daneben, das dort gar nicht tief ist. Man hat die Vermutung geäußert, dass er das Gleichgewicht verloren hat, weil er aus irgendeinem Grund aufgestanden ist. Dabei soll er, wie es heißt, mit dem Kopf auf den Bootsrand geprallt, ins Wasser gefallen und ertrunken sein.«

»Das tut mir aufrichtig leid«, sagte Pitt in mitfühlendem Ton.

Sie schluckte. »Ich wünsche, dass Sie feststellen, ob sein Tod wirklich auf einen Unfall zurückgeht und, sofern Ihnen das möglich ist, was er mir über diesen Kendrick mitteilen wollte. Von früheren Begegnungen mit Ihnen weiß ich, dass Sie ein erstklassiger Kriminalist sind.«

Sie ging nicht näher auf die beiden Fälle ein, auf die sie sich mit diesen Worten bezog, hatte aber ihre kurze Gefangenschaft in Osborne House offenbar nicht vergessen. »Jetzt verfügen Sie über den Apparat, die Vollmachten und das Geheimwissen des Staatsschutzes. Ich möchte die Wahrheit wissen, Mr. Pitt, wie auch immer sie aussieht. Was hat Sir John Halberd herausbekommen – und hat man ihn womöglich im Zusammenhang mit seinen Nachforschungen ermordet?«

Einen Augenblick lang war er sprachlos.

»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Mr. Pitt«, sagte sie mit Nachdruck, »und zwar sowohl aufgrund Ihrer Fähigkeiten als auch aufgrund Ihrer Verschwiegenheit.« Sie unterließ es, von Ergebenheit zu sprechen. Das mochte daran liegen, dass sie die für selbstverständlich hielt. Wahrscheinlicher aber war, dachte er, dass es ihr zu schmerzlich gewesen wäre, sie in Zweifel zu ziehen. Halberd war womöglich gerade wegen seiner Ergebenheit umgekommen. Sie verlangte viel von Pitt, weniger in seiner Eigenschaft als Leiter des Staatsschutzes als auf persönlicher Ebene. Und sie hatte von Verschwiegenheit gesprochen – war das ein versteckter Hinweis darauf, dass er ausschließlich mit ihr über die Angelegenheit sprechen durfte? Da er das genauer wissen musste, fühlte er sich berechtigt, sie darauf anzusprechen.

»Wem soll ich berichten, Ma’am?« Er sah sie offen an und erkannte in ihren Augen einen so tiefen Kummer, dass es ihn förmlich erschreckte. War da noch mehr, vielleicht sogar Schuldbewusstsein? Befürchtete sie, mit ihrem Ansinnen einen alten Vertrauten in den Tod geschickt zu haben? Kaum dass ihm der Gedanke gekommen war, hielt er es für sicher, dass es sich so verhielt.

»Ausschließlich mir, Mr. Pitt«, gab sie gefasst zurück. »Erstatten Sie mir Bericht. Informieren Sie Sir Peter Archibald, wenn Sie mit mir sprechen wollen. Ich werde Sie dann sogleich durch ihn holen lassen. Sie werden die Sache mit größtem Takt behandeln, und das nicht nur um meinetwillen, sondern auch um Ihrer selbst willen. Sind wir uns in dem Punkt einig?«

»Ja, Ma’am.«

Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln – genau genommen war es nichts weiter als ein leichtes Entspannen ihrer Lippen – erklärte sie: »Ich danke Ihnen. Sie können jetzt gehen. Sir Peter wird Sie zu Ihrer Kutsche bringen. Gute Nacht.«

Er stand auf und verneigte sich. »Gute Nacht, Eure Majestät.«

Draußen auf dem Gang straffte er sich. Als er etwa ein Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, tauchte Sir Peter auf, ebenso gelassen und höflich wie zu Anfang. Ob der Mann eine Vorstellung von dem hatte, was die Königin von Pitt erwartete?

»Ich lasse den Kutscher sogleich rufen, Sir«, sagte der Hofmarschall so gleichmütig, als handelte es sich um eine alltägliche Angelegenheit.

»Danke«, gab Pitt zurück.

Mit einem flüchtigen Lächeln erwiderte Sir Peter: »Wenn Sie mir gütigst folgen wollen, Sir …«

Auf dem Heimweg wirbelten Pitt die Gedanken durch den Kopf, sodass er nichts von seiner Umgebung wahrnahm. Auch wenn es keine Möglichkeit gegeben hatte, den Auftrag abzulehnen, war er ihm zuwider. Er erinnerte sich an die kurze Zeitungsnotiz über Halberds Tod. Ein hoch angesehener Mann, der in der Öffentlichkeit kaum je in Erscheinung getreten war. In der Notiz hatte es lediglich geheißen, er sei bei einem Unfall umgekommen und hinterlasse keine Angehörigen. Von der Art des Unfalls war keine Rede gewesen. An dieser Stelle würde Pitt ansetzen müssen.

Ob die Königin mit ihrer Vermutung recht hatte? Sie war alt, vom Kummer über den Tod zweier ihrer Kinder und den Verlust des von ihr bewunderten Gatten in der Blüte der Jahre gebeugt. Viele ihrer Töchter hatten in die regierenden Häuser Europas eingeheiratet und lebten daher fern von ihr. Sie mochte Freunde haben, doch unter diesen befand sich niemand, der ihr gleichgestellt war. Als Königin und Kaiserin, die über ein Viertel der ganzen Welt herrschte, nahm sie ihre Verantwortung sehr ernst. Mit ihren über achtzig Jahren würde ihr wohl nicht mehr sehr viel Zeit bleiben. Es war denkbar, dass sie auch gar nicht mehr viel länger leben wollte. Was ihren Nachfolger anging, hatte sie keine Wahl – gemäß einer jahrhundertealten Tradition würde das ihr ältester Sohn sein.

Sie trauerte um Halberd, und unter Umständen fühlte sie sich auch an ihr eigenes Ende gemahnt. Zu vieles von all dem, was sie je geliebt hatte, lag in der Vergangenheit begraben. Sie hatte Halberd gebeten, ihr zu helfen, und er hatte den Tod gefunden, als er das versucht hatte. Dass sie daran mitschuldig zu sein glaubte, ging sicherlich auf ihre Einsamkeit zurück. Würde es ihren Seelenfrieden wiederherstellen und sie beruhigen, wenn Pitt der Nachweis gelang, dass es sich tatsächlich um einen Unfall handelte, wie er jederzeit hätte vorkommen können?

Bis die Kutsche vor seinem Haus in der Keppel Street anhielt, hatte er sich eingeredet, dass es sich so verhalten dürfte. Er stieg aus, dankte dem Kutscher und ging die Stufen zur Haustür empor.

Im Inneren umgab ihn sogleich ein Gefühl der Wärme, das nichts mit dem linden Sommerabend zu tun hatte. Es ging auf Vertrautheit zurück, auf Erinnerungen an Freundschaft, zahllose Gespräche, die sich weit in die Vergangenheit erstreckten. Auch Kummer hatte es gelegentlich gegeben, im Großen und Ganzen aber hatten Liebe und Zuneigung vorgeherrscht.

Er hängte sein Jackett an die Garderobe im Flur. Charlotte hatte sie in einem Trödelladen gekauft und ihm zum ersten Weihnachtsfest nach ihrer Eheschließung geschenkt, als bei ihnen im Hause das Geld knapp war. Der Kerzenleuchter aus Zinn stammte von seiner Mutter. In diesem Haus hatte er Erfolge gefeiert und sich von der einen oder anderen Niederlage erholt. Hier hatten seine engsten Freunde bis spät in die Nacht um den Küchentisch gesessen und über Gott und die Welt geredet.

Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich, und Charlotte trat heraus. Bei seinem Anblick leuchteten ihre Augen auf. Sie kannten einander inzwischen seit neunzehn Jahren, aber noch immer musste er lächeln, wenn er sie sah, die Rundung ihrer Wangen, die Anmut, mit der sie sich bewegte.

Er beugte sich ein wenig vor, um sie zu küssen, und hielt sie einen Augenblick lang fest an sich gedrückt.

Sie schob ihn von sich. »Was ist los mit dir?«, fragte sie in ruhigem Ton, aber mit gerunzelter Stirn.

Über ihre Schulter hinweg sah er zu der großen Standuhr hinüber.

»Ich bin doch gar nicht so spät dran«, gab er zurück.

Einen Augenblick lang schien sie belustigt zu sein, doch dann trat ein Ausdruck von Besorgnis auf ihre Züge. Er wusste genau, was sie dachte: er war ihrer Frage ausgewichen. Als er noch im Polizeidienst gewesen war, hatte er oft mit ihr über seine Fälle gesprochen. Ja, er hatte sie sogar im Zusammenhang mit einer Serie von Mordfällen kennengelernt, zu denen es in ihrer Nachbarschaft gekommen war. Eines der Opfer war ihre älteste Schwester gewesen, und aus dieser Tragödie war das größte Glück seines Lebens erwachsen. Nie im Leben hätte er angenommen, dass er, der Sohn einer Wäscherin und eines – zu Unrecht – wegen Wilderei verurteilten Wildhüters, die Tochter eines wohlhabenden Bankiers heiraten würde.

»Thomas!« Sie sah ihn fest an, wobei sich der Ausdruck von Besorgnis in ihren Augen vertiefte.

»Man hat mir soeben einen äußerst heiklen Fall anvertraut, von dem ich noch nicht weiß, wie ich an ihn herangehen soll«, erklärte er. Seit er von der Polizei zum Staatsschutz gewechselt hatte, durfte er nicht mehr mit ihr über seine Arbeit sprechen, obwohl er es in manchen Fällen liebend gern getan hätte. Denn sie war nicht nur klug, sondern kannte sich auch bestens in den höheren Kreisen der Gesellschaft aus, denen sie einst angehört hatte, in denen er hingegen sein Leben lang fremd sein würde. Dort gab es, wie er oft genug gemerkt hatte, eine Fülle von Verhaltensweisen, schwer durchschaubaren Besonderheiten, gewissen Ausdrücken, die ihm nicht zu Gebote standen. Jeder Versuch, sich ihrer zu bedienen, hätte nur unbeholfen gewirkt.

Sie traten in das Wohnzimmer. Die Fenstertüren zum Garten waren wegen der kühlen Abendbrise geschlossen, aber die Vorhänge noch nicht zugezogen. Auch hier umgab ihn das Gefühl der Vertrautheit. Dazu genügte ihm schon der Anblick des ruhigen Seestücks an der Wand mit seinen gedämpften Blautönen. Der Kauf der geschnitzten hölzernen Kohlenschütte war damals ein Luxus gewesen, den sie sich genau genommen nicht hatten leisten können. Auf einem Regal standen Fotos von Daniel und Jemima im Alter von zwei und fünf Jahren neben einer Reihe von Erinnerungsstücken: Muscheln, die sie am Strand gesammelt hatten, einem glatten Stück Treibholz von einem Urlaub am Meer.

»Sicher wird dir Stoker helfen«, sagte Charlotte zuversichtlich. »Sag Bescheid, wenn du essen möchtest. Die Kinder haben bereits zu Abend gegessen, aber ich habe auf dich gewartet.«

Das geschah so oft, dass es kaum der Erwähnung wert war, und dennoch empfand er Dankbarkeit. Er aß nicht gern allein.

»Auch mit ihm darf ich nicht darüber reden«, antwortete er ihr, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte und die langen Beine von sich streckte. »Aber vielleicht spreche ich Narraway darauf an.« Victor Narraway hatte an der Spitze der Abteilung Staatsschutz gestanden, als man Pitt von seiner Stellung als Leiter der Polizeiwache in der Bow Street entbunden hatte. Als man Narraway nahegelegt hatte, wegen Misshelligkeiten und Intrigen im Fall O’Neill von seinem Posten zurückzutreten, hatte er zur Überraschung vieler Pitt als Nachfolger empfohlen. Zahlreiche Persönlichkeiten in hohen Ämtern hatten sich offen gegen Pitts Ernennung ausgesprochen, weil sie andere für fähiger hielten. Nichtsdestotrotz hatte Narraway sich schließlich durchgesetzt.

Charlotte machte ein unglückliches Gesicht. »Aber du weißt doch …«

»Was soll ich wissen?«

»Dass Narraway und Tante Vespasia sich auf einer Kreuzfahrt nach Rom und Ägypten befinden. Bestimmt kommen sie erst in einigen Monaten zurück.«

Daran hatte er gar nicht gedacht. Der Gedanke traf ihn wie ein Schlag. Er würde den Fall lange vor ihrer Rückkehr gelöst haben müssen. Doch vielleicht ging Halberds Tod ja tatsächlich auf einen Unfall zurück, sodass er die Königin würde beruhigen können. Zwar würde sie dann immer noch um ihn trauern und Kendrick zweifellos nach wie vor nicht ausstehen können, aber daran ließe sich dann eben nichts ändern.

Mit unübersehbarer Besorgnis wartete Charlotte auf seine Antwort.

Lächelnd räumte er ein, dass er das in der Tat vergessen hatte. »Vielleicht sollte ich gar nicht erst nach einer einfachen Lösung suchen. Ich würde jetzt gern essen, damit es nicht so spät wird.« Immer noch lächelnd, stand er auf, bemüht, an andere Dinge zu denken.

KAPITEL 2

Früh am nächsten Morgen suchte Pitt sein Büro in Lisson Grove auf, um Stoker mitzuteilen, dass er wegen eines dringenden Falles einige Tage lang nicht in die Dienststelle kommen werde, aber bei Bedarf jeden Abend zu Hause zu erreichen sei.

»Ja, Sir«, sagte Stoker ungerührt. Auf seinem knochigen Gesicht ließ sich kaum erkennen, was er dachte oder empfand. »Im Augenblick gibt es nichts Besonderes. Ich werde Jenkins und Doherty Bescheid sagen. Können wir Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?«

»Im Augenblick nicht und möglicherweise auch später nicht«, teilte ihm Pitt mit. »Ich komme Freitag wieder, vielleicht sogar schon früher.« Er zögerte. Es gab da eine Frage, die Stoker nicht zu stellen töricht gewesen wäre. Der Mann hatte bei Pitts Eintritt in die Abteilung bereits seit einigen Jahren dort Dienst getan. »Wissen Sie irgendetwas über Sir John Halberd?«

Stoker legte die Stirn in Falten. »Ich habe den Namen schon einmal gehört. Aber wo und wann …«

»Er ist kürzlich gestorben«, fügte Pitt hinzu.

Stoker schüttelte den Kopf. »Ach ja. Ein lachhafter, wenn auch tragischer Bootsunfall. Man sollte glauben, dass so ein Mann nicht so dumm ist, in einem wackligen Ruderboot aufzustehen, auch wenn das Wasser nicht tief ist.«

»Was wissen Sie außerdem über ihn?«, fragte Pitt.

»Ehrlich gesagt nichts. Er gehört zu den Leuten, von denen jeder gehört hat, die aber niemand wirklich kennt. Er hat nie ein Regierungsamt ausgeübt, und ich könnte nicht sagen, mit wem er verwandt ist. Tut mir leid. Falls es wichtig ist, kann ich mich erkundigen.«

»Nein, vielen Dank. Vergessen Sie, dass ich den Namen erwähnt habe. – Und das ist nicht so dahingesagt, sondern eine dienstliche Anweisung.«

»Sehr wohl, Sir.« Stoker sah verwirrt drein, begriff aber, dass es Pitt damit ernst war. Er würde der Sache nicht weiter nachgehen.

Als Nächstes rief Pitt die Polizeiwache in der Savile Row an. Sie lag eine gute Viertelstunde Fußmarsch von der Stelle am Serpentine-See entfernt, an der man Sir Johns Leiche gefunden hatte. Dort teilte man ihm höflich mit, zuständig für den Fall sei die Wache der Pavilion Road in Knightsbridge, die etwa gleich weit in der entgegengesetzten Richtung von dem See im Hyde Park entfernt lag. Er dankte und beendete das Gespräch.

Der geschwungene Serpentine-See lag mehr oder weniger in der Mitte des Hyde Park. Der Auftrag der Königin an Pitt war unmissverständlich: äußerste Diskretion. Allerdings würde es alles andere als einfach sein, sich strikt daran zu halten. Da die Mitarbeiter der Abteilung Staatsschutz keine Uniform trugen, sah Pitt mit seinem wirren Haar und seinem Anzug, der nicht so recht zu sitzen schien, obwohl er erstklassig geschnitten war, wie ein beliebiger Endvierziger aus, doch da er sein halbes Leben lang bei der Polizei gewesen war, kannte ihn die Hälfte aller Londoner Polizeibeamten vom Sehen.

Er trat in die Wache und zeigte dem diensthabenden Beamten seine Karte, woran er sich nach wie vor nicht richtig gewöhnt hatte.

»Ich möchte mit dem Leiter der Wache sprechen«, erklärte er. Einen Grund dafür brauchte er in seiner Position nicht anzugeben.

»Selbstverständlich, Sir«, sagte der Beamte mit unüberhörbarer Hochachtung in der Stimme. Nicht überall war der Staatsschutz beliebt, doch hatten alle einen gewissen Respekt vor ihm. Man wusste, dass es da um Staatsgeheimnisse und Gewalttaten ging, um eine mögliche Bedrohung der den meisten Menschen im Lande gemeinsamen Lebensweise, deren Sicherheit sie für gegeben hielten, obwohl es im Lauf der vergangenen Jahrzehnte in ganz Kontinentaleuropa zu Unruhen gekommen war. Man sprach hinter vorgehaltener Hand davon, dass es bald überall zu Veränderungen kommen werde.

»Ich melde Sie sofort an, Sir«, beeilte sich der Mann hinzuzufügen. Wenige Minuten später saß Pitt in Kommissar Gibsons behaglich wirkendem Dienstzimmer. Steckbriefe hingen an den Wänden, auf den Regalen standen und lagen wild durcheinander Gesetzbücher sowie Bände mit Kommentaren, Ausführungsbestimmungen und Dienstanweisungen. »Was kann ich für Sie tun, Commander Pitt?«, erkundigte sich Gibson und bemühte sich, den Ausdruck von Besorgnis auf seinen Zügen durch einen übertrieben freundlichen Ton zu überspielen.

»Ich möchte mir lediglich Gewissheit über einige Einzelheiten verschaffen«, gab Pitt so beiläufig zurück, als handele sich dabei um nichts Besonderes. »Man hat Ihre Leute hinzugezogen, als Sir John Halberd im Serpentine-See gefunden wurde?«

»Ja, Sir«, bestätigte Gibson und biss sich auf die Lippe. »Ein äußerst bedauerlicher Unfall. Normalerweise kommt dort so gut wie nichts vor. Höchstens, dass der eine oder andere nass wird, weil er beim Herumalbern ins Wasser fällt, und sich darüber ärgert.« Er zuckte leicht mit den Achseln. »Häufig sind das junge Männer, die etwas über den Durst getrunken haben. Aber in diesem Fall war das anders. Der Ärmste dürfte aus irgendeinem Grund aufgestanden sein, hat dann wohl das Gleichgewicht verloren, ist im Sturz mit dem Kopf auf das Dollbord geprallt, das Boot ist gekentert, und er ist bewusstlos ins Wasser gefallen und ertrunken. In neunundneunzig von hundert Fällen wäre er bei seinem gewagten Manöver einfach reingefallen und ans Ufer gewatet.« Er schüttelte den Kopf, setzte an, als wolle er noch etwas hinzufügen, unterließ es dann aber.

»Und man hat ihn also am nächsten Morgen im Wasser gefunden?«

»Ja, Sir. Ein junger Mann, der mit seinem Hund im Park unterwegs war, ist an der Unglücksstelle stehen geblieben, aber es war gleich klar, dass er ihm nicht mehr helfen konnte. Ein anderer Passant hat uns dann benachrichtigt. Darf ich fragen, warum Sie sich für den Fall interessieren, Sir?« Gibson hob die Hand, als wolle er seine Krawatte zurechtrücken, ließ sie dann jedoch wieder sinken.

»Wie gesagt, es geht mir nur um einige Einzelheiten«, wiederholte Pitt. »Immerhin war Sir John Halberd eine bedeutende Persönlichkeit. Da möchte man schon die genauen Hintergründe in Erfahrung bringen. Sonst war wohl niemand in der Nähe? Ist bekannt, was er dort am Serpentine-See wollte, mutterseelenallein und in dunkler Nacht? Was hat der Polizeiarzt als Todeszeitpunkt angegeben? Wo und wann hat Halberd das Boot gemietet? Um diese Art von Fragen geht es mir.«

Gibson räusperte sich. »Ich verstehe, Sir. Es sieht ganz so aus, als sei er mit dem Boot, das er wohl vorher gemietet hatte, am späten Abend auf den See hinausgerudert.« Er war unübersehbar besorgt und fragte sich wohl, ob ihm womöglich etwas Wichtiges entgangen war.

»Also nach Einbruch der Dunkelheit?«, fasste Pitt nach.

»Ja, Sir. Nach Ansicht des Polizeiarztes ist er höchstwahrscheinlich kurz vor oder nach zehn Uhr abends ins Wasser gefallen. Weil das Wasser, in dem der Tote ziemlich lange gelegen hat, um diese Jahreszeit noch recht kalt ist, dürfte eine genauere Angabe nicht ohne Weiteres möglich sein.«

Pitt nickte. »Was mag er um zehn Uhr abends in einem Boot da auf dem Serpentine-See gewollt haben? War er übrigens allein oder …«

Gibsons Gesicht errötete leicht vor Unbehagen. »Wenn wir das wüssten, Sir. Wir haben keinen Hinweis auf die Anwesenheit eines anderen Menschen. Sofern er in Begleitung einer jungen Dame gewesen sein sollte, hat sie dafür gesorgt, dass man nichts davon merken konnte.«

»Für ein amouröses Stelldichein dürfte der Ort wohl auch äußerst wenig geeignet sein.«

»Sofern es sich um eine junge Dame von … nun ja …«, setzte Gibson an. Es war klar, was er meinte.

Oder einen jungen Mann, ergänzte Pitt in Gedanken, ohne es auszusprechen, und wechselte das Thema. »Als Sie Halberds Haushalt informiert haben, hat da sein Butler oder Diener etwas darüber gesagt, warum er dort war?«

Gibson wirkte erleichtert. »Nein, Sir. Vermutlich hat er das Haus abends verlassen, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Schließlich konnte er jederzeit kommen und gehen, wie es ihm beliebte und ohne jemandem Rechenschaft darüber abzulegen. Meine Männer haben gesagt, dass die Nachricht sämtliche Hausangestellten tief getroffen hat, und das offenbar keineswegs nur, weil sie damit ihren Arbeitsplatz verloren haben. Allem Anschein nach haben ihn die Leute sehr geschätzt.«

»Ich verstehe.«

»Sir …« Gibson rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her und schien nicht zu wissen, wohin mit seinen Händen.

Pitt wartete.

»Sir … Sollte sich zeigen, dass sich Mr. Halberd … ich meine, Sir John, dort zu einem, wie soll ich sagen, amourösen Stelldichein verabredet hat, bei dem es zu einem Unfall gekommen ist, aber sonst niemand Schaden genommen hat … könnte man da die Sache … nicht auf sich beruhen lassen … und den Fall abschließen?«

»Sofern es sich so verhält, ließe sich nichts dagegen einwenden«, gab ihm Pitt recht. »Legen die Umstände des Falles diesen Schluss nahe?«

»Sieht mir ganz danach aus, Sir.«

»Gibt es nichts, was auf eine Auseinandersetzung, einen Streit, hinweist?«

»Nein, Sir. Wie gesagt dürfte er aufgestanden sein und dabei das Gleichgewicht verloren haben. Unglücklicherweise ist er dann mit dem Kopf auf das Dollbord geprallt, ins Wasser gefallen und ertrunken, weil er das Bewusstsein verloren hatte. Sollte eine junge Dame dabei gewesen sein, hat sie es mit der Angst zu tun bekommen und ist davongelaufen. Kann auch sein, er ist aufgestanden, als er sie kommen sah, umgefallen, wie ich es schon beschrieben habe, und sie ist lieber gleich verschwunden, weil sie keinen Ärger bekommen wollte. Ich denke, wir sollten die Sache auf sich beruhen lassen, Sir.« Seine Äußerungen klangen nicht missbilligend, sondern es lag Mitgefühl für diesen Mann in seiner Stimme, der sich lächerlich gemacht und dafür einen entsetzlichen Preis gezahlt hatte.

Pitt erhob sich langsam. Mit dieser Erklärung dürfte die Königin keinesfalls glücklich sein, aber er brauchte sie ja nicht mit Einzelheiten zu belasten. Zumal es sich dabei ohnehin um nichts als bloße Vermutungen handelte.

»Ich danke Ihnen. Ich hatte mir schon so etwas in der Art gedacht, wollte mir aber Gewissheit verschaffen. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.«

Mit einem Seufzer der Erleichterung gab Gibson zurück: »Ich Ihnen auch, Sir.«

Pitt trat aus der Stille der Wache hinaus auf die Straße, wo Menschen riefen, Pferdehufe klapperten und die Räder von Fuhrwerken lärmend über das holprige Pflaster rollten.

Sah die Lösung wirklich so aus? Ein Unfall, dem man nicht näher nachgehen sollte, um dem guten Ruf eines Ehrenmannes nicht zu schaden? Den Mantel der Nächstenliebe über das Ganze breiten? Die Königin konnte nichts dagegen haben, wenn sich Sir John mit einer Dame seiner eigenen Gesellschaftsschicht getroffen hatte, deren Namen man nicht nannte, um ihren Ruf zu wahren. Aber er musste sicher sein, dass es sich wirklich so verhielt und nicht doch etwas anderes dahintersteckte.

Er beschloss, sich an den ehemaligen stellvertretenden Polizeipräsidenten Cornwallis zu wenden. Ihre Bekanntschaft ging auf die Zeit zurück, als Pitt die Polizeiwache an der Bow Street geleitet hatte. Cornwallis war nicht nur ein angenehmer Vorgesetzter gewesen, Pitt hatte ihn auch als Menschen schätzen gelernt. Da er im Ruhestand war, dürfte er das Haus so früh am Tag noch nicht verlassen haben. Vielleicht konnte Cornwallis ihm sogar etwas mehr über Alan Kendrick sagen. Es war durchaus möglich, dass Halberd bereits mit ihm über das Thema gesprochen, aber keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, der Königin das Ergebnis seiner Erkundigungen mitzuteilen. Wie mochte selbiges ausgesehen haben? Dass Kendrick ehrgeizig und daher bestrebt war, sich den künftigen Monarchen zum Freund zu machen? Damit rechnete sie – mit Menschen dieses Schlages dürfte sie selbst vermutlich mehr als einmal zu tun gehabt haben. Würde sich jemand in ihrer weit über alle anderen herausgehobenen Position nicht immer wieder fragen, was einen Menschen dazu bewog, ihre Nähe zu suchen?

Inzwischen hatte Pitt die Kreuzung zur Hauptstraße erreicht und konnte schon bald eine Droschke anhalten. Als Ziel nannte er dem Kutscher Cornwallis’ Adresse.

Ganz wie vermutet, war Cornwallis zu Hause, schlank wie eh und je. Er freute sich, Pitt zu sehen, und ihm war klar, was ein Besuch zu dieser Stunde bedeutete: Pitt suchte Rat oder Informationen. Nachdem er Cornwallis’ Gattin Isadora begrüßt hatte, die er ebenfalls gut kannte, zogen sich die beiden Männer in das Arbeitszimmer des Hausherrn zurück, wo sie ungestört waren.

Sie nahmen einander gegenüber in bequemen Polstersesseln Platz. Auch wenn Pitt nicht oft dort gewesen war, kam ihm der Raum wegen des bronzenen Modells einer Kanone, des Sextanten und der Gemälde, die Schiffe unter vollen Segeln zeigten, vertraut vor, denn diese Gegenstände hatten früher das Büro des stellvertretenden Polizeipräsidenten geschmückt. Er erkannte sogar einige der Bücher wieder und erinnerte sich, dass Cornwallis gern Gedichte las.

»Nun?«, sagte Cornwallis, der nicht gern viele Worte machte.

In der Droschke hatte sich Pitt überlegt, was er sagen und wie viel er ihm anvertrauen wollte.

»Sir John Halberd«, sagte er knapp. »Haben Sie ihn gekannt?«

Cornwallis schien sich kaum wahrnehmbar anzuspannen. »Ja«, sagte er. »Wir waren miteinander befreundet. Warum fragen Sie?«

»Und was empfinden Sie jetzt?«

Ein Schatten legte sich auf Cornwallis’ Züge. »Hören Sie auf, in mir herumzubohren, Pitt. Worauf wollen Sie hinaus? Der Mann ist bei einem ausgesprochen dummen Unfall umgekommen. Kein Mensch steht bei klarem Verstand in einem Boot mit flachem Boden auf. Lassen Sie den Mann in Frieden ruhen, er ist ja gerade erst begraben worden. Der Polizeiarzt hat gesagt, dass es sich um ein Missgeschick handelte. Warum um alles in der Welt wollen Sie in der Geschichte herumstochern?«

»Ich muss etwas mehr über ihn in Erfahrung bringen«, erläuterte Pitt. »Mir geht es dabei nicht um die näheren Umstände seines Todes.« Sagte er damit die Wahrheit? Er gab nicht gern ausweichende Antworten, schon gar nicht einem Mann wie Cornwallis. »Er hat sich mit bestimmten Erkundigungen beschäftigt. Mehr kann ich Ihnen darüber nicht sagen.«

Cornwallis entspannte sich ein wenig. »Über solche Dinge pflegte er mit mir nicht zu sprechen und auch nicht mit anderen. Was müssen Sie wissen?«, fragte er. Sein aufmerksamer Blick und die reglosen Hände zeigten, dass er nach wie vor misstrauisch war.

»War er ein guter Ermittler? Woher stammte er? Womit hat er sich beschäftigt? Wie war sein Familienhintergrund?«

Nach kurzem Überlegen antwortete ihm Cornwallis: »Landadel, Lincolnshire, glaube ich. Er hat in Cambridge Geschichte studiert und ein gutes Examen gemacht, sogar mit Auszeichnung. Dann ist er gereist. Hauptsächlich in Ägypten, den ganzen Nil aufwärts und weiter bis nach Südafrika. Aber was zum Teufel soll das mit dem Staatsschutz zu tun haben? Er hat sich danach jahrzehntelang ausschließlich hier im Lande aufgehalten.«

»Also ein intelligenter und weitgereister Mann«, fasste Pitt zusammen. »Sie haben mir aber noch nichts über seine Fähigkeiten als Ermittler gesagt.«

»In Bezug worauf?«

»Menschen. Hätte er Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn er über jemanden etwas hätte in Erfahrung bringen wollen?«

»Was für eine Rolle spielt das jetzt noch? Der Ärmste ist tot. Knapp über sechzig. Hätte bestimmt noch an die zwanzig Jahre vor sich gehabt.« Cornwallis’ Stimme stockte. Das zeigte Pitt die Echtheit seiner Empfindungen. Viel mehr würde er wohl kaum über Halberds Wesen herausbekommen. Cornwallis war zur See gefahren und wusste genau, welche Folgen der kleinste Fehler haben konnte. Es war nicht einfach, sich seine Achtung zu erwerben.

Am liebsten hätte Pitt die Sache damit auf sich beruhen lassen, aber das durfte er nicht. »Neigte er dazu, Dinge übertrieben darzustellen?«

»Auf keinen Fall.« Cornwallis richtete sich auf und beugte sich dann ein wenig vor. »Sagen Sie schon, was Sie von mir wollen, Mann Gottes. Hat er für Sie gearbeitet? In dem Fall müsste ich Sie fragen, warum Sie jemanden beschäftigt haben, über den Sie so wenig wussten. Hat Victor Narraway Ihnen etwa nicht eingeschärft, dass man das nicht tut? Ich jedenfalls habe es getan!«

»Zum Zeitpunkt seines Todes war er mit einer Ermittlung beschäftigt«, teilte ihm Pitt mit. Unter Umständen hatte er seine Kompetenzen damit bereits überschritten. »Ich habe den Auftrag, die Sache zu einem Ende zu bringen. Sie würden Ihre und meine Zeit vergeuden, wenn Sie mich nach Einzelheiten fragten. Ich frage also noch einmal: Hätte Halberd Ihrer Ansicht nach Dinge übertrieben dargestellt?«

»Nein. Wenn Sie ihn gekannt hätten, würden Sie keinen Gedanken an diese Frage verschwenden.«

Pitt ließ das kurz auf sich wirken. »Was könnte er Ihrer Ansicht nach allein um zehn Uhr abends in einem Ruderboot auf dem Serpentine-See gewollt haben? Und warum würde ein Mann, der den Nil bereist hat, in einem solchen Boot aufstehen und das Gleichgewicht verlieren?«

Cornwallis saß eine Weile mit bleichem Gesicht und reglos da. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Aber selbst wenn er dort eine Art … Verabredung gehabt hätte – was ich mir nur schwer vorstellen kann –, was zum Teufel sollte das zu bedeuten haben? Lassen Sie den Mann in Frieden ruhen. Wir alle haben unsere … kleinen Schwächen. Ist das denn so wichtig?«

»Nicht, wenn es wirklich ein Unfall war«, erwiderte Pitt, »aber je mehr Sie mir über Halberd sagen, desto weniger halte ich es für wahrscheinlich, dass er so leichtsinnig hätte sein können. Wenn allerdings eine Frau dabei gewesen wäre, die ihrerseits das Gleichgewicht verloren hätte, wäre er vermutlich aufgestanden, um ihr beizustehen. Wenn er dabei ausgeglitten wäre, hätte er mit dem Kopf auf den Bootsrand aufschlagen und das Bewusstsein verlieren können.«

»Aber wenn wirklich eine Frau dabei gewesen sein sollte, warum in drei Teufels Namen hätte sie ihm dann nicht geholfen?«, fragte Cornwallis aufgebracht. »Zumindest hätte sie doch wohl seinen Kopf über Wasser gehalten.«

»Haben Sie eine Vorstellung, mit wem er eventuell dort gewesen sein könnte?«

»Nein. Am ehesten wohl mit einer verheirateten Dame, denn sonst hätten sie sich kaum nachts in einem Ruderboot treffen müssen«, sagte Cornwallis. Bei diesen Worten errötete er. Er hatte Isadora leidenschaftlich geliebt und liebte sie immer noch, doch waren ihm Frauen ganz allgemein ein Rätsel. Er hatte den größten Teil seines Lebens auf See verbracht und vor seiner Zeit als stellvertretender Polizeipräsident als Kapitän zur See ein Schiff der Kriegsmarine befehligt.

Erneut wechselte Pitt das Thema. »Woher stammten Sir Johns Mittel?«

»Soweit ich weiß, hatte er sie von seinen Eltern geerbt«, erklärte Cornwallis, sichtlich erleichtert. »Deren Ländereien in Lincolnshire oder wo die Leute herkommen, waren äußerst ertragreich. Ich meine mich zu erinnern, dass seine Mutter eine beträchtliche Mitgift in die Ehe eingebracht hat. Halberd war der einzige Sohn.«

»War er irgendwann verheiratet?«

»Meines Wissens nicht.« Cornwallis sah Pitt herausfordernd an.

»Womit hat er sich beschäftigt? Wer waren seine Freunde?«

»Wie ich schon gesagt habe, ich war einer von ihnen.« Mit ernster Miene beugte sich Cornwallis erneut vor. »Pitt, er war ein anständiger Mann. Einer der anständigsten, die ich je kennengelernt habe. Schon möglich, dass er Schwächen hatte. Wer hat die nicht? Lassen Sie die Sache doch einfach auf sich beruhen.«

Durfte er das tun? Im Grunde wäre ihm nichts lieber gewesen. Sofern Halberd im Zusammenhang mit einem amourösen Abenteuer schuldlos auf tragische Weise umgekommen war, hatte Cornwallis sicherlich recht. Es wäre ebenso grausam wie sinnlos, nach Einzelheiten im Hintergrund zu suchen, denn trotz aller Sorgfalt bestand die Gefahr, dass die Sache publik wurde. Würde es der Königin genügen, wenn er selbst versuchte, möglichst viel über Alan Kendrick in Erfahrung zu bringen und damit die Aufgabe zu vollenden, die sie Halberd übertragen hatte? Das wäre mit Schwierigkeiten verbunden und würde unter Umständen ergebnislos bleiben. Außerdem müsste er mindestens einen Mann dafür abstellen. Stoker, die Verschwiegenheit in Person, würde sich in idealer Weise dafür eignen, und er hatte auch ein halbes Dutzend anderer Männer, die ohne Weiteres in der Lage wären, an den richtigen Stellen Erkundigungen einzuziehen.

Cornwallis sah ihn abwartend an. Über Frauen mochte er nichts wissen, aber Männer konnte er ausgezeichnet beurteilen. Andernfalls wäre er nie und nimmer in der Lage gewesen, ein Schiff zu führen. Die See verzieh nichts, schon gar nicht, wenn man unter Segeln, ohne die unterstützende Kraft einer Maschine, gegen sie ankämpfte.

»Sie haben ihn also gut gekannt und sind sicher, dass er ein anständiger Mensch war?«, fragte Pitt und beobachtete Cornwallis aufmerksam, um sich nicht die kleinste Regung im Gesicht des Mannes entgehen zu lassen.

Mit dem Anflug eines Lächelns gab Cornwallis zurück: »In jeder Hinsicht.«

Für das Gespräch mit dem nächsten Menschen, den er befragen wollte, musste Pitt allen Mut zusammennehmen. Es wäre viel einfacher gewesen, sich bei Lady Vespasia zu erkundigen, der angeheirateten Großtante von Charlottes jüngerer Schwester Emily. Niemandem auf der Welt außer Charlotte war Pitt mehr zugeneigt. In ihrer Jugend war sie die aufsehenerregendste Schönheit der Londoner Gesellschaft gewesen, aber sie hatte auch – was weit wichtiger war – so manches Mal große Tapferkeit bewiesen und war bisweilen von einer geradezu unbeschreiblichen Aufrichtigkeit. Mit ihrem überlegenen Witz gelang es ihr, jede Gekünsteltheit bloßzustellen. Sie hatte im Laufe ihres Lebens nahezu jeden Menschen kennengelernt, der auf die eine oder andere Weise bedeutend war.

Aber jetzt war sie auf Reisen, woran ihn Charlotte erinnert hatte, und so würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Somerset Carlisle aufzusuchen. Immerhin wusste er, wo er ihn finden konnte, denn er war einer der Unterhausabgeordneten, die ihre Aufgabe ernst nahmen, was sich in den Augen mancher nur schlecht mit seinen voll Leidenschaft vorgetragenen unkonventionellen Ansichten und seinem Humor zu vertragen schien, der bisweilen die Grenzen des guten Geschmacks überschritt.

Erst am späten Nachmittag stieß er in der Nähe des Parlaments auf den Mann, der gerade einen ausgedehnten Spaziergang am Ufer der Themse unternahm. Pitt schritt rasch aus, um ihn anzusprechen, bevor Carlisle eine Gruppe anderer Abgeordneter erreichte. Leicht überrascht blieb Carlisle stehen, als Pitt ihn am Arm fasste. Seinem inzwischen etwas hageren Gesicht, das man nicht im herkömmlichen Sinn als gut aussehend bezeichnen konnte, war anzusehen, dass er viel lachte.

»Ihr Anblick verheißt nichts Gutes«, sagte er mit einem Lächeln, »aber ich gebe gern zu, dass Sie mich nie gelangweilt haben.«

»Vielen Dank«, gab Pitt trocken zurück. »Ich muss unbedingt unter vier Augen mit Ihnen sprechen und ohne dass uns jemand unterbricht.«

Carlisles Miene wirkte mit einem Mal kummervoll. »Ach je! Ich schwöre, dass ich es diesmal nicht war, ganz gleich, um welche Missetat es sich handelt. Oder wollen Sie Informationen von mir? Ach, natürlich – Sie brauchen Informationen. Lady Vespasia schaukelt irgendwo im Mittelmeer herum, und ich hoffe, dass es ihr dort gefällt.« Die beiden waren schon befreundet gewesen, als Pitt Carlisle im Zusammenhang mit dem besonders schauerlichen Fall in der Resurrection Row kennengelernt hatte, bei dem ein längst beerdigtes Mitglied des Hochadels aufrecht sitzend in einer Droschke aufgetaucht war. Es ging dabei, wie schon so oft, um einen Kreuzzug für eine Sache, die Carlisle am Herzen lag. Auch kürzlich hatte er wieder einmal tragische und makabre Elemente miteinander vermengt, um das Augenmerk der Öffentlichkeit auf einen weiteren Fall von Ungerechtigkeit zu lenken.

Pitt war es nie leichtgefallen, sich mit jemandem anzufreunden, aber bei Carlisle wäre das wohl recht interessant gewesen. Der Mann war äußerst verschroben, doch auf seine ganz persönliche Weise geradezu leidenschaftlich moralisch.

»Haben Sie Sir John Halberd gekannt?«, begann Pitt.

Carlisle zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Was für eine Frage! Selbstverständlich. Er wird uns allen fehlen, auch wenn wir nicht wissen, ob uns seine Abwesenheit schmerzt oder die Leere, die er hinterlässt. Warum fragen Sie? Verzeihung, das war eine dumme Frage. Bestimmt ist das alles schrecklich geheim. Auf jeden Fall war er ein anständiger Kerl. Was wollen Sie von mir wissen?«

»Wahrscheinlich alles …«

»Weiter nichts? In dem Fall dürfte ein ruhiges Plätzchen und vielleicht auch ein halbwegs anständiges Essen angebracht sein. Ich kenne da einen kleinen privaten Klub. Ich sag Ihnen, wo er ist. Wie wäre es mit Abendessen – in einem der Separees? Da wird nur besonders verschwiegenes Personal beschäftigt.« Er nahm eine seiner Visitenkarten, schrieb schwungvoll etwas auf die Rückseite und gab sie Pitt. Dieser nahm sie dankend entgegen. Er sah, dass als Zeitpunkt des Treffens acht Uhr angegeben war, und erklärte nickend sein Einverständnis.

Carlisle verabschiedete sich fröhlich winkend und gesellte sich so selbstverständlich zu den anderen Unterhausabgeordneten, als habe ihn ein Fremder nach dem Weg gefragt.

Pitt machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in Richtung Westminster-Brücke.

Den Nachmittag verbrachte Pitt damit, dass er außer dem Bericht des zuständigen Beamten über die Ursache von Halberds Tod mehrere Nachrufe las, in denen sich Menschen, die ihn gekannt hatten, über dies und jenes aus seinem Leben äußerten. Es verstand sich von selbst, dass sie darin über den Verstorbenen so gut wie ausschließlich Schmeichelhaftes von sich gaben. Das verlangte der Anstand und war so üblich. Aber was seine Herkunft, seine Ausbildung, seine Forschungsreisen durch Ägypten und Afrika betraf, stimmten alle überein, und ebenso einig waren sie sich darüber, dass er beständig zum Wohl seiner Landsleute gewirkt hatte, in aller Stille und ohne viel Aufhebens davon zu machen. Pitt hatte nichts anderes erwartet; er las die Nachrufe ausschließlich, um sich zu vergewissern, dass ihm nichts entgangen war, was sich später unter Umständen als wichtig herausstellen konnte.

Er traf genau fünf Minuten nach der von Carlisle angegebenen Zeit im Klub ein. Ihm lag nichts daran, damit Aufmerksamkeit zu erregen, dass er als Erster dort ankam und erklären musste, wer er war. Narraway hätte so etwas nie nötig gehabt; er war von Geburt an Mitglied der etablierten Gesellschaft gewesen und hatte niemandem je etwas beweisen müssen.

Carlisle wartete im Vestibül auf ihn. Pitt war nicht sicher, ob aus Höflichkeit oder Einfühlungsvermögen. In gewisser Hinsicht war auch Carlisle ein Außenseiter – im Unterschied zu ihm selbst allerdings aus freier Entscheidung. Er hätte sich jederzeit wie alle anderen verhalten können, wenn er nur gewollt hätte, und wäre dann wahrscheinlich in hohe Ämter aufgestiegen.

Er führte Pitt durch einen langen Gang mit einer hohen Decke, von dem getäfelte Eichentüren zu Garderoben, Arbeitsräumen und kleinen Sitzungsräumen für verschwiegene Besprechungen führten. Pitt hatte keine Zeit, sich die zahlreichen Porträts an den Wänden näher anzusehen – der Kleidung der Dargestellten nach zu urteilen, reichten sie mindestens ein volles Jahrhundert zurück.

Ein Stück hinter dem Eingang zum großen Speisesaal blieb Carlisle stehen, öffnete eine Tür, bat Pitt in den Raum, folgte ihm und ließ die Tür als Hinweis für die Bedienung ein wenig offen stehen.

Pitt setzte sich, bemüht, den Eindruck zu erwecken, als sei er nicht zum ersten Mal dort. Er sah sich um, betrachtete die gewaltige geschnitzte Kaminumrandung, die gleichfalls aus Eiche bestand, die Stühle mit den hohen Rückenlehnen und die Tischplatte, die so auf Hochglanz poliert war, dass man sich darin spiegeln konnte. Dann kam der Klubdiener mit der Weinkarte. Das Essen hatte Carlisle im Voraus bestellt.

Sobald der Mann den Raum verlassen und die Tür so gut wie unhörbar hinter sich geschlossen hatte, begann Pitt zu sprechen. Er hatte sich überlegt, wie viel er Carlisle anzuvertrauen bereit war.

»Ich habe Grund zu der Annahme, dass Halberd kurz vor seinem Tod mit Nachforschungen über Alan Kendrick beschäftigt war«, begann er. »Aus bestimmten Gründen muss ich die Sache zu Ende führen.«

»Ach, tatsächlich?« Carlisle verhehlte weder sein Interesse noch seine Überraschung. »Da Sie kaum etwas über den Mann zu wissen scheinen, nehme ich nicht an, dass er für Sie tätig war. Doch Sie dürfen mir vermutlich nicht sagen, in wessen Auftrag Sie handeln? Nein, das dachte ich mir schon. Vielleicht ist es auch besser, wenn ich es nicht weiß.«

»Hat er für viele Leute Erkundigungen eingezogen?«, fragte Pitt.

»Er wusste eine Menge«, gab Carlisle zurück, darauf bedacht, nicht zu viel zu sagen. »Mir ist nicht bekannt, wie viel er davon bewusst gesammelt und wie viel er dank seiner Wissbegier zufällig aufgeschnappt und sich mit seinem phänomenalen Gedächtnis gemerkt hat. Ihm sind Zusammenhänge zwischen Dingen aufgefallen, auf die viele andere nicht geachtet haben. Er war sozusagen von Natur aus ein Spezialist für das menschliche Verhalten und verfügte, soweit ich von verschiedenen Seiten gehört habe, über ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen. Aber was er von sich gab, war allgemeiner Natur – über alles, was einzelne Menschen betraf, schwieg er eisern.«

Pitt dachte eine Weile über das nach, was er gerade gehört hatte. »Wenn man also etwas über jemanden wissen wollte, wäre Halberd derjenige gewesen, den man fragen musste«, folgerte er.

»Vor allem dann, wenn es um Informationen ging, an die nicht leicht heranzukommen war«, bestätigte Carlisle, wobei er Pitt unverwandt ansah. »Haben Sie eine Vorstellung davon, an welcher Art von Informationen Ihrem … Auftraggeber liegt? Vermutlich an etwas, was Kendrick nicht von sich aus preisgeben würde?«

Pitt wich einer direkten Antwort aus. Wahrscheinlich würde der kleinste Hinweis genügen, um Carlisle auf die richtige Fährte zu setzen, und darauf wollte er es nicht ankommen lassen. »Mit wem pflegt Kendrick Umgang? Woher hat er sein Geld?«, fuhr er fort.

Carlisle nahm einen weiteren Bissen von der köstlichen Pastete und schluckte ihn herunter, bevor er antwortete. »Woher sein Geld stammt, ahne ich nicht, aber er scheint eine ganze Menge davon zu haben. Er besitzt eine Reihe erstklassiger Pferde und unterhält Rennställe in der Grafschaft Cambridgeshire, wo er sich ziemlich viel aufhält. Es heißt, dass er den einen oder anderen möglichen Derby-Sieger trainiert. Das geht ganz schön ins Geld.«

Pitt beschloss, es ihm leicht zu machen. »Dann hat er wohl in erster Linie Umgang mit Leuten, die sich für Galopprennen interessieren?«

»Sie sagen es. Und für Pferdewetten. Wenn er in London ist, lässt er es sich gern gutgehen. Die Rennställe sind für ihn eine Art Liebhaberei. Von Pferden versteht er mehr als die meisten Menschen, selbst als solche in Rennsportkreisen.«

»Und wer sind seine Freunde?«

»In erster Linie wäre da der Kronprinz, dann aber auch Algernon Naismith-Jones, ebenfalls Pferdenarr, der außerdem viel wettet. Sympathischer Bursche, aber in Gelddingen nicht unbedingt zuverlässig. Er weiß nie so recht, wer seine Gläubiger sind, und das macht ihn unberechenbar. Scheußliche Sache, anderen Geld zu schulden, das man nicht hat, auch wenn es vielleicht nur vorläufig ist.«

Pitt hatte den Namen des Mannes im Zusammenhang mit dem Freundeskreis des Kronprinzen schon gehört und wusste, dass man ihn zwar schätzte, ihm aber nicht so recht über den Weg traute.

»Sonst noch jemand?«

»Walter Whyte.« Es sah so aus, als würde Carlisle abwägen, was er weiter sagen sollte.

Während Pitt wartete, aß er den Rest seiner Pastete und nahm einen Schluck von dem schweren Rotwein, den Carlisle dazu gewählt hatte. Durch die geschlossene Tür drang nicht das leiseste Geräusch herein.

»Anständiger Kerl«, fuhr Carlisle fort. »Hat Lady Felicia Neville geheiratet – jetzt heißt sie natürlich Lady Felicia Whyte. Sie konnte Halberd nicht ausstehen, keine Ahnung, warum. Dahinter steckt irgendeine Geschichte, aber ich habe nichts Genaues darüber gehört.«

»Dann raten Sie einfach mal!«, empfahl ihm Pitt mit einem leichten Lächeln.

Carlisle hob die Brauen. »Das ist ja unglaublich!«, sagte er in zufriedenem Ton. »Ihr gesellschaftlicher Aufstieg hat Ihrem Humor ausgesprochen gutgetan, oder besser gesagt, Ihrem Sinn für das Absurde. Vermutlich ging es um eine frühere Romanze, die schlecht ausgegangen ist. Lady Felicia war eine ausgesprochene Schönheit, was inzwischen nicht mehr der Fall ist. Die Zeit spielt einst liebreizenden Menschen mitunter grausame Streiche. Delia Kendrick sieht zehn Jahre jünger aus als sie, aber ich glaube, die beiden sind gleichaltrig.«

»Und sie kennen einander?«

»Was denn sonst?«, bestätigte Carlisle. »In der Londoner Gesellschaft kennt jeder jeden, und mindestens die Hälfte der Leute sind obendrein noch mehr oder weniger miteinander verwandt. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass nie etwas gänzlich in Vergessenheit gerät, sei es gut oder schlecht. Es gibt immer eine Cousine oder eine Schwägerin, die dafür sorgt, dass die Erinnerung an alles bis ins niederträchtigste Detail wachgehalten wird. Und Halberd kannte Hunderte von Leuten, unter ihnen selbstverständlich auch Naismith-Jones und Whyte.«

»Hat er von seinem Wissen Gebrauch gemacht?«

Carlisle schürzte die Lippen. »Meines Wissens sonderbarerweise nicht. Andererseits ist derlei auch nicht nötig, wenn den Leuten bekannt ist, dass man gewisse Dinge über sie weiß. Das funktioniert dann von selbst.«

Der nächste Gang wurde aufgetragen: Lammkarree mit Frühlingsgemüse. Pitt aß es mit weniger Genuss, als diese Köstlichkeit verdient gehabt hätte. Alles, was Carlisle gesagt hatte, wies darauf hin, dass es jemanden gegeben haben könnte, dem daran lag, dass Halberd für immer verstummte.

»Sagen Sie mir noch mehr über Halberd«, bat er nach einigen Minuten des Schweigens. »Woran hat er geglaubt? Woran hing sein Herz, was hat er verabscheut? Er scheint eine Unmenge von Menschen gekannt zu haben, aber wen konnte er gut leiden? Was hat er gelesen? Welche Musik hat er gehört? Welche politische Richtung hat er unterstützt? Oder, vielleicht noch wichtiger, welche hat er bekämpft? Er hat nie geheiratet – warum nicht? Die meisten Männer heiraten, und er dürfte ja wohl reichlich Gelegenheit dazu gehabt haben.«

»Sie wollen wissen, woran er geglaubt hat?«, sagte Carlisle nachdenklich. »Ist Ihnen eigentlich bewusst, woran Sie selbst glauben, Pitt?« Er schob sich ein weiteres Stück Lammfleisch in den Mund, als nähme er an, dass Pitt für die Antwort eine gewisse Zeit des Nachdenkens brauchen würde – wenn er es nicht sogar vorzog, der Frage auszuweichen.