Letzte Wettermeldung und andere Geschichten - Stefan Kloss - E-Book

Letzte Wettermeldung und andere Geschichten E-Book

Stefan Kloss

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Beschreibung

13 Geschichten, die sowohl anregend nachdenklich als auch lustvoll böse das Leben hinterfragen. Sie behandeln einzelne Themen (Zeit, Glück, Glaube, Mitgefühl, Umwelt) und bilden zusammen ein Mosaik menschlichen Seins.

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„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. (...) und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“

„Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

Franz Kafka, Kleine Fabel (1920)

Inhalt

Durch die Zeit

Der gute Mensch

Der Andere

Glücksuche

Glaubenszweifel

Der Dämon

Loslassen

Hirngespinst

Wissbegierde

Angezählt

Seelenverwandte

Verwirrt

Letzte Wettermeldung

Anhang

Durch die Zeit

Sonntag, 02.08.1914

Was für ein Jubel! Überall die gleiche Begeisterung! Die ganze Stadt befindet sich in fieberhafter Aufbruchstimmung und ist angesteckt vom großen Gemeinschaftsgefühl. Noch vor fünf Wochen hätte das niemand für möglich gehalten. Aber dann wurde der österreichische Thronfolger in Sarajevo erschossen. Die Bündnistreue versetzte auch das Deutsche Reich in Unruhe. Nach tagelanger Ungewissheit erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, worauf Russland an der Seite Serbiens mobil machte. Und nun hat Kaiser Wilhelm Russland den Krieg erklärt. Allerorts verkünden angeschlagene Zettel und Extrablätter die deutsche Mobilmachung.

Die Berliner verstehen sich an diesem milden Sommertag selbst nicht mehr: Niemand möchte den Krieg, aber jeder will dabei sein und zum Kämpfen nicht zu spät kommen. An den Kasernen drängen sich Reservisten und Freiwillige. Stunden später erscheinen sie in feldgrauer Uniform und marschieren im Gleichschritt durch die Stadt. Sie singen die Kaiserhymne und das Deutschlandlied. Ihre Gewehrläufe und ihre Pickelhauben sind mit Blumen behangen. Die Bevölkerung säumt die Straßen und jubelt ihnen zu. Hurra- und Hochrufe vereinen Arm und Reich, Links und Rechts, Alt und Jung.

Alle sind berauscht vom Freudentaumel. Nur die kleine Gertrud ist verdrossen und bekümmert. Dabei hatte sie sich so sehr auf diesen Tag gefreut. Denn heute, am 2. August, feiert sie ihren 6. Geburtstag. Doch keiner will mit ihr feiern. Niemand beachtet sie. Alles dreht sich um den Krieg. Zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter begleitet sie ihren Vater auf dem Weg zur Kaserne. Er ist spät dran und in Sorge, den Feldzug zu verpassen, so dass er mit großen Schritten vorauseilt und Gertrud an der Hand ihrer Mutter Mühe hat, dem Vater durch das Gedränge zu folgen. Ihr zwölfjähriger Bruder Walter läuft an der Seite des Vaters. Er würde am liebsten selbst mit in den Krieg ziehen und hofft insgeheim, dass man ihn an der Kaserne vielleicht doch noch mit dem Vater einberuft.

„Wer ist für uns gefährlicher: der Franzose oder der Russe?“, will Walter wissen.

„Wirklich gefährlich sind sie nur gemeinsam“, erklärt ihm der Vater. „Deshalb müssen wir schnell sein, um einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden: Erst ein rascher Einmarsch in Frankreich und dann alle Mann gegen Russland!“

„Du musst für mich einen Franzosen und einen Russen schießen!“, fordert Walter seinen Vater auf.

„Sag nicht so etwas!“, erwidert dieser. „Ich werde schießen, um unser Vaterland zu verteidigen, nicht aber, um Menschen zu töten.“

„Und wenn du keine Wahl hast?“

„Man hat immer eine Wahl“, gibt sich der Vater aufgeklärt.

„Aber wir haben doch jetzt keine Wahl zwischen Krieg und Frieden, oder?“

„Nein, jetzt müssen wir uns wehren. Die anderen verstehen nur die Sprache der Stärke.“

Als sie sich der Kaserne nähern, wird es so voll, dass sie sich gezwungen sehen, voneinander Abschied zu nehmen.

Gertruds Mutter kommen die Tränen. „Wann wirst du wiederkommen?“ fragt sie ihren Mann.

„Mach dir keine Sorgen! Spätestens Weihnachten ist der Krieg gewonnen, und ich bin wieder zu Hause.“

Sie reicht ihm ein kleines Bündel. „Hier, ich habe dir noch Kuchen eingepackt.“

Gertrud schaut empört zu ihrer Mutter. Sie ahnt, dass es sich dabei um ihren Geburtstagskuchen handelt, den ihre Mutter gestern für sie gebacken hat. Ihr Vater sieht ihr verdrossenes Gesicht, weiß es aber nicht zu deuten. Er hebt sie zu sich hoch und gibt ihr zum Abschied einen Kuss. „Na, mein kleiner Engel. Du brauchst nicht traurig zu sein. Ich komme bald wieder.“

Ihr fehlen die Worte. Sie kann ihm nicht sagen, warum sie mehr verstimmt als traurig ist. Natürlich gönnt sie ihm den Kuchen. Sie ärgert sich nur, dass er nicht weiß, dass es ihr Geburtstagkuchen ist.

Es stört sie, dass ihr Vater Soldat werden will und ihm der Krieg wichtiger als seine Tochter ist. Bisher fanden nur blöde Jungs wie ihr Bruder Kriegsspiele gut. Jetzt sind anscheinend alle blöd geworden.

Während auf dem Rückweg ihr Bruder und ihre Mutter sich vollends vom Rausch des Momentes überwältigen lassen, bewirkt er bei Gertrud das Gegenteil. Sie fühlt sich einsam und unverstanden und hat das Gefühl nicht dazuzugehören. Die Freude und die Ängste der Massen werden sie fortan misstrauisch machen.

Der Moment des Glücks soll sich bei ihr erst einstellen, wenn er vorbei ist. Denn nur was vorbei ist, kann ihr keiner mehr nehmen. Alles, was noch andauert oder bevorsteht, ist nicht sicher.

Montag, 12.11.1923

Reichspräsident Friedrich Ebert hat vor ein paar Tagen den Ausnahmezustand über die Republik verhängt. Grund dafür sind politische Unruhen. Aber die eigentliche Ursache ist der wirtschaftliche Ausnahmezustand, der von Tag zu Tag absonderlicher wird. Überall haben Menschen es eilig, Unmengen von Geld auszugeben. Geschäftsleute karren ihre Einnahmen in Schubkarren zur Bank. Arbeiter stürmen mit den frisch erhaltenen Lohntüten in die Läden. Mütter befördern in ihren Kinderwagen Papiergeld, und Kinder benutzen Geldbündel als Bauklötze. Die fünfzehnjährige Gertrud schaut sich das muntere Treiben mit Verwunderung an. Dabei ist auch sie betroffen. Sie steht mit einem Korb voller Papiergeld in der Einkaufsschlange vor einer Bäckerei.

Am Schaufenster ist der Laib Brot mit 5,6 Milliarden Mark ausgeschildert. Eine aberwitzige Summe, denkt Gertrud. Sie hofft, dass der Preis stabil bleibt, bis sie an der Reihe ist. Sie müsste ungefähr 6 Milliarden Papiermark haben. So genau weiß sie es nicht. Die Geldscheine werden nicht mehr gezählt, sondern gewogen. Vor einem Monat lag der Brotpreis noch bei 14 Millionen Mark. Vor drei Monaten bei 2200 Mark. Und vor einem halben Jahr bei 474 Mark. Hyperinflation nennt man das. Wer sein Geld nicht sofort ausgibt, der hat keins mehr, so schnell ist der Werteverlust.

Schuld daran ist der Krieg, auf den sich alle so gefreut hatten. Er kostete nicht nur viele Menschenleben, sondern auch enorme Geldmengen. Die Reserven des alten Kaiserreichs deckten gerade mal die Mobilmachung. Der Krieg dauerte aber über vier Jahre. Hohe Staatsschulden durch Kriegsanleihen, Reparationszahlungen und der Wiederaufbau brachten die Regierung dazu, immer mehr Geld in Umlauf zu bringen, um den ständig wachsenden Forderungen nachzukommen. Doch wenn die immer höhere Anzahl von Banknoten keinen echten Gegenwert hat, dann sind die Scheine das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurden.

„Das dauert ja ewig“, nörgelt die kräftige Frau hinter ihr. Ungeduldig drückt sie sich so weit nach vorn, dass Gertrud ebenso nach vorn stolpert und ihren Vordermann anstößt.

Dieser dreht sich um und wirkt im ersten Moment verärgert. Ein junger Mann mit blasser Haut und dunklen Augen, kaum älter und kaum größer als sie. Schnell erfasst er die Lage und macht die Frau hinter Gertrud als Unruhestifterin ausfindig. Er spricht sie direkt an: „Vom Drängeln geht es auch nicht schneller.“

„Du hast mir gar nichts zu sagen!“, erwidert sie angriffslustig und scheinbar froh, jemanden gefunden zu haben, bei dem sie ihren Unmut entladen kann.

Doch der junge Mann entzieht sich ihrem Streitbedürfnis und wechselt betont höflich auf eine menschliche Ebene: „Ja, gnädige Frau, das habe ich auch nicht. Aber die Stimme Ihrer Vernunft wird mir sicher Recht geben!“

Die Frau weiß nicht, wie ihr geschieht, und verstummt sofort, während Gertrud ihrem Vordermann ein anerkennendes Lächeln zuwirft. Er lächelt zurück und dreht sich wieder um.

Gertrud ist von ihm angetan: Endlich einmal jemand mit feinem Gespür für seine Umgebung - der geborene Diplomat. Ein bisschen sieht er auch so aus. Er trägt einen abgetragenen grauen Anzug und eine Baskenmütze. In seiner linken Hand hält er eine dunkle Aktentasche. Mit der rechten Hand bemüht er sich die zu große Tageszeitung so zu halten, dass er darin lesen kann.

„Totgeglaubter Soldat nach Jahren heimgekehrt“, kann sie die kleine Schlagzeile auf der Rückseite lesen. Das könnte ihr Vater sein, denkt sie, ohne daran zu glauben. Neun Jahre ist jener Sonntag her, als ihr Vater in den Krieg zog, mit dem Versprechen, bald heimzukehren. Er kam nie zurück.

Damals endete Gertruds Kindheit. Denn schon bald nach Kriegsbeginn sah sich ihre Mutter gezwungen, in der Maschinenfabrik zu arbeiten, 60 Stunden pro Woche. Für Kinder und Haushalt blieb da wenig Zeit übrig, und auch das Geld reichte kaum zum Überleben. Walter, der sechs Jahre ältere Bruder, verkaufte anfangs Tageszeitungen. Später brach er die Schule ab und begann ebenfalls in der Fabrik zu arbeiten. Gertrud musste früh lernen, selbstständig und allein zu sein. Sie beendete letztes Jahr die Volksschule und hat seitdem ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden. Die Zeiten sind schlecht für Arbeits- und Ausbildungsstellen. Gelegentlich macht sie einfache Hilfsarbeiten. Zuhause führt sie den Haushalt, den sie schon während ihrer Schulzeit übernommen hatte. Da ist viel Improvisieren angesagt, denn das Geld reicht nicht einmal aus, um sich satt zu essen. Morgens eine Scheibe Brot, mittags eine Kartoffelspeise und abends eine Suppe mit dem, was da ist. Das Brot lässt sie eine Woche im Keller trocknen, da es abgestanden besser sättigt.

Mittlerweile steht Gertrud an der offenen Tür zur Bäckerei. Es riecht nach Gebackenem. Das damit verbundene Begehren, in ein herzhaft frisches Brot zu beißen, lässt sie nicht an sich heran. Tatsächlich muss sie froh sein, überhaupt noch eins zu bekommen, denn die Laibe im Regal werden immer weniger. Sie zählt die schwindenden Brote und Personen vor ihr. Wenn jedem eins zuteil wird, rechnet sie sich aus, dann müsste sie das letzte erhalten. Und so geschieht es. Das Glück winkt ihr dreifach zu: Sie erhält ein Brot; es ist das letzte; und ihr Geld reicht aus, um es zu bezahlen. Sie wagt es kaum, sich zu freuen. So viel Glück erscheint ihr verdächtig.

„Es gibt nichts mehr. Kommen Sie bitte morgen wieder!“, hört sie die Verkäuferin zu den verbliebenen Kunden sagen.

Gertrud dreht sich um und blickt in die noch lange Warteschlange. Unmut macht sich breit. Überall wird gestöhnt, geschimpft und geflucht. Sie senkt ihren Kopf und bemüht sich, jeden Anschein von persönlicher Freude zu verbergen. Gleichwohl hat sie das Gefühl, dass zahlreiche böse Blicke auf sie fallen. Gerade in dem Moment, als sie das Brot in ihrem Korb verstauen will, greift die Dränglerin von eben danach und reißt es ihr aus der Hand.

Gertrud versucht, der Frau das Brot wieder abzunehmen. Doch ihr Angriff ist viel zu zaghaft, um etwas zu bewirken. Das Mädchen in ihr hofft, dass allein aufgrund ihrer Protestes die Frau ein Einsehen hat und ihr das Brot wieder zurückgibt. Aber die kräftige Frau, die ihre Mutter sein könnte, denkt gar nicht daran, das einmal eroberte Brot wieder herzugeben. Im Gegenteil, sie schlägt so heftig auf Gertrud ein, dass diese blutend zu Boden stürzt.

Um sie herum bricht das Chaos aus. Andere Personen versuchen der Brotdiebin den Laib zu entwenden. Die Verkäuferin, die zur Ruhe mahnt, wird dafür drangsaliert. Wütende Kunden beginnen die Einrichtung zu zerstören.

Mitten im schlimmsten Gedränge greifen zwei rettende Hände nach Gertrud und richten sie auf. Sie gehören zum jungen Mann, der eben vor ihr stand und anscheinend zurückgekommen ist, um ihr zu helfen. Er führt sie nach draußen – weit genug vom Geschehen entfernt, um sich ohne Gefahr auf eine flache Mauer setzen zu können. Hier reicht er ihr ein Taschentuch, das sie vor ihrer blutenden Nase halten kann.

„Wie heißt du?“, fragt er sie.

„Gertrud“, antwortet sie ihm. „Und du?“

„Friedrich“.

Dienstag, 28.02.1933

Es ist Nachmittag. Die 24-jährige Gertrud steht mit ihrem Mann Friedrich und der zweijährigen Tochter Helga in sicherer Entfernung vor den Grundmauern des abgebrannten Reichstags.

Der Tatort ist abgesperrt. Noch immer kommt Rauch aus der Ruine. Die Luft riecht nach Verbranntem. Wie die übrigen Passanten schauen sie mit erstarrten Blicken auf die Trümmer des Parlamentes.

Jemand hat in der vergangenen Nacht das Gebäude in Brand gesetzt. Als Täter wurde noch vor Ort ein junger niederländischer Maurer festgenommen, der die Tat auch gestanden hat. Das Regierungskabinett unter Reichskanzler Hitler will im politischen Gegner, der kommunistischen Partei, die Hintermänner des Brandstifters sehen und erlässt umgehend die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, wonach Polizei und SA jederzeit und ohne Vorbehalt Verhaftungen vornehmen können.

Friedrich schüttelt den Kopf. „Was für ein Zufall! Da ist Hitler noch keinen Monat im Amt und schon steht der Reichstag in Flammen.“

„Willst du damit sagen, dass es kein Zufall war?“, fragt Gertrud.

„Nun, es gibt einen weiteren Zufall“, erklärt Friedrich. „Am Sonntag sind Reichstagswahlen. Und fünf Tage vorher werden die Kommunisten als Täter ausgerufen.“

Gertrud geht auf die Gedankenfährte ihres Mannes ein: „Wenn aber die Nationalsozialisten selbst den Brand gelegt hätten, um den Kommunisten die Schuld zu geben, warum haben sie dann nicht die Gelegenheit genutzt, um entsprechende Beweise zu hinterlegen?“

„Die werden sie schon noch nachliefern.“

„Und warum hat man diesen Niederländer als Täter gefasst?“

„Gute Frage. Was meinst du?“

„Er war es vielleicht wirklich. Und die Regierung nutzt bloß die Gunst der Stunde, um die Opposition auszuschalten.“

„Es gab aber mehrere Brandherde. Deutet das nicht auf mehrere Brandstifter?“

„Er kann sie hintereinander selbst gezündet haben.“

„Du hast auch immer eine Gegenantwort“, lächelt Friedrich Gertrud an und gibt ihr einen Kuss. „Ich liebe deine Bedenken und deine Klugheit. Dann halte mal etwas Gutes dagegen, wenn ich behaupte, dass sich die Demokratie in Deutschland selbst abgewählt hat und nun in Rauch aufgegangen ist.“

Gertrud fühlt sich für einen Moment überfordert und denkt laut nach. „Ich kann das Geschehene nicht ungeschehen machen und will es auch nicht schönreden. Aber ich kann dich daran erinnern, wie wir uns in der Bäckerei kennen gelernt haben. Mich musste erst eine Frau bedrängen und schlagen, damit du in mein Leben tratst.“

Gertruds Wechsel von der politischen zur persönlichen Ebene bringt Friedrich ins Grübeln. „Du willst sagen, dass wir das Gute ohne das Schlechte nicht haben können. Da bleibt die Frage, welchen Preis wir für das Gute bereit zu zahlen sind.“

Tatsächlich ist Friedrich in besonderer Weise betroffen, weil er politisch aktiv ist. Er arbeitet in einer Kanzlei, die sich für die Rechte von sozial Schwachen einsetzt. Zudem ist er Mitglied bei den Sozialdemokraten. Eigentlich wollte er an diesem Nachmittag Wahlplakate kleben. Aber die Ereignisse des Tages haben ihn ausgebremst. Er muss sein Leben überdenken. Am wichtigsten sind ihm die beiden Menschen, die neben ihm stehen.

Dem Mädchen wird es langweilig an der Hand der Mutter. Es greift mit der freien Hand nach einem Schneehaufen am Rande des Bürgersteigs. Der Schnee liegt da aber schon seit Tagen und hat sich längst in einen schmutzigen Eisklumpen verwandelt, der nun auch noch mit Ruß bedeckt ist.

„Fass’ das nicht an, Helga!“, mahnt Gertrud ihre Tochter und zieht sie zurück. „Hier machst du dich nur schmutzig.“

„Seltsam, dass der Schnee nach dem Brand nicht geschmolzen ist“, wundert sich Friedrich.

„Er war außer Reichweite“, sagt Gertrud.

„Außer Reichweite“, plappert Helga nach.

Gertrud und Friedrich müssen lachen und gehen mit ihrer Tochter nach Hause. Unterwegs begegnen ihnen auffällig viele SA-Männer. Minister Göring hat sie erst vor fünf Tagen zu Hilfspolizisten ernannt.

Als sie beim Abendessen sitzen, klopft es heftig an der Wohnungstür.

„Immer mit der Ruhe!“, stöhnt Friedrich und öffnet die Tür.

Vor ihm steht Gertruds Bruder Walter. Er trägt eine SA-Uniform mit Braunhemd, Schaftmütze und der Kampfbinde mit dem Hakenkreuz am linken Arm.

„Wie siehst du denn aus?“, spottet Friedrich über seinen Schwager.

„Das spielt jetzt keine Rolle“, erwidert Walter außer Atem. „Du musst sofort verschwinden. Dein Name steht auf einer Verhaftungsliste.“

„Machst du Witze? Ich bin ein unbescholtener Bürger.“

„Du bist Sozialdemokrat“, bringt Walter die Anklage mit einem Wort auf den Punkt.

Friedrich erkennt den Ernst der Lage nicht und räsoniert: „Genau deswegen bin ich unbescholten. Die wahren Feinde der Republik sind die Kommunisten und die Nationalsozialisten.“

„Hör mit deinem demokratischen Geschwafel auf!“, fällt ihm Walter ins Wort. „Ab jetzt geht es nicht mehr um Meinungen und Minderheitenrechte, sondern um das Wohl des deutschen Volkes.“

„Ach, und zum Wohl des deutschen Volkes soll ich verhaftet werden?“

„Du hoffentlich nicht, aber die anderen Volksfeinde.“

„Wen meinst du?“

„All die, denen es auf Kosten des Volkes gut geht: Juden, Intellektuelle, Kommunisten, Demokraten.“

„Was für ein Unsinn! Schau mich an: Ich bin ein einfacher Mann aus dem Volk und kämpfe als Sozialdemokrat für das einfache Volk.“

„Wirf mal einen Blick auf die Wirklichkeit! Die Menschen haben keine Arbeit, doch ihre gewählten Vertreter tun seit Jahren nichts, als sich mit sich selbst zu beschäftigen. Neun Reichstagswahlen und zwanzig Kabinettswechsel, das ist die Bilanz von vierzehn Jahren Republik. Es ist gut, dass die Quasselbude abgebrannt ist.

Das Land braucht endlich wieder eine Führung. Es braucht Ordnung und Stärke.“

Friedrich traut seinen Ohren nicht. „Du musst dir mal selbst zuhören! Wenn du nicht der Bruder meiner Frau wärst, würde ich dich zum Teufel schicken.“

Walter droht zurück: „Wenn du nicht der Mann meiner Schwester wärst, würde ich dich vom Teufel holen lassen.“

„Hört sofort auf!“, geht Gertrud dazwischen: „Walter, wie viel Zeit bleibt uns, bis sie Friedrich in Haft nehmen?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht ein paar Stunden. Wenn du schlau bist, dann nimmst du meinen Rat an“, wendet sich Walter Friedrich zu. Er verabschiedet sich von Gertrud und verschwindet so schnell, wie er gekommen war.

Friedrich steht bewegungslos an der Wohnungstür. Gertrud geht zu ihm und umarmt ihn. „Mein Bruder hat recht. Du musst sofort hier weg!“

„Wo soll ich denn hin?“

„Egal. Versteck dich für den Moment und dann sehen wir weiter!“

„Das ist doch alles absurd! Wenn die wirklich jemand wie mich verhaften, dann ist niemand mehr sicher.“

„Das ist auch niemand.“

„Was?“

„Sicher.“

Gertrud meint damit nicht nur die gegenwärtige Lage, sondern ihre Erfahrung mit der Unsicherheit des Lebens als solche: Alles kann einem jederzeit genommen werden. Nur was vergangen ist, kann einem niemand mehr nehmen. Aber darüber nachzudenken, ist jetzt müßig. Sie dürfen keine Zeit verlieren.

Plötzlich klopft es wieder an der Tür.

„Da, hörst du?“, redet Friedrich drauflos. „Dein Bruder kommt zurück, um sich für den schlechten Scherz zu entschuldigen.“

Er öffnet die Tür, noch bevor ihm Gertrud Einhalt gebieten kann.

Vier uniformierte SA-Männer drängen sofort in die Wohnung.

„Spreche ich mit Friedrich Karbach?“, ergreift einer von ihnen das Wort.

„Ja.“

„Aufgrund der Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat sind Sie verhaftet.“

Mittwoch, 05.01.1949

Seit einem halben Jahr haben sowjetische Grenzposten alle Zufahrtswege von den westlichen Besatzungszonen nach Berlin gesperrt. Kein Lastwagen, kein Zug und kein Schiff kann die Stadt mehr mit Nahrung, Medizin, Kohle und sonstigen Gütern beliefern. Zusätzlich wurde die Hauptstromversorgung abgeschaltet. Westberlin ist eingekesselt und zu einer Insel in der sowjetisch besetzten Zone geworden. Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hat mit der Blockade der Kalte Krieg begonnen.

Die 40-jährige Gertrud Karbach ist mit ihrer 17-jährigen Tochter Helga auf dem Heimweg. Sie gehen schnell, um das letzte Tageslicht zu nutzen. In diesen frühen Januartagen ist es nur noch kalt und dunkel, drinnen wie draußen. Die privaten Haushalte bekommen nicht mehr als zwei Stunden Strom pro Tag. Brennmaterial fehlt. In den Geschäften kann man nichts kaufen, Busse und Bahnen fahren kaum, und eine Straßenbeleuchtung gibt es auch nicht.

Das Einzige, was lückenlos läuft und die Stille der Innenstadt mit Lärm überzieht, ist die Luftbrücke - die Antwort der westlichen Verbündeten auf die Blockade. Wie an einer unsichtbaren Perlenschnur reihen sich amerikanische und britische Flieger in zwei Luftkorridoren und donnern über die Dächer der Stadt. Über einen dritten Luftweg fliegen sie wieder zurück. Um die Versorgung für über zwei Millionen Westberliner zu gewährleisten, müssen die Transportflugzeuge täglich 4500 Tonnen Güter einfliegen und dafür abwechselnd alle 90 Sekunden landen bzw. starten.

Als im Sommer die ersten militärischen US-Luftfrachter Berlin überquerten, zuckten Gertrud und ihre Tochter immer wieder zusammen. Zu sehr weckte das Dröhnen der Motoren die Erinnerung an die letzten zwei Kriegsjahre. Dieselben Flugzeuge, die auf einmal Lebensmittel brachten, hatten vorher Bomben abgeworfen. Mittlerweile haben sich die beiden an das Motorengedröhn der „Rosinenbomber“ gewöhnt. Sie fühlen sich nur noch beunruhigt, wenn es still wird, weil dann die ohnehin schon knappe Versorgung unterbrochen ist.

„Schau mal, Mama, sie werfen wieder Süßigkeiten ab!“, ruft Helga und zeigt auf die vielen kleinen Fallschirme, die einige Flugzeuge vor der Landung abwerfen. Der Flughafen Tempelhof liegt mitten im Wohngebiet und nicht weit von ihrem Zuhause entfernt. Im Licht der untergehenden Abendsonne zeichnet sich ein malerisches Bild ab, wie es sich Mutter und Tochter verheißungsvoller kaum vorstellen könnten. Der orangefarbene Himmel täuscht die wohlige Wärme eines Backofens vor und lässt mit seinen letzten Lichtstrahlen kleine Essensgeschenke an weißen Tüchern heruntersegeln. Irgendwo an der Einflugschneise hinter der Häuserfront stehen jetzt Hunderte von Kindern, um in freudiger Erwartung nach den kleinen Fallschirmen zu rennen.

Die eigentlichen Nahrungsmittel, welche die Flugzeuge in Säcken liefern, machen bloß halb so viel Freude. Um möglichst viel Nahrung zu transportieren, werden nur getrocknete Lebensmittel befördert, die zugleich auch lange haltbar sind: Trockenkartoffeln, Maismehl, Dörrgemüse, Ei- und Milchpulver, Dosenfleisch und Tubenkäse. Dem Essen fehlt es an allem: an Nährstoffen, Vitaminen, Frische, Biss und Geschmack. Im Sommer und im Herbst hatte sich Gertrud durch einen ergänzenden Kräuter- und Salatanbau auf dem Balkon noch zu helfen gewusst. Aber jetzt im Winter muss sie froh über die Essensration sein, die sie mit ihrer Lebensmittelkarte bekommt. Dabei hält sie sich sogar zurück, täuscht ihrer Tochter zuliebe eine Sättigung vor, um ihr etwas mehr zukommen zu lassen.

Da geschieht das Unfassbare. Ein einzelner Schirm mit Süßigkeiten ist vom Weg abgekommen und schwebt Gertrud direkt in die Arme. Während Helga schon in Jubel ausbricht, traut Gertrud dem unverhofften Segen nicht. Sie schaut verhalten auf die fremde Gabe und nimmt in Papier eingewickelte Bonbons, Kekse und Schokolade wahr. So viel Glück erscheint ihr wieder verdächtig. Sie sieht noch einmal prüfend zum Himmel und zur Straße. Zwei kleine Mädchen kommen auf sie zugelaufen. Sie wirken unsicher, bremsen ihren Lauf ab. In ihren Gesichtern mischen sich Vorfreude und anbahnende Enttäuschung. Offenbar hatten sie den Fallschirm schon vorher entdeckt und sind ihm nachgelaufen.

Gertrud zögert keine Sekunde. Sie winkt die Kinder zu sich heran, lächelt ihnen zu und gibt ihnen das Himmelsgeschenk. Die Mädchen bedanken sich mit großen Augen und machen sich überglücklich davon.

Helga hingegen kann ihre Freude nicht teilen. „Und was ist mit uns?“, hält sie ihrer Mutter vor.

„Die Süßigkeiten sind für die Kinder und nicht für uns“, antwortet Gertrud kurz.

„Ich bin dein Kind“, erwidert Helga, bei der die Enttäuschung umso schwerer wiegt, da sie schon gejubelt hatte.

„Du bist 17.“

„Aber ich habe auch Hunger.“

„Du kannst meine Trockenkartoffeln haben“, bietet Gertrud ihrer Tochter an, wohlwissend dass dieses Opfer kein Ersatz ist.

„Die schmecken nach Schweinefutter“, beklagt sich Helga. „Warum hast du die Süßigkeiten nicht einfach geteilt? Dann hätten wir alle etwas davon gehabt.“

Gertrud stutzt. Daran hatte sie nicht gedacht. Das wäre keine schlechte Lösung gewesen. Noch bevor sie sich entschuldigen kann, legt ihre Tochter nach: „Immer wenn wir mal ein bisschen Glück haben, lässt du es nicht zu.“

„Jetzt sei doch nicht so selbstsüchtig!“, kann Gertrud nur schulmäßig dagegen halten. „Kannst du dich nicht für die Kinder freuen? Sie werden sich noch in 20 Jahren an diesen Tag erinnern und dir dafür dankbar sein.“

„Und woran soll ich mich erinnern und dankbar sein?“

„Du lebst.“

„Das nennst du Leben?“, schimpft Helga. „Wenn wir gleich nach Hause kommen, sitzen wir im Dunkeln. Die Wohnung ist so kalt und zugig, dass es nur im Bett erträglich ist. Das aber auch nur, wenn man die Straßenkleidung anbehält. Zu Hause ist es lausig, die Arbeit macht keinen Spaß, ich habe keinen Schulabschluss, hatte eine furchtbare Kindheit und weiß absolut nicht, auf was ich mich freuen soll. Ich hasse mein Leben!“

Der Vorwurf trifft Gertrud. Sie schluckt und spricht zaghaft: „Wie gern hätte ich dir bessere Zeiten gewünscht.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt sie wieder stimmsicher: „Aber glaub mir: Ich habe genug erlebt, um dir wenigstens eins versprechen zu können: Nichts bleibt, wie es ist! Kein Kaiserreich. Keine Republik. Kein Faschismus. Und auch keine Blockade.“

Gertrud ahnt, dass dies ein schlechter Trost ist, doch einen besseren hat sie nicht. Auch sie hat das Gefühl, ihre Jugend verloren zu haben, ohne je jung gewesen zu sein. Mit einem Mal ist sie vierzig und sie weiß nicht, wo die Jahre geblieben sind. Das Leben hatte nicht viel für sie übrig. Aber sie erwartet auch nichts.

Dass sie und ihre Tochter in diesen Zeiten noch leben, ist mehr, als sie erhoffen durfte, sagt die Stimme ihrer Vernunft. Hunger, Müdigkeit und Kälte waren vor zwei Jahren im Hungerwinter 46/47 noch viel schlimmer. Ihre Mutter überlebte ihn nicht. Drei Jahre zuvor starb ihr Bruder Walter an der Ostfront. „Gefallen auf dem Feld der Ehre für Volk und Vaterland“, hieß es. Wahrscheinlich war auch er nur verhungert und erfroren. Dafür lebt Friedrich noch. Wer hätte das gedacht? Er wurde wenige Wochen nach seiner Verhaftung für einige Monate in das KZ Dachau gesperrt. Als er wieder nach Hause kam, blieb ihm nur noch der innere Widerstand. Dazu wurde er auch genötigt, weil er keine Arbeitserlaubnis erhielt. Stattdessen konnte Gertrud in einer Textilfabrik etwas Geld verdienen. 1941 wurde Friedrich als Soldat einberufen. Einem Granatsplitter im Bauch und im Hinterkopf verdankt er, dass er den Krieg überlebt hat. Jetzt arbeitet er in der Verwaltung, das heißt, er hilft dabei, eine aufzubauen.

Berlin ist so widersprüchlich wie Friedrich. Dreieinhalb Jahre nach Kriegsende ist es noch immer eine Trümmerstadt, aber irgendwie eine funktionierende. Überall stehen Ruinen und es fehlt an allem, aber die Straßen sind geräumt und man führt ein geregeltes Arbeitsleben, als sei die Welt in Ordnung.

Donnerstag, 17.08.1961

In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatten Einheiten der Deutschen Volkspolizei, der Betriebskampfgruppen und der Nationalen Volksarmee damit angefangen, jeglichen Straßen- und Schienenverkehr an der Sektorengrenze zu blockieren. An den Verbindungsstraßen wurde das Pflaster aufgerissen, um die Straßen unpassierbar zu machen. Überall wurden Betonpfähle in den Boden gerammt und gerollter Stacheldraht gezogen.

Seit vier Tagen wird die innerstädtische Grenzlinie zwischen Ost- und Westberlin immer weiter verriegelt. Schützenpanzer und Uniformierte mit Sturmgewehren bewachen die Absperrmaßnahmen. Zwölf Jahre nach der Berliner Blockade kommt es erneut zu einer Ausgrenzung, die sich dieses Mal nicht gegen die Westberliner, sondern gegen die Ostberliner richtet.

Es ist Vormittag. In Westberlin geht die 53-jährige Gertrud mit ihrem Mann Friedrich zum Krankenhaus. Ihre Tochter erwartet ein Kind. Sie machen sich Sorgen. Helga hatte bereits zwei Fehlgeburten. Ihnen ist klar, dass sie selbst nichts machen können. Weder bei ihrer Tochter noch hier auf der Straße. Sie sind bloß Zaungäste, die besorgt zuschauen, wie die großen und kleinen Ereignisse über sie hereinbrechen.

Der Himmel ist wolkenverhangen. Nur hin und wieder kommt die Sonne durch. Friedrich zieht an seinem Hut. Der Granatsplitter in seinem Hinterkopf geht wieder auf Wanderschaft.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragt ihn Gertrud.

„Mit mir schon“, blockt er ab. „Nur nicht mit dem Rest der Welt.“

Sie beobachten, wie überall auf der Ostseite die Sperrungen verstärkt werden. Maschendrahtzäune und Stacheldrahtverhaue werden durch Betonplatten und Hohlblocksteine ersetzt. An Häusern, die unmittelbar an der Sektorengrenze stehen, werden die Hauseingänge und Fenster zugemauert.

„Antifaschistischer Schutzwall“, greift Friedrich die Rhetorik der sozialistischen Regierung auf. „Was für eine Farce! Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man lachen. Ein Staat mauert sich ein, damit sein Volk nicht davonläuft. Hört der Irrsinn denn nie auf?“

„Niemals!“, bestätigt ihm Gertrud. „Und am Ende ist es keiner gewesen.“

Ohne es zu wollen, bringt sie die Schuldfrage ins Spiel, die Friedrich als gescheiterter Sozialdemokrat und unfreiwilliger Soldat des NS-Regimes persönlich nimmt: „Das ist genau die Frage“, stellt er sich ihr. „Was ist mit uns? Werden wir schon wieder mitschuldig, nur weil wir Zeitzeugen sind?“

„Was haben wir denn für Möglichkeiten? Sollen wir die Volkspolizisten und die Bauarbeiter mit Steinen bewerfen? Dafür, dass sie tun, was ihnen befohlen wurde?“, relativiert Gertrud, um umso schärfer das Wichtigste zu benennen: „Wir können uns nur unsere Menschlichkeit bewahren!“

Friedrich wirft ihr ein Lächeln zu. „Darauf eine Zigarette!“, sagt er und zündet sich eine an.

Ein junger Mann kommt ihnen entgegen. Sein Blick ist auf eine Gruppe bewaffneter Volkssoldaten gerichtet. Mit wutentbrannter Stimme brüllt er „Faschistenschweine!“ zu ihnen rüber. Die Soldaten zucken nicht einmal. Wahrscheinlich haben sie ihn nicht gehört.

Friedrich hält dem Mann seine Zigarettenpackung entgegen und fragt nur: „Zigarette?“

Der Mann, der gerade noch außer sich war, ist von dieser Geste so überrumpelt, dass er gar nicht anders kann, als darauf einzugehen und sich eine Zigarette aus der Packung zu nehmen.

Friedrich zündet ein Streichholz an und hält es ihm entgegen.

„Und?“, fragt er. „Glauben Sie, dass Ihre verbale Attacke die Situation verbessert hat?“

Der Mann zieht an der Zigarette. „Jemand muss ihnen sagen, dass wir mit dem, was hier passiert, nicht einverstanden sind.“

„Wer ein Sturmgewehr in der Hand hält, der wird schon davon ausgehen, dass andere sein Tun nicht gut finden.“

„Aber irgendetwas müssen wir doch dagegen tun!“

Friedrich hält dem Mann erneut die Zigarettenpackung hin. „Hier, nehmen Sie die Schachtel, und machen Sie es wie ich: Bieten Sie den Männern eine Zigarette an!“

Der Mann ist schon wieder überrumpelt. „Das geht doch nicht.“

„Probieren Sie es aus!“

„Und Ihre Zigaretten?“

„Die können Sie behalten. Da, wo ich jetzt hingehe, darf ich ohnehin nicht rauchen.“

Friedrich und Gertrud verabschieden sich von dem jungen Mann und gehen weiter.

„Genau dafür liebe ich dich“, flüstert sie ihm zu.

Kurze Zeit später erreichen sie das Krankenhaus. Dort werden sie vertröstet. Es gibt Komplikationen. Im Wartezimmer treffen sie auf ihren Schwiegersohn Heinz, der nervös auf- und abgeht. Er ist Handelsvertreter und immer viel unterwegs. So richtig warm sind sie mit ihm nie geworden, aber er gehört zur Familie.

„Wie geht es Helga?“, erkundigt sich Gertrud bei ihm.

„Ich weiß nicht. Zuletzt hatte sie starke Schmerzen. Sie wollen das Kind per Kaiserschnitt holen.“

„Und das Kind? Lebt es noch?“

„Ja.“

Gertrud ist erleichtert. Noch ein Sternenkind wäre zuviel für ihre Tochter. Wie sollte sie Helga dann noch trösten können? Jede Mutter wünscht sich, dass es ihrem Kind einmal besser geht. Bisher konnte Gertrud ihrer Tochter nichts ersparen: eine Kindheit im Faschismus und im Krieg, Hunger, Kälte, Ängste und zwei Fehlgeburten. Aber mit 30 Jahren ist Helga noch jung genug, um sich eine bessere Zukunft aufbauen zu können. Gertrud hingegen hat mit ihren 53 Jahren das Gefühl, ihr Leben mehr oder weniger gelebt zu haben. Die restlichen Jahre erscheinen ihr absehbar und vorgezeichnet. Für sich selbst hat sie nie viel erwartet. Aber die Rolle der Großmutter würde ihr schon gefallen. Jetzt noch ein Enkelkind eine Zeit lang begleiten und dann in Frieden sterben.

Was will sie mehr?

Ein Arzt kommt herein. Er geht zunächst auf Heinz zu und reicht ihm die Hand: „Herr Liesenfeld.“ Dann wendet er sich zu Gertrud und Friedrich: „Sind Sie die Eltern von Frau Liesenfeld?“

„Ja.“

Er reicht ihnen ebenso die Hand und holt tief Luft. „Nun, wie Sie wissen, gab es Komplikationen. Die gute Nachricht: Das Kind ist gesund und wohlauf. Es ist ein Junge. Sie können ihn gleich sehen.“

Er holt noch einmal Luft und senkt die Stimme: „Für die Mutter konnten wir leider nichts mehr tun. Mein herzliches Beileid!“

Heinz schreit auf: „Das ist doch wohl nicht wahr! Ich hatte Ihnen ausdrücklich gesagt, dass Sie sich im Zweifelsfall für das Leben der Mutter entscheiden sollen!“

„Wir hatten leider keine Wahl.“

„Aber die letzten beide Male ging es doch auch!“