Lichterfelde - Hans Petersen - E-Book

Lichterfelde E-Book

Hans Petersen

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lichterfelde Mitte, Ende der Sechziger Jahre. Das Milieu ist kleinbürgerlich, die Menschen rau und gelegentlich herzlich. Eine Frau steht zwischen zwei Männern. Der eine ist schwer krank, der andere strotzt vor Leben. Für wen sollte sie sich entscheiden? Als sie sich entscheidet, wird sie von dem anderen Mann vergewaltigt. Schließlich bringt er sich um.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 342

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Petersen

Lichterfelde

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Spannungen

Kasperle

Langeweile

Der rostige Nagel

Depression

Jochen weint

Annäherung

Auf Truhen

Theodor Wenzel Werk

Küsse

Neue Revue

Moabit

Schreiben und Quälen

Auf Dachstühlen

Werner Teichner

Tränen

Liebe

Gott

Krieg

Das Böse

Freiheit

Lässigkeit

Eifersucht

Kumpel

Unfall

Blut

Tanz

Pipi

Dynastie

Hertha

Der zweite Zettel

Gewalt

Auf dem Schoß

Der dritte Zettel

Mond

Dilettanten

Kopfwendung

Sex

Schlinge

Impressum neobooks

Spannungen

Ich sehe mich im Laufstall, wenn ich an meine frühe Kindheit denke. Nicht, weil ich mich daran erinnere, die Erinnerung setzt erst ernsthaft ein, als ich fünf Jahre alt war.

Aber es gab ein Davor. Da sitze ich im Laufstall. Jedes von uns Kindern tat das. Die Eltern arbeiteten. Sie waren immer da, immer um uns herum, aber nicht drin im Laufstall, sie waren draußen.

So sehe ich meine Mutter. Da waren Gitter. Zärtliche Finger, die da hindurch greifen, eine sanfte Stimme, die was Beruhigendes sagt, und dann ein Weggehen, die Arbeit ruft.

Die Rollenverteilung in der Schreinerei war klar geregelt. Die Männer bearbeiteten das Holz und waren nur ungern vorne im Laden, die Frauen arbeiteten im Haus, halfen im Laden aus, wenn die Männer sich mal wieder sträubten, und hatten die Kinder am Hals - oder besser gesagt im Laufstall, später auf der Straße, im Garten, irgendwo herumstreunernd, selten ganz nahe bei der Mutter.

Ich war ein eher weiches Kind, und da ich in den ersten Jahren keine Freunde hatte, hielt ich mich viel bei Oma auf, nachdem ich aus dem Laufstall herausgehoben worden war.

Oma und Opa wohnten im selben Haus wie wir, in einer eigenen Wohnung mit Küche und Bad, dem Altenteil oder der Gruft, wie Opa oft sagte.

Oma hatte mehr Zeit als meine Mutter. Sie musste nur für Opa und sich kochen, und das Putzen der Wohnung ging schneller von der Hand als das des restlichen Hauses. Sie hatte auch nicht so viel Wäsche, sie hatte mehr Pausen. In diesen Pausen strickte oder häkelte sie oder bemalte Teller, Tassen und Schüssel.

Beim Häkeln und Stricken schaute ich ihr gerne zu, und nach einer Weile wollte ich es selber lernen. Da schritt meine Mutter ein. Sie wollte keinen Sohn, der häkelte und strickte. Ich sollte später die Schreinerei übernehmen, und dafür musste man kernig und durchsetzungsstark sein, dafür musste man immer wieder raus, um Lieferungen entgegenzunehmen oder auf den Baustellen zu tun, was man auf Baustellen eben so machte. Ich hielt mich nicht gerne draußen auf. Dort war es meistens kalt und windig, und der Regen kam immer schräg von irgendwoher. Drinnen war mir einfach lieber. Während die Stricknadeln leise gegeneinander klackten und Oma seufzte, weil sie sich mal wieder mit den Maschen verzählt hatte.

Dann kam Mama ins Wohnzimmer, und sie war anders unzufrieden als Oma mit ihren Maschen. Mama war unzufrieden mit mir.

“Sitzt du wieder hier drinnen?”, fragte sie.

Ich sagte nichts. Es war offensichtlich, dass ich drinnen saß. Oma saß auch drinnen. Das war indes kein hilfreicher Hinweis.

“Kinder sollten nicht drinnen sein”, sagte Mama.

Angelika kam ins Wohnzimmer.

“Geli ist auch drinnen”, sagte ich. Auch das war kein hilfreicher Hinweis.

“Sie ist zwei”, sagte Mama. “Du bist vier.”

“Draußen ist es kalt”, sagte ich.

“Und die Männer?”, fragte Mama. “Glaubst du vielleicht, die gehen nie raus, nur weil es draußen gerade ein bisschen frisch ist? Die arbeiten. Irgendwann wirst du auch arbeiten. Am besten, du gewöhnst dich schon jetzt daran, an der frischen Luft zu sein.”

Gelegentlich, wenn ich durchs Haus stromerte, schreckte ich Papa im Gästezimmerbett auf. Dort hatte er sich versteckt, unter anderem, weil er den Wechsel von der Wärme der Werkstatt zur Kälte des Draußen nicht vertrug.

Darauf wollte ich lieber nicht hinweisen, obwohl es in meinem Kopf, fast auf der Zunge war.

Vielleicht auch im Kopf meiner Mutter, denn sie sagte: “Die anderen Kinder sind bestimmt auch draußen.”

“Ich kenn die anderen Kinder nicht”, sagte ich. “Die sind nicht in meinem Kindergarten. Ich mag die anderen Kinder nicht.”

“Ich könnte mit rausgehen”, sagte Angelika. “Mich kennst du.”

Dich mag ich auch nicht, dachte ich und fühlte mich umgehend schuldig. Selbstverständlich mochte ich meine kleine Schwester. Was gab es an der nicht zu mögen?

“Du bist zu klein”, sagte Mama.

Oma schwieg. Ansonsten redete sie viel. Nur wenn Opa in seine Monologe geriet, schwieg sie ebenfalls. Sie mochte keinen Streit. Bei Streit meldete sich ihr Magen umgehend. Dann musste sie eingeweichte Leinsamen und Kamillentee zu sich nehmen.

“Ich musste auch raus, als ich zu klein war”, sagte ich.

“Du bist ein Junge”, sagte Mama. “Du wirst mal den Betrieb übernehmen.”

Ich wollte ihn nicht übernehmen. Ich wollte nicht wie Papa im Gästezimmerbett liegen, weil ich mich vor dem Betrieb und der Arbeit darin fürchtete.

“Bis dahin ist noch Zeit”, sagte Oma begütigend.

“Keine Widerrede”, sagte Mama und sah mir in die Augen, als hätte ich das mit der Zeit gesagt und nicht Oma.

Es war nur ein dünner Nieselregen, aber der Wind trieb ihn in Wellen gegen den Körper, und ich drehte den Kopf, so dass die Tropfen das Gesicht nicht trafen.

Durch die Drehung des Kopfes sah ich ins Küchenfenster. Dahinter stand Mama. Sie beobachtete mich. Sie musste eine ganz schöne Wut haben. Verzweiflung auch, wenn ich jetzt darüber nachdenke, und höchstwahrscheinlich ein schlechtes Gewissen. Diese Verbindung kann die Seele graniten machen.

Ich stapfte weiter ums Haus herum. Jetzt kamen die Tropfen von der anderen Seite. Sie waren winzig, aber genauso nass, wie wenn sie riesig gewesen wären. Ich drehte den Kopf von den Tropfen weg, erneut Richtung Fenster, diesmal zum Wohnzimmer. Mama hatte sich bewegt. Sie sah mich an. Ich hätte weinen mögen, aber es kamen keine Tränen.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Ich konnte schlecht an irgendeine Tür klopfen und verkünden, ich wolle umgehend mit einem Kind spielen.

Ich trat auf den Rasen hinaus. Die Halme waren nass, und wenn sie sich in einem Windstoß bogen und bei nachlassendem Wind wieder hochschnellten, federten Tropfen in die Luft und glitzerten, bevor sie zu Boden fielen und dort zerplatzten.

Ich befahl mir, meiner Mutter den Rücken zuzukehren. Nie wieder würde ich sie ansehen. Ich würde nach Australien auswandern. Dort war es immer warm, und es gab keine armen Leute. Das hatte Oma selber gesagt. Ich sah mir über die Schulter. Mama stand noch immer im Fenster. Ich konnte nicht ins Haus, um einen Beutel mit Sachen zu füllen, damit ich bis nach Australien kam.

Ich sah die riesige Tanne. Dahinter konnte ich mich verstecken. Es war nicht Australien, aber wenigstens konnte Mama mich dann nicht sehen, und sie würde vom Fenster weggehen, ich würde warten, Zeit würde verstreichen, und ich würde wieder ins Haus gehen und lügen, ich hätte mit anderen Kindern gespielt.

Wie die anderen Kinder mit Namen hießen, musste ich mir noch einfallen lassen. Auf dem Weg zur Tanne kam es mir einfach vor. Dahinter gestaltete es sich schon schwieriger. Mir fielen keine Namen ein.

Regen und Wind zusammengenommen bedeuteten Kälte, auch wenn es nur ein Nieselregen war und kein Sturmwind, nichts in der Richtung, nur der ganz normale Berlinwind. Ich wartete eine Ewigkeit, bis die Finger taub waren, dann ging ich zum Haus zurück.

Mama fragte mich nicht, mit welchen Kindern ich gespielt habe. Stattdessen machte sie mir heißen Kakao, und während ich ihn schlürfte und mir allmählich warm wurde, hatte ich das Gefühl, ein Abenteuer erlebt zu haben.

Das war kein schlechtes Gefühl. Australien konnte warten. Zum Abendessen gab es Würste mit Kartoffelbrei und Rotkohl.

So gerne mich Mama draußen sah, so wenig ging sie selbst dorthin. In den Schrebergarten an den Gleisen schon, da gab es Kartoffeln, Möhren, Erbsen, Bohnen, Walnüsse, Äpfel, im Spätsommer Mirabellen. Rüber in die Werkstatt hingegen, über die Osdorfer Straße und durch die Passage, ging sie nicht gerne, zumindest nicht, als mein Vater noch in der Werkstatt war, dann doch, als Papa in der Klapse war oder zur Umschulung und Heinrich bei uns anfing.

Mama kam in die Werkstatt, und sie lächelte. Zuerst dachte ich, sie würde mich anlächeln, dann merkte ich, dass sie mich kaum beachtete, Karola auch nicht, obwohl die auffällig geschäftig mit einem leeren Holzeimer hantierte.

Heinrich saß auf einem Schemel, hobelte mit langezogenen Bewegungen an einem Brett, zupfte die Späne fort und blickte ab und zu an der Holzkante entlang, und während der ganzen Zeit unterhielt er sich mit Mama, die gegen die Fräse lehnte.

Sie unterhielten sich ganz anders, als Mama und Papa sich unterhalten hatten. Sie lächelten ständig, manchmal lachte Mama sogar, und obwohl Heinrich durch die Arbeit in der Tätigkeit seiner Hände eingeschränkt war, machten die beiden jede Menge mit ihren Händen, während sie sprachen, sie gestikulierten, sie unterstrichen ihre Worte, ihre Witze, ihren Schabernack.

Die Witze kamen von Heinrich, und nicht nur Mama brachte er zum Lachen, sondern auch Karola und mich. Karola hörte auf, mit dem Eimer zu hantieren, und gelegentlich ahmte sie die Handbewegungen der beiden Erwachsenen nach, während sie lachte, und ebenso gelegentlich sah ich an mir hinab und erwischte mich dabei, ebenfalls mit den Händen zu fuchteln, und ich lachte noch lauter, weil ich mich selbst so komisch fand, weil das Leben in diesem Moment so unfassbar reich und schön war.

Mama und Heinrich beachteten uns kaum, sie hatten nur Augen füreinander - und in Heinrichs Fall auch für die Späne, die er mit großem Feingefühl zur Seite zupfte.

Es war abends oder frühmorgens, wenn Mama in die Werkstatt kam, und durch die Fenster schien kaum Licht, die Scheiben waren voller Holzstaub, und in den Ecken herrschte Dunkelheit. Erhellt war die Mitte des Raumes nur durch den Schein von drei nackten Glühbirnen, gelb und klar und scharf, und in meiner Erinnerung war die gesamte Werkstatt eingetaucht in reinste Gemütlichkeit, in jauchzende Freude, selten habe ich mich später derart in Übereinstimmung mit mir selbst gefühlt.

Was sich anbahnte, übersah ich. Aber ich sollte früh genug lernen, welche Macht es hatte.

Kasperle

Der Kasten lag im Hinterzimmer des Kindergartens, und Tante Leni war im Vorderzimmer, weil Christian mal wieder gebockt hatte, der bockte ständig, der war riesig, niemand konnte es mit ihm aufnehmen, und wenn er bockte, war nur noch Tante Leni zwischen ihm und dem Tohuwabohu, und Tante Leni redete auf ihn ein, ganz leise tat sie das, mit tiefer, weicher Stimme, mit derselben Stimme, die nachher von hinter dem Kasten schallen würde, das wusste ich, und Christian sagte: “Ich will nicht”, und Tante Leni sagte: “Dann musst du auch nicht. Aber gib mir den Hammer.”, und Christian sagte: “Aber er hat doch”, und so würde es immer weitergehen, eine halbe Stunde lang, bis der Hammer in der Hand von Tante Leni war und Christian so aussah, als müsse er gleich weinen.

Man konnte ins Hinterzimmer schlüpfen, während Tante Leni auf Christian einredete und die anderen Kinder gebannt lauschten, und dann war man ganz allein, es war still, nur die Stimmen von Tante Leni und Christian drangen leise durch die angelehnte Tür, und die Puppen lagen schlaff neben dem Kasten, bloß kegelförmige Stücke Stoff, wo die Hände hinein kamen, und Holzgesichter, mehr war das nicht, und ich hielt den Atem an, ging auf den Kasten und die schlaffen Puppen zu, und versuchte mir vorzustellen, wie das ging, dass sie lebendig wurden.

Ich strich mit den Fingern über die Adern des Holzes, über die Rundung einer Nase, über die kleine Ausbuchtung eines Auges, über die Windungen eines Ohrs, und während ich das tat, war mir, als würde sowas wie Elektrizität zwischen meinen Fingerkuppen und dem Holz auftreten, wie wenn die Haare beim Kämmen zu Berge standen und knisterten, das sagte Heinrich, das war Elektrizität, und ich versuchte, mir vorzustellen, was das sei, Elektrizität, was passieren würde, wenn die Puppen in Tante Lenis Händen waren, was da entstand.

Der Saum des Kegels von Kasperle zog einen Faden, und ich war erleichtert, weil ich diese Unvollkommenheit entdeckte, diesen Fehler in der Webung, denn wo eine solche Unzulänglichkeit auftrat, da konnte keine Magie entstehen, keine Elektrizität, da musste die Verbindung unterbrochen werden, da war was ausgeschaltet und was musste nicht leiden, oder wer, ich mochte nicht mehr an was denken, was war doch ich, und auf der Fensterbank kämpfte eine dicke Hummel um ihr Leben.

Ich ging auf die Fensterbank zu, die Hummel lag nur noch da und zuckte leicht, fett war sie, wanstig war sie, rund war sie, und in einigen Augenblicke oder auch Minuten oder sogar Stunden würde sie genauso leblos sein wie die Puppen dort hinten neben dem Kasten.

“Er soll Dresche kriegen”, sagte Christian.

“Niemand bekommt hier Dresche”, sagte Tante Leni.

“Er hat es verdient.”

“Es macht alles nur noch schlimmer”, sagte Tante Leni weich.

Ich drehte mich um. Sie hatte den Hammer in der Hand. Am Ende hatte sie den immer.

“Ich weiß”, sagte ich.

“Ist es wieder so schlimm?”

Ich nickte.

“Ich kann es absagen. Wir müssen das nicht machen.”

“Nein”, sagte ich. “Um nichts in der Welt. Nein. Auf gar keinen Fall.”

Sie seufzte: “Wie du willst. Aber ein komischer Junge bist du schon.”

Mit Zittern fing es an, einem leichten Beben, das von den Knien ausging, und ich legte die Hände auf die Knie, um sie zu bändigen, aber dann fingen die Hände an zu zittern, und ich hob sie von den Knien, und die Hände zitterten weiter, die Knie zitterten immer noch, da war wieder was wie Elektrizität, und ich presste die Hände fest zusammen, aber das half auch nichts, da war keine Stetigkeit zu erwarten, bis alles vorüber war, bis das Kasperle und die Grete vereint waren, und noch ein Lied gesungen wurde, und ich inbrünstig einstimmte, weil ich Singen so liebte, genau wie ich das Kasperle liebte, bloß dass beim Singen kein Zittern war und kein bedrücktes Herz.

Tom saß neben Christian und sprach leise auf ihn ein, und bestimmt hatte Tom kein Zittern, und Christian zitterte bloß, weil er diesen Ingrimm hatte, der dachte in diesem Moment gar nicht ans Puppentheater, aber wie ging das?, wie konnte das sein?, das Puppentheater war doch das Wichtigste auf der ganzen Welt.

Tante Leni stand hinter dem Kasten, die Puppen in den Händen, sie sagte was, das ich nicht verstand, dafür war viel zu viel Blut rauschend in meinen Ohren.

Sie zeigte die Puppen her, die schlaff herab hingen, die Köpfe zuunterst, und Tom redete leise auf Christian ein, und bestimmt machte Tante Leni das nur, um zu zeigen, dass es bloß ein Spiel war, als könnte sie mich täuschen, als wüsste ich nicht, dass es viel mehr war als ein Spiel, dass es um Leben und Tod ging.

Dann war Tante Leni weg, und der Vorhang ging auf, und die Puppen waren da, alle Kinder waren mucksmäuschenstill, selbst Christian sah nicht mehr aus, als müsse er weinen, und das Blut hatte aufgehört, in meinen Ohren zu rauschen, die Knie zitterten nicht, die Hände wegen der Elektrizität auch nicht, das Kasperle sang ein Lied, wie geschmiert klang das, und die Stimme war gar nicht mehr die von Tante Leni, das war eine ganz eigene jetzt, es war die vom Kasperle, und die Herzen flogen ihm zu, und kein Herz war heißer als meins.

Die Grete trat auf, und das Kasperle wollte mit ihr so Bussi Bussi machen, sie aber wollte nicht, das war nicht so schön, das musste nicht sein, Papa und Mama hatten auch nie Bussi Bussi gemacht, drei Kinder hatten sie gemacht, aber ohne Bussi Bussi, das tat nicht not, singen sollten sie, Schabernack sollte das Kasperle mit der Grete treiben; aber dann war alles plötzlich ganz anders, denn das Kasperle wurde traurig.

So kannte ich es gar nicht, und vor lauter Erstaunen wurde mir das Herz nicht bang, das Zittern setzte nicht wieder ein, und das Pochen des Herzens war kaum zu vernehmen.

Ganz ohne Grund war das Kasperle traurig. Es warf sich vor, nichts zu können, drohte damit, ins Wasser zu gehen, bis die Grete anfing zu weinen, in Bächen liefen die Tränen ihr die Wangen hinab, ich sah es genau, und das Kasperle sagte: “Heul doch nicht so. Du weißt gar nicht, wie das ist, wenn man unglücklich ist. Das weiß nur ich.”

Ich wusste es auch. In dem Moment war ich unglücklich, unglücklicher als sonst irgendwer auf der ganzen Welt, das war irgendwas völlig neues mit dem Herzen, eine nie gekannte Schwere, ein tiefer Schmerz, und ich schaute mich um, schaute Christian an, der schaute zurück, und in seinem Blick lag ebenfalls Trauer, nicht diese Weinseligkeit von vorhin, sondern etwas Echtes, das nur das Kasperle einem vermitteln konnte, und Toms Hand war auf Christians Schulter und sah aus wie ein zutrauliches Tier.

Dann war die Grete ganz allein in dem Kasten, der kein Kasten war, sondern eine Welt, und wie Kain niemanden hatte, völlig allein umher irrte, war die Grete von allen verlassen, und sie sang ein verzweifeltes Lied, ein wunderschönes Lied, und ich stimmte ein, Tom und Christian stimmten ein, obwohl die beiden sonst nie sangen, alle stimmten ein, und das Lied war für das Kasperle, damit es nicht ins Wasser ging, das Kasperle sollte gelockt werden, sollte wieder fröhlich werden angesichts dieser prachtvollen Verzweiflung.

Schon bevor der Polizist auftauchte, wusste ich, dass er auftauchen würde. Es hätte natürlich auch der Sepp auftauchen können, aber ich hatte gewusst, dass der Sepp nicht auftauchen würde, dass das Kasperle auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Freund hatte. Es hatte bloß den Polizisten, und Polizisten taten, was sie taten, weil sie Geld dafür bekamen, nicht wie der Sepp, der tat, was er tat, weil er liebte, aber der Sepp war irgendwo, er würde nie auftauchen, und der Polizist fragte: “Warum singst du bloß so traurig schön?”

Die Grete sagte: “Das Kasperle will ins Wasser gehn.”

“In welches Wasser, sag doch schnell?”

“Im Kanal, wo’s Wasser schwarz wie Tinte ist.”

“Los ich muss, es ist noch hell.”

“Bevor der Geier kommt, die Leiche frisst.”

Wenn der Polizist weg war, wer würde dann kommen? Na, wer wohl, der böse Räuber natürlich.

Er sah gar nicht aus wie ein böser Räuber. Er hatte weizenblondes Haar, einen leicht gebeugten Rücken, eine sehnige Figur, und ich liebte ihn vom ersten Anblick an abgöttisch.

Die Grete liebte ihn auch. Die beiden scherzten und lachten und redeten in einem fort, und niemand vermisste das Kasperle dort im Wasser, das schwarz wie Tinte war, außer dem Polizisten, oder der Sepp vielleicht, wenn er doch da, wenn die Liebe nicht bloß beim bösen Räuber und dem Gretel gewesen wäre.

Mir tat das Herz weh vor lauter Liebe, die von den beiden ausströmte und jede Bangigkeit vertrieb, und die Augen von Christian liefen über vor lauter Tränen, schienen sich abzulösen von den Höhlen, in denen sie saßen, aber das war eine bloße Täuschung, wie alles hier eine Täuschung war, das Bussi-Bussi zwischen dem Gretel und dem bösen Räuber musste eine Täuschung sein, ihr sich Hinlegen, sein Knien vor ihr, die stampfenden, trommelnden Bewegungen ihrer Lenden, Tiere die sie waren, und ich nahm den Blick fort, sah Tom an, dessen Blick sich ebenfalls von der Bühne entfernt hatte.

Nur die Ohren konnte man nicht verschließen, konnte sie nicht abwenden von der Bühne. Die Ohren nahmen jeden Ton wahr, jeden Lustschrei, jedes Seufzen und wohlige Gegurre. Die Ohren gaben Zeugenschaft ab, und das Herz wurde immer weher vor lauter Liebe, die Zeit dehnte sich, nicht aufhören wollten Schreie, Seufzer und Gegurre, ins Herz stach das, aber bang war es immer noch nicht.

Erschöpft sanken die Puppen zusammen, waren wiederum nur Holzköpfe und kegelförmige Stoffstücke, und ein leises Schnarchen klang durch den Raum, dann ein Klirren von Schlüsseln, ein leiser, dann ersterbender Schrei, und der Polizist stand auf der Bühne, das Kasperle im Schlepptau, nass, traurig und elend.

Langeweile

Opa und Oma hatten einen Fernseher in einer ausladenden Truhe. Dort drin war auch ein Radio mit einem Frequenzband, auf dem alle möglichen Städtenamen standen, von Kopenhagen bis London. Außerdem war da ein Plattenspieler mit einem ellenlangen Dorn, so dass man mehrere Platten übereinander stapeln und sie der Reihe nach abspielen konnte.

Man konnte die Truhe mittels zweier Rollblenden verschließen, so dass sie aussah wie eine Kommode und nichts darauf hindeutete, dass sich dahinter irgendwas Elektronisches verbarg.

Meistens waren die Blenden vorgezogen, denn Opa und Oma hörten keine Platten und wenn Opa abends den Wetterbericht hörte, dann mit Hilfe des Transistorradios im kleinen Wohnzimmer.

Erst zur Tagesschau um acht wurden die Blenden auseinander gerollt und der Fernseher eingeschaltet, und danach liefen Musiksendungen mit Rudolf Schock und Anneliese Rothenberger. Es liefen bestimmt auch andere Sendungen, aber ich erinnere mich nur an die beiden. Opa liebte sie.

Samstag abends lief die Aktuelle Schaubude. Das war Omas Sendung. Da gab es eine Marie-Louise Steinbauer, und die hatte in jeder Sendung neue Kleider an, und Oma erfreute sich an diesen Kleidern und kommentierte sie.

Mit Oma und Opa fernzusehen, war urgemütlich. Angelika lag meistens bäuchlings dicht vor dem Fernseher auf dem Teppich, und in der Regel schlief sie ganz schnell ein. Meistens schaffte sie nicht einmal das Sandmännchen.

Es ist also nicht ganz wahr, dass der Fernseher erst zur Tagesschau lief. Denn da waren ja auch wir Kinder.

Opa und Oma hatten vier Töchter. Sie hatten auch einen heißersehnten Sohn gehabt, der allerdings nach wenigen Monaten starb. Oma hatte anschließend monatelang im Bett gelegen, vermutlich mit ähnlich schwarzen Gefühlen und Gedanken wie die meines Vaters im Gästezimmer.

Soweit ich weiß, hat sie allerdings nie Selbstmord in Betracht gezogen.

Im Grunde war Opa eine autoritäre Person. Seine Töchter durften bei Tisch gesehen werden, aber nicht gehört. Sie hatten alle Angst vor ihm. Wir Enkel hingegen hatten Respekt, keine Angst.

Er behandelte uns anders, als er seine Töchter behandelt hatte. Er ließ uns viel mehr durchgehen. Wenn wir in der Gruft aßen, haben wir geredet, wie uns der Schnabel gewachsen war, und er hat uns nie Einhalt geboten.

In der Familie wurde berlinert. Anfangs hatten meine Eltern mit uns Kindern Hochdeutsch gesprochen, während wir Berlinern auf der Straße lernten. Dann schlugen meine Eltern ebenfalls in den Dialekt um, Papa allerdings immer mit einem starken ostpreußischen Einschlag.

Die Teichners sprachen untereinander Hochdeutsch, weil der Vater, Werner, aus Hannover stammte, weit drüben in Westdeutschland.

Es dauerte ein paar Tage, bis ich entdeckte, dass Tante Leni unsere neue Nachbarin war. Mir kam das völlig unbegreiflich vor. Niemals hatte ich mir klargemacht, dass Kindergärtnerinnen tatsächlich irgendwo wohnten. Sie gehörten zum Kindergarten, und wenn ich überhaupt darüber nachdachte, stellte ich mir vor, sie würden nachts in dem Zimmer auf dem Fußboden schlafen, in dem mittags die Kleinen ihr Nickerchen machten.

Nun stand Tante Leni plötzlich in dem winzigen Garten des Nachbargrundstücks und tat so, als würde das alles ihr gehören.

Was es ja auch tat, abgesehen von dem Löwenanteil, den die Bank besaß.

Kurze Zeit später gesellten sich die Jungs zu ihr, Jochen, Matze und Jenne, aber die Namen kannte ich damals noch nicht, ich wunderte mich nur darüber, dass ich sie nicht aus dem Kindergarten kannte. Dass eine Kindergärtnerin eigene Kinder haben konnte, erschien mir genau so unbegreiflich, wie dass sie irgendwo wohnte.

An dem Tag lernte ich die Jungs noch nicht kennen. Das tat ich erst am Morgen darauf im Kindergarten, beziehungsweise Jochen erst nachmittags, weil er schon in die erste Klasse ging.

Ab da waren wir unzertrennlich.

Langeweile ist so eine Sache.

Sagen wir mal, wir bauten eine Erdhütte.

Wir bauten tatsächlich eine Erdhütte im Schrebergarten der Teichners, aber ich bin mir nicht sicher, dass wir so klein waren. Am Anfang meiner Geschichte ist Jochen sieben, Matze fünf, Jenne drei und ich ebenfalls fünf.

Wahrscheinlich waren wir einige Jahre älter, als wir die Hütte bauten, aber für meine Bedürfnisse reicht es.

Jochen war mit seinem Vater durch den Schrebergarten geschlendert. Das machten sie gerne. Jochen stellte Unmengen von Fragen, und Werner antwortete, soweit er konnte. Das war nicht immer einfach, denn Jochens Fragen waren scharfsinnig, er war ungeheuer wissbegierig und ließ sich nicht mit Ausflüchten und schwachen Vergleichen abspeisen. Wenn er fragte, warum die Erde rund sei, reichte es nicht zu sagen, das sei die perfekte Form, das wussten schon die alten Griechen. Dann hätte er gefragt, warum sei es die perfekte Form, und warum müsse die Erde ausgerechnet die perfekte Form haben. Man musste schon ein wenig über Schwerkraft wissen, und um ihn gänzlich zufriedenzustellen, war es nützlich, beiläufig darauf hinzuweisen, dass sie gar keine perfekte Kugel sei, sondern wegen der Erdumdrehung am Äquator ausgewulstet und an den Polen abgeplattet.

Mit sowas konnte man bei ihm punkten. Sonst war man bloß ein Schwätzer. Er liebte das Wort Schwätzer.

Werner hatte also jede Menge zu tun, um sich Jochen vom Hals zu halten. Er musste sich rüsten, er musste Sachen vor- oder nachbereiten, er musste lesen. Ständig sah man ihn mit dem Lexikon in der Hand, in der Hoffnung, wenigstens an dem Tag alle Fragen Jochens erschöpfend beantworten zu können.

Sie gingen an einem Fleck vorbei, wo der Boden bis in ein Meter Tiefe sandig war.

“Warum gibt es hier Sand und anderswo nicht?”, fragte Jochen.

“Das hängt mit der Eiszeit zusammen.”

“Was ist eine Eiszeit?”

“Vor zigtausend Jahren war ganz Nordeuropa von einer ein Kilometer dicken Eisschicht bedeckt. Das Eis zermalmte Steine und lagerte die Überreste als Lehm ab. Deswegen ist der Boden hier so fruchtbar.”

“Aber hier ist Sand”, sagte Jochen. “Ist Sand auch fruchtbar?”

“Ist es nicht”, sagte Werner schon leicht panisch, weil er nicht wusste, warum ausgerechnet an diesem Fleck Sand war, drumherum jedoch nicht. “Sand lässt das Wasser einfach durch.”

“Aber warum ist hier Sand? Das Eis war doch überall. Dann müsste da auch Lehm sein.”

“Es bildeten sich Bäche. Es kann auch der Wind gewesen sein. Hier war vielleicht eine Kuhle, und der Wind wehte den Sand hinein.”

“Der Wind wehte über das Eis. Wie konnte er da Sand in die Kuhle wehen?”

“Später.”

“Später was?”

“Ich erkläre es dir später.”

Man hat jetzt vielleicht einen Eindruck davon, wie Gespräche mit Jochen verlaufen konnten. Trotzdem, oder gerade deswegen, war Werner unbändig stolz auf seinen klugen Sohn. Dass er sowas hingekriegt hatte. Das war ganz erstaunlich.

Auf jeden Fall erzählte er Jochen, dass man in Sand gut graben könne und sie würden irgendwann eine Erdhöhle bauen.

Das ließ sich Jochen nicht zweimal sagen. Eine Erdhöhle? Wieso erst später?

Er trommelte seine Leute zusammen. Das hieß Matze, Jenne und mich.

Jochen selbst hatte einen Spaten. Matze und ich kriegten jeweils eine Schaufel. Jenne hatte eine Schippe. Wenn Jochen eine Aufgabe anging, war er immer hervorragend organisiert, da überließ er nichts dem Zufall.

Wir machten uns an die Arbeit.

“Zuerst müssen wir ein Loch graben”, sagte Jochen, und so gruben wir ein Loch.

Nach einer Weile wurde es Jenne langweilig, er schmiss die Schippe hin, und ihm wurde noch langweiliger, weil er nichts mehr zu tun hatte.

Er fing an zu reden. Er wurde lästig.

“Du kriegst einen Arschvoll, wenn du nicht den Mund hältst”, sagte Jochen.

“Das sage ich Mama.”

“Petze.”

“Ich sag’s Mama nicht. Ich schwöre, ich sag’s Mama nicht.”

Wenn man damit ein Ziel verfolgte, wenn man eine Vorstellung davon im Kopf hatte, was sein könnte, war das Graben kein bloßes Graben, es war eine heilige Pflicht, und wir gerieten in eine leichte Euphorie, die über Stunden anhielt. Wir schwitzten, waren überhitzt, als würden wir fiebern, und tatsächlich fieberten wir, nämlich dem entgegen, was sein könnte.

Dann kamen wir zu einer Lehmschicht und nicht weiter.

“Das muss jetzt reichen”, sagte Jochen und blickte auf die Wände des Lochs. Das sah doch schon ganz gut aus.

Dafür brauchten wir aber ein Dach. Ein Loch war noch keine Höhle.

Werner gab uns ein paar Bretter, die er im Schuppen hatte, und die legten wir über das Loch. Dann schütteten wir noch Erde auf die Bretter und ebnete sie ein. Die Höhle war fertig. Wir krochen hinein.

Eine Weile saßen wir schweigend da und wussten nicht, was wir jetzt tun sollten. Jochen hatte keine Idee. Da war nichts in seinem Kopf, und wenn da nichts war, wie sah es dann in unseren Köpfen aus?

“Mir ist langweilig”, sagte Jenne schließlich, und diesmal drohte Jochen nicht mit einem Arschvoll.

Uns allen war langweilig. Wir hätten glücklich sein und etwas spielen sollen, Soldaten im Krieg etwa, Äste für Gewehre gab es im Garten massenhaft, und später spielten wir durchaus in der Höhle. Aber an dem Abend war die Luft raus.

“Lass uns fernsehen”, sagte Jochen zuletzt.

“Oh, ja”, sagte Matze.

Und so pilgerten wir alle vier zu unserem Haus und fragten Opa, ob wir fernsehen könnten, besser gesagt, es war Jochen, der fragte, obwohl es doch mein Opa war, den wir fragten. Es machte mir nicht die Bohne aus. So war es richtig.

“Aber nur bis sechs”, sagte Opa. “Um sechs wird gegessen.”

“Bei uns auch.”

Ich habe keine Ahnung, was wir sahen. Keine Vorabendserien vor sechs. Aber es reichte, dass die Bilder sich bewegten und wir zusammen waren.

Der rostige Nagel

Nach einem Sturm wurde das Werkstattdach undicht, und Heinrich musste hoch, um die Schindeln zu sortieren. In jenen Jahren war die Werkstatt für mich ein himmelhohes Gebäude, auf dessen Dach ich keinesfalls durfte. Ich habe es nie probiert, vor allem nach der Geschichte mit Heinrich.

Ich war in der Küche, als er hereinkam. Meine Mutter war ebenfalls da, jede Menge Fliegen waren da, die waren immer da, und meine Mutter bereitete wahrscheinlich gerade das Essen zu. Ich weiß nicht mehr, welche Tageszeit es war, aber in einer Schreinerei wurde zu der Zeit sechs Mal am Tag gegessen: Frühstück, zweites Frühstück, Mittagessen, Nachmittagskaffee, Abendbrot, Abendkaffee. Da gab es für die Hausfrau, abgesehen von all den anderen Tätigkeiten, reichlich zu tun mit der Essenszubereitung.

Ich war also in der Küche und machte nichts, zählte vielleicht die Fliegen, und meine Mutter war rastlos tätig. Sie war schnell, die Bewegungen waren fließend, es war ein Vergnügen, ihr dabei zuzusehen.

Wir blickten auf, als Heinrich hereinkam. Es war noch keine Essenszeit, und es war ungewöhnlich, dass ein Geselle tagsüber außerhalb der Essenszeiten im Haus war. In der Hand von Heinrich steckte ein Nagel. Er hatte die Handfläche durchbohrt, zu beiden Seiten der Hand ragte also rostiges Eisen hervor. Blut hatte sich darum herum angesammelt, die ersten Tropfen fielen zu Boden, die ersten Fliegen versammelten sich.

“Ich denke, ich muss zum Arzt”, sagte Heinrich.

Es war die Art, wie er es sagte, gleichmütig, keine Regung in der Stimme, als sei ein rostiger Nagel in der Hand etwas Alltägliches, als würde Heinrich fragen: “Wann gibt es Mittag?”, oder sagen: “Ich habe keine Zigaretten mehr”, als käme es am laufenden Band vor, dass einer von uns mit durchbohrter Hand in der Küchentür stand.

Es ist für mich immer der ultimative Ausdruck von Männlichkeit gewesen. Schmerzen wurden mit Gleichmut hingenommen, man machte kein Gewese um sie. Sie wurden mit einer selbstverständlichen Würde getragen.

Ich hingegen weinte, wenn mir was weh tat, suchte meine Mutter auf und erwartete von ihr Trost. Was für ein elender Weichling ich doch war. Ich war ja fast ein Stadtkind.

Meine Mutter rannte zu ihren Eltern, um sich den Wagen auszuleihen. Ich blieb mit Heinrich in der Küche und hörte ihm zu. Ein rostiger Nagel in der Hand verlangte schließlich nach einer Erklärung, dazu gehörte unbedingt eine Geschichte.

Er war zum Dach hinaufgestiegen, um die vermaledeiten Schindeln zurechtzurücken. Der Nagel steckte in der Holzwand, und Heinrich war kurz ausgerutscht, ausgerechnet in Höhe des Nagels, hatte ausgegriffen, die Hand in den Nagel gejagt, nicht Aua geschrien, kein Mucks, Männlichkeit eben, und dann war der Nagel an einer Bruchstelle abgebrochen.

Es hätte also durchaus schlimmer ausgehen können. Um ein Haar wäre er sechs oder acht Meter in die Tiefe gestürzt, auf einen Betonboden. Beton hatten wir schon, anders als die drüben in der Zone. Wir lebten an der Mauer, nicht hinter dem Mond.

Selbst einen solchen Fall hätte Heinrich indessen stoisch hingenommen und wäre mit gebrochenem Genick in die Küche geschlendert um zu bemerken, er brauche vielleicht einen Gipsverband.

Wir standen eine Weile so in der Küche, die Kacheln des Ofens waren warm, es roch nach Kohle, und Fliegen versammelten sich am Wundrand. Heinrich versuchte nicht, sie zu verscheuchen. Bestimmt machte er Witze über die eigene Ungeschicklichkeit. Das gehörte zur Männlichkeit unbedingt dazu. Wenn es hart auf hart kam, musste man über sich selbst lachen können.

Meine Mutter kam mit dem Autoschlüssel zurück. Dann sind sie und Heinrich in die Notaufnahme des Benjamin-Franklin-Krankenhauses gefahren.

Weiter ging die Geschichte nicht; aber für mich hatte sie unabsehbare Folgen. Sie legte in mir eine Spur fest, der ich unmöglich folgen konnte. Ich war ein Stadtkind, das zufällig am Stadtrand lebte. Das ist die Wahrheit über mich. Nie im Leben hätte ich den Forderungen des Handwerkerdaseins genügen können. Jochen übrigens auch nicht. Wenn der von Holzstaub schon Ekzeme kriegte.

Ich erinnere mich genau an Heinrich, wenn im Sommer Holz angeliefert wurde. Da lief er immer mit nacktem Oberkörper herum. Er war weizenblond, hatte einen leicht gebeugten Rücken und schmale, und doch feste Muskeln.

Wenn er einen Baumstamm packte, ihn sich auf den Rücken wuchtete und in die Werkstatt schleppte, geschah jede Menge mit diesen Muskeln. Sie streckten sich, wulsteten, dehnten sich aus und zogen sich wieder zusammen. Schweiß lag gleichmäßig auf seiner Haut, daran klebten Späne und Holzstaub. Die Sonne brannte, und ab und zu hielt Heinrich inne, hob eine Wasserflasche auf, trank daraus und machte weiter.

Ich konnte mich nicht sattsehen an diesem Anblick.

So wollte ich auch sein, so körperlich, so unempfindlich gegen Schmerz, so selbstironisch, wenn er mich traf.

Störend war nur, wenn auch Mama auftauchte.

Dabei kümmerte sie sich immer rührend um mich, wenn sie auftauchte. Sie brachte mir was zu trinken und schäkerte mit mir, was sie sonst nie tat, berührte mich, nahm mich in den Arm, streichelte mir den Ellenbogen, wo so viele Nerven saßen, wo die Härchen diese Nerven durch einen bloßen Hauch schon reizten und ein kitzliges Wohligsein hervorriefen.

Sie war schlau, aber ich war schlauer.

Ich bemerkte die Blicke, die sie Heinrich zuwarf, keine langen, nichts Auffälliges, nicht viel mehr als Seitenblicke, schnell abgebrochen, dann kümmerte sie sich erneut um mich, forderte mich auf, noch was zu trinken, meinte, ich sei in diesem Monat ganz schön gewachsen, zählte die Sommersprossen in meinem Gesicht.

Ich sah an ihr vorbei auf Heinrich, der ein Grinsen im Gesicht hatte, sah seine Muskeln in Bewegung, den nassen Film auf der Haut, den leicht gebeugten Rücken, die strohblonden Haare.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich meiner Mutter erklärte, sie würde stören.

“Musst du nicht was kochen?”, fragte ich.

“Nicht jetzt”, sagte sie. “Später. Jetzt beschäftige ich mich lieber mit meinem lieben Sohn.”

Ich sah mit gnadenloser Klarheit, was sie jetzt tatsächlich lieber machte, und es war nicht kochen, ich wusste nicht, was es genau war, backen war es auch nicht, verdammt, Karola war nie da, wenn man sie brauchte, sie hätte es mir sagen können, sie kannte sich in solchen Dingen aus, wusste, was mit Mama und Heinrich los war.

Stattdessen kam Angelika um die Ecke gelaufen, und Mama ließ mich los, um mit grazilen Schritten auf Angelika zuzugehen, ihr Kleid bauschte, ihre Wangen glühten, sie strahlte Angelika an, die nichts ahnend zurückstrahlte.

Mamas Nähe fehlte mir, das Streicheln der Ellenbogen und das Zählen der Sommersprossen ganz besonders. Diese Berührungen waren so selten, die musste ich speichern, die vermisste ich, wenn sie nicht mehr da waren.

Außerdem war ich eifersüchtig auf Angelika, die nun in Mamas Armen hing, viel zutraulicher als ich vorhin. Ich hatte noch einen gewissen Stolz besessen, der Angelika vollständig abging. Sie klammerte sich an Mama, als ob sie ein Affenjunges wäre.

Mamas Blick streifte Heinrichs Oberkörper, das Holz stapelte sich und warf mir das Sonnenlicht direkt und grell in die Augen, anders als der Asphalt darunter, von dem Wärmestrahlen ausgingen, so dass die Luft sich wellte, so dass Konturen undeutlich wurden, Silhouetten sich unscharf abzeichneten.

Das konnte auch an den Tränen in meinen Augen liegen.

Es sind Tränen der Wut, sagte ich mir. Es gibt sie überhaupt nicht. Wenn Heinrich sie bloß nicht sah.

Ich rannte davon, über die Osdorfer Straße, ins Haus, nach oben auf den Dachboden zwischen die Truhen, wo es dämmrig, fast dunkel war, und hockte mich dort hin und hoffte, ich könne endlich schlafen.

Dabei war es immer noch mitten am Tag. Vormittag war’s. Ich wusste auch nicht.

“Ist es wegen Angelika?”, fragte Heinrich.

Ich sah ihn nicht, hörte bloß seine Stimme, meine Augen waren fest verschlossen. Immerhin war es hinter den Lidern tatsächlich ganz dunkel, nicht bloß dämmrig.

“Die ist mir egal”, sagte ich.

“Wollen wir mit dem Wagen zur Baustelle fahren?”

Ich riss die Augen auf. “Echt jetzt?”, sagte ich.

“Echt jetzt.”

“Und Mama kommt nicht mit?”

Heinrich schüttelte den Kopf.

“Ich hab Mama lieb”, sagte ich.

“Oh ja”, sagte Heinrich. “Die Liebe.”

Depression

Wenn mein Vater von seiner Kindheit erzählte, klang immer eine schlachtschiffgraue Freudlosigkeit an. Das mochte am Krieg gelegen haben, an dessen Ende er zehn Jahre alt war. Es mochte der Tatsache geschuldet sein, dass er aus Ostpreußen stammte. Das kann einen fertig machen. Ich selbst gebe seiner Mutter die Schuld, Großmutter, die in vielem eine herzensgute Frau war, bei deren Anblick es mich aber immer ein bisschen gruselte, genau wie beim Anblick der verschrumpelten Äpfel aus dem eigenen Schrebergarten, die sie uns immer mitbrachte.

Als würden wir die essen.

Papa erzählte von seiner schon in der Kindheit auftretenden Schüchternheit und Einsilbigkeit. Er erzählte von der vielen Arbeit im Betrieb. Er erzählte davon, wie er schon mit vierzehn in einem fremden Betrieb unter fremden Menschen in Stellung kam, wie er es so schön nannte. Großvater hielt nicht viel von Bildung. Man müsse kein Englisch können, um eine Platte glatt zu hobeln, pflegte er zu sagen.

Ein hochgehemmter, hochsensibler vierzehnjähriger Junge, der sich von da an selbst durch die Welt schlagen musste und für das Handwerk absolut nicht taugte.

Ähnlich wie Jochen und ich. Außer dass wir in unserer Kindheit kaum mithelfen mussten. Ein bisschen Wegräumen, ab und zu den Boden fegen, das Lineal oder den Zirkel reichen, wenn die Männer mal wieder was ausmaßen, so ein Zeugs. Das war alles Kinderkram, nicht der Erwachsenenkram, den mein Vater in seiner Kindheit hatte schultern müssen.

Als mein Vater meine Mutter kennenlernte, haben wir es also mit einem schwer angeschlagenen jungen Mann zu tun, der besser Junggeselle geblieben wäre. Er war Anfang zwanzig, als er als Geselle zu meinen Großeltern kam. Meine Mutter hatte ein Jahr lang als Au-Pair Mädchen in England gearbeitet und wohnte inzwischen wieder zu Hause.

In unserer Familie gibt es die schöne Anekdote, dass meine Mutter die Kaffeekanne fallen ließ, als sie meinen Vater das erste Mal sah. In meiner Vorstellung war es eine Blechkanne, da ging nichts zu Bruch, nur Kaffee floss glucksend aus der Tülle und versickerte langsam im Kies.

Ich habe mich schon immer gewundert, wie zwei schüchterne, introvertierte Menschen zueinander finden. Wie überwinden sie die Hemmungen, wie kommt es zum ersten Kuss?

Wahrscheinlich fängt derlei mit Blicken an. Papa und Mama saßen schließlich sechs Mal am Tag am Esstisch, sahen sich an, redeten, sahen sich noch ein wenig länger an, die Augen ineinander verkeilt.

Dabei blickte der Papa, den ich kannte, einen nie so richtig an. Seine Augen waren in der Regel gesenkt, die Schultern herabgesackt, die Arme hingen am Körper herunter. Alles an ihm strebte nach unten. Diesen Mann kann ich mir unmöglich bei Blickwechseln vorstellen, offenen Auges, der Körper gestrafft, die Arme erhoben in einer Geste, die seine Worte unterstrich.

Aber es muss diesen Mann gegeben haben.

Nach einer Blickwechselweile wollte meine Mutter unbedingt zu einem Fest im Gemeindesaal, und an dem Abend wurden Papa und sie ein Paar. Ohne die Hemmungen abbauenden Blicke hätte das bestimmt nicht geklappt. Da hatte sich schon vorher etwas angebahnt, und selbst im Gemeindesaal gab es langsame Tänze.

Es gibt eine andere Geschichte, die unter der Hand, um meinen Vater herum in der Familie kursiert. Danach soll meine Mutter mal zu meiner Oma gesagt haben, sie habe ja sowieso niemand anderen bekommen. Einerseits also die Kanne mit dem glucksenden Kaffee, reinstes Schicksal, andererseits reinste Not.

Die Aussage, sie habe keinen anderen gekriegt, ist deswegen erstaunlich, weil meine Mutter hübsch war. Sie hat das gute Aussehen bis ins Alter bewahrt. Überhaupt sind die handelnden Personen in dieser Geschichte attraktiv. Keine Filmstar-Schönheiten, aber weniger tut es schließlich auch.

Die Not meiner Mutter mag am allgemeinen Frauenüberschuss in Berlin gelegen haben. Die meisten der ledigen Männer waren bei uns unten im Süden amerikanische Soldaten, und so einen zu heiraten und mit ihm in die Staaten zu ziehen, hätte sich Mama trotz des Jahres in England nie getraut. Dazu war sie zu bodenständig.

Als Karola zur Welt kam, weinte mein Vater. Nicht vor Glück, sondern aus Verzweiflung, weil er nicht sah, wie er dieser Aufgabe jemals gerecht werden könnte.