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Andrea Golda

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Beschreibung

„Im Leben eines jeden Menschen gibt es Zäsuren, die es zu setzen gilt. Nur wenn die Befindlichkeit, die Absicht und der Zeitpunkt dafür ineinander stimmig sind, gelingen sie. Neues darf sich selbst gebären, Leben schießt empor, und das innere Feuer entfacht sich von selbst. Dann ist alles ganz leicht, wir segeln im Wind auf neuem Kurs. Und niemand kann uns abhalten davon." Mehrere Jahrhunderte. Ungewöhnliche Lebensentwürfe. Schicksalshafte Verkettungen. Was verleiht diesen Menschen Sinn und Inhalt? Worauf können sie vertrauen? Ihre Entscheidungen werden nicht zuletzt durch ein Büchlein miteinander verwoben, und auf unterschiedlichste Art und Weise nähern sie sich dem Geheimnis der Liebe ...

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Seitenzahl: 274

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Inhalt

Impressum

Widmung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

Nachwort

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2017 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903155-08-4

ISBN e-book: 978-3-903155-09-1

Lektorat: Mag. Nicole Schlaffer

Umschlaggestaltung: Bettina Hoflehner, nach einer Idee von Andrea Golda

Umschlagfotos: Wisiel|Shutterstock.com, Verena Matthew | Dreamstime.com

www.novumverlag.com

Widmung

Für dich!

1.

John Littleton hatte lange gewartet, ehe er sich wieder ins Licht wagte. Es schien ihm, als hätte ihn die Zeit verlassen – in all diesen Monaten.

Seneca, Voltaire und Robespierre hatten ihn begleitet und Unmengen von Whiskey auf Eis. „Was für ein Weg“, dachte er, als ihm der schüttere Schal aus der Kommode fiel, die längst ihre Zeit abgedient hatte und reichlich verloren im trüben Schein des fahlen Morgens stand. Er fuhr mit seinem Zeigefinger an der Kante des Holzes entlang und betrachtete einen Augenblick den feinen Staub, der sich auf seine Haut gelegt hatte. Wie um sich zu beweisen, dass nichts, aber auch wirklich nichts zurückblieb, wenn man nur stetig daran arbeitete, blies er die Schicht aus Vergänglichkeit und Grau von der Kuppe seines Fingers, strich ihn am Ballen glatt.

Ein kurzer Moment des Innehaltens nur – und er war bereit, die Tür in die Welt wieder zu öffnen. Was würde ihn erwarten – nach so langer Zeit. Hatte sie sich verdreht? Ihr Gesicht ihm zugeneigt oder war er es, der sich verdreht hatte im Konstrukt seines Selbst? Wenn er es nur vorher wüsste …

Zu Hilfe kamen ihm ein starker Windstoß und das betagte Alter seiner Eingangstür. Sie öffnete sich von selbst und ein schmaler Ausschnitt der Straße mit ihren Häusern und Vorgärten lag vor ihm. Im Rinnstein stand ein wenig Wasser und ein gelbes Blatt bewegte sich sanft darin.

Drei Damen ruderten mit ihren Schirmen ganz knapp an ihm vorbei. Eine davon versuchte ihrer Zeitung nachzueilen, die sich in Teilen davonzumachen schien und ein Eigenleben entwickelte. „16. September 1898“, war das Einzige, das er ausnehmen konnte, während das helle Lachen der drei an seinem Mantel herabperlte.

Er nahm dies als gutes Omen an und trat hinaus.

„7 Monde“, so zählte er in seiner verschrobenen, altmodischen Art. „Hatte sich etwas geändert?“ Nun, er würde es sehen …

Zielsicher bewegte er sich auf die Gloughester Street zu, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Nicht, weil es wirklich so kalt war – einfach, weil er nicht wusste, wo er sie sonst hingegeben hätte.

Da stand er nun, wusste nicht weiter und wollte es doch.

Er war sich im Klaren – nur, wenn er seine Schritte tat, würde sich etwas ändern in dieser Zeit, von der er nicht wusste, ob sie noch die seine war.

Jetzt fasste er sich ein Herz und überquerte die Straße.

Würde sie noch dort sein? Nach so langer Zeit?

Die Vernunft bejahte seine Frage, die Stimme in seinem Inneren wusste darauf keine Antwort.

„Ich bin voller Zuversicht“, flüsterte er in sich hinein.

Außer dem ungläubigen Blick eines kleinen Hundes, der sich an sein Hosenbein heranpirschte, bemerkte er keine Reaktion auf sein Tun. Äußerlich, wohlgemerkt. Seine innere Stärke aber nährte sich ob dieses einfachen Satzes und ließ seine Schritte schneller werden.

Jetzt, ganz bald, würde er es wissen. Nur mehr um die Ecke noch, dann würde er Gewissheit haben.

Seine Augen suchten einen imaginären Punkt irgendwo in der Ferne, während er tief einatmete und die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten ballte.

„Mein Gott, sie ist noch da, was mache ich nun?“, entfuhr es ihm.

In diesem Moment setzte sein klar strukturiertes Denken ein, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Schließlich und endlich hatte er lange genug Zeit gehabt diverse Strategien, die ihm in seiner Vorstellung für diesen Moment richtig erschienen waren, gedanklich auszufeilen. Auf jede mögliche Eventualität zu überprüfen. Diese war die unverfänglichste davon:

Während er auf sie zuschritt, riss er sich unauffällig zwei Knöpfe seines Mantels ab und warf sie in den Rinnstein. Ein dumpfer Laut – und sie fielen in eine Ritze zwischen den Pflastersteinen.

Jetzt konnte er sie ansprechen und jederzeit die Flucht antreten, wenn der Sachebene des Gesprächs Genüge getan und ihre Arbeit verrichtet war.

Mary, so hieß die junge Frau, verdiente sich ihr täglich Brot, indem sie aller Leute Löcher stopfte und Knöpfe annähte. Aus diesem Grund trug sie immer ein hölzernes Kästchen mit sich herum, welches sich aufklappen ließ und einen wahren Fundus an Stopfgarn, Nadeln und Verschlüssen offenbarte, wenn man hineinblickte.

Mary hatte ihren Arbeitsplatz auf einer niedrigen Mauer gewählt, welche den Stadtpark von der Straße trennte, die in einen großen Platz mündete. Ein zerschlissenes Kissen diente ihr als Unterlage, und das schwere Tuch ihres Rockes verdeckte es meist. Da sie eine sehr kleine und zarte Frau war, baumelten ihre Füße beim Arbeiten immer ein wenig hin und her und fanden selten den Kontakt zum Boden, außer sie stellte eine Spitze des ledernen Schnürschuhs auf einem Pflasterstein ab. Dann sah man ihre schlanken Fesseln und unweigerlich dachte sich der Betrachter, sie sollte besser Ballettschuhe tragen, so zierlich tanzte die beschlagene Spitze des Schuhs am Boden – zu einer Melodie, die nur sie kannte.

Bei fast jedem Wetter verrichtete die junge Frau ihre Arbeit dort und nie sah man sie jammern oder klagen. Selbst wenn die ersten Schneekristalle fielen und die Kälte ihre Hände zittern ließ.

Wachtmeister Browning, er war für die Sicherheit in diesem Stadtviertel zuständig, ging dann immer zu seinem Wagen und holte eine Decke für Mary heraus, die er ihr fürsorglich um die Schultern legte. „Es ist eine Schande, dass Menschen bei dieser Kälte im Freien arbeiten müssen und noch dazu so eine junge Frau“, murmelte er dabei. Zu ihr sagte er aber nichts und nickte ihr nur aufmunternd zu, was sie mit einem leisen Lächeln quittierte.

Wenn dann der Saum seiner Uniform wieder einmal eingerissen war, so verstopfte sie ihn schnell und ohne einen Penny dafür zu nehmen. Beide verloren hierbei niemals ein Wort, aber Browning achtete aus sicherer Entfernung immer darauf, dass Mary ihre Arbeit uneingeschränkt verrichten konnte. Und keiner der jungen, reichen Herren, die des Abends durch den Park streiften, weil das Abenteuer sie lockte, wagte es, nur eine anzügliche Bemerkung an Mary zu richten. Geschweige denn sie anzurühren.

Warum Mary ihr Geld auf diese Art und Weise verdiente, wusste Browning noch immer nicht, obwohl er versteckt, über einige Ecken, versucht hatte, Nachforschungen über sie anzustellen. Entweder war er so ungeschickt gewesen dabei oder es gab wirklich wenige Menschen, die etwas über Mary wussten. Jedenfalls verloren sich alle Informationen nach kürzester Zeit im Grau des abendlichen Nebels, der sich fast jeden Tag auf diese Stadt legte.

John ging also auf sie zu, für seine Begriffe viel zu langsam, um kein Aufsehen zu erregen. War er doch eine bekannte Persönlichkeit dieser Stadt, deren Schritte dokumentiert wurden. In abendlichen Zirkeln oder Essays, die seine ehemaligen Studenten in diversen Zeitungen veröffentlichten.

Andererseits ging es ihm aber auch zu schnell, denn seine Gefühle hatten nicht die Zeit, sich seinem Tempo anzugleichen.

Er wusste aber, es war zu tun. Und wenn nicht jetzt, dann würde er es nie mehr tun. Die Alternative hieße, sich seinen Studien zuzuwenden, noch eine brillante Idee zu gebären, ein Meisterwerk zu schaffen und seine Schüler zu begeistern. Vielleicht sogar eine ganze Epoche mit seinem Gedankengut zu infiltrieren und die Welt ein Stück weit mit zu verändern. Groß denken war nicht weiter schwierig für John!

Das aber, was er jetzt vorhatte, würde nur ihn verändern. Es war ihm nicht klar, welche Auswirkung sein Handeln haben würde und ob diese überhaupt vorhersehbar war. Deshalb wusste er nicht, welches Tempo seiner Absicht angemessen war und er stolperte beinahe über einen kleinen Stein, der sich ihm achtlos in den Weg gelegt hatte.

„Geh weiter!“, befahl er sich und gelangte – mit unsagbar klopfendem Herzen – zu ihr.

2.

Der Himmel spielte Kapriolen im Meer, verfing sich in jeder Schaumkrone und ließ die Gischt an seinen Tentakelarmen abperlen.

Hin und wieder fuhr er mit seinen Händen in die graublaue Unendlichkeit und lachte über die verdutzten Tropfen, die sich hoch in der Luft um ihre eigene Achse drehten.

Während er so selbstvergessen der Zeit ihre Bedeutung nahm und die Minuten zu Ewigkeiten dehnte, schaukelte mittendrin im azurblauen Nass eine winzige Nussschale, nicht größer als ein Fingerhut.

Nach genauer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, dass das holzähnliche Strandgut etwas Lebendiges barg, etwas, das atmete und sich bewegte. Von einer segeltuchähnlichen Plane verborgen, lugte bisweilen ein rötlicher Haarschopf hervor, eingerahmt von großen Augen.

Der Himmel konnte es nicht fassen, denn so weit nach draußen hatte sich schon lange kein Mensch gewagt.

Er stemmte seine Arme in die Seite und blies erst einmal kräftig seine Luft aus den Lungen, um seiner Verwunderung Ausdruck zu verschaffen. Dies hatte zur Folge, dass das kleine Boot kräftig durchgeschüttelt wurde und man zum ersten Mal die ganze Gestalt erkennen konnte, die da unten völlig verzweifelt um ihr Gleichgewicht kämpfte.

„Junge oder Mädchen“, fragte sich der Himmel, während er sich kräftig am Kopf kratzte und dabei eine Wolke zurechtrückte. „Alter? Vielleicht 18 – aber aus dieser Entfernung schwer zu schätzen. Und näher kommen werde ich nur im äußersten Notfall, entsinne ich mich doch noch genau eines Erwachsenen, der sich kürzlich meiner unendlich großen Augen wegen vor Schreck fast den Tod geholt hat – wenn ich nicht irre, ist sein Name Odysseus gewesen.“

Hin und her gingen die Überlegungen des blau bemantelten Herrn bezüglich der bestmöglichen Vorgehensweise, als ihm ein Sonnenstrahl zu Hilfe kam. Der kitzelte nämlich das Wesen da unten an der Nasenspitze und umgarnte es so lange, bis es sich vor Freude über die Wärme zu strecken begann und man unter der Schicht des dicken Pullovers zwei zarte Erhebungen erahnen konnte. Also tippte der Himmel auf „weiblich und mindestens 18“, wobei er nicht einmal so sehr daneben lag. Tatsächlich handelte es sich um die 27-jährige Lea H., die in einer schwülen Sommernacht, Ende des letzten Jahrhunderts, die wahnwitzige Idee geboren hatte, in einem australischen Einbaum das größte aller Meere zu durchqueren, um vor ihren eigenen Problemen davonzulaufen. Doch das wusste sie damals noch nicht.

3.

Vor einem halb gelösten Kreuzworträtsel ihrer Großmutter war sie damals gesessen, um drei Uhr morgens und hatte in der Schwebe zwischen Tag und Nacht beschlossen, dem nächsten gelösten Begriff Leben einzuhauchen, ihn als den ihren anzuerkennen, so wie andere ungeplante Kinder.

Damals war das Blut in ihre Adern hineingekrochen und hatte ein Feuer entzündet wie nie zuvor, als sie mit starrem Blick das Blatt Papier vor ihr fixierte. Noch hatte sie die Wahl, gefragte Begriffe gab es viele.

Sie sah auf die zerknitterte Zeitschrift und lang gehegte Gedanken flogen wie bunte Vögel auf.

„Suche nicht außen“, pochte ihr Herz. „Blicke in dich.“

Unwirsch warf sie ihr langes Haar nach hinten und meinte, halb zu ihrer schlafenden Angorakatze gewandt: „Jetzt hat es auch dich erwischt, die Esoterikwelle hat dich überrollt.“

Das Tier schien sich des Gesagten nicht anzunehmen und zeigte ihr, was es von alldem hielt: die zusammengerollte Rückseite.

Demonstrativ stand sie von ihrem Küchentisch auf und schob das Rätsel zur Seite. Barfuß, mit einem alten T-Shirt bekleidet, ging sie zum Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Wasser ein. „Wenn du so weiter machst, muss ich mich ernsthaft um dich sorgen“, sagte sie mit schulmeisterlicher Stimme, die sie plötzlich an ihren Großonkel denken ließ. Der bekannte Naturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet der Schmetterlingsaufzucht in gemäßigten Breiten hatte sich stets an die wahrnehmbare Wirklichkeit gehalten und alles darüber Hinausgehende den Priestern überlassen. Unwillkürlich musste sie lächeln, weil sie sich vorstellte, was er jetzt tun würde – in einem Leben nach dem Tod: Er listete sicher alle Wunder auf und unterteilte sie in „erklärbare und unerklärbare Phänomene“.

Lea schnappte sich die Strickjacke, die an einem Haken an der Rückseite der Küchentür hing und beschloss, ihrem Gedankenknäuel durch frische Luft den Garaus zu machen. Sie durchquerte den kleinen Vorraum, das Wohnzimmer und öffnete die angelehnte Balkontür.

Kühle Luft streichelte ihre Beine, während sie sich an das Geländer lehnte und nach unten blickte. Da ihre kleine Mietwohnung im Zentrum der Stadt lag, gab es immer etwas zu sehen, selbst jetzt, mitten im Vakuum zwischen Tag und Nacht. Fünf Stockwerke unter ihr zog ein einsames Taxi seine Runden und bettelte an jeder Kreuzung um Schlaf, indem es sich scheintot stellte und abstarb. Der Chauffeur jedoch ließ sich davon nicht beeindrucken und jagte es mit seinem Zündschlüssel wieder hoch. Ein Stück weiter links sah sie einige Straßenlaternen, die flimmerten, weil sie nicht recht wussten, ob sie noch gebraucht wurden. Neben ihnen vermischten sich die heimkehrenden Gestrigen mit den forteilenden Morgigen. Und während sie so auf die sich bewegenden Pünktchen blickte, die in einem eigentümlichen Rhythmus von den Schatten der Häuser verschluckt wurden, erschienen ihr die Straßenzüge, Autos und Menschen wie archaische Muster, wie Runen, wie Rätsel – eingeritzt in uralte Haut.

Da wusste sie, sie konnte von dem Stück Papier nicht lassen, das drinnen auf ihrem Küchentisch lag. Es gab nur eins, den Schritt nach vorne, darum sagte sie sich: „Los.“

Ein halb geöffnetes Auge, das sich sofort wieder schloss, investierte das Tier in seine Futtergeberin. Mehr Zeugen waren nicht aufzutreiben für jenen Moment, der Leas Leben nachhaltig verändern sollte.

Ruckartig zog sie den Sessel nach hinten, setzte sich darauf und legte beide Handflächen auf die Tischplatte. Den Rücken durchgestreckt richtete sie ihren Blick auf die bedruckte Seite.

Zuerst nahm sie nur helle und dunkle Flächen wahr, in unterschiedlichen Verhältnissen einander zugeordnet. Dann formten sich die schwarzen Punkte zu Linien, die sich als Wörter entpuppten. Im Augenaufschlag flog ein noch nicht katalogisierter Schmetterling ihres Großonkels übers Blatt, dann las sie: „Größte Wasserfläche der Erde, 7, waagrecht“, „aus ausgehöhltem Baumstamm hergestelltes Boot, 7, senkrecht“, „kleinster Erdteil, 10, waagrecht“. Völlig mechanisch füllte sie Spalte um Spalte mit „Pazifik – Einbaum – Australien“ und legte dann den Stift zur Seite. Was sollte sie nun damit anfangen, was weiter tun?

Die pathetische Größe des Augenblicks war dem schalen Geschmack vertaner Zeit gewichen und trübes Morgenlicht rahmte beides ein. Müde richtete sie sich auf und warf einen kleinen Blick auf die Standuhr. „Beinahe vier?“

Sie umschlang sich mit beiden Armen und murmelte: „Ich hab dir deine Ruhe gestohlen“, während sie leise mit einem Bein die angelehnte Schlafzimmertüre antippte und sich dann an ihren Freund schmiegte, der sich selbst im Traum wunderte, warum ihn in Einbäumen sitzende Ureinwohner auf dem Pazifik verfolgten.

Während Lea in einen unruhigen Schlaf fiel, nahm die Katze von ihrem stillschweigenden Recht Gebrauch, des Nachts den Küchentisch zu okkupieren. Zudem zogen sie die zerknitterten Blätter obenauf magisch an, hatte doch ihr Frauchen die halbe Nacht darüber gebrütet, als wär’s der Stein der Weisen selbst. Ein kurzer Blick nach links und rechts, dann sprang das Tier hinauf und fühlte sich bald darauf entführt ins Reich der Illusionen. Ein flüchtiger Hauch, als Tempelkatze verehrt worden zu sein, ließ sie wohlig erschauern und ihre Krallen ins Papier werfen. Ihr Traum schien immer detaillierter zu werden – am Vorabend war im Fernsehen „Ägypten und sein Tierkult“ ausgestrahlt worden und sie hatte die Sendung mit halb geschlossenen Augen mitverfolgt … jedenfalls zerriss sie voller Lustgefühle die ganze Seite, auch jene Stelle, wo das Rätsel noch nicht vollständig gelöst war. Lea hatte folgende Fragestellung übersehen: „Gegenteil von fremdbestimmt, 14, senkrecht“.

Die Lösung sollte noch von entscheidender Bedeutung für das Handeln der jungen Frau werden.

4.

Jo, so nannten ihn ausschließlich seine Freunde, zog sich seine Schirmmütze tief in die Stirn, als er der steifen Brise entgegentrat, die ihn draußen umfing. Ungeschickt knöpfte er sich seine graue Wolljacke zu, was mit seinen gichtgeschwängerten Fingern kein leichtes Unterfangen war, zudem ihm der kühle Nordostwind die Hände schwer werden ließ. Endlich war die warme Hülle geschlossen, unbeabsichtigt asymmetrisch zwar, links oben ein Knopf als traurig wippendes Accessoire, rechts unten ein ins Leere blickendes Auge, welches bei genauem Hinsehen ein Stück des gestreiften Hosenstoffs freigab, aber nur ganz verschämt und unfreiwillig. John fühlte, dass mit seiner Jacke etwas nicht in Ordnung war und er zuckte mit der einen Schulter, um den Stoff in Form zu zwängen – ohne Erfolg, wie sich schnell herausstellte. Trotzdem blickte er nicht nach unten, um die Ursache seines Unbehagens herauszufinden, sondern zog es vor, mit zusammengekniffenen Augen die Entfernung zum nahen Strand abzumessen. Das hatte er sich so angewöhnt, obwohl er seit Jahren auf diesem Streifen Land lebte und ihm der Gang zum Meer so selbstverständlich geworden war wie die morgendliche Tasse Kaffee, wenn alle in der Kleinstadt noch schliefen und ihren Träumen Glauben schenkten.

Vielleicht hatte er diese Angewohnheit von seinem Großvater, den er zwar kaum gekannt hatte, an dessen Augen er sich aber noch lebhaft erinnerte, sodass er die Fältchen rundherum bis heute zählen konnte – sie waren ihm als kleiner Junge immer wie Wege auf einer Landkarte erschienen, mit all ihren Abzweigungen und Furchen.

Pa, so war er von allen genannt worden, war immer auf der Terrasse des städtischen Altersheimes gestanden, wenn sie ihn besuchen gekommen waren, bei jedem Wetter, bei jeder Jahreszeit. John hatte sich damals wiederholt gefragt, ob er wohl da draußen im Stehen schlief und wie er es schaffte, sein Bedürfnis zu verrichten, ohne dass es die Vorbeikommenden merkten. Aber ihn zu fragen war ihm nicht in den Sinn gekommen. Das hätte seine Mutter nur noch mehr erregt, fühlte sie sich doch schon genug gestraft ob ihrer wöchentlichen Pflichtbesuche, welche sie sich auferlegt hatte. Und niemand wusste warum.

Nur John spürte dieses feine, klebrige Band, das seine Mutter mit Pa verband und er fühlte auch, dass eine einzige Frage reichen würde, es zu zerreißen. Allein die Vorstellung darüber spülte ihm Ozeanwasser in die Augen. Und dann blickten sie auf ihn herab, die beiden, und schüttelten den Kopf wie Marionetten, denen die Fäden ausgerissen worden waren. „Von wem er das nur hat, der Junge“, murmelte sein Großvater dann und lenkte damit nur ab von dem, was danach schrie, ausgesprochen zu werden. Jedes Mal wieder, wenn sie kamen, er und seine Mutter.

Doch Jo wusste mit der untrüglichen Sicherheit seines Kinderherzens, dass er es herausfinden würde, das Geheimnis der Bande, das Menschen miteinander verwob. Sie aneinander band oder fesselte und ihre Seelen zerschnitt.

Es sollte aber viele Jahre dauern, ehe sich John dieser Frage wieder entsann, welche ihn als Junge die Welt nicht verstehen ließ und ihn viel zu früh erwachsen hatte werden lassen.

Im Hinterzimmer des kleinen Cafés, das seine Mutter führte, war er gesessen, in kurzen Hosen, Sommer wie Winter, hatte alleine seine Schularbeiten verrichtet, denn niemand war da gewesen, ihm zu helfen oder ihn zu kontrollieren. Wer hätte es auch tun sollen? Rose, seine Mutter, war zwischen dem Aufbrühen von Kaffee und dem Anzapfen von Bier gefangen gewesen, im Kreise sich drehend, die nassen Hände an der Schürze und viel zu selten über den lockigen Schopf des Kindes streichend.

Sein Bruder, ein Wildfang, der Lustige, hatte die Lacher schon früh auf seiner Seite und scherte sich wenig um ihn, jagte früh den bunten Röcken der Mädchen nach und in späteren Jahren den geselligen Stunden mit Flaschen voll Wein.

Der Vater, nun ja, er war wohl da, aber auch wieder nicht. Sein Geschäft war ihm Ehefrau und Gefährte in einem, sein Verdienst ließ ein gutbürgerliches Leben zu und die Wertschätzung der Bevölkerung der kleinen Stadt. Aber Vatersein stand nicht an oberster Stelle seines Daseins, und so wuchs der kleine Jo mit seiner reichen, gefühlvollen Seele wie ein Einsiedler im Hinterzimmer des verrauchten Cafés heran. Mit so vielen Fragen im Herzen, deren Sinn er lange nicht verstand.

Immer, wenn es bereits dämmerte und sich seine Mutter müde eine Haarsträhne aus der Stirn strich, saßen noch einige traurige Existenzen im Hinterzimmer. Ihr Bier war warm geworden. Zuhause wartete niemand oder nur jemand, der sie nicht freudig begrüßte, deshalb suchten sie Halt im kleinen Lokal. Wie Schiffbrüchige hielten sie sich an den dunklen Tischbalken fest oder klammerten sich an das halb leere Glas.

„Junge“, sagte dann der eine oder andere. „Hast du kurz Zeit?“

„Sei immer höflich, sei immer zuvorkommend“, das waren die Worte von Rose so oft gewesen, dass John es nie gewagt hätte zu verneinen.

Deshalb rückten die einsamen Herzen immer wieder an ihn heran, im hinteren linken Eck des kleinen Raums, über dessen Tisch ein trauriger Fliegenfänger hin- und herschwang – im sich drehenden Rhythmus des verchromten Standventilators. Rrrrrsch, Rrrrsch, auf und ab.

Was Jo dort erfuhr, an Trauer und Leid, an Sehnsucht und Lust, an Schicksal und Unverständnis, das würde heute ein Lehrbuch für angehende Psychoanalytiker füllen. Er aber, mit seiner kleinen Statur und übergroßen Seele, nahm alles in sich auf und hörte zu. Immer wieder.

Diese Erfahrungen hatten ihn so früh erwachsen werden lassen.

Weil das alles so viel von so vielem gewesen war, hatte er sich seine eigenen Fragen lange nicht gestellt.

Und während Jo eben an diesem Abschnitt Strand stand, seine Schirmmütze festhielt, da der aufkommende Wind sein eigenes Ding drehte, tropften diese Erinnerungen in ihn hinein, bildeten Tümpel und Seen und ein Erkennen stieg in ihm auf.

Es wurde ihm mit einem Mal klar, warum sich sein Leben so gedreht und gewendet hatte.

Die vielen unzähligen Erlebnisse und Erfahrungen, die vielen Schicksale und Begegnungen, die sich in ihn eingeprägt hatten wie Brandwunden auf der Haut, hatten seine Seele gelöchert, ihn durchlässig gemacht zu einer Zeit, in der andere Kinder den Wind auf der Haut spürten beim Fußballspiel oder anderen Freizeitbeschäftigungen.

Und weil ihn diese einsamen Menschen im Hinterzimmer des Cafés seiner Mutter fast ausschließlich mit den Problemen ihres Daseins konfrontiert hatten, war sein Weltbild so geworden, wie es bis heute war. Offen für andere, verschlossen für sich selbst.

Er hätte wohl einen Mentor gebraucht, einen, der sich seiner angenommen hätte. Vielleicht die Großmutter, welche ihm liebevoll die andere Seite des Lebens gezeigt hatte … leider viel zu selten …

Doch selbst diese Was-wäre-wenn-Spiele ließen seine Gedankengänge selten zu. Wozu wären sie auch gut gewesen, wenn sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen ließ, nur nach vor … Das war zumindest seine Einstellung gewesen.

Bis jetzt.

Mit zügigen Schritten überquerte Jo nun die schmale, noch unbefahrene Küstenstraße und stieg die wenigen Stufen zum Strandabschnitt hinab. Seine Schuhe sanken kaum nennenswert ein, als er seinen Morgenspaziergang auf sandigem Boden fortsetzte. Außer den sich gleichförmig brechenden Meereswellen und dem Scharren seiner Füße bei jedem Schritt war wenig Abwechslung zu erkennen für den stillen Beobachter dieser Szene. Eine zerzauste Möwe auf einem geborstenen Ast verfolgte Jo mit ihren kleinen, glänzenden Augen.

Weil der Nordostwind ihm immer wieder zusetzte und die Aufschläge seiner Jacke hochdrehte, steckte Jo seine Hände in die Jackentaschen und straffte sie so nach unten. Nun schmiegte sich der wollige Stoff fester an seinen Oberkörper und der Wind drang nicht mehr so stark zu ihm vor.

Während seines Tuns fand einer seiner Finger ein winziges Loch im Innenfutter, und weil der Mensch vieles zu ergründen sucht, bohrte sich sein Mittelfinger immer tiefer in die Öffnung hinein.

Und wurde fündig.

Ein kleiner, harter Gegenstand schien sich darin verfangen zu haben, wie die Tentakel des Oktopus im Fischernetz am Hafen vor ihm.

Er nestelte so lange an ihm herum, bis er ihn in seine Hand gebar und rasch ins morgendliche Licht begleitete.

„Mein Gott, wie lange ist das denn her?“, entfuhr es ihm, als er das metallene Stück erblickte. Es war ein winziger, in dumpfem Grau gehaltener Rosenkranz, der nun auf seiner Handfläche lag. Es war so einer, der aus materieller Sicht nichts wert war und seine Bedeutung nur aus dem Kontext zog, den sein Betrachter ihm nun gab.

„Wann war das gewesen, nicht einmal daran erinnere ich mich noch …“ Fragmente der Erinnerung formten sich vor ihm, während er in seine Hand blickte.

Es war seine Großmutter gewesen, die ihm dieses Stück geschenkt hatte. In ihrer liebevollen Art hatte sie es ihm einmal in die kleinen Hände gelegt und ihn gemahnt, es niemals zu verlieren. Es sollte ihn beschützen und mit einem Kreuzzeichen auf seine Stirn besiegelte sie seine Bestimmung, welche seine Familie für ihn vorgesehen hatte.

Jo, der seine zarten Finger nicht gut gebrauchen konnte, wenn ihn sein Vater als Hilfe bei seiner Arbeit mitnahm. Jo, der lieber im Hintergrund agierte. Jo, der sich nicht so verhielt, wie es ein Junge in seinem Alter sollte. Nichts Bestimmtes an ihm, nichts, was Nachhaltigkeit in den Köpfen der Menschen hinterließ, die über seine Familie sprachen. Jo war einfach da, aber irgendwie auch wieder nicht.

Also entschieden seine Eltern eines Abends, als alles still im Haus geworden war, ihn in die Priesterschule zu schicken. Einer von ihnen im Stand des Klerus würde dem Ruf der Familie dienlich sein. Jo, der Absolution von Sünden einen Schritt näher als alle anderen. Das konnte nicht schaden in dieser Welt, zu dieser Zeit.

Gefragt wurde der Junge natürlich nicht, aber weil er es sowieso nicht gewohnt war in sich hineinzuhorchen, schien ihm diese Entscheidung der Erwachsenen gottgewollt und natürlich. Zumal ihm vorkam, dass das, was er einmal tun würde, ganz ähnlich wäre wie das, was er bereits seit geraumer Zeit im Hinterzimmer des Cafés tat.

Zuhören, da sein und den Menschen das Gefühl geben, ein Ohr für ihre Sorgen und Probleme zu haben. Dass er im Anschluss daran auch noch eine Absolution erteilen durfte, verschaffte ihm mehr Handlungsspielraum, als er jetzt hatte.

Noch dazu war in einem Beichtstuhl die Luft sicherlich besser als dort, wo ihm jetzt alle Menschlichkeit ausgebreitet wurde wie ein Mantel. Nur dass dieser nicht wärmte, sondern schwer wog.

Also nickte er nur und freute sich sogar irgendwie darauf, das große, weiße Gebäude betreten zu dürfen, das viel Wissen barg und junge, intelligente Männer in sich aufnahm. Jeden Morgen, wenn die großen Tore geöffnet wurden.

Dies und noch einige andere Szenen durchpflügten seine Gedanken, doch nicht alle davon waren positiv besetzt. Einige davon wogen schwer und zogen ihn wie Tonnen von Steinen hinab.

Und weil der Mensch manchmal lieber einen Schritt zurück macht als nach vor, so rieb sich Jo seine Stirn mit der anderen Hand ganz fest und trat aus sich heraus, anstatt ein Stück mehr in sich hinein.

Nahm seine Umgebung wieder wahr.

Und stutzte.

Kurz.

Das konnte wohl nicht sein!

Vor ihm trieb, weit draußen, ein gar seltsames Stück.

Es sah fast aus wie ein Einbaum, eine Art Schiff, wie er es neulich in einer Dokumentation über Australien gesehen hatte.

Aber sicher war er sich nicht. Seine Augen erlaubten nur dem Naheliegenden, klare Konturen wahrzunehmen.

„Sollen doch die anderen herausfinden, was das ist“, brummelte er vor sich hin und der Gedanke an seinen Kaffee, den er nun frisch aufbrühen würde, stand ihm weit näher als das vor ihm schaukelnde Stück.

Also drehte er sich um, versenkte das metallene Geschenk wieder in seiner Tasche und ging gegen Osten.

Dort stand sein Haus.

5.

Mary, die kein sichtbares Zeichen des Wiedererkennens von sich gab, hob leicht ihren Kopf und blickte ihn fragend an. Nur jemandem, der sie wirklich gut gekannt hätte, wäre das leichte Zucken eines Augenlids aufgefallen, welches ein untrüglicher Hinweis für ihre innere Anspannung war, die sich seit der Früh in ihr breit gemacht hatte.

Aufgewacht war sie mit schweren Gliedern und einem pochenden Herzen. Seit geraumer Zeit waren ihre ersten Gedanken ihm gewidmet. So fragte sie sich auch heute, wie es ihm wohl ging, was er wohl tat im Nebel seiner Verwirrtheit aus Verletzung und Angst.

Sie hatte sich mit John so vertraut gemacht, dass ihr ohne diese gedankliche Hinwendung mit Sicherheit etwas gefehlt hätte. Also reflektierte sie ihr morgendliches Ritual nicht weiter oder kommentierte es im inneren Monolog.

Sie nahm an, was sie nie erwartet hatte – die tiefe Zuneigung zu einem Menschen, der davon keine Ahnung hatte.

Das glaubte sie jedenfalls.

Viel hatte er gesprochen. Über sich, seine Sorgen und Probleme, sein ganzes Leben hatte er vor ihr ausgebreitet. Und sie war einfach da gewesen, hatte zugehört, ihm das Gefühl gegeben, angenommen zu werden. Trotz seiner Verletzungen und seiner Gebrechlichkeit – oder vielleicht auch deswegen.

Mary erinnerte sich noch so genau daran, als wäre es gestern gewesen. Das eine Bein, das er beim Gehen leicht nachzog. Die ruhelose Hand, die er hinter einer Zeitung zu verbergen suchte. Die Mundwinkel, die viel zu stark nach unten zogen und seinem Äußeren den Anschein eines verhärmten Menschen gaben.

Er wäre einmal beinahe in sie hineingestolpert, so wie er jetzt durch ihre Gedanken und Gefühle stolperte.

All dies und noch vieles mehr ging ihr jetzt durch den Kopf, während sie mit gesenktem Blick wahrnahm, dass er auf sie zuschritt. Betont forsch und für ihre Begriffe ein wenig zu schnell.

Es war interessant zu beobachten, wie unterschiedlich Geschwindigkeit bewertet werden konnte!

Sie kramte in ihrem Nähkästchen und holte Bindfaden und Nadel hervor, in der Hoffnung für ihn etwas tun zu können. So konnte Mary den Zeitpunkt hinauszögern, die rechten Worte zu wählen, die diesem Wiedersehen angemessen waren.

Immer schon war ihr die Macht von Worten bewusst gewesen. Sie verstand bis heute nicht, warum Menschen sie so achtlos einsetzten und sich selten im Klaren waren, welche Wirklichkeit daraus erschaffen werden konnte.

Ein wärmender Mantel aus Geborgenheit. Ein Schlachtfeld im Krieg. Ein ödes Land. Ein Sumpf aus Betrug. Wie oft hatte sie bereits darüber nachgedacht, wenn sie des Nachts ihre Augen nicht schließen konnte. Vielleicht waren diese Überlegungen mit ein Grund gewesen, warum sie heute ihre Worte sparsam einsetzte, langsam und häufig leise sprach. Laute und raue Aussagen trieben ihr noch immer die Kälte ins Genick, obwohl es Jahre her war, dass sie selber solchen ausgesetzt gewesen war.

Nun war es aber nicht an der Zeit, darüber nachzudenken, deshalb hob sie ihren Blick und wartete auf das, was er von sich geben würde.

„Die Knöpfe, sie sind ab“, sprach er und hob dabei beinahe entschuldigend seine Hände, breitete sie aus – und ließ sie wieder sinken. „Was nun?“, formten seine Lippen lautlos und verlegen verlagerte er sein Gewicht auf das andere Bein.

Sie war stets bedacht darauf, dass sich keiner vor ihr eine Blöße geben musste. Deshalb blickte sie ihn betont ruhig an und antwortete: „Dafür bin ich ja da.“ Und begann ihre Arbeit zu tun, indem sie in ihrem Holzkästchen nach ähnlichen Knöpfen suchte, die sie an seinen Rock annähen konnte. Dazu musste sie die seinen aber genauer betrachten und zog Gehrock und Mann näher an sich heran. Dabei nahm sie seinen Geruch wahr: Tabak, Whisky und Staub kamen ihr in den Sinn. Und ihr Herz bäumte sich auf.

Wie konnte sich bei so wenig Handlung so viel im Inneren bewegen?

Gerne hätte sie sich mit diesem Gedanken jetzt näher auseinandergesetzt, aber dieser Exkurs in die menschliche Psyche war ihr nicht vergönnt. Zu sehr entwickelte ihr Gefühlsleben eine Eigendynamik, die sie nicht steuern konnte.

In dem Moment, in dem sie beginnen wollte, etwas völlig Irrationales zu tun, nämlich ihn vor allen Menschen zu umarmen, kam er ihr zuvor.

Das hatte sie nicht vermutet.

Oder doch?

„Mary“, sagte er. „Mary, du weißt, warum ich so lange kein Lebenszeichen von mir gegeben habe.“

Sie wusste es, natürlich. Aber antwortete nicht darauf.

Was hätte sie schon sagen können, in Anbetracht der Tatsache, was geschehen war. So viel, so wenig. Wie immer man es sehen wollte.

In ihr zuckte die Erinnerung auf wie Blitze am Himmel einer stürmischen Nacht.

Seine Frau kam auf sie zu. Das wusste sie damals natürlich noch nicht. Wollte das von ihr, was alle wollten: Knöpfe annähen, Säume einfassen und Löcher stopfen. Nur verhielt sie sich irgendwie anders dabei – betrachtete Mary eindringlich bei ihrem Tun und sprach kein Wort. Bezahlte schweigend und stand am nächsten Tag wieder vor ihr. Mit einem anderen Kleidungsstück, das aus der Fasson geraten war.

Nach einiger Zeit hatte Mary den schweren Verdacht, dass es keinen Haushalt in dieser Stadt geben konnte, der so viele zerrissene Säume, Löcher und knopflose Kleidung besitzen konnte wie dieser. Und sie stellte sich vor, wie diese Frau an alle Türen ihrer Straße klopfte, um einzusammeln, was ihrer geschickten Hand bedurfte. Doch das machte keinen Sinn, und mit jedem Tag, der in dieser Weise verging, wurde Mary unruhiger. Schließlich kam sie zu dem Entschluss, lieber auf die Bezahlung und die Tätigkeit für diese Frau zu verzichten, als bei diesem ungewöhnlichen Spiel mitzumachen, von dem sie nicht wusste, wofür es gut sein sollte. Zuvor wollte sie aber Klarheit gewinnen und hob an zu sprechen, als ihr die elegant gekleidete Dame ein neues Kleidungsstück in die Hand drücken wollte.

Mary nahm sich ausnahmsweise nicht die Zeit, ihre Frage sorgfältig zu formulieren. Ein rauer Laut entrang sich ihrer Kehle. Ein Räuspern mehr.

Zögern stand im imaginären Raum, der sich um diese beiden Frauen gewoben hatte.

Womit sie nicht gerechnet hatte, Johns Frau schnitt diesen Raum entzwei: „Sie würden ihm gefallen. Meinem Mann.“

Verständnislos blickte Mary in deren braune Augen. Ihr verschlug es die Sprache.

Zum ersten Mal.