Liebe braucht nur zwei Herzen - Judith Wilms - E-Book
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Liebe braucht nur zwei Herzen E-Book

Judith Wilms

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Beschreibung

Gerade als sie ihr Leben sortiert hat, bringt er ihr Herz durcheinander

Niemand kann besser loslassen als Liv. Als Ordnungsfee hilft sie ihren Kunden dabei, ihr Leben auszumisten – denn sie weiß ganz genau, dass es sich oft nicht lohnt, Dinge aufzubewahren. Genauso wenig, wie sich die Liebe lohnt. Als sie im Haus ihrer Eltern eine Kiste voller Jugenderinnerungen findet, beschließt Liv, endlich die Liebesbriefe von Flo, dem Nachbarsjungen, loszuwerden. Doch gerade als sie seine Briefe in die übervolle Mülltonne stampft, steht Flo plötzlich wieder vor ihr – groß, erwachsen und mit seiner stupsnasigen kleinen Tochter an der Hand. Livs Herz macht ganz unerwartet einen Salto. Doch bestimmt lässt sich auch Chaos im Herzen ganz leicht aufräumen … oder?

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Seitenzahl: 442

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Autorin

JUDITH WILMS reist gerne mit leichtem Gepäck, sammelt lieber Momente als Dinge und mistet zu Hause regelmäßig aus – doch von guten Büchern kann sie sich einfach nicht trennen. Wenn sie nicht gerade schreibt, verbringt sie die Zeit am liebsten mit ihren beiden Kindern, Waldspaziergängen oder einer Tasse Darjeeling. Sie lebt in Stuttgart, wo sie von ihrem Schreibplatz aus die Sonne aufgehen sehen kann.Mehr über die Autorin auf Instagram (@judith_wilms).

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JUDITH WILMS

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd GmbH

Umschlagmotiv: www.buerosued.de

Redaktion: Angela Kuepper

Das erste Zitat stammt aus: Fred Kinglee & die King-Kols: Russischer Salat – Die schönsten Hits der 50er, Folge 1. Alojado 2013.

Das zweite Zitat stammt aus: Mr. Moneymaker,Lied von Helga Wille und die Nicolets, in: Glorreiche Oldies – Das Schönste der 50er und 60er,Folge 2. Polydor 1992.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25439-1V002

www.penguin-verlag.de

Für Joachim und Rosa – die bei einer Wanderung als Proviant Orangen in einer Papiertüte dabeihatten –

Prolog

Ich erteile gern Ratschläge. Genau genommen ist es mein Beruf, Ratschläge zu erteilen: Sortiere nach Kategorien aus, nicht nach Räumen.

Weise jedem Ding einen eigenen Platz zu.

Wirf alle Dinge weg, die du ein Jahr oder länger nicht mehr in der Hand hattest.

Aber wenn mich jemand in diesem Moment um einen Rat bitten würde, würde ich sagen: Wenn du bis zur Hüfte in einer Mülltonne stehst, während du der Liebe deines Lebens nach Jahren wieder begegnest, dann lächle.

Verdammt noch mal, Liv, lächle.

Stottere nicht herum. Und bewege dich keinen Zentimeter von dem alten Liebesbrief weg, auf dem du stehst. Dem Liebesbrief, den er dir vor langer Zeit geschrieben hat. Er wird schon nicht, ganz bestimmt und hoffentlich nicht, danach fragen, was du da gerade weggeschmissen hast.

Eine Woche zuvor

Lektion 1:Auch deine Lieblingsdinge sind nur Dinge.

Willkommen in Berlin.

Auf diesem Schild in der Ankunftshalle steht doch tatsächlich Willkommen in Berlin. Ich seufze. Es ist zwanzig Grad kälter als in Andalusien, es ist abends um halb fünf schon stockdunkel, und der Bus, der vom Flughafen Tegel in die Innenstadt fährt, ist heillos überfüllt. Ich schiebe mich mühsam an mehreren Typen vorbei, die auf ihr Smartphone starren, bis ich eine Lücke finde. Ein Zweimetermann rempelt sich bis in den hinteren Teil des Busses durch, was auf lautes Stöhnen und Empörung stößt. Willkommen in Berlin, denke ich, greife nach der Haltestange und spähe nach draußen. Die Lichter der entgegenkommenden Autos ziehen an mir vorüber. Ich versuche, die nörgelnden Kommentare um mich herum auch an mir vorüberziehen zu lassen. Denn das, was ich hier vorhabe, entschädigt mich für alles: Ich habe die Wärme Spaniens hinter mir gelassen, weil ich endlich mal wieder einen richtig großen Auftrag habe. Einer, der meinem Konto guttun wird. Das habe ich Vicky zu verdanken. Sie lebt mit ihrer Familie dauerhaft in Berlin und ist trotz Familienalltag sehr geschickt darin, solche Jobs an Land zu ziehen. Ich bin fürs Ausmisten zuständig und schreibe darüber in meinem Blog, das Liv with less heißt. Vicky ist fürs Behalten und Aufarbeiten der verborgenen Schätze zuständig, die sie dann in ihrem Vintage-Laden verkauft. Ich lächle in mich hinein bei dem Gedanken daran. Im Grunde könnten wir nicht unterschiedlicher sein, aber genau das macht uns zu einem tollen Team. Ein Team, das immer wieder in Berlin zusammenfindet, um solche Aufträge gemeinsam zu meistern.

Kurz vor der Haltestelle Hauptbahnhof klingelt mein Handy so laut los, dass ich zusammenzucke. Ich versuche, es schnell aus der Seitentasche meines Rucksacks zu ziehen, bekomme es in der Enge aber nicht richtig zu fassen. Hinter mir sagt jemand: »Aua!« Mein Handy dudelt immer weiter. Eine Frau mit knallrot gefärbten Haaren dreht sich zu mir um und blickt mich böse an. Sie sieht aus, als stünden ihre Haare vor Wut in Flammen. Ich lächle ihr entschuldigend zu. Da endlich erwische ich mein Telefon.

»Hallo?«

»Liv?« Irgendetwas ist nicht in Ordnung, das höre ich Vickys Stimme sofort an. Wenn man seit Schulzeiten befreundet ist, kennt man jede Tonlage.

»Liv, sitzt du? Ach, egal. Also – der Auftrag ist geplatzt.«

»Was?!« Vier Köpfe drehen sich zu mir. »Verdammte …« Ich beiße mir auf die Lippen.

Ohne diesen Auftrag, eine Haushaltsauflösung, fehlen mir bitter benötigte zweitausend Euro. Vicky erklärt mir, dass der ältere Herr, dessen Villa wir hätten ausräumen sollen, alles in letzter Minute abgeblasen habe.

»Und weißt du, warum? Weil er sich verliebt hat. In seinem Alter! Jetzt will er mit seiner neuen Flamme in der Villa wohnen.«

»Hätte der sich nicht erst verlieben können, nachdem er ausgewandert ist?«

»Du bist wie immer unglaublich romantisch, Liv.«

Im Hintergrund höre ich ihren kleinen Sohn Jonas losschreien. Ich halte das Handy von meinem Ohr weg.

Vicky erhebt ihre Stimme über den Lärm. »Alles Weitere besprechen wir wohl besser morgen … Mir wäre auch nach Schreien, jetzt, wo dieser Auftrag geplatzt ist.«

Resigniert stimme ich ihr zu. »Bis dann. Gib Jonas einen Kuss von mir.«

Als der Bus wieder losruckelt, blicke ich durch eine Lücke in der Menge nach draußen. Die Lichter ziehen an mir vorüber, aber ich stecke hier fest. In Berlin. Ohne Auftrag. Ohne Kohle. Ich atme tief durch, doch die Luft hier im Bus ist stickig. Ohne Kohle. Ohne Kohle. Ich presse kurz die Augen zusammen. Stopp, Liv. Das Einzige, was mir jetzt noch helfen kann, ist, zu zählen. Während wir durch die Straßen rattern, nehme ich einfach, was als Nächstes in meinem Blickfeld auftaucht: Ich beginne, Ampeln zu zählen.

Ampel eins: Der langersehnte, wichtige Auftrag ist weg, aber – ich schaffe das schon. Irgendwie.

Ampel zwei: Meine Hand an der Haltestange ist schön gebräunt. Ich konnte in Andalusien noch richtig Sonne tanken bei der Arbeit, obwohl es November ist.

Ampel drei: Dadurch, dass der Auftrag geplatzt ist, werde ich unerwartet viel Zeit haben. Die nutze ich dann eben für meinen Blog. Oder sogar, meldet sich eine Stimme in meinem Hinterkopf, oder sogar für dieses Buch, das ich schon immer mal schreiben wollte.

Ampel vier: Ich könnte mir andere Aufträge suchen. Nicht die Haushaltsauflösungen, die Vicky uns organisiert. Ich arbeite einfach auch in Berlin als Ordnungsfee. Wenn ich auf Reisen bin, ist das ohnehin meine Hauptbeschäftigung. In den letzten drei Jahren meines Nomadenlebens habe ich in Bibliotheken ausgemistet, in Hotels, auf Reiterhöfen und in Privathaushalten. Schon mit ein bis zwei kleinen Ordnungsaufträgen könnte ich zumindest das Geld verdienen, das ich brauche, um wieder von hier abzuhauen.

Ich bin in Berlin aufgewachsen, aber zurzeit hält mich wirklich nichts hier. Nur bei meinem Vater und meiner Schwester lasse ich mich jedes Mal kurz blicken, wenn ich mit Vicky arbeite. Wohlgemerkt: kurz. Das reicht dann auch.

Bei Ampel fünf geht es mir schon besser. Das Ampelzählen hilft mir, im Stillen die guten Aspekte einer Situation aufzulisten. Auf Reisen passiert immer etwas Unerwartetes. Damit geht man am besten um, indem man nicht allzu viel plant. Und indem man sein Glück zählt. So nenne ich das, wenn ich mir überlege, wofür ich eigentlich dankbar sein kann: mein Glück zählen.

Es bleibt mir heute erst einmal gar nichts anderes übrig, als wie ursprünglich geplant nach Wilmersdorf zu der Wohnung zu fahren, die ich über Airbnb gebucht habe. Stornieren lässt sich die sowieso nicht mehr.

Also halte ich mich an der Stange so fest, dass ich auf keinen Fall die Feuerhaarige anrempele. Und ich versuche auszumachen, wo die nächste Ampel auftaucht. Ich zähle weiter mein Glück.

Als wir in Wilmersdorf ankommen, sage ich freundlich »Tschüss!« zu der Feuerhaarigen, drücke mich durch die Menge, schiebe meinen Rollkoffer nach draußen und hüpfe hinterher. Die frische Nachtluft tut gut, ich atme tief durch. Meine Laune ist besser. Viel besser. Jetzt bin ich nun mal hier gelandet und mache eben das Beste daraus.

Wie jedes Mal, wenn ich bei einer neuen Wohnung ankomme und über die Schwelle trete, erwacht in mir ein aufgeregtes Kribbeln. Es ist immer so eine Art Neuanfang. Natürlich habe ich nach all den Jahren gelernt, die Hostels, Zimmer und Apartments erst einmal kritisch einzuschätzen, bevor ich meine Tasche auspacke. So auch jetzt. Ich erlaube dem erwartungsvollen Kribbeln noch nicht, sich auszubreiten, sondern ziehe gedanklich meine Checkliste hervor und scanne die kleine Wohnung: Ist sie sauber? Die dunkelrote Küchenzeile glänzt, die mädchenhaften Sofakissen sind aufgeschüttelt. In diesem Punkt gibt es also keine Probleme. Keine mit wochenlangen Ablagerungen verkrusteten Herdplatten hier, keine benutzten Unterhosen (oder Schlimmeres) auf dem Sitzpolster da. All das habe ich schon erlebt. Und darüber in meinem Blog geschrieben. Den Kommentaren zu dem Beitrag zufolge bin ich bisher sogar noch glimpflich davongekommen. Mein Blog – dieser Gedanke bringt mich zum nächsten Thema auf meiner Checkliste: Wo ist der Internetanschluss? Ich sehe zu den Buchsen in der Wand. Das Kabelgewirr führt zu einem Ikea-Tischchen, auf dem im Schein der Tischlampe ein Router und ein Telefon liegen, beide schwarz und kastenförmig. Gut. Auf dem Fensterbrett darüber steht nur eine einzige Sache: eine schmale metallene Buchstütze mit einer aztekisch wirkenden Figur. Allerdings ohne Bücher. Ich lächle. Eine Buchstütze ohne Bücher? Das muss ihr Unscheinbarer sein. Ich frage mich, welche Geschichte wohl dahintersteckt.

Ich drehe mich zu der Vermieterin um, die ungefähr so alt ist wie ich, nicke und ziehe dabei den Rucksack auf meiner Schulter zurecht, wie zur Bestätigung. »Sieht gut aus.«

Sie lächelt. »Prima! Hier habe ich das WLAN-Passwort aufgeschrieben, und hier ist der Schlüssel. Ende der Woche kannst du mich ja einfach anrufen, bevor du gehst, und wir machen die Übergabe.«

Sie reicht mir einen Zettel und einen Schlüssel mit einem rosafarbenen Schlüsselband, auf dem »Heimat« eingestickt ist. Ich strecke die Hand danach aus, da klingelt es.

»Entschuldige …«

Ich sehe ihr hinterher, als sie zur Gegensprechanlage läuft und den Hörer abnimmt. »Ja?«

Das rosa Zopfmuster ihrer Strickjacke ist ebenso mädchenhaft wie ihre Sofakissen. Während ich sie betrachte, verändert sich auf einen Schlag ihre ganze Körperhaltung. Es ist, als könnte ich ein elektrisches Summen hören, das durch ihre Wirbelsäule strömt. Dabei hat sie noch nicht mal auf den Türöffner gedrückt.

»Zur Überprüfung?« Sie antwortet gepresst. »Ja, das bin ich. – Ja, natürlich. Kein Problem. – Wer hat …? – Ja. Ja, ich mache Ihnen auf.« Sie zögert eine Sekunde, bevor sie das Knöpfchen mit dem Schlüsselsymbol drückt, dann wirft sie den Hörer in die Halterung und dreht sich hektisch zu mir um.

»Das ist die Polizei. Sie kommen hoch! Schnell, du musst verschwinden.«

Polizei? Verschwinden? Wohin?

Ich bin zu perplex, um irgendetwas davon laut zu fragen.

»Schnell!«, schreit sie. Aufgeschreckt will ich Richtung Tür, doch sie zieht mich an meinem Rucksack zurück.

»Nicht da raus! Da kommen die doch rein! Wir sind hier im sechsten Stock, keine Ahnung, wie lange die für diese verdammten Treppen brauchen …«

»Ich kann mich ja schlecht in Luft auflösen«, sage ich. Oder unter dem Bett verstecken, denke ich. Bitte sag jetzt nicht, ich soll mich unterm Bett verstecken.

Sie kaut nervös auf ihrem Daumennagel herum und spricht gleichzeitig: »Die überprüfen, ob ich hier untervermiete … Machen Stichproben … Es ist offiziell nicht erlaubt …« Sie stoppt abrupt und dreht den Kopf zur Tür. Offenbar horcht sie darauf, ob sie schon Schritte im Treppenhaus hören kann.

»Es ist gar nicht erlaubt, diese Wohnung auf Airbnb zu vermieten?«, frage ich perplex. Ich hatte schon viele Reinfälle, aber eher in Bezug auf die Ausstattung, die im Internet ganz anders beschrieben war. Die Realität zeigt dann: »Gemütlich« bedeutet extrem klein, »zentral gelegen«, dass die U-Bahn praktisch durch das Schlafzimmer fährt, und »urban«, dass sich, wenn man Pech hat, Kakerlaken dort auch sehr wohlfühlen.

Aber das hier ist zugegebenermaßen neu.

Fahrig zupft sie an ihrer Strickjacke herum. »Wahrscheinlich hat mein Nachbar die Polizei gerufen. Der hat irgendwas gegen mich. Es ist schon erlaubt, mal jemanden bei sich schlafen zu lassen, aber dauerhaft als Einnahmequelle …« Ihr Satz versickert. Ich sehe sie in Gedanken jede Nacht bei ihrem Freund übernachten und diese Wohnung hier im Akkord vermieten. Jede Woche ein neuer Gast …

Wir hören gedämpfte Stimmen durch den Hausflur hallen. Wie viele Stockwerke haben die noch vor sich? Drei, zwei?

Die Vermieterin reißt die Augen auf, zeigt auf meinen kleinen silbernen Rollkoffer und meinen Rucksack, als sie mit kieksender Stimme ruft: »Wenigstens die da müssen weg!«

»Aber das ist alles, was ich besitze«, antworte ich automatisch.

Für eine Schrecksekunde starrt sie mich mit offenem Mund an. Während ihr Blick bestürzt zu meinen Taschen huscht und sie wahrscheinlich im Kopf durchzurechnen versucht, wie viele Dinge ich da mit mir herumtrage (es sind genau einhundertsiebenunddreißig), durchflutet mich wieder ein Kribbeln, doch diesmal viel stärker als sonst. Das elektrische Summen breitet sich auch in mir aus. Es dauert nur eine Millisekunde, um im Blick der Vermieterin die Frage zu erkennen: Können wir das Zeug rechtzeitig unters Sofa stopfen?

Das ist alles, was ich besitze.

Das elektrische Summen hat meine Finger- und Fußspitzen erreicht, mit wenigen Schritten federe ich zur Balkontür und reiße sie auf. Die Kälte klatscht mir ins Gesicht. Im Innenhof ist kein Mensch zu sehen. Ich hole aus und wuchte meinen kleinen Rollkoffer über das Geländer. Noch bevor er draußen aufprallt, entfährt mir ein lautes Lachen, die frische Luft füllt meine Lunge. Aus meinem Rucksack fische ich schnell meinen Laptop, der gegen das Geländer stößt und dabei einen Gong wie bei einer Klangschale erzeugt. Dann werfe ich den Rucksack mit einem Jauchzen, das vom Nachbarhaus zurückhallt, hinterher. Dumpf schlägt er auf, genau in dem Moment, als es an der Tür klopft.

»Das hier ist … Wir wollten gerade …« Die Stimme der Vermieterin, die eigentlich keine Vermieterin sein darf, versagt. Sie wurde freundlich nach ihren Personalien gefragt, und jetzt blicken die beiden Beamten, die sich erst einmal in Ruhe ausgewiesen und sich entschuldigt haben, dass sie den Hinweisen zurzeit nachgehen müssen, mich an. Über die offene Balkontür wundert sich keiner. Ich grinse noch breit, als Nachwirkung meines Befreiungsschlags eben, und die Tatsache, dass die Polizisten aussehen wie Ernie und Bert, macht die Situation nicht gerade besser. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass die Vermieterin verbissen versucht, den WLAN-Zettel in ihrer Hand zur Unkenntlichkeit zusammenzuknüllen, und ich reiße mich zusammen.

»Wir kennen uns nicht sehr gut«, fange ich an und bemerke, wie mich die Vermieterin mit Blicken zu töten versucht. Erstaunlich, wie böse sie in ihrer mädchenhaften Strickjacke auf einmal aussehen kann.

Unbeirrt fahre ich fort. »Ich bin Liv Cremer. Frau Werder hat mich als Ordnungsfee engagiert. Ausmisten, ordnen, von zu viel Ballast befreien … So etwas halt. Normalerweise ist das eine vertrauliche Sache, also … ist das Frau Werder hier wohl gerade etwas unangenehm. Ich darf ja heute buchstäblich in ihre heimliche Kruschtelschublade schauen.«

Die Vermieterin wird knallrot und lacht etwas zu laut auf, aber jetzt werten es alle als peinliches Berührtsein. Ernie stimmt freundlich in das Lachen ein.

Ich zeige auf den Laptop in meiner Hand und sage: »Wir machen gerade die Bestandsaufnahme, dann erhält Frau Werder von mir einen detaillierten Plan für die nächsten fünf Wochen, und anschließend …«

Wie ich gehofft hatte, winkt Bert ungeduldig ab.

»Verstanden. Wir wollen Sie auch nicht länger stören, Frau Werder. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir jedem Hinweis nachgehen müssen.«

Sie schluckt hörbar und sagt dann nur: »Selbstverständlich.« Fast hätte sie noch einmal an ihrem Daumennagel gekaut, aber sie bemerkt ihre eigene impulsive Bewegung und lässt die Hand wieder sinken.

Erst als die Türe hinter Ernie und Bert ins Schloss fällt, begreife ich, dass ich für heute Nacht auf der Straße stehe.

Seufzend betrete ich im Dunkeln den Grasabschnitt im Innenhof. Mein Atem bildet kleine Wölkchen. Unbewegt blicke ich auf meinen Rollkoffer, dieses verdammte Qualitätsmodell, das gerade mal eine eingedellte Ecke von dem Sturz davongetragen hat. Der Rucksack liegt völlig unversehrt und unschuldig da. Ich fühle mich weitaus zerknitterter, jetzt, wo all die freudige Energie aus mir gewichen ist. Jetzt, wo ich der Realität ins Gesicht sehen muss: Es ist November, ich bin in Berlin, sowohl mein Kontostand als auch die Temperatur sind deutlich unter null, und das, was da gerade auf meinem Rucksack geschmolzen ist, war die erste Schneeflocke des kommenden Winters.

Ich lege den Kopf in den Nacken. Tatsächlich. Ich blinzele, und die nächsten zarten Flocken landen auf meinen Wangen, meinen Augenlidern. Ich lasse den Kopf sinken und wische mir mit dem Handrücken die Feuchtigkeit aus dem Gesicht. Enttäuschung und Kälte kriechen in meine Knochen. Leider wäre es völlig unvernünftig, mein einziges warmes Unterhemd und die Wollsocken hier zurückzulassen. Von meiner Mütze, die ich extra oben in den Rucksack gepackt hatte, ganz zu schweigen. Ich lasse mich auf den Rollkoffer sinken (noch nicht einmal dann knickt er ein, woraus ist dieses Ding eigentlich gemacht?) und ziehe das Handy aus meiner Manteltasche. Bläulich leuchtet der Bildschirm auf. Mit einem klammen Zeigefinger scrolle ich durch meine Kontakte, von Z bis A.

Zoe ist gerade frisch verliebt. Mit beiden zusammen in einem Zimmer zu übernachten, war letztes Mal eine Katastrophe. Das versuche ich nicht noch einmal.

Bei Vicky brauche ich mich nicht zu melden. Seit Jonas auf der Welt und nachts alle zwei Stunden wach ist, fällt ihr senffarbenes Sofa als Übernachtungsmöglichkeit leider flach.

Ich scrolle weiter bis zum Anfang der Liste. A wie Alexander.

Wenn ich nur an ihn denke, kann ich sofort wieder seine wunderschöne, tiefe Stimme hören. Würde ich jetzt anrufen und fragen, ob ich bei ihm übernachten könnte, er würde Ja sagen. Aber dann würde er sich auch Hoffnungen machen. Darauf, dass endlich mehr daraus entstehen würde als das, was wir sind: zwei Reisende, die sich zufällig sehr gut verstehen. Im Bett und anderswo. Auch wenn ich immer ganz klar gesagt habe, dass es kein »mehr« bei mir gibt. Dass ich nicht der Typ für eine feste Beziehung bin. Dass ich meine Freiheit niemals aufgeben würde.

Eine Schneeflocke fällt auf das Display und vergrößert das A wie unter einer Lupe. A wie Alexander. Wie eine tiefe Stimme. Wie ein warmes Bett.

Ich wische über die Schaltfläche.

Wollen Sie den Kontakt löschen?

Ja.

Mit einer federleichten Fingerbewegung tippe ich darauf.

Man sollte sich regelmäßig von Dingen trennen, denn durch die Übung fällt es einem irgendwann ganz leicht. So einfach kann Loslassen sein. Darin bin ich inzwischen ein richtiger Profi. Ich atme aus und sehe der Wolke nach, die mein Atem in der Kälte gebildet hat.

Ich bin nicht freiwillig hier. Das wird mir jetzt, da sich der Rollkoffer unter meinem Hintern mehr und mehr zu einem Eisklotz verwandelt, sehr deutlich. Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit die Hotelpreise überflogen und verworfen habe, gestehe ich mir endlich selbst ein, dass mir nur noch eine Option bleibt. Die Option, die ich jahrelang vermieden habe. Die ich wirklich nie in Anspruch nehmen wollte. Und immer noch ist es das Letzte, was ich tun möchte. Aber jetzt habe ich keine Wahl mehr.

Also tätige ich einen Anruf, den keine Achtundzwanzigjährige tätigen sollte. Es läutet fünf Mal, dann hebt endlich jemand ab. Ich hole tief Luft und sage: »Hallo, Papa.«

Auf einen Schlag fühle ich mich mindestens zehn Jahre jünger. »Weißt du noch, wie du gesagt hast, bei dir sei immer ein Zimmer für mich frei?«

Er lacht und fragt gedehnt: »Ja?«

»Auch trotz Anne?«, frage ich.

Er antwortet mit fester Stimme. »Auch und immer.«

»Also, Papa«, höre ich mich selbst sagen, »immer wäre dann jetzt.«

Lektion 2:Dein Zuhause ist ein Lebensraum – und kein Lagerraum.

Mein Rollkoffer knirscht im Schnee, als ob sich die Räder in den Boden stemmten. Je näher ich meinem Elternhaus komme, desto schwerer lässt er sich ziehen. Ich bleibe stehen und kicke die kleinen Matschberge weg, die sich an den vorderen Rollen festgedrückt haben. Nach weiteren fünf Metern sind wieder neue dran. Als ich endlich um die letzte Ecke gebogen bin und die Reihenhaussiedlung sehe, die Außenleuchte der Hausnummer zwei erwartungsvoll angeschaltet, verlässt mich fast der Mut.

Ich seufze, lasse den Rollkoffer stehen, lege meinen Reiserucksack ab und setze mich auf die unterste Stufe der Eingangstreppe, so als ob ich auf einen Bus wartete, der mich wieder von hier wegbringen würde.

Ich sehe zum Nachbarhaus. Vor der Haustür von Nummer drei steht noch ein ausgehöhlter Kürbis mit schiefem Monstergrinsen. Eine frische Schneeschicht überzieht den Deckel.

Papa hat bestimmt schon eine Gemüsesuppe gekocht, mein altes Kinderzimmer hergerichtet und die Heizung hochgestellt. Alles Zeichen dafür, dass er sich längst besser fühlt. Vor ein paar Jahren habe ich sehnlichst auf diese Zeichen gewartet, die mir erlaubt haben auszuziehen. Wie eine Tochter eben aus dem Haus geht. Nur, dass sie dann normalerweise nicht wieder dort einzieht. Es sei denn, sie muss.

Es ist ja nicht so, dass es hier schlimm wäre. Ich habe fast nur gute Erinnerungen an unsere alte Häusersiedlung hier, diese alte Kopfsteinpflasterstraße, diese Nachbarschaft. Zwar wohnt jetzt eben auch Anne in diesem Haus, und ich frage mich, ob ich das seltsam finden werde. Dabei ist es schon zehn Jahre her, dass Mama gestorben ist. Und zu der Tatsache, dass es Papa besser geht, trägt Anne einen großen Teil bei.

Der Grund aber, warum ich hier sitze und mich regelrecht einschneien lasse, anstatt hineinzugehen, ist der: Wenn ich jetzt über diese Schwelle trete, dann hat Papa recht. Dann ist das eingetreten, was er immer angemahnt hat. Worüber er sich stets Sorgen gemacht hat. Er wird sie wieder sagen, diese Sätze, die ich mitsprechen kann:

Das ist doch kein richtiger Beruf, was du da machst.

Du verdienst mit so etwas gar nicht genügend Geld.

Wie willst du für deine Zukunft vorsorgen?

Soll ich mal im Institut fragen, ob sie eine freie Stelle für dich haben?

Du solltest einen richtigen Abschluss in der Tasche haben – das sagt er zumindest seit Kurzem nicht mehr. Dafür immer noch:

Du solltest einen ordentlichen Job haben.

Wenn ich dann antworte, dass ich sogar sehr ordentliche Jobs habe, dass ordentlich zu sein ja quasi meine Kernkompetenz ist, lacht er gar nicht. Es ist immer die gleiche Diskussion. Eine, bei der wir uns schließlich beide die Haare raufen, dass der andere es einfach nicht verstehen will.

Und bisher habe ich ihm ja auch immer beweisen können, wie falsch er liegt. Habe immer wieder einen nächsten Auftrag bekommen. Habe immer eine nächste Reise antreten können. Habe immer alles, was ich brauche, selbst bezahlen können (oder getauscht, geliehen, recycelt). Und jetzt? Wenn ich jetzt über diese Schwelle trete, dann denkt er, dass er doch recht hat. Aber ich werde ihm beweisen, dass das nur ein Zusammentreffen mehrerer unglücklicher Zufälle ist. Dass ich sehr wohl für mich sorgen kann mit dem, was ich da tue. Dass das nur eine Phase ist. Ich werde einen lukrativen Auftrag an Land ziehen, und dann bin ich hier schneller weg, als er »Hab ich’s dir nicht immer gesagt« rufen kann.

Ich sitze immer noch auf der untersten Stufe, als Zoe in ihrem knallroten Mini heranbraust, rasant an der Straßenecke parkt und laut mit der Fahrertür knallt.

»Was wird’n das, wenn’s fertig ist?«, ruft sie schon im Herankommen, dann hält sie mir ihre Hand hin und hilft mir auf. Sie ist nicht wirklich überrascht, mich hier zu sehen. Wahrscheinlich hat Papa ihr schon gesagt, dass ich komme – so als ob es eines unserer Treffen an einem Sonntagnachmittag wäre. Zoe plappert weiter: »Hast du keinen Schlüssel, oder warum hängst du hier draußen rum, Cookie? Komm schon, es ist saukalt, und außerdem hab ich tierischen Hunger, ich hoffe, es gibt nicht schon wieder Gemüsesuppe …«

Sie zieht mich mit sich, schließt auf, ruft: »Wir sind da!«, und sagt dann beiläufig zu mir: »Hey, wolltest du nicht in dieser schnuckeligen kleinen Ferienwohnung wohnen, von der du mir geschrieben hattest?«

Ich stolpere so über die Schwelle, dass mein Rucksack krachend in den Garderobenständer fällt. Papa streckt den Kopf aus der Küchentür. »Ah … Willkommen zu Hause!«

Er kommt auf mich zu und umarmt mich. »Schön, dass du jetzt da bist.«

Ich lächle ihn an, sage, dass ich meine Sachen später ins Zimmer bringen werde, und hänge meine Jacke an den Garderobenständer, den ich vorsichtig wieder aufrichte. Was steht der auch hier im Weg. Vor allem, wenn es zusätzlich noch einen Garderobenschrank und einen Schuhschrank gibt. Am liebsten würde ich sofort, hier und jetzt, ein paar Dinge ausmisten, damit man in dem engen Flur Platz hat und durchatmen kann. Damit nicht alles so vollsteht. Niemand braucht all das Zeug. Aber Papa ist da leider ganz anderer Meinung.

Zoe stürmt bereits in Richtung Küche. »Ich hab totalen Kohldampf …«

»Finger weg!«, ruft ihr Papa hinterher. »Der Reis muss noch zu Ende dämpfen. Ich hab Curry gemacht.«

»Ooh«, hören wir Zoe beeindruckt aus der Küche. Dann Geklapper von einem Deckel. Mein Vater schüttelt den Kopf, wie um zu sagen: unverbesserlich.

Wir grinsen uns an.

»Und wie geht es dir?«, fragt er dann leise.

»Ja«, antworte ich mit hoher Stimme und nicke. »Gut.«

Vielleicht überzeugt es ja ihn.

Nachdem ich in der Küche Anne umarmt habe, schleife ich Zoe mit mir ins Wohnzimmer. Wie immer im Winter knarzt der Holzboden, und die Doppelglasfenster beschlagen. Papa hantiert gemeinsam mit Anne noch irgendetwas in der Küche. Ich bleibe vor dem Sofa stehen, als ob ich eine Einladung brauchte, mich zu setzen. Wie ein Gast. Ich verschränke die Arme und betrachte mit zusammengekniffenen Augen die Familienfotos, die an der Wand darüber hängen. Es ist ganz bewusst eine wilde Mischung von Rahmen, die nicht zueinanderpassen. Babyfotos von meinen beiden Schwestern und mir neben aktuellen Schnappschüssen. Ich suche einen, den ich noch nicht kenne, und entdecke ein sehr schönes Urlaubsbild von Anne, wie sie aufs Meer hinaussieht, direkt neben Evas altem Einschulungsfoto mit dem selbst geschnittenen, schrägen Pony und einem Foto, bei dem Mama mit den Fingern das Friedenszeichen formt. Ich lächle. Das alte Ding gibt es also noch. Nur bei einem Bild wünschte ich, Papa würde es endlich mal abhängen. Das Bild von der Wanderung am Bergsee, von der er und Mama so oft lachend erzählt haben. Mama in der roten Jacke, neben sich die Papiertüte. »Wir waren jung und naiv«, hat sie immer gesagt. »Wir hatten Orangen in einer Papiertüte als Proviant dabei! Auf unserer Route zurück haben wir uns über die Orangen auf dem Weg gewundert und erst später gemerkt, dass die Papiertüte am Boden aufgeweicht war. Ich hatte es die ganze Zeit nicht gemerkt!«

Ab da hat Papa Mama jedes Jahr eine Papiertüte als Geschenk mitgebracht, und sie haben eine Wanderung gemacht – allerdings dann mit einem richtigen Rucksack. Ich drehe mich weg.

»Was machst du eigentlich hier?«, frage ich Zoe, als Anne und Papa endlich das Essen hereinbringen. »Normalerweise kommst du doch immer erst sonntags zum Mittagessen, Shortcake.« Ich sage das, als hätte unsere alte Tradition noch Bestand. In einer Zeit, in der es langsam bergauf mit uns allen ging, haben wir uns sonntags immer hier getroffen, zur Gemüsesuppe. Als Eva noch nicht nach Hamburg gezogen war und Zoe und ich noch zu Hause lebten, aber viel unterwegs waren. Drei Töchter, ein Vater und ein leerer Platz, mit dem wir nach und nach etwas besser zurechtkamen. Trotzdem konnten wir diese Tradition gut gebrauchen. Es war eine gegenseitige Unterstützung, ohne die anderen offen mit Fragen zu nerven, wie es ihm oder ihr denn nun gehe. Und ein Anker in Zeiten, wenn es einem von uns eben mal nicht so gut ging.

Anne stellt den Reis auf den Tisch und lächelt verschmitzt. »Ich glaube, Zoe ist nur zu faul, selbst zu kochen.« Kein bisschen peinlich berührt erwidert Zoe: »Ganz richtig. Und das Essen hier ist besser als in der Mensa.« Während Papa noch »Na, danke auch!« einwirft, fährt sie schon fort: »Und außerdem muss ich dir ja jetzt beim Planen helfen. Ich meine, jetzt, wo du pleite bist …«

Sie schiebt sich eine Gabel voller Curry in den Mund, und ich versuche, sie mit Blicken dafür zu bestrafen, das P-Wort in Gegenwart von Papa zu verwenden. Genau deswegen geraten wir doch immer wieder aneinander. Doch im Grunde hat Zoe recht. Für meinen Blog bin ich nun mal viel unterwegs, und normalerweise spare ich mit den Ordnungsaufträgen für meine Reisen. Nur dieses Mal wurden leider gleich zwei Aufträge hintereinander abgesagt. Und das Ticket nach Andalusien hatte ich schon gebucht. Und jetzt dieser verliebte alte Kerl, durch den sich alle Pläne noch einmal geändert haben. Ich brauche zwar nicht viel, aber ein bisschen Geld muss schon reinkommen.

Und das wird es auch. Spätestens im Januar sind alle immer ganz wild darauf, gute Vorsätze einzuhalten und auszumisten. Und bis dahin werde ich ja wohl auch noch das eine oder andere Projekt auftun.

Bevor Papa jetzt, aufgeschreckt durch das P-Wort, wieder einen seiner Sätze sagen kann (Du verdienst doch mit so etwas gar nicht genügend Geld!), schöpfe ich mir den Teller voll und sage so laut, dass mich alle ansehen:

»Ich würde gern ein Sachbuch schreiben.« Oh. Das war die Stimme, die das sonst immer nur heimlich in meinem Hinterkopf ausspricht. Aber es stimmt: Ich würde sehr gern ein Buch schreiben. »Mein Blog kommt gut an«, na ja, es läuft nicht schlecht, »und ich könnte ein Buch über Minimalismus schreiben. Über meine eigenen Erfahrungen und über das Reisen mit so wenig Gepäck, über die anderen Minimalismus-Projekte in den Ländern, die ich bereist habe …«

»Das klingt doch gut!«, sagt Anne betont fröhlich. »Minimalismus ist doch gerade … angesagt.«

Zoe prustet ein wenig Reis aus ihrem Mund. Dann zeigt sie mit der Gabel auf mich. »Nur einen Haken hat dein Plan, Cookie.«

»Jetzt kommt’s«, sage ich ungerührt und esse weiter.

»So ein Sachbuch zu schreiben ist ja eher eine langfristige Sache. Ich meine, das ist super, du könntest die nächste Marie Kondo werden …«

»Wer?«, fragt Papa leise in Richtung Anne. Sie beugt sich zu ihm und flüstert: »So eine japanische Aufräum-Ikone.« Ich lächle in meinen Reis. Irgendwie rührend, die beiden.

Zoe fährt fort: »Aber bis dadurch Geld reinkommt, dauert es ja wohl etwas. Obwohl ich nicht daran zweifle, dass du so ein Buch schreiben und auch einen Verlag an Land ziehen kannst.«

»Na, da bin ich aber erleichtert«, sage ich, ziehe ihr eine Grimasse, für die ich eigentlich schon zu alt bin, und weiche dann geschickt ihrem Fußtritt unterm Tisch aus. Manche Dinge ändern sich nie.

»Natürlich werde ich bis dahin noch Aufträge an Land ziehen. Irgendetwas hat bisher immer geklappt. Vielleicht kann mich jemand weiterempfehlen. Ich gehe mal meine Kundenliste durch und schreibe alle an. Ich schaffe das schon.« Die letzte Aussage ging in Richtung Papa, dessen Kiefermuskeln sehr viel mehr mahlen, als es für einen Bissen Curry nötig wäre. Gleich kommt wieder so ein Satz. Gleich kommt, warte, diesmal ist es, ich spreche in Gedanken mit:

»Soll ich mal im Institut fragen, ob sie eine freie Stelle für dich haben?«

Bevor ich antworten kann, steht Anne auf, sodass der Stuhl auf dem Parkett quietscht, und schöpft allen noch etwas Curry auf den Teller. Dabei sagt sie: »Liv, ich habe vor Kurzem Frau Stein beim Einkaufen getroffen. Erinnerst du dich an sie? Aus der Niklasstraße?«

Ich nicke. Vor ewigen Zeiten war Frau Stein unsere Blockflötenlehrerin. Sie wohnt nicht weit von hier.

»Ich habe ihr erzählt, was du beruflich machst – sie hat mich nach allen drei Töchtern ausgefragt –, und sie war sehr interessiert, dich mal zu buchen. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, und sie selbst schafft es alleine nicht so gut, auszumisten. Sie hatte noch nie gehört, dass man auch jemanden als Hilfe beauftragen kann. Vielleicht meldest du dich mal bei ihr und besprichst mit ihr, wie so etwas aussehen könnte.«

»Das klingt super, danke, Anne«, sage ich. Daraus könnte etwas werden. Und vielleicht empfiehlt sie mich weiter. Auf die Frage mit dem Institut antworte ich nicht. Papa kennt meine Reaktion darauf ohnehin schon: Einen Bürojob von neun bis siebzehn Uhr? Nein, danke! Wahrscheinlich kann er meine Sätze genauso mitsprechen wie ich seine.

Nach einer Weile sagt Papa: »So. Jetzt schneit es doch schon, und ich habe immer noch nicht die Kiefernnadeln im Garten aufgekehrt. Wer hilft mir morgen?«

Wir schauen alle zum Fenster hinaus, obwohl wir wegen der Dunkelheit nur unser eigenes Spiegelbild erkennen können. Da draußen würden wir sonst den dicken Stamm der großen Kiefer sehen, die uns im Sommer das Licht im Wohnzimmer wegnimmt und praktisch das ganze Jahr über unendlich viele Nadeln lässt. Leider steht die gesamte Reihenhaussiedlung unter Denkmalschutz und somit auch der Garten. Die Kiefer darf man also nicht fällen. Und wir drücken uns immer davor, diese blöden Nadeln aufzukehren, bis es nicht mehr zu vermeiden ist. Einmal, daran erinnere ich mich noch, in der Zeit, als es um Mama ganz schlimm stand, hat sogar Flo die Nadeln zusammengerecht. Ich schiebe die Erinnerung schnell beiseite und melde mich freiwillig.

»War wirklich lecker, das Curry«, sage ich dann noch und stapele die Teller aufeinander. Papa lächelt dankbar.

»Dann geh ich gleich mal in mein Zimmer und packe aus.«

»Und du?« Papa legt einen Arm um Zoe und drückt sie übertrieben an sich. Beide lachen.

»Ich brauch jetzt erst mal ’nen Kaffee.«

»Zoe«, höre ich Papa noch sagen, »du bringst Kaffee doch erst bei, was Koffein wirklich heißt.«

Lektion 3:Beginne mit der einfachsten Kategorie.

Ich stehe in Frau Steins Eingangshalle – der Geruch lässt eine Erinnerung aufflackern an den Holzgeschmack der Blockflöte auf meiner Zunge und an Fingereinklemmen in Notenständern –, und bereits hier kann ich sehen, dass sie eine Entrümpelungsaktion dringend nötig hat. Die Schuhe stehen alle sorgfältig aufgereiht, und trotz der Jahreszeit findet sich auf den Fliesen nicht einmal ein Blatt Laub oder ein kleiner Schneematschfleck. Doch es sind sehr, sehr viele Schuhe. Die gesamte Länge dieses Flurs ist gesäumt. Und das sind alles Winterschuhe. Die Sommersachen müssen irgendwo im Keller untergebracht sein. Ich hänge meinen Mantel zu den anderen an die Garderobe und entdecke dabei eine abgetragene Herrenjacke. Falls die noch Herrn Stein gehört, habe ich hier einiges zu tun.

Frau Stein selbst scheint mir gar nicht so viel älter zu sein, was daran liegt, dass ich sie als Kind bereits alt fand. Sie hatte schon damals kurzes graues Haar. Wahrscheinlich ist sie inzwischen um die siebzig. Sie bittet mich freundlich und bestimmt herein, beschließt in ihrem ganz eigenen Ton, dass eine Tasse Tee das Richtige sei, und ich widerspreche nicht. Ich weiß jetzt wieder, wie sie es geschafft hat, ganze Gruppen von Blockflötenschülern zum folgsamen Üben zu kriegen.

Als ich ihr durch das Wohnzimmer folge, sehe ich die vielen Bücherregale, alle bis oben hin gefüllt. In Gedanken überschlage ich, dass ich einen großen Transporter brauchen werde, um alles zum nächsten Wertstoffhof zu bringen. Aber ich werde Frau Stein nicht damit überrumpeln. Ich kenne solche Fälle, und diese Kunden müssen, nach einem sehr langsamen Start, selbst den Punkt erreichen, an dem sie die Welle des Entrümpelns packt. Es ist ein Moment, ab dem das Loslassen plötzlich leichtfällt. An dem es nicht mehr Überwindung kostet, sondern befreit. Ich werde Frau Stein einen sanften Einstieg bereiten, erste Fingerübungen, bevor die großen Tonleitern drankommen.

Wir sitzen in der kleinen Küche, die nach hinten rausgeht, trinken zu stark aufgebrühten Tee aus braunen Steinguttassen, die ich so alt einschätze wie mich selbst, und frage Frau Stein vorsichtig, was sie sich wünscht, was sie sich vorstellt, wie wir zusammenarbeiten werden.

Mit ihrer klaren, festen Stimme erzählt sie mir, dass sie ja nun nicht jünger würde und ihre Kinder und Enkelkinder nicht alles gebrauchen könnten. Dass sie lieber selbst aufräume, bevor es jemand später tun müsse, wenn sie nicht mehr da sei. Alles, was sie sagt, klingt vernünftig. Ich höre zu und nicke. Die Küchenuhr tickt. Als sie an ihrem Tee nippt, frage ich nach ihren Enkeln, und endlich leuchten ihre Augen auf. Endlich scheinen echte Gefühle durch.

Und ich lasse sie erzählen, bis sie zu ihrem Wilhelm kommt. Bis sie sagt, vor zwei Jahren sei er gestorben. Die Pause, die sie macht, hilft auch mir. Ich sehe zum Küchenfenster hinaus auf einen kahlen Ast. Vielleicht ein Kirschbaum. Frau Stein weiß, dass ich das Gefühl kenne: eine große Liebe zu verlieren. Denn als nichts anderes würde ich meine Mutter bezeichnen.

Damals, mit achtzehn, war die Erkenntnis, dass nichts bleibt (selbst ich nicht), ein echter Schock. Ob es mit knapp siebzig auch noch so ist?

Sie schenkt uns Tee nach, und ich überlege, ob ich den aus Höflichkeit trinken muss. Dann erklärt sie mir mit wieder festerer Stimme, dass es ihr zu viel wird, sich um all die Dinge zu kümmern, die im Haus sind. Dass sogar das Haus selbst im Grunde zu groß für sie sei, aber das, das komme später. Jetzt wolle sie erst einmal anfangen auszumisten. Und ich weiß, dass wir Wilhelms Sachen noch lange nicht anfassen werden. Das müssen wir auch nicht. Sie wird es, wenn wir hier gemeinsam fertig sind, in ihrer ganz eigenen Zeit schaffen. Vielleicht erst in einem Jahr, wenn ich längst weitergezogen bin.

»Damit Sie verstehen, wie ich arbeite, schlage ich vor, wir sehen uns mal Ihre Kleidung an. Und zwar eine ganz einfache Kategorie. Wie wäre es mit den Socken?«

Irritiert sieht sie mich an. »Socken?«

»Ja! Normalerweise hängt man nicht an Socken. Und wenn sie kaputt sind, kann man sie einfach aussortieren. Schon hat man ein paar Kleidungsstücke weniger.«

Frau Stein blinzelt mich weiterhin an und antwortet nichts, und ich erinnere mich sehr gut an dieses Blinzeln, also sage ich: »Oder – oder man stopft sie. Die Socken. Ich selbst habe auch so ein Paar, das ich mag und immer wieder repariere.« Wer weiß, ob Frau Stein doch irgendwie an ihren Socken hängt. Also muss ich die Kategorie finden, die ihr am wenigsten wehtut. An der kann man das Loslassen gewissermaßen üben und mit dem Gedanken Das war ja gar nicht so schlimm! die schwierigeren Bereiche angehen. »Nun gut«, ich atme einmal durch, »dann die Oberteile. Hier ist es oft leicht zu wissen, was man noch behalten möchte und was nicht. Wollen wir?«

Ich klatsche mit den Händen auf meine Oberschenkel und stehe betont fröhlich auf.

Der große Eichenschrank ist so voll, dass man nur mit Mühe und Not einzelne Kleidungsstücke herausziehen kann. Die Kleiderstange biegt sich unter ihrer Last. Es ist zwar schon eine Weile her, aber ich kann mich genau daran erinnern, dass mein eigener Schrank auch einmal so aussah. Und wie ich angefangen habe, das zu verändern. Ich deute auf eine Regalecke und sage: »Die Winterpullis. Das passt gerade gut. Bitte nehmen Sie die einmal alle heraus. So können Sie sehen, welche vielleicht ein Loch haben, welche Ihnen nicht mehr passen und welche Ihnen nicht mehr gefallen. Genau so.«

Ich nicke, als sie den großen Stapel auf ihr Bett hievt und einen dunkelgrünen Rollkragenpulli hervorzieht. Sie betrachtet ihn kurz, legt ihn dann zur Seite und zieht einen weiteren hervor, der dem ersten sehr ähnlich sieht. Eventuell eine Schattierung mehr ins Braune.

Ihm folgen zwei weitere.

Dann sieht sie mich an.

»Ich weiß nicht … Die sind noch gut. Der hier hat damals achtzig D-Mark gekostet, den werfe ich nicht weg. Und falls ich einen mal wasche, kann ich den anderen anziehen …«

Sie blickt mich Hilfe suchend an, doch ich nicke nur. Ermutigt fährt sie fort.

»Der hier auch … Der ist erst zwei Jahre alt.« Sie blättert sich vorsichtig durch den verbliebenen Stapel. »Die beiden haben mir meine Kinder geschenkt. Und den hier, den habe ich noch gar nicht getragen, der ist wie neu!«

Dass sie ihn vielleicht aus gutem Grund nicht getragen hat und dieser Pulli, in einem Rosa, das eindeutig zu bonbonfarben für sie ist, gerade deswegen gespendet werden könnte, sage ich heute mal noch nicht. Sie wird selbst zu dem Punkt gelangen, an dem sie das erkennt.

Sie rafft ihre Pullis wieder zusammen und legt sie, einen nach dem anderen, zurück ins Regal, sorgfältig, aber mit einiger Mühe, denn der Platz ist knapp, und die letzten muss sie stopfen.

Der Schrank sieht jetzt wieder genauso aus wie vorhin.

»Gut!« Ich reibe die Hände aneinander. Damit es Frau Stein nicht peinlich wird, tue ich so, als wären wir mit dieser Kategorie durch. Sie hat einen Hauch eines erleichterten Lächelns auf ihrem Gesicht. »Vielleicht nehmen wir jetzt etwas anderes. Aus einem der übrigen Räume?«

Wir gehen langsam zurück durchs Wohnzimmer. Frau Stein erklärt: »Also, Bücher werfe ich grundsätzlich nicht weg. Und in der Küche habe ich eigentlich nichts, was man wegwerfen muss. Da ist alles noch gut.«

Das mit den Büchern verstehe ich. Die haben bei mir selbst auch zur schwierigen Kategorie gehört. Ich lasse mir nicht ansehen, dass aber die Tage des alten Steingut-Services meiner Meinung nach durchaus gezählt sind und dass ich vermute, sie hat noch drei weitere Serien in anderen Farben im Keller stehen. Wie gesagt, ich kenne solche Fälle. Ich werde sie nicht überrumpeln, sondern – ganz der Profi – sie sanft dorthin lenken, wo wir hinmöchten. Frau Stein hat gerade die ganze Zeit das Wort »wegwerfen« verwendet. Offenbar liegt da der Haken.

»Wir werden auf keinen Fall lieblos mit Ihren Dingen umgehen, Frau Stein. Manchmal ist es so, dass man etwas spenden kann, was andere noch gut gebrauchen könnten. Die Bücher könnten wir an Bibliotheken geben, die Kleidung an eine Sammelstelle. Nichts davon muss im Müll landen, wenn Sie das nicht wollen. Wir bedanken uns einfach bei den Dingen und lassen sie los.«

Ah, der letzte Satz war einer zu viel. Frau Stein sieht mich an, als hätte ich gesagt, ich würde bei Vollmond nackt um ein Lagerfeuer tanzen.

Schnell spreche ich weiter: »Oder wir machen es umgekehrt. Wir sehen uns nicht die Dinge an, die Sie vielleicht weggeben könnten, sondern suchen nach denen, die Sie auf jeden Fall behalten möchten.«

Frau Stein blickt mich weiter stumm an. Ich kann die Küchenuhr bis hierher ticken hören. Bevor Frau Stein wieder ihr Blinzeln gegen mich einsetzen kann, lege ich eine Hand auf ihren Arm. »Vielleicht dürfte ich noch eine Tasse Tee haben? Dann erkläre ich Ihnen, was ich meine.« Ich sehe, dass diese vertraute Handlung – einen frischen Tee aufzubrühen – sie mit Tatendrang erfüllt. Sie strafft die Schultern und macht sich beschwingt an einer Teedose zu schaffen. Wir setzen uns erneut an den Küchentisch.

»Ich erzähle Ihnen mal von meinem letzten Auftrag«, beginne ich. »Da war ich in Andalusien. Ich wurde von einer Reiterhofbesitzerin engagiert. Sie musste einen alten Hof auf Vordermann bringen und für die Touristen, die am Strand reiten wollen, attraktiv machen. Wie das bei solchen Höfen ist, hatten sich über die Jahre einfach zu viele Dinge angesammelt, alte, kaputte, neue – das Gelände ist riesig, und sie hatte die Übersicht verloren. Bevor sie das Geld in eine neue Ausstattung steckte, wollte sie lieber Hilfe dabei bekommen, die alten Dinge wiederzuverwenden. Denn sie benötigte auch Geld für Renovierungen am Haus und das Marketing … Na ja, so etwas halt.«

Frau Stein rührt in ihrem Tee, aber sie sieht mich weiterhin aufmerksam an. Kein Blinzeln bisher. Also fahre ich fort: »Es gab einige Dinge, die irreparabel kaputt waren; Halfter, die man nicht mehr flicken konnte, Werkzeug, eine Leiter. Ich habe immer am Ende eines Tages der Besitzerin den Haufen gezeigt, den ich zum Wertstoffhof fahren würde, sodass sie ihr Veto einlegen konnte, Dinge behalten konnte, die sie nicht wegwerfen wollte.«

Frau Stein nickt.

»Es gab einen kaputten Regenschirm, der hinter der Stalltür stand, den habe ich, glaube ich, dreimal auf den Haufen gelegt. Der Schirm war durchsichtig, mit einer weißen Spitze und einem roten Griff. Leider war das Plastik von den Metallstäben so abgerissen, dass man ihn weder verwenden noch reparieren konnte. Sie hat ihn immer herausgezogen und gesagt, der bleibt. Wissen Sie, wie oft es in Andalusien regnet?«, frage ich lächelnd.

Frau Stein verneint.

»Nun ja, eher selten, und außerdem braucht man auf dem Gelände meistens beide Hände, da ist ein Schirm doch unpraktisch … Am Ende meines Einsatzes habe ich die Besitzerin gefragt, wo sie den Schirm herhat. Sie hat ihn in Tokio gekauft, in einem Laden mit ganz viel Touristenkram. Der Schirm stellt den Berg Fuji da, mit seiner schneebedeckten Spitze. Sie war ihr Leben lang in einer Reiterfamilie und ist nicht oft aus Spanien herausgekommen. Aber zu ihrem dreißigsten Geburtstag hat sie sich selbst ein Abenteuer geschenkt und ist nach Tokio geflogen, weil sie die Kultur dort schon immer faszinierend fand – woher das kam, habe ich vergessen. Sie ist eine Woche lang in der Stadt gewesen, ohne die Sprache zu sprechen, und hat sich auf eigene Faust durchgeschlagen. Sie hat diese Woche sehr genossen und war unglaublich stolz auf sich selbst. Dieser billige, kaputte, unscheinbare Schirm war für sie seither ein Zeichen dafür, dass sie alles schaffen kann. Egal, was kommt. Egal, wie einschüchternd es anfangs wirkt. Sie hat mir gesagt, jedes Mal, wenn sie das Gefühl hat, es wäre eine Nummer zu groß für sie, eine lukrative Reitschule für Touristen aufzuziehen, wirft sie einen Blick auf den Schirm und fasst wieder neuen Mut. Ich glaube, sollte jemals – was ich nicht hoffe – ein Feuer im Stall ausbrechen, sie würde zuerst die Tiere und danach gleich den Schirm retten.«

Jetzt habe ich Frau Stein so weit: Sie lächelt. Geht doch, denke ich.

»Jeder hat so einen Gegenstand, so einen unscheinbaren, simplen, manchmal überflüssigen oder kaputten Gegenstand, den er aus einem brennenden Haus retten würde. Weil daran eine ganz besondere Geschichte geknüpft ist und er einem deswegen so viel bedeutet. Das ist zumindest meine Theorie. Ich habe bis jetzt auf jedem meiner Einsätze so einen Gegenstand gesehen. Ich nenne sie die ›Unscheinbaren‹. Einmal war es ein Plüschtier, einmal eine kleine Porzellanstatue, schon dreimal ein ganz bestimmtes T-Shirt und einmal eine Schallplatte, in einem Haushalt, in dem es keinen Plattenspieler gab.«

Jetzt wird ihr Lächeln breiter. Vielleicht ist es ja auch bei ihr so etwas. Eine alte Aufnahme, die damals in ihr den Wunsch geweckt hat, Flötenlehrerin zu werden. Ich greife zur Teekanne und schenke ihr den Rest Tee in die Tasse, frage dabei: »Welches könnte Ihr unscheinbarer Gegenstand sein, Frau Stein? Vielleicht etwas, das Ihrem Mann oder einem Ihrer Kinder mal gehört hat? Oder etwas, das Sie ans Flöten erinnert? Oder etwas ganz anderes. Überlegen Sie mal.«

Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Tasse und lasse mich in den Stuhl zurücksinken. Sie versteht, dass sie mir diese Frage nicht hier und jetzt beantworten muss.

»Es wäre zumindest eine Art, das Ganze anzugehen. Wir sammeln Ihren Unscheinbaren und andere Dinge zusammen, die Sie auf jeden Fall behalten möchten, die Ihnen Freude machen und die Sie lieben. Dann sehen wir besser, welche Dinge Ihnen gar nicht so wichtig sind.«

Schließlich, nach anderthalb Stunden, gehe ich. Als sie mich zur Tür bringt, plappere ich weiter, meine Sätze, die sich derart geballt zugegebenermaßen anhören wie ein schlechtes Selbsthilfebuch. In Gedanken ermahne ich mich, dass mein eigenes Sachbuch etwas origineller werden muss. »Wir machen nächstes Mal weiter. Nach einer Weile fühlt es sich sehr gut an! Sie werden sehen, es befreit.«

Frau Stein zieht einen spitzen Mund. Fängt sie gleich wieder an zu blinzeln?

Na gut, das geht ihr dann doch noch einen Schritt zu weit. Obwohl sie mich angefragt hat. Wahrscheinlich dachte sie, wir werfen gemeinsam ein paar alte Zeitschriften weg. Aber das wird schon. Ich bin zuversichtlich.

Auf dem Gartenweg drehe ich mich noch einmal zu Frau Stein um, die mir nachsieht.

»Was ist denn Ihr Unscheinbarer, Liv?«, fragt sie mich.

Ohne mein Zutun breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus.

»Ich habe gar keinen«, antworte ich. »Aber ich bin auch ein außergewöhnlicher Fall. Das ist ziemlich … besonders.«

Dass ich jahrelange Übung im Wegwerfen habe, schlucke ich hinunter. Sie muss heute noch nicht damit zurechtkommen, dass in diesem Fall ich die Lehrerin bin und sie die Schülerin ist.

Bevor die Tür ins Schloss fällt, höre ich, wie sie grummelt: »Besonders? Eher bescheuert, oder?«

Lektion 4:Die Frage danach, was du behalten willst, ist eigentlich die Frage danach, wie du leben willst.

Zu Hause schiebe ich mir zwei von Annes selbst gebackenen Haferkeksen auf einmal in den Mund, um den Nachgeschmack des Tees zu vertreiben, und setze mich an meinen alten Schreibtisch. Mit dem Finger fahre ich über die Stelle, an der die Holzlackierung aufgesprungen ist, an der rechten Ecke der Tischplatte; eine Bewegung, die ich so oft ausgeführt habe, als ich hier für mein Abi gelernt habe, dass sie mir ganz automatisch passiert.

Im Haus ist es still. Papa und Anne wollten ein Paket an Eva schicken mit Babysachen für Noah, und offenbar sind sie noch nicht von der Post zurück. Der Termin mit Frau Stein ist nicht ganz so gelaufen, wie ich gedacht habe. Ich unterdrücke ein Kichern, das in mir aufsteigt, eines von der Sorte, die zu hysterisch wird und nicht mehr aufhören will. Stattdessen versuche ich, mich zu konzentrieren: Ich kann das nutzen. Was müsste ich in mein Sachbuch schreiben, wenn jemand wie Frau Stein es lesen würde? Welche Lektionen, Grundsätze und Hinweise braucht man als Anfänger?

Ich wische mir die Krümel vom Mund, öffne den Laptop und schreibe meine Ideen in ein leeres Dokument.

Anordnung von Ka egorien

Fes en Pla z suchen

Ich stutze. Das »t« funktioniert nicht mehr. Ich tippe mit dem Zeigefinger auf das schwarze Viereck auf meiner Tastatur. Einmal, zweimal – ich lasse den Finger dort liegen. Eine lange Zeile entsteht mit – nichts. Also tippe ich mit beiden Händen wahllos auf den Buchstaben herum. Das Kauderwelsch im Dokument zeigt mir: Alles funktioniert, nur das »t« wird nicht mehr übertragen. Ich schließe das Programm, starte den Laptop erneut und warte mit angehaltenem Atem, bis ich eine neue Seite öffnen kann. »Bit-t-t-t-te«, sage ich laut, während ich fünf Mal versuche, der Taste eine Reaktion zu entlocken. Nichts. Ich tippe: So ein Scheiß! Und lösche diese Zeile sofort wieder. Mein Laptop ist erst ein paar Jahre alt! Eine ganze Minute sitze ich reglos da. Eine Reparatur würde jetzt viel zu viel kosten. Solange es der Laptop überhaupt noch tut, kann ich froh sein. Denn einen neuen könnte ich mir absolut nicht leisten. Wie ich meinen Blog weiterschreiben soll, weiß ich jetzt gerade nicht, aber Ideen für mein Buch kann ich trotzdem notieren. Einfach, indem ich statt des »t« ein »+« schreibe. Also los. Ich schaffe das schon. Auf sehr umständliche Art lege ich los und werde immerhin nach einer Weile schneller. Ich schaffe drei Seiten voller Ideen, bis ich nicht mehr weiterweiß. Ich lasse den Blick durch das Zimmer schweifen, dann klappe ich den Laptop seufzend zu, setze mich auf den Boden und lehne mich gegen das Bett. Manchmal hilft ein Perspektivwechsel. Ja, das ist gut. Das könnte ich auch aufschreiben. Aber gerade als ich wieder aufstehen will, fängt etwas meinen Blick: das unterste Regalfach, mit dem ich jetzt auf Augenhöhe bin. Anne hat hier ein paar ihrer Ordner untergebracht, was gar kein Problem ist, die Regale waren ja sonst fast leer. Sie und mein Vater nutzen das Zimmer inzwischen als Arbeitszimmer und lagern hier beide ihren Bürokram. Nur einige wenige Kinderbücher, die ich bei meinem Auszug damals nicht hatte ausmisten wollen, stehen im untersten Fach. Ich rutsche näher. Einen alten Bille und Zottel-Sammelband, ein Buch über Astronomie für Jugendliche – ich weiß, damals habe ich noch daran gehangen, aber im Grunde können die weg. Nicht nur, weil ich jetzt nicht mehr daran hänge. Sondern auch, weil ich einhundertsiebenunddreißig Dinge besitze, die Bücher nicht mitgezählt – mehr Sachen anhäufen will ich auf keinen Fall. Und da steht ja auch die alte Ausgabe von Peter Hase, aus der uns Mama vorgelesen hat. Ich zögere. Ich könnte das Buch weggeben, denn die Erinnerung daran, dass wir es gelesen haben, geht schließlich nicht verloren. Anfangs fand ich es noch schwierig, Bücher wegzuwerfen. Inzwischen fällt es mir leichter – wobei das hier wirklich ein Sonderfall ist. Vielleicht möchte Eva es, damit sie es irgendwann Noah vorlesen kann. Ich könnte Papa sagen, er soll es ihr mal geben. Oder Zoe, wenn sie die beiden besucht. Ich selbst – obwohl ich so viel durch die Gegend reise – schaffe es einfach nie zu ihr nach Hamburg. Ich rutsche noch näher an das Regal heran, ziehe die alten Bücher hervor, um sie wegzulegen, und stutze. Hinter den Büchern hat sich ein alter grüner Schuhkarton versteckt, ich erkenne ihn sofort. In dem habe ich vor langer Zeit meine Erinnerungsstücke gesammelt – Karten von einem besonderen Kinobesuch, zwei, drei Fotos, Freundschaftsarmbänder, so etwas halt. Sentimentales Teenie-Zeug. Ich wusste gar nicht, dass es den noch gibt. Er muss mir beim Auszug durch die Lappen gegangen sein. Wahrscheinlich war er schon damals so hinter die Bücher gerutscht, dass ich ihn nicht gesehen habe. (Und ich erinnere mich mit einem Anflug von Scham daran, dass ich lediglich Bücher aus dem Regal gezogen habe, anstatt, wie ich es heute tun würde, alles auszuräumen. Und wenigstens einmal das olle Regal abzuwischen, um es von einer dicken Staubschicht zu befreien.)

Ein zusammengefaltetes DIN