Liebe Freiheit, - Ronald Lutter - E-Book
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Ronald Lutter

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Beschreibung

Rom, Silvester 2000. Ein junger Mann begegnet an der Spanischen Treppe einer christlichen Gemeinschaft. Die Musik, die sie spielt und die Herzlichkeit der jungen Leute aus aller Welt, zieht ihn an. Ein Jahr später gibt er seine Arbeit auf, um ihrer Missionsschule beizutreten, wird aber abgelehnt. So stürzt er in den Strudel der ewigen Stadt mit ihren Kirchen und Gläubigen, Matronen und Ungläubigen, Palästen und Irrwegen, Gärten und Versuchungen. Was ihm bleibt sind nur drei: Glaube, Liebe, Hoffnung, plus eine ganze Menge Eigensinn.

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Inhaltsverzeichnis

Table of Contents

Teil 2: Der verlorene Sohn

Teil 3: Emmanuel – Gott ist mit uns

Teil 4: Zwischen den Jahren

Teil 5: Heimkehr

Teil 6: Der Weg der sieben Kirchen

Nachspielzeit

Impressum

Table of Contents

Liebe Freiheit,

Teil 1: Rom

1. Das neue Jahrtausend

Bin 1999 nach Rom gefahren und wollte Silvester auf dem Petersplatz sein. War einige Tage vorher da und bin durch Rom gestreift. Oben auf der spanischen Treppe steht die Kirche Santa Trinita dei Monti. Treppe rauf, ins Halbdunkel der Kirche. Da spricht mich eine Engländerin an: Was ich in Rom mache, ob ich an Gott glaube, wo ich herkomme? Sie strahlt Freude aus. Ich frage sie:

»Die vielen jungen Leute hier, wo kommen die her?«

»Wir sind von der Emmanuel School of Mission of Rome. Wir leben 9 Monate zusammen.«

»Und was treibt ihr da so?«

»Was uns der Heilige Geist eingibt. Jetzt im Augenblick bereiten wir eine Mission vor.«

Emmanuel School of Mission. Als meine Fragen persönlicher werden, zieht sie sich vorsichtig zurück und übergibt mich einem Franzosen aus ihrer Gemeinschaft, der mich ins Innere, in die Sakristei führt. Dunkles Holz, schweres Mobiliar. Ich sehe mich um. Hübsche Mädchen, interessante Frauen. Alle strahlen etwas aus: Freude, Begeisterung, Selbstsicherheit. Wo kommt das her? Ein Ungar mit schmalem Gesicht und Brille erklärt mir: »Wenn man von Gott eine Gabe geschenkt bekommen hat, muss man sie für andere einsetzen.« Er sprach sieben Sprachen und hatte die Gelegenheit genutzt, um sein Deutsch anzubringen. Ich blieb eine Weile. Eine kleine freundliche Chinesin lud mich zur Prozession ein: »Come, come!«

Wir zogen mit Lichtern von der Spanischen Treppe bis zum Trevibrunnen und in die Kirche hinein, die ihm schräg gegenüber liegt. Dann begann die Mission. Einige sprachen vor der Kirche Touristen und Passanten an, luden sie ein, eine Kerze für Jesus vor den Altar zu stellen, zu beten oder der Musik zuzuhören. Ein junger Priester stand am Keyboard. Auf seinem schmächtigen Körper saß ein großer Kopf mit dunkelblonden Haaren und einem kurzern, gepflegten Vollbart. Er leitete einen kleinen Chor und ein Instrumentalensemble mit Geige, Flöte, Gitarre und Schlagzeug.

Emmanuel, our Lord is with us, Emmanuel ...

Ich würde auch gern etwas tun. Die Leiterin der Schule, eine Schottin, drückt mir einen Korb mit Teelichtern in die Hand. Dann stehe ich am Eingang der Kirche, lächle und reiche jedem, der will, ein Licht. Nicht alle wollen. Ich bin begeistert und nach einer Stunde sehr müde. Erst dann, als mein Lächeln zur Grimasse zu werden drohte, habe ich mich aufgegeben. Dann habe ich die Kerzen für Dich gegeben. Du, Du. Du stille Demut, Du sanfte Frage. Keinen schöneren und keinen beängstigenderen Moment gab es in meinem Leben. Ich hörte die Musik, die aus der Kirche klang:

Emmanuel, our Lord is with us,

Emmanuel, we praise him for he`s our Lord.

Dann wurde ich abgelöst. Ich ging in die Kirche, aber die Mission näherte sich ihrem Ende. »Silvesterabend sind wir wieder her. Kommst du?«, fragte mich eine Studentin.

»Ich weiß noch nicht«, antwortete ich zögernd.

»Wir werden die ganze Nacht hier sein, bis 5 Uhr morgens, und dann gemeinsam Messe feiern.«

»Ich geh erst um Mitternacht zum Petersplatz, vielleicht komm ich hinterher.«

»Ja, das würde ich auch gern machen.«

Silvester auf dem Petersplatz war Sekt und Feuerwerk wie überall. Das ist also das neue Jahrtausend. Es schien mir noch einsamer als das alte zu sein. Zwei Fremde schenkten mir ein, wir prosteten uns zu. Kurz nach 24 Uhr sah der Papst aus seinem Fenster und segnete uns 100.000. Sobald ich weg kam, lief ich die schnurgerade Via Giulia hinunter und kam zur Kirche am Trevibrunnen. Hier fühlte ich mich zuhause. Ich nahm einen Zettel, schrieb ein Gebet und eine Bitte für das kommende Jahr darauf, legte ihn in ein Körbchen vor den Altar und stellte eine Kerze dazu. Es war schon nach 2 Uhr, aber die Kirche war gut gefüllt. Die jungen Missionare begleiteten die Besucher, spielten und beteten für sie.

Ich hatte noch nie junge Menschen gehört, die frei beteten, Gott dankten für seine Liebe, seine Gegenwart und dabei ihre Gefühle, ihre Sehnsucht, ihre Hoffnungen in drei, vier, fünf Sprachen ausdrücken konnten. Sie waren eine Gemeinschaft aus mindestens vier Kontinenten, kaum dass je zwei aus demselben Land kamen. Ihre gemeinsame Sprache ist Englisch. Eine Deutsche trat vor, betete in ihrer Muttersprache:

»Herr, du bist König. Du schenkst uns diese Liebe in Jesus Christus, du gibst uns Hoffnung für diesen Tag, für dieses Jahr, in deinem Sohn, der gesagt hat: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.«

Sie nahmen wieder ihre Instrumente auf und in die Verworrenheit meiner Gedanken drang dieses Lied:

Näher bei dir, mein Gott,

möcht’ ich gerne ruhen, du hast mich erwählt

ganz nah bei dir zu sein, ohne Ruh ist mein Herz

solang es lebt fern von dir.

Das war das letzte Lied, das sie für uns spielten. Sie hatten stundenlang gesungen und missioniert, jetzt waren sie müde. Sie brachen ab. Die Messe um 5 Uhr morgens sollte nicht mehr in der Kirche am Trevibrunnen sein, sondern in der Via Mercenata, in der Nähe der Kirche Santa Maria Maggiore, wo sie wohnten. Die Chinesin gab mir die Adresse; aber irgendwie habe ich die Straße nie gefunden.

Erst am letzten Tag der Romreise, traf ich noch einmal eine Gruppe der Gemeinschaft Emmanuel und, wie als ob Gott mich trösten wollte, trat eine junge, hübsche Schweizerin auf mich zu, lächelte und lud mich zu einem verlängerten Wochenende mit der Gemeinschaft in Altötting ein: »Komm doch zu den Ostertagen!« Sie schob ihre Haare hinter das Ohr. »Ich bin auch da.« Dann schrieb sie eifrig und ordentlich die Adresse auf.

2. Ostertage

Altötting ist ein berühmter Marienwallfahrtsort in Bayern, dessen Pilgerziel eine Gnadenkapelle aus dem 7. Jahrhundert ist, weiß getüncht mit einem spitzen Türmchen und einem Kreuzgang rundherum. Von den Wundern, die Maria dort bewirkt hat, zeugen tausende von Votivtäfelchen und Inschriften, die dankbare Gläubige im Laufe der Zeit außen und innen angebracht haben.

Auch in Altötting gibt es eine Missionsschule. Die Idee ist die gleiche wie in Rom: Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 20 und 30 leben 9 Monate in einer intensiven, engen, fast klösterlichen Gemeinschaft zusammen. Es gibt viel Musik, Unterricht in Theologie und – Evangelisation. Dazu gehören die Jugendtreffen zu Ostern und im Sommer.

Wir, einige hundert junge Teilnehmer der Ostertage, werden in dem Mariensaal auf die Feiertage eingestimmt. Sabine, zierlich, mit glattem, schwarzem, schulterlangem Haar, einem schmalen Gesicht und dunklen Augen, geht auf dem breiten Podium zum Mikrofon in der Mitte. Sie spricht mit einer Stimme als hätte jemand Blei und andere giftige Metalle in ihrer Seele in Gold verwandelt:

»Ich begrüße euch alle ganz herzlich und ich möchte euch einladen diesen Tag in ganz besonderer Weise mit Jesus mitzugehen, bei ihm zu sein, und euer Herz zu öffnen, für seine Liebe. Jetzt, in einer halben Stunde, wenn die Liturgie beginnt, dürfen wir eintreten in das Geschehen von Golgatha. Wir begleiten Jesus in den Garten Gethsemane, wir dürfen beim ihm sein, wenn er seinen Vater bittet: ›Lass diesen Kelch an mir vorüber gehen.‹ Wir können mit ihm beten zu unserm Vater, wir können ihm unsere Sorgen anvertrauen, und wir können im Vertrauen auf die Liebe seines Vaters sagen: Dein Wille geschehe, Herr. Wir können uns der Liebe unseres Vaters ganz überlassen, denn wir wissen, dass nach der Karfreitagnacht auch der Ostermorgen kommt, wenn ein Engel zu den Frauen sagt: ›Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden.‹ Die Kirche wird die ganze Nacht offen sein. Ihr könnt euch in eine Liste eintragen, wann ihr dort beten und mit Jesus wachen wollt. Es sind noch Zeiten frei. Ihr könnt auch jederzeit, wenn euch danach zu Mute ist in die Kirche gehen und beten. Nach der Messe in der Osternacht, wollen wir auch feiern. Wir feiern seine Auferstehung als ein Fest mit Musik, Essen und Wein und wir werden auch tanzen.« »Das ist spitzenmäßig«, sagt der junge Mann neben mir.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, weil ich es nicht recht glaube.

»Doch, das geht ab, das ist das Beste. Wirst sehen.«

»Jetzt wird Michael mit euch einige Lieder für die Messen üben. Danke.«

Sie überließ das Podium einem großen, blonden Priester, der über den Saal strahlte und mit entschiedener Gebärde das erste Lied intonierte.

Gelobt sei unser Gott, durch Christus unsern Herrn,

Er hat den Tod besiegt!

Voll Freude jubelt laut, denn er ist unser Heil,

er ist der König dieser Welt.

Zehn Minuten später verließen wir den Mariensaal und strömten in die Kirche.

Es ist Karfreitag, 2 Uhr. Wie still ist es in der Kirche in der Nacht. Ich habe das Kreuz geküsst, das den Gläubigen in der Karfreitagsliturgie anstelle der Hostie gereicht wird. Seine Jünger hatten ihn im Stich gelassen in der Nacht vor seiner Festnahme. Jesus hatte Blut und Wasser geschwitzt vor Angst. Ein Engel hat ihn getröstet. Die Jünger aber waren eingeschlafen, was Jesus bitter enttäuscht hat. Daher diese Nachtwache der Gläubigen. Ich denke an die Schule in Rom. Den Priester, der Silvester in Rom am Keyboard gewesen war, hatte ich in Altötting gesehen, und während ich betete, fasste ich folgenden Entschluss: Wenn ich ihn morgen beim Frühstückszelt sehe, dann frage ich ihn, was ich tun muss, um in die Missionsschule in Rom aufgenommen zu werden. Aber Karsamstag beim Frühstück bin ich mir längst nicht mehr so sicher. Ein hübsches Mädchen mit einem Gesicht, sanft und schön wie der Mond, Stupsnase und blonden kurzen Haaren sitzt allein an einem der Tische auf der Wiese vor dem Küchenzelt.

»Ist hier noch frei?« Sie war die einzige an einem 12er Tisch.

»Ja, klar.«

»Wo kommst du her, was machst du?«

Sie kommt aus Polen, lebt in Deutschland, heißt Maria. Wir plaudern.

Ein Priester setzt sich dazu, mir gegenüber, sagt: »Guten Morgen«, lächelt mir aufmunternd zu und ich wende meine Aufmerksamkeit von der hübschen Polin zu ihm. Er hat dunkelblonde Haare, Bart, Brille, ein freundliches, offenes Gesicht, und das ist er, das ist Markus, der in Rom am Keyboard stand. War das nicht erstaunlich? Sollte an diesem erstaunlichem Ort wirklich jemand wollen, dass ich diese Schule mache und ohne, dass ich irgendetwas dazu getan hätte, außer mich zu einem Mädchen zu setzten, das mir gefiel? Ich frag ihn wie das ist mit Rom und der Schule und seine Antwort ist denkbar einfach: »Wenn du nach Rom willst, komm's dir mal anschauen.«

Dann am Abend haben wir gefeiert, getrunken, gegessen und getanzt, genau wie Sabine gesagt hatte. Die Sache mit Jesus gefiel mir immer besser.

3. Domus Aurelia

Der Zug hatte Verspätung und kam um 13 Uhr in Roma Termini an. Italien: Das Hupen der Autos, das Knattern der Roller, der Geruch der Pizzerien, Cafe und Cappuccino. Ich hatte Zeit, ich konnte zu Fuß gehen und lief die Via Nazionale zum Piazza Venezia hinunter, wo sich das riesige, weiße, streitwagengeschmückte MonumentoVittorio Emmanuele II erhebt. Ich striff durch die Gassen westlich des Kapitols und kam über den alten Blumenmarkt Campo dei Fiori, in dessen Mitte kraftvoll und finster die Statue des Reformators Giordano Bruno steht, der als unliebsamer Kritiker verbrannt worden war. Grimmig blickt er auf die Stände und das bunte, muntere Treiben. Ich finde die Via Julia wieder, die zum Tiber führt, zur Brücke Vittorio Emmanuele II, schwenke links auf die Via della Conciliazione ein und dann erhebt sich vor mir im gleißenden Mittagslicht ruhevoll und Kraft ausströmend der Petersdom. Aber ich nehme mir vorerst keine Zeit dafür. Von Papst und Kirche werde ich in den nächsten Monaten voraussichtlich noch genug haben. Ich gehe links an den Säulen des Platzes vorbei, biege 300 Meter weiter rechts in die Via Aurelia ein, die aufwärts führt und stehe kurz darauf, endlich, vor dem hohen Eisentor der Schule: Domus Aurelia, Comunità dell` Emmanuele. Ein sechsstöckiger Appartementbau im fünfziger Jahre Stil. Mich beschleicht ein beklommenes Gefühl. Wie war das gewesen vor einem Jahr ...

Im Herbst war ich von Sardinien gekommen und in Civitavecchia, dem Fährhafen 100 Kilometer von Rom, fiel mir Markus Vorschlag ein, nämlich vorbei zuschauen. Ich stieg in den Zug ohne Fahrkarte, was mich einiges extra kostete und fand in Rom die Emmanuel School of Mission. Markus freute sich und hatte prompt Steven geweckt, den neuen Leiter der Schule, der die Schottin abgelöst hatte. Er war eine imposante Erscheinung, ehemaliger Footballspieler in Australiens höchster Liga, 2 Meter groß und entsprechend breit, Mitte 30, Familienvater mit vier Kindern. Quarterback der ESM - Emmanuel School of Mission. Ich hab ihn gefragt, ob ich drei Tage mit leben könne, um einen Eindruck zu bekommen. Er strich sich mit seiner riesigen Hand durch die schwarzen Haare und sagte: «O.k.« Es war Ende Oktober. Der neue Kurs hatte vor drei Wochen angefangen und die Gruppe war, wie Markus sich ausdrückte, am Zusammenwachsen. Es war nicht leicht. Ich ärgerte mich über die Eitelkeit eines Priesters, der uns in einer Unterrichtsstunde den Heiligen Geist verständlich machen wollte, indem er andächtig seine verbrauchte Atemluft in den Raum blies. Er war, wie er bei seinem ersten Auftritt durchblicken ließ, ein Mitarbeiter des Papstes, der die englischsprachigen Reden für ihn schrieb. Ich spürte die Aura des Vatikans und ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel. Die Studenten waren herzlich und offenbar an Besucher gewöhnt. Die Schule war umgezogen. Das neue Haus lag nicht mehr wie das alte, das ich Silvester nicht gefunden hatte, frei im römischen Stadtzentrum, in der Nähe von Santa Maria Maggiore, sondern direkt an der Mauer zum Vatikan. Vom Küchenfenster aus sieht man sogar die Kuppel des Petersdoms.

An einem Nachmittag des zweiten Tages saßen die neunzehn Schüler des Jahrgangs und ich im Unterrichtsraum im 6. Stock im Halbkreis auf alten Holzstühlen mit vorklappbarem Schreibbrett. Die Sonne schien durch die Fenster und warme Luft drang durch die offene Flügeltür von der Terrasse in das Unterrichtszimmer hinein. Einige fächelten sich Luft zu. Ein holländischer, junger Priester referierte vor einem weißen Chartboard über das Zusammenleben von Mann und Frau. Ich gebe es wieder so gut ich kann und springe direkt in seinen Diskurs hinein:

»[...] so wie Vater, Sohn und Heiliger Geist in der Liebe eine Einheit bilden, so in der Familie Vater, Mutter, Kind.« Er fragte uns: »Was gehört eigentlich zur Liebe ganz wesentlich dazu?« Und er gab die Antwort selbst: »Vertrauen. Es gibt keine Liebe ohne Vertrauen. Wenn ein Ehepartner dieses Vertrauen bricht, weil er oder sie fremdgeht, dann ist nicht nur das Vertrauen innerhalb d er Ehe zerstört, sondern auch unsere Beziehung zu Gott beschädigt. Gott, der uns vertraut und der uns auffordert nach seiner Weisung und seinem Vorbild zu leben. Nicht aus einer Laune heraus, nach dem Motto: das ist mein Gesetz und ihr müsst euch daran halten, nein, sondern, weil Gott, den Menschen durch und durch kennt, und weiß was ihm schadet und was ihm nützt. Besser als der Mensch selbst. Gott ist für uns, nicht gegen uns. Ein Mensch, der liebt, öffnet sich und wird dadurch verletzlich. Darum ist Treue so wichtig, weil lieben heißt, verletzbar zu sein.«

Eine Sache wollte ich genauer wissen. Ich meldete mich und fragte: «But what's so bad about having sexual intercourse before marrying?« Aber das war nicht angebracht gewesen. Ich spürte wie sich die Meisten innerlich distanzierten. Aha, dachten sie, so einer ist das. (Dabei hatte mich die Sache nur theoretisch interessiert.) Man muss zugeben, es ist bestimmt nicht einfach 20 junge Menschen in einer engen Gemeinschaft zusammen leben zu lassen, ohne dass körperliche Beziehungen entstehen; aber das würde die Art der Gemeinschaft zerstören. Schon durch die Eifersucht. Es war ein heikles Thema.

»Es hat etwas mit Oberflächlichkeit und Tiefe zu tun«, erklärte der junge Priester. »Die Sexualität ist eines der größten Geschenke, das uns Gott gemacht hat. Mann und Frau schenken sich einander und das geht nur im vollen Vertrauen zueinander, wenn beide vorher ›ja‹ gesagt haben. Sie können die Reihenfolge nicht umdrehen ohne Vertrauen aufs Spiel zu setzten und dann ist immer die Gefahr, dass einer den anderen als Objekt sieht und als Mittel zur Befriedigung benutzt. Aber das ist nicht Liebe, oder?«

Am nächsten Tag, bin ich abgefahren. Ich war nicht überzeugt. Markus war mir noch hinterher gelaufen, um mir eine Zeitschrift mit zugeben, die die Studenten des vorherigen Jahrgangs geschrieben hatten. Sie war gut gemacht mit Bildern und Zeugnissen.

Im Sommer darauf war ich noch einmal in Rom. Der Petersplatz zauberte mit einem Licht, das Klarheit und Weite versprach und als ich bei strahlender Sonne vor den prächtigen, schimmernden Säulen stand, wusste ich: Das ist es. Ich will diese Schule machen. Aber es war zu spät. Als ich zum Domus Aurelia hinauf ging, um mit Steven oder Markus oder einer der beiden Leiterinnen zu sprechen, waren sie alle zum Weltjugendtag nach Kanada abgeflogen. Einen Tag vorher. Das war vor 5 Monaten gewesen. Jetzt stand ich zum dritten Mal vor dem Eisentor des Domus Aurelia, dem Haus der Morgenröte. Diesmal gab es kein Zurück. Ich wollte neun Monate bleiben oder was davon übrig war und ging hinein.

Es ist ein schlichtes Hotelfoyer. Rechts Tische, wie für das Frühstück. Dahinter eine gemütliche Ecke unter einer Empore mit Holzbank und kleinen Kissen. Fünf junge Leute saßen darunter, offensichtlich Studenten der Missionsschule. Ich war nervös. Eine junge Frau, stand hinter den Tresen einer kleinen Barzeile, die sich an die Rezeption anschließt und Gäste und Gemeinschaftsmitglieder mit Säften und Cappuccino versorgt. Sie trug ein weißes Hemd und einen dunkelblauen Rock, Zeichen und Habit der konsekrierten Schwestern der Gemeinschaft Emmanuel. Es war eine der vier Leiterinnen der Schule. Ich kannte sie vom letzten Jahr. Wir begrüßten uns und nach einer Pause fragte sie mich: »Und was machst du hier?« Sie war überrascht. »Ich will die Schule machen.« »Die hat schon vor zwei Monaten angefangen.« Das stimmte, es war schon Anfang Dezember. »Ja, ich weiß.« Es entstand eine Pause.

»Warum willst du sie machen?« fragte sie schließlich.

Aber das war eine Frage auf die ich keine Antwort hatte. »Warum? Ich muss einfach!« »Das ist kein Argument.« Sie lächelte zufrieden und zog sich zurück.

Sie wollte Markus holen. Ich ging zu den Schülern.

»Hi«, sagte ich. »Hi!« antworteten sie mir. »How are you doing?« »Fine.« »Nice to meet you.« »Nice to meet you.« Sie stellten sich vor.

»Jennifer, I'm from the Netherlands.«

Wir schüttelten uns die Hand. »Riccardo, from Portugal.« Wir schüttelten uns die Hand. »Aylin, from Australia.« Shake hands. »Cecilly, I'm from New York«. Sie war etwas älter als die anderen, anfang 30. Künstlerin, wie ich später erfuhr. Schlagfertig und mütterlich.

Die fünfte war aus Ohio, Cathrin, hübsch, blasiert, mit lieben Augen.

»I'm Ronald«, stellte ich mich vor. »I would like to do the school too«.

»O Yes?« sagte Cathrin, »Really?« fragte Jennifer, »Great«, meinte Cecilly. Die Holländerin, hob die Augenbrauen:

»You know, we all like each other so much, it will be difficult for you to get in«. Die anderen nickten. »We are like a family.« »I know«, sagte ich und nickte wissend. »But can you help me?«

Cecily fasste sich zuerst: «We can pray for you«, schlug sie vor. Das war genau die Hilfe, die ich mir vorgestellt hatte. «Great«, sagte ich.

»O.K. let's pray one Hail Mary.«

Wir beteten. Die drei Frauen aus Übersee gingen. Riccardo, der Portugiese und die Holländerin blieben. »What's your job«, wollte Jennifer wissen. Doch dazu konnte ich nichts sagen, denn den hatte ich ja gerade aufgegeben. »What are you doing in normal live«? erkundigte sich Riccardo etwas geschickter.

»When I was in Hamburg«, begann ich, aber da kam Markus zum Glück. Ich hatte keine Lust etwas aus meinem Leben zu erzählen.

»Hallo, schön dich zu sehen«, sagte er sehr herzlich, wobei er den Kopf leicht zur Seite neigte. Wir schüttelten uns die Hand. Die beiden anderen verabschiedeten sich und ich blieb mit ihm allein im Foyer.

»Die Sache mit der Missionsschule ist mir nie aus dem Kopf gegangen«, erklärte ich ihm. »Im Oktober wurde ich unruhig, Mitte November habe ich alles hingeworfen und bin her gekommen«.

Er sah mich nachdenklich an. »Fliehst du vor etwas?« wollte er wissen.

»Wovor sollte ich fliehen?« gab ich zurück. Er kratzte sich am Kopf.»Warum willst du die Schule machen?« »Warum? Ich will einfach. Reicht das nicht?« Markus zögerte. »Du müsstest mit Steven sprechen, aber er ist heute nicht da. Könntest du vielleicht morgen wieder kommen?« »Is' morgen Messe?« fragte ich. »Normal ja.« »Wir könnten uns im Zentrum San Lorenzo treffen.«

»Einverstanden.« Er hielt mir die Hand hin. Shake hands.

Dann ging ich und hatte noch keine Ahnung wohin.

4. Drei Wege

Ja, wohin? Zurück zum Petersplatz. Wasser rauscht aus den Berninibrunnen. Möwen gleiten im Licht der Lampen durch die Hintergrundszene der Nacht. Wohin?

Gleich wenn man vom Petersdom Richtung Castell San Angelo geht, hinter der Galerie auf der rechten Seite, führt die Via Pfeiffer zum Centro Giovanile San Lorenzo (Jugendzentrum Sankt Laurentius). Johannes Paul II hat 1983 die kleine Backsteinkirche, die sich hier versteckt, den Jugendlichen anvertraut, damit es für sie eine Anlaufstelle gäbe in der Nähe des Petersdoms. Die Verantwortung hat die Gemeinschaft Emmanuel, die zweimal die Woche, mittwochs und freitags die Abendmesse feiert.

Der Weg in die Via Pfeifer sieht aus wie eine Sackgasse, aber es gibt doch zwei Ausgänge für Fußgänger. Entweder man geht links über eine Treppe hoch zum Borgo Santo Spirito und weiter links zur Kirche Santo Spirito in Sassia, wo das berühmte Gnadenbild von Gesu Misericordioso (dem barmherzigen Jesus) hängt. Jesus steht darin aufrecht im weißgolden schimmernden Gewand, wie ihn eine polnische Schwester 1931 bei einer Vision gesehen hatte, wonach das Bild gemalt worden ist. Er sieht dich aus großen dunklen Augen sanftmütig an. Er hält die rechte Hand erhoben, halb geöffnet, auf Höhe des Gesichts und hat die linke Hand weich auf die Brust gelegt, wo aus seinem Herz zwei Ströme fließen. Ein roter und ein weißblauer Gnaden- oder Lichterfluss. Darunter steht: Jesus, ich vertraue auf dich.

Oder man geht geradeaus den breiten Weg, der abwärts führt, an der Zigeunerin vorbei bis zur Rolltreppe, die einen zum Fahrstuhl bringt. Damit fährt man gelassenerweise in den 5ten Stock, trinkt im CentroGianicolense einen Cappuccino, kehrt dann zurück in den ersten Stock, betritt das Parkdeck für Reisebusse und folgt dem Schild: Ospedale Bambino Gesu (Krankenhaus zum Kinde Jesus). Auch dieser Weg führt durch Beton und Asphalt ans Licht und obendrein, ein Stückchen weiter, zu einem herrlichen Blick über Rom. Wie gesagt, das sind Wege für Menschen, die zu Fuß gehen. Es bleibt der dritte Weg, auf der rechten Seite des Sträßchen, der erst durch eine Holztür, dann durch ein hohes Eisentor und schließlich zur Kirche San Lorenzo und dem angeschlossenen Jugendzentrum führt. Dieser Weg ist aufmerksam markiert, aber dafür geht's nicht weiter. Das ist das Ziel oder eine Sackgasse.

Die Seitentür der kleinen Kirche stand halb offen. Stimmen drangen heraus. Wieder Charismatik, dachte ich, denn dort im Jugendzentrum gibt es ein halbes dutzend charismatischer Gruppen, die Gebetsabende halten oder Messe feiern. Die Gemeinschaft Emmanuel ist eine davon und wäre erst morgen dran, wo ich mit ihrem Leiter verabredet war. Lust und Unlust einzutreten hielten sich die Waage und während ich davor stehe und überlege, ob ich rein gehe oder nicht, nutzte ich die Gelegenheit und versuche zu erklären, was charismatische Bewegungen sind. Es fängt vor etwa 2000 Jahren an mit der Apostelgeschichte, in der vom Evangelisten Lukas erzählt wird, wie es nach Jesus Tod und Auferstehung mit seinen Anhängern weiterging. Jesus hatte sie angewiesen in Jerusalem zu bleiben, bis sie mit dem Heiligen Geist getauft würden. Seine Jünger, einige Frauen und Maria, die Mutter von Jesus, schließen sich ein aus Angst vor den Juden. Sie warten und beten. Sie bitten um den Heiligen Geist, den Jesus ihnen als Tröster und Helfer versprochen hat. Und er kommt:Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen,

wie wenn ein heftiger Sturm daher fährt,

und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren.

Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten;

auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder … (Apg. 1,1-4) Das ist Pfingsten. Der Heilige Geist oder de wihu atum - geweihter Atem - wie es im Mittelhochdeutschen noch so schön heißt, erfüllte die Apostel mit besonderen Gaben, bzw. Charismen: Mut, Kraft zur Heilung, zur Prophetie, der Macht böse Geister auszu treiben, das Reden in anderen Sprachen oder das Zungenreden. Alles, um überall auf der Welt zu verkünden: Jesus ist auferstanden! Wer an ihn glaubt wird mit ihm auferstehen und leben in der Herrlichkeit Gottes.

Nicht alle haben alle Gaben. Der eine heilt, der andere lehrt, eine redet in Zungen, eine andere interpretiert, aber alle zusammen bilden eine Gemeinschaft, in der die Fülle der Gaben besteht. Im Laufe der Jahrhunderte sind einige dieser charismatischen Talente der Kirche irgendwie abhanden gekommen, oder wurden weniger wahrgenommen oder besonderen Heiligen überlassen. Aber in den 70ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam Bewegung in die Kirche. Der Heilige Geist goss seine Gaben erneut über betende Männer und Frauen aus. Zuerst in Pennsylvania, Amerika, dann in allen Teilen der Welt, besonders in Frankreich, wie es scheint, wo zahlreiche charismatische Bewegungen entstanden sind wie die Gemeinschaft Emmanuel, die Gemeinschaft der Seligpreisungen und - Chemin Neuf, von der ein Trüppchen gerade in der Kirche San Lorenzo darauf wartet, dass ich rein komme und ihr Gebetsabend beginnen kann.

5. Chemin Neuf

Es wurde umgeräumt. Die Kirchenbänke ohne Rückenlehne wurden nach hinten zusammengeschoben, Klappstühle aus dem Beichtstuhl geholt und vor dem Altar im Halbkreis aufgestellt. Eine Ikone, die Christus als Weltherrscher zeigt, wurde von Francois, dem langen französischen Priester dieser Gruppe, auf den runden, rotbraunen Steinaltar gehoben und mit einer hochkant gestellten Kniebank dahinter gesichert. Marina, die einzige Frau der Gemeinschaft in Rom, spielte einige Akkorde eines mittelalterlichen Kirchenliedes auf der Gitarre. Sie wirkte kindlich und war dabei doch schon etwas ergraut, hatte schöne Augen und einen nachdenklichen Blick.

Ein Italiener mit schwarzen, fein frisierten Locken, großen Kopf, vollen Lippen und pastageschwellten Körper, kam auf mich zu, nannte mich lauthals auf deutsch »mein Bruder!«, lieh sich meine Gitarre und stellte mich den anderen vor. Er hieß Fabio. Der lange Priester begrüßte »alle neu dazugekommenen Gäste« und der Gebetsabend begann. Fabio & Marina schlugen die Saiten ihrer Gitarren:Acclamate al Signore      (Ruft zum Herrn)Voi tutti della terra       (all ihr Völker dieser Erde)Servite il Signore nella gioia … (dient dem Herrn in Freude…)

Als das Lied zu ende war, hob ein neues an: L'amore del padre (Die Liebe des Vaters). Es ist die Geschichte vom verlorenen Sohn. Langsam und zärtlich beginnt es, sehnsuchtsvoll, wie von einem, der lange auf den Boden geschaut hat und sich jetzt allmählich erinnert, dass es den Himmel gibt.Ecco il momento e l'ora Signore. ... Das ist der Moment, Herr, es ist Zeit, Heute will ich dir begegnen und in dein Haus zurückkehren, um mit dir zusammen zu bleiben. Ich bin nicht mehr würdig, ich weiß, dein Sohn zu heißen, meine Sünde ist immer vor mir, aber ich vertraue auf deine Liebe.

Der Gesang schwoll an und Fabios Stimme drang volltönend

aus dem Chor der Gemeinschaft hervor.

O Herr, hier ist mein Herz ich will es dir schenken, Ich werde dir meine Armut geben und alles, was ich habe. Mit Liebe wirst du mich umarmen und ein Fest für mich feiern wenn ich mit aller Kraft rufen werde, Vater, ich will deine Liebe.Wer den verlorenen Sohn vor Augen haben wollte, müsste Fabio hören, wie er die letzte Zeile dreimal singt, beinahe schreit, ohne dabei je den Wohlklang zu verlieren. Dann sprachen wir spontan Dankgebete, z.B. Marina: »Ich danke dir Herr, dass du hier bei uns bist.« Sie saß über ihre Gitarre gebeugt, die Stirn in Falten. »Dass du - du führst uns auch, wenn wir im Dunkeln den Weg nicht sehen. Du willst, dass wir dir vertrauen.«

Andere fielen ein, lobten, dankten Gott. Es wurde gesungen, Bibel gelesen, geistige Bilder wurden mitgeteilt und ausgelegt, und es wurde ein seltsamer Singsang angestimmt, bei dem jeder Töne und Worte artikuliert wie es ihm der Geist eingibt. Neben mir klang es wie: »Hidiooh, Tidioho!« Das war Francois, der lang aufgeschossene Priester. Jeder sang auf seine Art, ließ Gottes Geist in seiner Seele widerklingen und stimmte sich mit den anderen zu einem Chor, zu einer Harmonie nach neuer Weise: Komm Heiliger Geist!Hinterher setzte sich Fabio für mich ein und sie luden mich zum Abendbrot ein und zum Übernachten, und ich fand das war ein gutes Zeichen christlicher Nächstenliebe. Fabio empfahl mir eindringlich, für mich beten zu lassen. Er hätte das auch getan und der Erfolg war phantastisch gewesen. Ich schaute in seine Augen, die blau, warmherzig, intelligent, etwas lauernd und müde waren. Übrigens war er Lehrer für Kunstgeschichte. Er legte mir wortreich und nachdrücklich nahe doch hier und dahin zu gehen, wo ihm dies und das begegnet sei, umarmte mich, bevor ich ins Bett ging und versprach mir, mich morgen um halb sieben zu wecken, damit ich pünktlich zum Morgenlob sei. Ich lag im Wohnzimmer auf einem Couchbett, dankte Gott für die unerwartete Wendung, für die Gastfreundschaft von Chemin Neuf, betete ein ›Vater unser‹ und schlief ein.

6. Papst und Petersdom

Am anderen morgen nach dem Morgenlob und einem flüchtigen Frühstück ging ich zur Generalaudienz des Papstes in der Halle Paolo Sesto links beim Petersplatz. Jetzt im Winter, drei Wochen vor Weihnachten sind nur ein paar tausend Pilger da und die Halle ist bei weitem nicht gefüllt. Der Psalm 131 wird in 6 Sprachen vorgelesen und von Johannes Paul II ausgelegt. Er heißt: Der Frieden in Gott:

Herr, mein Herz ist nicht stolz,

nicht hochmütig blicken meine Augen.

Ich gehe nicht um mit Dingen,

die mir zu wunderbar und zu hoch sind.

Ich ließ meine Seele ruhig werden und still;

wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir.

Israel harre auf den Herrn von nun an bis in Ewigkeit.

Ich verstehe kaum ein Wort von dem genuschelten Italienisch, das der Papst spricht; aber ich höre die Gedanken, die aus einer gewaltigen Quelle fließen. Johannes Paul II spricht zum Herzen, auch ohne dass man ihn intellektuell versteht. Er erhebt den Geist und stärkt den Willen der Seele zum Heil-sein durch seine Gegenwart, durch sein damals unverständliches Lallen, das aus der Ewigkeit zu kommen schien und Glauben, Hoffnung und Vertrauen schenkte. Zwischen Johannes Paul II und dem Publikum, den Neugierigen, den Pilgern schwingt etwas von der Liebe Gottes zu den Menschen.

Die verschiedenen Pilgergruppen werden von einem Kirchenbeamten benannt und wenn sie aus Polen oder Spanien kommen, singen sie gerne ein Lied. Dann, unter Jubel, besteigt Johannes Paul II wieder sein Podest und winkt, während er heraus gerollt wird, wobei es ihm schwer fällt seinen Kopf über den gebeugten Rücken zu heben.

Beglückt und erhöht, verlasse ich die Halle, gehe über den Petersplatz, verweile in der Umarmung der vierreihigen Kolonnen, in denen das Wasser, der Brunnen wie das glückliche Schmatzen eines Säuglings plätschert, der sich an dem Lächeln seiner Mutter freut. Ich passiere die Kontrolle rechts unter den Säulen, gebe den Rucksack bei der luxuriösen Gepäckaufbewahrung ab und betrete den Petersdom.

Etwas weiter vorne halten zwei weiße Marmorkinderengel das Weihwasserbecken in Form einer Muschel. Der Blick gleitet aufwärts und abwärts, vor und zurück, links und - da, hinter einer Glaswand auf einem Sockel erkenne ich die Pieta. O Michelangelo! - 25 Jahre warst du alt, als du dieses Meisterwerk aus einem einzigen schneeweißem Marmorblock geschaffen hast. Maria und Jesus. Jesus nach der Kreuzigung wieder im Schoß seiner Mutter. Auf einem Gewandband Marias steht eingemeißelt: Michelangelo hat es gemacht.

Die unsichtbare Schönheit von Jesus Leiden und Sterben aus Liebe zu Gott und zu den Menschen, hast du sichtbar gemacht. Es ist nicht Jesus, den du uns zeigst, auch nicht Maria, so verklärt und jung, es ist die mitleidvolle Liebe, die Pieta, die Annahme des Leidens um der Liebe willen.

Während ich davor stehe und sinniere, erzählt eine junge Amerikanerin zwei ältlichen Freunden, warum die Pieta als einziges Kunstwerk im Petersdom hinter Glas geschützt ist:

Before it was just standing here, you could go aroundt, even touch it. But in 1972 a man came with hammer and chisel and started to destroy it. People just looked at him, thinking it might be restaurationary work and even took small pieces of marmor away that had fallen apart, as souvenirs. He was working for 15 minutes before he got stopped. Afterwards the Vatican made announcements in newspapers and radio asking the people to send the pieces back, because they were needed for the restoration. But few people did. After all they managed to restore it and put it were it is now.Ich ging staunend weiter. Wie viel hunderte Kunstwerke in dem einen gewaltigen Gesamtkunstwerk! Der Petersdom ist noch größer als er erscheint. Die Proportionen sind so aufeinander abgestimmt, dass seine Größe erhebend wirkt ohne niederzudrücken oder zu erschlagen.

Weiter vorn, in der Nähe seines Grabes, ist die Statue des Apostels Petrus aus dem 13. Jahrhundert. Er sitzt auf einem Thron. Sein rechter Fuß ist blank von den Berührungen und Küssen der Gläubigen. Seine Zehen verformt von der über 800 jährigen Verehrung. Er hält zwei Schlüssel in der Hand, Symbol der Herrschaft und Vormachtstellung der Römisch-Katholischen Kirche. Zu ihm hatte Jesus gesagt: »Ich werde Dir die Schlüssel des Himmelreiches übergeben. Was du auf Erden bindest, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.« (Math. 16, 19-20).

Das steht in Latein in großen goldenen Lettern weit oben bevor die Rundung der Gewölbedecke beginnt, einmal herum im Inneren der Kirche. Ausdruck der von Gott an die Kirche übertragenen Macht.

Dann, unter der Kuppel, das Grab von Petrus. Der Pilger hat sein Ziel erreicht und blickt hinunter, kniet vielleicht an dem Geländer mit den flackernden roten Lichtern. Die anderen Besucher sehen hinauf. Hinauf zu Bernini. Über dem Hochaltar erhebt sich ein Baldachin, aus Bronze, 20 Tonnen schwer, mit vier gewundenen Säulen und einem prächtigen Dach mit dem stolzen Wappen der Familie Barberini obenauf, aus der Papst Urban VIII stammte, dessen Günstling Bernini war. Dieses bronzene Spektakel, gleich oft bewundert und geschmäht, scheint ununterbrochen laut und selbstbewusst in den Choral der religiösen Eitelkeiten auszurufen: »Ich, Bernini!« Denn im Grunde weißt es mehr auf ihn hin, als auf den, für den es gemacht worden ist.

An Bernini kommt niemand vorbei, der in Rom irgendwohin geht, genauer gesagt jeder kommt an ihm vorbei. Sein Genie herrscht überall in Rom. Der Vier-Ströme-Brunnen am Piazza Navona, der Elefant mit dem kleinen Obelisken auf dem Rücken hinter dem Pantheon, die Figuren der Brücke, die auf die Engelsburg zu geht; die Gestaltung des Petersplatzes mit den Säulen, die den grandiosen Platz umarmen, den über hundert 100 Heiligenfiguren obenauf, der wunderbaren Treppe zum Dom hinauf, Kirchen, Fassaden, Paläste, die barocke Gestaltung des Petersdoms in wesentlichen Teilen, das alles ist von seiner Hand oder von seinen Schülern nach seinem Plan gemacht. Als ich aus der Kirche heraustrat, leuchtet mir die Sonne entgegen und alles schien groß und herrlich zu sein. Ich schaute die Via della Conciliazione bis zur Engelsburg hinunter. Ein freier Blick. Bernini hatte sich das anders gedacht. Da, wo jetzt die breite, gerade Straße liegt, war ehemals ein eng bebautes, mittelalterliches Viertel gewesen, aus dem der Dom unvermittelt auftauchen sollte. Die Barocke Zeit liebte diese Überraschungseffekte. Aber Mussolini, der faschistische Diktator, machte Bernini später einen Strich durch sein Konzept. Er wollte sich die Möglichkeit eröffnen gegebenenfalls Panzer auf den Petersdom zurollen zu lassen - auch ein Überraschungseffekt - falls der damalige Papst Pius XII nicht ausreichend kooperativ sein sollte.

Immerhin, der schönste Blick auf die Kirche ist der durch die Via Conciliazione (Straße der Versöhnung) von der Engelsburg oder von der Brücke Umberto I. aus gesehen. Von weitem offenbart der Bau, an dem insgesamt 10 Architekten mitgewirkt haben, am vollkommensten seine ganze Schönheit.

Ich verbrachte den Tag im Kunstrausch bis ich gegen 20 vor fünf in das Magnetfeld von San Lorenzo geriet.

7. Die Gemeinschaft

1983 war diese stimmungsvolle, mittelalterliche Backsteinkirche von Johannes Paul II der Jugend anvertraut worden. Die Verantwortung hat die Gemeinschaft Emmanuel. Zwei junge Frauen, die Mitglieder der Gemeinschaft sind, koordinieren die Gruppen und Veranstaltungen und begrüßen die Pilger, die den Weg zu der versteckten Kirche finden.

In diesem Jahr waren das: die Belgierin Martine, die mich immer an ein großes Huhn erinnerte und Carmela, Neapolitanerin. Carmela hat braune Locken, ein herzliches Lachen, lustige blaue Augen und lernte gerade Deutsch am Goetheinstitut. Sie öffnete mir die Tür, wie immer von jetzt bis Weihnachten. Küsschen links, Küsschen rechts.

»Come stai?« »Grazie, bene.« »Come stai tu?« »Anche bene« »Che cosa mi racconti?«(Wie geht's? - Danke, gut. - Wie geht es dir. - Auch gut. - Was hast du zu erzählen?) Wir gingen in die Kirche. Das Allerheiligste wurde ausgesetzt. Wir sangen »Ge-su, Ge-su« (sprich: dschesu, dschesu) und knieten uns nieder, wie es angebracht ist, wenn Gott auf diese besondere Weise gegenwärtig wird. Ist Er einmal da und strahlt in seinem goldenen Strahlenkreis, dann macht es sich jeder bequem. Die Kirche hat ein Mittelschiff und zwei schmale Seitenschiffe, getrennt durch jeweils sechs verschiedenartige Säulen aus Stein und Marmor. Die meisten sind unten abgebröckelt, wie von Kirchenmäusen angeknabbert, und an jeder Säule hängt ein Spotscheinwerfer, so dass die Kirche mit blendendem Licht überflutet ist, wenn alle eingeschaltet sind. Die Decke ist aus Holz, dunkel und fällt zu einer Seite leicht ab. Nach und nach kamen die Schüler der ESM, wie jeden Mittwoch und Freitag, um die Messe zu animieren. Da war Tomas, der Chinese und Lin, die Chinesin; Dominikus aus Indonesien mit wuchtigem Schädel und breitem Lächeln; zwei Amerikaner, Chris aus den Rockies, und Raffael aus Kalifornien, der eine mit kurzen dunklen Haaren, jungenhaftem Gesicht, der andere mit hellen Locken und engelhaft männlichen Zügen. Kevin, der Ire, fiel mir auf, wegen seiner tiefblau leuchtenden Augen und weil er sich etwas abseits hielt. Er saß weiter hinter, auf einer der freien Bänke, während die anderen gedrängt die vorderen bevölkerten.

Tiziana sollte ich noch erwähnen, die mit Steven, Teresa und Markus zum Leitungsteam der Schule gehört und wie Teresa konsekrierte Schwester der Gemeinschaft Emmanuel ist. Konsekrierte Schwestern, das sind die Nonnen der neuen Christlichen Gemeinschaften, die man aber nicht unbedingt als Nonnen erkennt. Ein strategischer Vorteil, wie mir scheint. Tiziana ist Italienerin. Sie ist stämmig, hat braune Löckchen und wirkt äußerlich schroff, was aber wahrscheinlich eher Unsicherheit ist.

Dann war es still. Es ist erstaunlich, wie still es sein kann, wenn 25 junge Menschen beten. Stille ist mehr als die Abwesenheit von Geräuschen. Zur Stille gehört die Liebe zum Still sein, der Glaube, dass Gott der ist, der im ›leisen Windhauch’ zu uns spricht. Wenn es äußerlich ruhig ist, fängt der Lärm im Kopf an. Geduld. Wohl dem, der überhaupt hört, wie viel Krach in seiner/ihrer Seele dröhnt, wenn sie der Stille begegnet. Stille scheint unsere Schwäche. Wir müssen sie geschehen lassen. Wenn wir unsere Gedanken auf Gott hin wenden, dann verebbt allmählich das Getöse, das in unserer Seele widerhallt und die ruhige Hand Gottes fährt heilend über ihre Wunden. Wir schauen auf Jesus. Jesus führt uns durch die Stille zu uns selbst zurück, gibt heil wieder, was wir ihm zerbrochen dargeboten haben. Emmanuel ist auch eine Schule der Stille.

Um 18 Uhr Messe. Gestaltet von der ESM mit Gesang und Gitarre. Aber es war eigenartig. Es fehlte etwas. Es kam mir so vor, als ob sie sich aus der Stille nicht wieder befreien könnten. Die Musik war sanft, wohlklingend, aber ohne Feuer. Vielleicht brauchten sie noch Zeit, um in Form zu kommen. Nach der Messe ging ich auf Steven zu. Wir schüttelten uns die Hand. »How are you doing?« fragte er mich. »Fine«, sagte ich fröhlich. »Good to see you«, sagte er, so, dass ihn eigentlich jeder mögen musste. »Can I talk to you?« fragte ich ihn. »Yes. Where do you want to talk? Here, or ...?« »We can go towards the Domus«, schlug ich vor. »All right«, sagte er. Er wusste schon worum es ging.

Wir gingen zusammen in Richtung Domus Aurelia und ich brachte alle meine Gründe vor. Dass ich die Schule machen musste, musste, musste! Steven hörte mir zu und sagte dann: »We don't have a room, you know.« Ich war perplex von diesem Pragmatismus. In dem 5stöckigen Haus wurde ständig etwas frei und es hätte mir auch nichts ausgemacht wochenlang auf dem Fußboden zu schlafen - aber wahrscheinlich wäre das zu anarchistisch gewesen. Ich sagte besser nichts. Dann ging es um die Frage der Bewerbung. Zugegeben, ich hatte mich nicht schriftlich beworben, aber ich hatte ihnen immerhin im Sommer eine E-Mail geschickt und mein Interesse bekundet; nur keine Antwort bekommen. Dass ich sogar in Rom gewesen war, das konnten sie ja nicht wissen.

»Yes, we were all very busy this summer. You know, we've got 50, 60 applications each year and we can take but 20 persons.«Das war ein Problem; aber ich wusste, dass sie, so sie überzeugt wären, es beiseite setzten würden. Wenn sie überzeugt wären. Wir näherten uns der eigentlichen Frage:

»So, why don't you want to take me?« »We don't think it would be good for you.«

Das ärgerte mich.

»Don't you think I should know better what is good for me and what is not?«

Der Differenzpunkt war deutlich markiert. Ich wollte es nicht akzeptieren, dass andere für mich entscheiden, was gut für mich ist und was nicht. Aber das war das Eintrittsticket. Wie ich jetzt noch eins kriegen sollte, war mir nicht klar, aber - war das mein Problem? Ich blieb stehen und streckte ihm die Hand hin. »O.k., I've done my part, if you don't do, it is your problem.«

Wir verabschiedeten uns. Er ging weiter aufwärts und ich zog Hand in Hand mit meiner Geliebten davon.

8. Intervento Divino

Zum Abendbrot gab's Salami und Brötchen in dem Viertel hinter der Engelsburg am Brunnen Piazza dei Quiriti. Nicht weit davon gibt es ein kleines Programmkino, das an diesem Abend Intervento Divino – Göttlicher Eingriff zeigte. Das war genau das, was ich brauchte.

In dem halb runden Kino saß man einfach auf den vier halbmeterhohen mit grauem Teppich ausgelegten Stufen. Wir waren knapp 20 Leute. Es war fast wie eine Familie. Es war ein surrealistischer Film. Erste Szene: Ein Palästinenser wartet auf einen Bus. Ein anderer sagt ihm: Es kommt keiner. Das kümmert ihn nicht. Er verzieht keine Miene, blickt durch seine Sonnenbrille. Beobachtet eine Frau. Die Grenze ist zu. Palästinenser, die nicht darüber hinweg kommen. Der Mann steht auch am nächsten Tag da. Kein Bus kommt. Die Grenze ist dicht. Ist ihm egal.

Eine Liebesgeschichte: Mann und Frau treffen sich auf einem staubigen Parkplatz an der Grenze. Ihre Hände liegen übereinander auf dem Schaltknüppel. Das Auto bewegt sich nicht. Ihre Finger spielen umeinander, sie sehen sich an. Einmal kommt er über die Grenze. Er bläst einen roten Ballon auf mit der Fratze von Arafat. Der Luftballon segelt an den Wachtürmen vorbei. Schießen oder nicht schießen? Hektisches Telefonieren der jungen Israelis. In der Verwirrung fährt er rüber. Wieder die Grenze. Eine Frau steigt hundert Meter vorher aus ihrem Wagen. Rotes, kurzes Kleid, lange, rassige Beine, Sonnenbrille. Sie geht zielstrebig auf die Kontrollen zu. Ein Soldat entsichert sein Gewehr. Sie geht weiter. Er zielt auf sie. Sie geht weiter. Als sie direkt an ihnen vorübergeht, nimmt sie die Sonnenbrille ab und vernichtet die jungen Soldaten mit einem Blick. Ein Wachturm stürzt ein. Wieder bewaffnete Männer. Sie schießen auf menschenförmige Metallzielscheiben. Irgendwo in der Wüste. Dahinter versteckt sich eine maskierte Frau. Sie schießt zurück. Zwei fallen. Die anderen zerballern die Zielscheiben. Sie steht ihnen allein gegenüber. Als sie schießen wirbelt sie um sich wie ein Derwisch, kreiselt immer schneller und steigt 10 Meter hoch in die Luft. Dann schleudert sie 5 sichelförmige Kampfscheiben. Fünf Treffer. Die Männer stürzen tot zu Boden. Muss das sein? Es ist kurz nach 23 Uhr, als ich müde us dem Kino komme. Der freundliche Salamiverkäufer hatte mir gesagt, dass er in Rom am ehesten an der Engelsburg übernachten würde. Wenn überhaupt im Freien. Er fragte, warum ich nicht ins Hotel ging? - Wozu? Schlafsack und Isomatte hatte ich dabei, der Himmel war klar. Engelsburg war fein. Dahin hatten sich auch die Päpste geflüchtet durch einen verborgenen Gang in der Stadtmauer, der vom Vatikan direkt zur sicheren Burg führt. Ich würde auch nicht der erste Germane sein, der davor lagerte.

Dort, auf der vom Tiber abgewandten Seite, ist ein abgesenkt gelegener Park mit Pinien, Zedern, Brunnen und Gras. Oben auf Höhe der Straße, aber durch einen breiten Graben von ihr getrennt, waren Buden aufgebaut für den Weihnachtsmarkt. Sie waren halbfertig, aber schon mit Böden und Seitenwänden. Das schien mir ideal. Leider waren sie bewacht. In einer Biegung des hufeisenförmigen Areals standen zwei Carabinieri (Polizisten) und plauderten. Ich musste an ihnen vorbei und tat das so nonchalant wie möglich, wählte mir eine Weihnachtsmarktbretterbude, die außerhalb ihrer Sichtweite war, schlug die Kunststoffabdeckung beiseite und bereitete in einer Ecke mein Lager. Kaum war ich fertig und in meinen Schlafsack gekrochen, raschelt es am Eingang. Die Holzlatte, die ich sicherheitshalber quer davor geschoben hatte, knallte zu Boden, der Vorhang wurde beiseite geschlagen und da standen beide, im Zwielicht meiner Behausung und sahen sich neugierig um. »Buona sera!«, sagte ich, um Friedfertigkeit zu demonstrieren. »Vatene via« (verschwinde), antworteten sie. »Ma dai, non faccio niente. Domani matina, vado via.« (kommt schon, ich mach doch gar nichts. Morgen früh bin ich weg.) »No, adesso« (nein, jetzt), sagten sie entschieden. »Va bene. Un attimo.« (na gut, einen Moment)

Als sie weg waren, ging ich zurück in den Park. Es war halb zwei. Ich war müde. Wenn ich im Offenen bliebe, würden sie mich früher oder später entdecken, und wer weiß, ob sie dann noch so umgänglich wären. Ich ging ziellos unter den Pinien auf den Sandwegen umher, bis ich bei der Statue des Kaiser Hadrian stehen blieb. Mächtig türmten sich diese Mauern im gelben Licht der Lampen vor mir auf. Der Kaiser mit den Locken hatte die Engelsburg ursprünglich als Mausoleum für sich gebaut.

Vorne rechts senkten sich einige große Stufen bis an die Mauer hinab und bildeten eine Art Amphitheater. Sie waren mit hohem Gras bewachsen und wenn ich mich auf eine der unteren legte, konnte man mich von oben nicht sehen. Fein. Ich breitete die Aluisomatte über das feuchte Gras, legte meinen Daunenschlafsack darauf und zog meine grüne Zeltplane schräg über die Stufe. So war ich gegen Tau, Regen und Blicke gefeit und schlief rasch ein. Am anderen Morgen weckten mich die Vögel und als ich aufstehe weht mir der Wind ein Lied auf die Lippen: »What a beautiful morning, what a beautiful day!« Ich packte meine Sachen und ging zum Tiber.

Teil 2:Der verlorene Sohn

1. Wie ich ein Zimmer finde

Rom! Wie herrlich bist du im Morgenglanz. Der Tiber mit grünschillerndem Wasser spiegelt die Pappeln am Uferrand, die Kirchen und Paläste. Auf dem Platz vor der Engelsburg breiten die Afrikaner ihre weißen Laken aus und stellen ihre Handtaschen auf. Dazwischen stehen Pappkartonstände mit Sonnenbrillen: »Ciao amico!«

»Good price, special price for you!«

Taucht ein Wagen der Carabinieri auf, ziehen die Dunkelhäutigen ihre Tücher zu einem Sack zusammen, entfernen sich einige Meter bis an die Brüstung der Ufermauer, warten bis die Bedrohung außer Sicht ist und bauen ihre Stände wieder auf. Ein Spiel zwischen den machohaften Carabinieri, die Gefallen an solchen Drohgebärden haben, und den illegal eingewanderten Händlern. Gefährlicher für die Afrikaner sind die Zivilstreifen, die unvermittelt vor ihnen auftauchen und raubtierhaft auf einen Einzelnen aus sind. In letzter Sekunde reißt er sein Laken zusammen und rennt Richtung Hauptstraße. Schafft er die ersten 20 Meter, ist er entkommen. Auf eine Verfolgungsjagd lassen sich die beiden Polizisten nicht ein. Sie sammeln stattdessen die Handtaschen auf, die dem jungen Schwarzen bei der Flucht aus dem zum Sack zusammen gelegten Tuch gefallen sind. Ich hatte auch eine aufgehoben, eigentlich in der Hoffnung sie ihm später zurückgeben zu können. Der Fahnder hält mir seinen Ausweis unter die Nase, sagt sarkastisch: »Grazie per la vostra cooperatione« (danke für ihre Mitarbeit), nimmt sie mir aus der Hand, steigt in den Wagen, verschwindet mit drei ledernen Corpi Delicti.

Die anderen Schwarzen, die panikartig die Treppe hinunter zum Tiber geflohen waren, kommen langsam zurück. Dann bauen sie alles wieder auf. Vielleicht sollte ich mir ein Zimmer nehmen? Es war Dezember und ich konnte nicht damit rechnen, dass das gute Wetter noch lange anhielt.

Gleich auf demselben Platz, dem Lago Giovanni XXIII steht ein rundes, grünes Touristeninformationshäuschen. Sehr freundlich haben sie mir vier Seiten mit Adressen von erschwinglichen Unterkünften in Rom ausgedruckt. Hotel Benjamin - nach dem Namen des jüngsten Sohns Jakobs - gefiel mir. Das Hotel liegt in der Zone Prati, ein ansehnliches, mit karmesinrotem Stein verziertes Gebäude aus der Jahrhundertwende. Hotel Benjamin im ersten Stock. »Allora« (also), begann der Neffe der Besitzerin, der den Tagesportier machte und auch den Nachtportier, »fra tre, quattro giorni puoi entrare, se vuoi.« (In drei, vier Tagen kannst du hier einziehen, wenn du willst.) Überall liegen Klamotten verstreut. Das Zimmer ist ein Schlachtfeld. »Dann wird der eine wahrscheinlich ausgezogen sein.« Er bemerkt meinen Blick. »Das wird er alles mitnehmen. Dem anderen gehört nur der Fernseher und zwei, drei andere Sachen.« Als Alternative zeigte er mir ein Kabuff, in dem neben Gerümpel noch ein Bett stand. »Das reicht mir«, versicherte ich ihm. »Für ein paar Tage ...« Er wiegte den Kopf, erzählte mir von einem Cousin, der heute Nacht auf jeden Fall, wenn auch sehr spät, morgen wahrscheinlich nicht, aber übermorgen dann wieder in diesem Kabuff schlafen würde. »Am besten du wartest auf Signore Franca«, die Chefin.

Aber mit Signora Franca wurde es nicht einfacher. Plötzlich war noch die Rede von zwei anderen, von denen der eine eventuell und die andere vielleicht ein- oder ausziehen würde. Sie schlug vor, dass ich zu ihr käme. Sie lebte allein und vermietete Zimmer in ihrem Appartement. Dann würde man sehen. Signora Franca ließ niemanden auf der Straße schlafen, solange noch Platz war und sie etwas verdienen konnte. Ihre Preise waren durchaus fair: 9 Euro die Nacht in der Nebensaison für die, die länger als eine Woche blieben. Sie gab mir die Adresse: Via Leone IX. Eine Querstraße der Via Aurelia. »Sai dov'e?« Ob ich wüsste, wo sie ist? Natürlich weiß ich, wo sie ist! Wer erinnerte sich nicht, was in der Nähe der Via Aurelia ist?! Die Schule von Emmanuel. WAR DAS NICHT EIN FINGERZEIG GOTTES? Wie sonst wäre es möglich gewesen beim ersten Versuch ein bezahlbares Zimmer in der Nähe der Schule zu finden. Am Abend konnte ich einziehen. In der Mitte des Zimmers stand ein großer schwarzer Tisch im Jugendstil mit Glasplatte und geschwungenen Beinen.

---ENDE DER LESEPROBE---