Liebe kennt keine Feiertage - Maria Ernestam - E-Book
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Liebe kennt keine Feiertage E-Book

Maria Ernestam

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Beschreibung

Die 38-jährige Lisbeth liebt ihr Haus am Meer in einem kleinen Ort an der schwedischen Küste. Sie ist Lehrerin an der hiesigen Schule – und sie ist glücklicher Single. Doch als Weihnachten naht, gerät Lisbeths Leben plötzlich komplett aus dem Lot: Sie soll in St. Anton am ehrgeizigen Ski-Projekt der Schule teilnehmen. Dabei kann sie gar nicht Skifahren. Ihr Ex Harry steht plötzlich auf der Matte. Und dann taucht der Mann auf, der eigentlich vor der Schulklasse auf der Piste stehen sollte: ein Ski-Champion mit Zahnpastalächeln und Charisma ...

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Zum Buch

Die 38-jährige Lisbeth liebt ihr Haus am Meer in einem kleinen Ort an der schwedischen Küste. Sie ist Lehrerin an der hiesigen Schule – und sie ist glücklicher Single. Doch als Weihnachten naht, gerät ­Lisbeths Leben plötzlich komplett aus dem Lot: Sie soll in St. Anton am ehrgeizigen Ski-Projekt der Schule teilnehmen. Dabei kann sie gar nicht Skifahren. Ihr Ex Harry steht plötzlich auf der Matte. Und dann taucht der Mann auf, der eigentlich vor der Schulklasse auf der Piste stehen sollte: ein Ski-Champion mit Zahnpastalächeln und Charisma …

Zur Autorin

MARIA ERNESTAM, geboren 1959, begann ihre Laufbahn als ­Journalistin. Sie hat lange Jahre als Auslandskorrespondentin für verschiedene schwedische Zeitungen in Deutschland gearbeitet. Mittlerweile sind zehn hoch gelobte Romane von ihr in vierzehn Ländern erschienen. »Der geheime Brief« und »Das verborgene Haus« standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Maria Ernestam lebt mit ihrem Mann in Stockholm und hat zwei erwachsene Kinder.

MARIA ERNESTAM BEI BTB

Die Röte der Jungfrau. Roman

Caipirinha mit dem Tod. Roman

Mord unter Freunden. Roman

Der geheime Brief. Roman

Das verborgene Haus. Roman

Die Liebesnachricht, Roman

Der Kater, meine Nachbarn und ich. Roman

MARIA ERNESTAM

Liebe kennt keine Feiertage

Ein Weihnachtsroman aus Schweden

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

Die schwedische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Brutna ben och brustna hjärtan – en alldeles omöglig jul« bei Louise Bäckelin Förlag, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung November 2019

Copyright © Maria Ernestam 2018

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Rainer Schimpf; © Arcangel Images/Lee Avison

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-25226-7V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

1

_________________

Donnerstag, 7. Dezember

»Wieviel kosten die?«

Die Frau hielt eine Tüte voller Safranschnecken ins Licht, als ob sie dann besser sehen könnte. Was hoffnungslos war. Der Himmel war genauso dunkel, wie er es um sieben Uhr abends im Dezember eben zu sein pflegte, und die Lampen erhellten den Sportplatz der Schule nur spärlich. Einige flackernde Fackeln machten die Sache auch nicht besser.

»Haben Sie die selbst gebacken?«

Lisbeth versuchte zu lächeln.

»Nein, das waren die Kinder. Das ist für die Klassenreise. Und das Rote Kreuz.«

Woher war diese letzte Bemerkung gekommen? Das Rote Kreuz? Das hier war doch der Weihnachtsbasar der Schule, wo die Schüler ihre eigenen Produkte verkauften, um für die Klassenreisen zu sparen, zum Beispiel den Skiausflug nach Trysil in Norwegen. Und sie saß hier und versuchte, einer potenziellen Kundin einzureden, dass das Geld einem noch wohltätigeren Zweck zufließen würde.

Zwei Kronen für eine Safranschnecke. Zehn Kronen für fünf. Ach bitte, wollen Sie sie nicht einfach kaufen? Und zwar jetzt gleich?

Lisbeth schlug die Augen nieder, um ihre Verzweiflung zu verbergen. Sie saß jetzt seit fast zwei Stunden auf diesem Stuhl, an diesem Tisch. Der Haufen von mit Safranschnecken gefüllten Plastiktüten kam ihr ein bisschen kleiner vor. Aber das war eine Illusion. Denn jedes Mal, wenn sie also wirklich einen Verkauf notieren konnte, kamen Eltern und warfen weitere Tüten mit weiteren Safranschnecken auf den Tisch. Hallo, Lisbeth. Entschuldige, dass wir so spät kommen. Aber hier hast du unsere … Moment … hier, Ella hat sie selbst gebacken.

Ja, es war deutlich, dass Ella und Axel und Maja und Stina und Calle und Julia und Peter selbst gebacken hatten. Einige Schnecken sahen aus wie Schnecken, während andere schief und krumm waren und die Rosinen lose unten in der Tüte lagen. Manche Kinder hatten zudem ihrer Kreativität freien Lauf gelassen und Safranmonster erschaffen, in die man vermutlich nur auf eigene Gefahr hineinbiss.

Sie hielt der Frau eine solche Monsterschneckentüte hin.

»Was sagst du zu denen hier? So ein bisschen Abwechslung in der Kuchenschüssel kann doch lustig sein. Und der Erlös ist wie gesagt für das Ro … ja, vor allem für eine Klassenreise …«

Fast hätte sie wieder Rotes Kreuz gesagt. Was war nur in sie gefahren?

»… für die Klassenreise der Kinder, wie gesagt.«

Die Frau nahm die andere Tüte. Legte die erste hin. Drehte die neue um. Legte sie hin. Griff wieder zu der ersten.

»Jaaaaa … ich weiß ja nicht. Ich wohne allein, müssen Sie wissen. Dann isst man ja nicht so viel, und ich versuche, süße Sachen zu meiden. Ich kaufe nur, damit ich etwas anbieten kann, wenn mal Besuch kommt. Aber alle haben in den Wochen vor Weihnachten ja so viel zu tun. Klassenreisen, hast du gesagt. Zu meiner Zeit war nie die Rede von Reisen. Man ging in die Schule, um Rechnen und Schreiben zu lernen. Aber das Rote Kreuz ist jedenfalls eine lobenswerte Organisation, da gebe ich auch immer was. Man will ja gern helfen, wo man kann, es gibt doch so viele arme Menschen.«

Lisbeth schaute verstohlen über die Schulter der Frau. Sah sich auf dem Sportplatz um. Der sah richtig nett aus mit den vielen Ständen mit allem, was die Schüler zusammengesammelt hatten. Safranschnecken oder anderes, es gab auch Getreidegarben und Kerzen, die besorgt worden waren und nun mit Gewinn verkauft werden sollten. Einige Besucher standen an einem kleinen Feuer und rieben sich die Hände, während heiße Wurst und Kaffee zubereitet wurden.

Aber sie fror. Aus der Erfahrung früherer Jahre klug geworden, hatte sie eine lange Hose angezogen und eine dicke Jacke hervorgekramt. Zu spät war ihr aufgefallen, dass die Jacke zwar warm war, aber auch verschlissen. Sie zog sie sonst zur Gartenarbeit an, und jetzt sah sie, dass die Ärmel ausgefranst waren und die ganze Vorderseite von Erdflecken beschmutzt. Und die Gummistiefel hielten zwar die Nässe ab, aber nicht die Kälte.

Ein Stück weiter drängten sich die Leute um Elenas Stand. Lisbeth hatte nicht einmal einen Blick hinüber werfen wollen, als sie sich an ihren eigenen gesetzt hatte. Elena, die Prachtkonditorin, deren Bäckerei über die Ortsgrenzen hinaus berühmt war. Elena, die ihre Schnecken und Kuchen und Brötchen mit einer Leichtigkeit herzustellen schien, die an Wahnsinn grenzte.

Sie schien es außerdem lustig zu finden, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und zu backen, bis das Mehl ihren Kopf wie ein Glorienschein umstob. Lisbeth dagegen war kein Morgenmensch, schon gar nicht jetzt im Winterhalbjahr. Sie blieb gerne lange auf und genoss die späten und stummen Abendstunden, obwohl sie wusste, dass sie das am nächsten Morgen, wenn der Wecker klingelte, bereuen würde.

Und jetzt hatte sie ihren Gedanken und Blicken freien Lauf gelassen, was unverzeihlich war, wenn man Kundschaft an der Angel hatte. Die Alte wandte sich ebenfalls um und entdeckte Elenas Stand. Sie legte die Tüte mit den Monsterschnecken weg.

»Ach, ich sehe gerade, dass der Stand da drüben auch Brot verkauft, ich glaube also, ich warte noch … ja, Sie verstehen.«

Sie lächelte. Lisbeth erwiderte das Lächeln nicht. Es ist niemals lustig zu verlieren, und sie hatte nicht die geringste Lust, etwas zu sagen wie »natürlich«. Eine gewisse Würde hatte sie ja trotz allem, trotz der scheußlichen Jacke und der Gummistiefel. In diesem Moment merkte sie, dass der eine offenbar undicht war. Der linke große Zeh kam ihr um einiges kälter vor als der rechte.

Die Frau verschwand, und Lisbeth saß wieder allein da, während die Menschen an ihrem Stand vorbeischlenderten und sie grüßten. Die Eltern von Schülerinnen und Schülern, Leute aus dem Ort. Als sie vor fünf Jahren nach Frillesås ­gezogen war, war es ihr anfangs seltsam vorgekommen, alle zu kennen, und eigentlich nichts unternehmen zu können, worüber die Einwohner nicht einige Stunden später schon informiert schienen.

Aber so hatte sie es ja gewollt. Erkannt werden, Lisbeth sein, die Lehrerin von der Schule. Und meistens gefiel ihr das ja auch, nicht zuletzt die Schule. Die Kinder konnten sie ab und zu in den Wahnsinn treiben, aber sie hatte doch das Gefühl, etwas zu bewegen.

»Aber hallo, Lisbeth! Hier sitzt du und siehst froh aus.«

Sie schaute auf. Merkte, dass sie rot wurde. Was für ein Glück, dass es dunkel und kalt war. Es konnte also eine ­absolut natürliche Erklärung haben. Dass sie sich seltsam verhielt, wenn Jan in der Nähe war, wusste inzwischen mehr oder weniger der ganze Ort.

»Ja. Hier sitze ich.«

So intelligent wie immer, wenn sie mit ihm reden wollte. Warum brachte sie nie ein vernünftiges Wort zustande?

Jan. Besitzer eines angesehenen Reitstalls, die Kundschaft kam teilweise von weit her, um zu reiten oder sich die Pferde anzusehen. Mehrere Jugendliche von der Schule nahmen bei ihm Reitunterricht und gerieten ins Schwärmen, wenn der Stall erwähnt wurde.

Sie hatte nie von Pferden geträumt. Aber sie hatte von Jan geträumt, das ließ sich nicht leugnen. Das hatte ihr allerdings nicht viel gebracht. Möglicherweise lag es an ihrer Unsicherheit, dass er nicht zurückträumte, sondern sich über sie lustig machte. Sie war ziemlich sicher, dass Jan Schwäche verachtete. Man durfte kein Feigling sein, wenn man mit Pferden zu tun hatte. Musste stattdessen zeigen, wer das Sagen hatte.

Aber diese Chance hatte sie bei Jan verpasst. Ihn wie ein Pferd zu behandeln, nämlich.

Jan hielt eine Tüte Safranschnecken hoch. Und zwar die Monster.

»Hast du die gebacken? Ich wusste ja gar nicht, dass du so eine lebhafte Fantasie besitzt.«

»Die sind nicht von mir. Das waren die Kinder. Für die Klassenreise. Wie du sicher weißt.«

»Jedes Kind hat also eine Tüte Schnecken gebacken. Dann sollen alle Eltern eine Tüte Schnecken kaufen. Wäre es nicht einfacher, alles Geld für die Reise geben zu lassen und sich diesen Umweg zu ersparen? Wenn das Backen an sich keinem höheren Zweck dient, als dass die Kinder etwas mit den Händen tun. Aber ich finde, dann sollten sie lieber in den Stall kommen.«

In dem Moment, in dem er diesen revolutionären Vorschlag machte, kam eine weitere Mutter zu Lisbeths Stand. Sie begrüßte Jan und zog ihre Schneckentüte hervor. Schöngeformte Safranschnecken, dekoriert mit Perlzucker.

»Hallo! Danke. Die sind aber schön. Leg sie einfach irgendwo auf den Haufen und …«

Sie konnte den Satz nicht beenden, denn nun zog die Mutter ihre Hand zurück und fing an, mit der anderen in ihrer Handtasche zu graben.

»Was kosten die? Einen Zehner?«

Sie stopfte ihre Schnecken zurück und reichte die Münze herüber. Dann sah sie Jans ein wenig fragenden Blick.

»Ja, man weiß doch nie, was andere Schnecken für Zutaten enthalten. Erkältete Kinder, die über dem Teig geniest haben oder die Dinge angefasst haben, über die man lieber nichts wissen will.«

Jan lächelte dieses Lächeln, bei dem Lisbeth sich innerlich krümmte. Die Frau schien das nicht so zu verstehen. Sie lächelte ihn an und zog ihren Seidenschal gerade.

»Man will ja nicht vor Weihnachten krank werden.«

»Ich muss ja sagen, das ist eine geniale Weise, Geld auszugeben. Von sich selbst zu kaufen. Dann kann man einen richtig hohen Preis verlangen, um sicher zu sein, dass es sich lohnt. Das wäre vielleicht auch für mich im Reitstall eine Idee. Ich könnte mir selbst Reitunterricht geben. Ordent­lich verdienen und wissen, was ich wert bin.«

Lisbeth tat die Frau fast ein bisschen leid. Sie hatte es verdient. Aber trotzdem. Gott sei Dank war diese Frau offenbar eine witzige Kombination aus totaler Empfindlichkeit (fremden Schnecken gegenüber) und totaler Abgeklärtheit (wenn ihr offenkundiger Sarkasmus entgegengebracht wurde). Sie lachte. Gab sogar eine brauchbare Bemerkung zum Abschied von sich, als sie sagte, es sei doch nett, etwas beitragen zu können, ehe sie verschwand.

Jan nahm sich fünf Tüten. Reichte ihr einen Fünfziger. Denn Bargeld werde doch wohl immer noch genommen, oder laufe jetzt alles über Handy-Apps?

»Aber gib jetzt nicht alles auf einmal aus«, fügte er hinzu und war verschwunden, ehe sie antworten und ihm außerdem danken konnte.

Wie spät es wohl war? Sie wollten bis acht Uhr weiter­machen, wenn nicht vorher alles verkauft wäre. Aber der Weihnachtsbasar in der Schule gehörte zu den Höhepunkten der Saison, was Veranstaltungen betraf. Wie Karusselltag oder Hockeytag oder Schulabschluss.

»Hallo, Lisbeth. Wie läuft es denn hier?«

Margaretha, die Rektorin, stand vor ihr, sie trug einen Lammfellmantel und solide Stiefel. Eine Mütze hatte sie nicht, schließlich war sie stolz auf ihre Haare. Gerüchtehalber legte sie ihre Locken mit Mitteln, die es inzwischen nur noch auf dem Schwarzmarkt zu kaufen gab. Oder im Dark Net. Was nicht für die Frisur gebraucht wurde, diente praktisch als Abflussfrei. Ein Tropfen, und der Weg zum Mittelpunkt der Erde stand offen.

»Gut, danke. Schön, dass so viele gekommen sind«, sagte Lisbeth.

Sie verstand sich ziemlich gut mit Margaretha. Sie waren verschieden und würden sich niemals Geheimnisse anvertrauen, aber Margaretha sorgte für Ordnung in der Schule und hatte das Wissensniveau auf eine Weise gehoben, die landesweit Aufsehen erregte.

Jetzt nickte sie.

»Finde ich auch. Die gestrickten Fäustlinge da hinten waren offenbar ein Renner. Diese alten Folkloremuster sind jetzt wieder modern, das wird für die Kinder einen guten Reisezuschuss bringen, du wirst schon sehen. Willst du mitfahren?«

Lisbeth war von dieser Frage überrascht. Sie fuhr immer mit. Wer sollte die Klasse denn sonst zur Ordnung rufen?

»Ja, ich dachte jetzt vor allem an die Skiferien nach ­Trysil«, fügte Margaretha hinzu.

»Ja … sicher. Das mach ich doch immer.«

Lisbeth staunte noch immer über diese Frage. Sie gab schon seit Jahren Sportunterricht auch in anderen Klassen. Sie war keine Elitesportlerin, hatte sich in keinem Sport je ausgezeichnet, war aber im Gegenzug in vielen Sportarten gut. Es reichte jedenfalls für Sieben- bis Neunjährige und einige von den älteren Kindern, und auf diese Stunden freute sie sich immer besonders.

Margaretha nahm sich eine Tüte Safranschnecken, ohne sie genauer anzusehen. Zog mit gewisser Mühe Geld hervor, da sie schon mehrere Tüten zu tragen hatte. Die Rektorin ging mit gutem Beispiel voran und hatte Handschuhe, Kerzen und Strohgarben gekauft.

»Hier. Du, ich muss noch etwas mit dir besprechen, du kannst doch sicher irgendwann nächste Woche bei mir im Büro vorbeikommen?«

Ehe Lisbeth antworten konnte, hatte jemand Margarethas Namen gerufen und sie verschwand. Lisbeth registrierte die Girlanden, die irgendwer um die Bäume gewickelt hatte, hörte die Weihnachtsmusik, die schon den ganzen Nachmittag lief, aber von der sie erst jetzt die Melodie wahrnahm. Bald war wirklich Weihnachten. Einfach unglaublich.

Mit einem Seufzer öffnete sie die Tüte mit den Monsterschnecken. Die hatte niemand haben wollen. Sie verspürte eine gewisse Sympathie. Riss die Tüte auf, zog eine Schnecke heraus, biss hinein. Die Krümel rieselten auf die Tischplatte, und sie fegte sie auf den Boden. Dann schaute sie auf. Vor ihr stand ein Schüler. Einer, der immer aussah, als ob er sich gerade im Lehm gewälzt hätte, einer, den sie mindestens einmal pro Tag zum Händewaschen schicken musste, ehe er die Schulbücher anrühren durfte.

»Frau Lehrerin, das sind meine Schnecken, und Frau Lehrerin, Sie haben doch wohl das Bezahlen nicht vergessen?«

2

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Donnerstag, 7. Dezember

Gegen acht waren ihre Füße fast gefühllos in diesen Gummi­stiefeln, von denen sie sich zu Hause sofort befreien würde. Sie hätte dicke Schafwollhandschuhe anziehen sollen. Und dickere Wollsocken.

Sie hatte Margaretha die Kasse überreicht, ohne auch nur nachzuzählen, wie viel sie eingenommen hatte. Es gab noch mehr als genug Schnecken, und die wurden an die Lehrer und die freiwilligen Helfer verteilt. Sie hatten fast alle Stände abgebaut, und der Sportplatz würde bald wieder so aussehen wie sonst.

Margaretha unterhielt sich gerade mit einem von ­Lisbeths Kollegen. Lisbeth hätte sie gern nach dieser vorgeschlagenen Besprechung gefragt. Sie war ein wenig beunruhigt. Sie wusste, dass sie gute Arbeit leistete und dass Margaretha mit ihr zufrieden war.

Aber trotzdem. Bald war Weihnachten. Der Jahreswechsel stand bevor. Budgets sollten aufgestellt, Stundenpläne gemacht werden. Aber die Finanzlage der Schule war gut. Bei der Besprechung könnte es ja auch um etwas Positives gehen. Vielleicht würde ihr ein neues Projekt angeboten werden.

»Dann gehe ich! Macht es gut, und erst mal vielen Dank!«

Margaretha hob die Hand und verschwand. Lisbeth sah ihr hinterher und überlegte, ob sie hinterherlaufen und die Sache sofort zur Sprache bringen sollte. Aber es war zu spät. Sie seufzte, versuchte einige Kartons zusammenzufalten, und trampelte am Ende darauf herum. Sah ein, dass sie hier nicht mehr viel ausrichten konnte.

»Dann hau ich auch ab. Wenn das in Ordnung ist.«

Die anderen nickten, sagten bis dann und widmeten sich weiter ihren Beschäftigungen. Lisbeth kehrte ihnen den Rücken und ging los.

Die Straße in den Ort war erleuchtet, und der Markt, wo Elenas Bäckerei lag, ebenfalls. Mitten auf dem Platz stand ein Weihnachtsbaum und verbreitete ein einladendes Licht. Lisbeth hatte den Baum aus der Nähe bewundert, als er aufgestellt worden war, und sich über den Duft von Tannenzweigen und Harz gefreut. Ein Duft, der sie in die Zeit zurück­geworfen hatte, als ihre Familie im Wald ihren eigenen Baum hatte fällen dürfen, einen, den sie nach einer Wanderung durch den Schnee sorgfältig aussuchten und dann zu viert zum Auto zurücktrugen. Diese Tanne hatte dann viele Wochen bei ihnen gestanden, bis sie fast keine einzige Nadel mehr trug.

Als sie um die Ecke gehen wollte, erblickte sie ein Stück weiter zwei Personen. Jan und Mariana, die Schwester der Edelkonditorin Elena.

Sie erstarrte. Hoffte, dass die beiden sie nicht gesehen hatten. Überlegte. Beim Gehen war ihr ein bisschen wärmer geworden. Sie würde einen Umweg machen können. Sah, wie Jan mit den Armen gestikulierte.

Lisbeth machte kehrt. Lief an der Eisenbahnlinie vorbei und blieb erst nach einer ganzen Weile stehen. Bog ab und stand am Ende im Hafen. Ein Ruderboot lag mit dem Kiel nach oben im Gras, und am Horizont waren die Inseln zu erahnen.

Dass Jan ein Frauenheld war, war kein Geheimnis. Dass er sich sein Leben lang nach Mariana verzehrte, war auch den meisten bekannt, die ihn kannten. Außer vielleicht Lisbeth selbst.

Jetzt war es schon einige Jahre her, dass das Drama seinen Lauf genommen hatte. Marianas Ehe war nicht gut gelaufen, und Jan witterte seine Chance. Es kam anders, und nun hatte Mariana einen Freund in Deutschland und ein freundliches, aber entschiedenes Verhältnis zu Jan. Und er hatte sich sicher auch ein wenig beruhigt.

Aber zu jener Zeit war Lisbeth eben ganz besonders verliebt gewesen. Hatte sich oft in der Nähe von Jans Hof he­rumgedrückt und sich sogar zu einem Reitkurs angemeldet. Letzteres war ihr noch immer peinlich. Eine Erwachsene, die sich aufführte, als ob sie den Verstand verloren hätte.

Sie wollte so etwas nie wieder empfinden. Hatte sogar gedacht, dass sie sich nie wieder verlieben wollte. Besser allein und in Würde zu leben, als in jedem wachen Augenblick an einen Menschen zu denken, der das eigentlich nicht verdient hatte. Wobei Jan sicher nicht schlechter war als andere, das hatte sie sich inzwischen immerhin klargemacht. Aber ein Heiliger war er nicht.

Wie war das möglich? Wie konnte sie von einem Menschen so besessen sein, obwohl seine Fehler und Schwächen doch so offensichtlich waren? Jan lachte über sie und kritisierte sie und bat dabei nie um Entschuldigung.

Lisbeth wanderte hinaus auf die Pier und stieg dann die Felsen hoch. Deshalb war sie hierhergezogen. Wegen der freien Sicht und der Natur, wegen des Ortes, wo die Entfernungen vielleicht auch zwischen den Menschen geringer waren. Wo sie die meisten gut genug kannte, um auch in einer schmutzigen Jacke beim Weihnachtsbasar der Schule sitzen zu können, ohne darauf angesprochen zu werden. Die Straßen von Stockholm waren ihr fremder gewesen, vor allem, wenn sie dort neben Harald ging. Oder Harry, wie seine amerikanische Mutter ihn immer nannte und wie er selbst ungefähr jede zweite Mail unterschrieb.

Sie wusste, dass sie ein ungleiches Paar waren, und wenn sie es ein seltenes Mal vergaß, war Harrys Mutter immer zur Stelle, um sie daran zu erinnern. Lucky Girl, hatte sie bei ihrer zweiten Begegnung gesagt und Lisbeth mit einer Miene betrachtet, die scherzhaft wirken sollte, aber Enttäuschung verbarg. Dass ihr einziger Sohn etwas so Unscheinbares anschleppte, wo er doch jede hätte haben können.

Harry und sie hatten sich an dem einzigen Ort kennengelernt, wo ihre Wege sich überhaupt kreuzen konnten. Lisbeth unterrichtete in einem Vorort und kam nur selten in die Stadt, während Harry sich in den »feineren« Kreisen ­bewegte und sich in Stockholms Lokalen bestens auskannte.

Sie waren sich in einem Kino in Stockholm begegnet. Der Film handelte von einer Clique, die ihre Mobiltelefone während eines gemeinsamen Essens anließ, um zu sehen, was passierte. Alle beteuerten, sie hätten nichts zu verbergen. Alle hatten etwas zu verbergen.

Sie selbst war von einer Freundin eingeladen worden, die jedoch in letzter Sekunde verhindert gewesen war. Harry war aus einem ganz anderen Grund dort. Seine damalige Freundin hatte in seinem Telefon geschnüffelt und etwas total Harmloses gefunden, was sie, laut Harry, auf die Palme gebracht hatte. Die Freundin fand, sie müssten die ­Angelegen­heit auf eine andere Ebene heben, um zu sehen, ob sich etwas retten ließ.

Das war nicht der Fall. Harry hatte hinter Lisbeth am Kiosk gewartet. Ihr war das Portemonnaie heruntergefallen. Er war wie ein Mann von Welt vorgetreten und hatte für sie beide bezahlt. Sie waren ins Gespräch gekommen, und Harry war bei ihr stehen geblieben, obwohl seine Freundin mit immer saurerer Miene ein Stück von ihnen entfernt von einem Fuß auf den anderen trat.

Heute war ihr klar, dass sie eine Zeit lang die Richtige gewesen war, um Harrys Selbstvertrauen zu steigern. Und sie hatte sich sofort in ihn verliebt. Weil er spontan und charmant war. Weil andere Leute sie auf andere Weise ansahen, wenn sie neben ihm stand. Weil er Stil hatte, das Beste aus zwei Kulturen, weil er den Weihnachtsmann Santa nannte und schon Anfang September the festive season begann und er fand, dass Lisbeth da draußen in den Vororten fantastische Arbeit für die Zuwandererkinder leistete.

Aber dann kam es, wie es kommen musste. Dann endete es in einer Katastrophe. Und sie zog hierher und verliebte sich in Jan. Eine ganz andere Art von Mann, aber trotzdem ein genauso prachtvoller Schuss in den Ofen.

Eine Welle schlug gegen die Felsen, und das Meerwasser traf ihre Beine. Liesbeth lief nach unten und kehrte zurück auf die Pier. Machte größere Schritte und schlenkerte mit den Armen, dachte noch einmal, wie schön es war, dass die Sache vorbei war. Dass sie sich eigentlich gut fühlte. Hier über den Strand zu gehen, Freunde und eine gute Stelle zu haben, frische Luft zu atmen. Ein eigenes Haus, allein das. In Stockholm hatte es gerade für eine Einzimmerwohnung gereicht.

Sie wollte sich nicht mehr in die falschen Männer verlieben, die nicht einmal nett zu ihr waren. Es war gut, so wie es war. Wenn nur Margaretha nichts mit ihr besprechen wollte, das mit bevorstehenden Problemen in der Schule zusammenhing.

Sie erreichte eine der Hauptstraßen. In den Fenstern leuch­teten Adventslichter oder ein Stern, und in den Gärten hingen Lichterketten an den Bäumen und Zäunen. Es sah schön aus. Warm und liebevoll.

Jemand kam ihr entgegen. Ein älterer Mann mit einem Hund. Lisbeth erkannte Torsten, obwohl um sie herum jetzt alles dunkel war. Aber Torsten war nicht zu verkennen. Der Hund ebenfalls nicht. Eine Promenadenmischung, die auf den Namen Bosse hörte. Ein Hund, dessen Eltern, anders als die von Harry, ihrer Nachkommenschaft nicht das Beste von sich hatten weiterreichen können. Doch dafür liebte der Hund sein Herrchen heiß und innig und hatte sogar eine gewisse Art von Führungstalent entwickelt.

Torsten sah kaum noch etwas und ging eigentlich nie allein los. Der Hund, den er früher gehabt hatte, war ein kluges Tier gewesen und zu Augen und Füßen seines Herrchens geworden. Als der Hund gestorben war, hatte Torsten einige Zeit gebraucht, um über diesen Verlust hinwegzukommen, während Bosse ihm mehr oder weniger durch Zufall in den Schoß gefallen war.

Jetzt waren sie so glücklich, wie Herr und Hund das eben sein können, und in ihrer Unvollkommenheit brachten sie jeder beim anderen das Beste hervor, um das Dasein so erträg­lich wie möglich zu machen. Lisbeth dachte, dass alle Beziehungen so sein sollten. Hund und Hund. Mensch und Mensch. Mensch und Hund. Oder Katze.

»Hallo, Torsten. So spät noch unterwegs?«

Torsten blieb vor ihr stehen. Bosse setzte sich mit hängender Zunge hin, und sie bückte sich und kraulte ihn ­zwischen den Ohren.

»Wer ist das?«

»Lisbeth. Aus der Schule.«

»Ach, du bist das. Gehst du auch spazieren?«

»Ich hab nur einen kleinen Umweg gemacht. Ich war beim Weihnachtsbasar.«

Wie üblich trug er keine Handschuhe. War wohl einer von denen, die nie an den Händen frieren. Aber seine Jacke war immerhin richtig zugeknöpft. Das gelang ihm nicht immer, aber nur selten brachte jemand es übers Herz, ihn darauf aufmerksam zu machen.

»Ach, war der heute? Verzeihung. Den hab ich verpasst.«

Lisbeth streichelte seinen Arm.

»Macht nichts.«

»Habt ihr denn was verkauft?«

»Doch, es ging schon.«

»Das klingt gut. Wie geht es dir denn?«

Er lächelte, und seine Augen tränten. Wenn sein Haus nicht in der Nähe gelegen hätte, hätte sie sich Sorgen ­gemacht. Aber diesen Weg hier kannte er.

»Mir geht es gut.«

»Freust du dich auf die Ferien?«

»Ja, sehr.«

Nicht dass sie so viel darüber nachgedacht hätte. Hatte keine besonderen Pläne. Vage Überlegungen, irgendwen zu besuchen. Aber die meisten hatten sicher genug zu tun, und sie streng genommen auch, jedenfalls über Weihnachten. Durchgetaktete Tage bei der Familie.

Sie zitterte. Seltsamerweise schien Torsten das zu bemerken.

»Jetzt frierst du, also geh nach Hause und koch dir was Warmes. Das habe ich auch vor.«

»Soll ich …«

Sie hätte fast gesagt, »dich nach Hause bringen.« Welch ein Glück, dass sie sich zusammengerissen hatte. Torsten hatte seinen Stolz. Wie sie selbst, übrigens. Es gab keinen Grund, ihre Hilflosigkeit oder ihre Einsamkeit breitzu­treten.

»Nicht doch, ich komme immer zurecht, das weißt du doch. Bis dann, Frau Lehrerin. Wir sehen uns.«

Torsten hob die Hand an eine fiktive Hutkrempe und ging weiter. Lisbeth schaute ihm hinterher, bis die Dunkelheit ihn verschluckte.

Sie ging Richtung Ort und bog in die Straße ab, in der Jan und Mariana verschwunden waren, vermutlich nicht ­gemein­sam. Blieb vor ihrem Haus stehen, ihrem kleinen Nest, das nicht weit vom Strand entfernt lag. Hinter einem Fenster brannte Licht, und sie war froh darüber, dass sie daran gedacht hatte, eine Lampe anzulassen. Das war ihr erster Gedanke. Der zweite war, dass es wirklich auch für sie an der Zeit war, Leuchter und Sterne aufzustellen. Vielleicht sogar etwas im Garten.

Der Erste Advent war zwar schon vorbei, aber es war doch schön, für den Zweiten, Dritten und Vierten zu schmücken. Und jetzt hatte sie wirklich das Gefühl, dass ihr der Wind der Veränderung um die Ohren sauste. Nicht nur der übliche Dezembersturm.

In ihrer Jacke brummte es. Lisbeth steckte die Hand in die Tasche, fand aber ihr Telefon nicht. Am Ende konnte sie es hervorfischen, und dann starrte sie das Display an.

Harry.

Der Anblick dieses Namens überraschte sie dermaßen, dass sie einfach nichts tun konnte, und das Klingeln hörte schließlich auf. Ihr Anrufbeantworter zeichnete keine Nachricht auf. Sie blieb stehen und wartete, unklar worauf, dann ließ sie das Telefon wieder in ihrer Tasche verschwinden.

Sicher hatte er die falsche Nummer gewählt. Sie hatten seit drei Jahren nichts mehr voneinander gehört. Schicksalsgläubige hätten jetzt sicher gesagt, sie habe den ­Anruf herauf­beschworen, weil sie an Harry gedacht hatte. Sie selbst glaubte eher an einen gemeinen Zufall.

3

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Donnerstag, 7. Dezember

In der Garderobe hingen zu viele Kleidungsstücke und zu wenige Kleiderbügel. Unterschiedlich große Kleider­bügel noch dazu. Einige aus Kunststoff, die sie im Laden zu den gekauften Kleidungsstücken dazu bekommen hatte, einige uralte aus Holz mit der Inschrift Schneiderei Osby oder ­Wäscherei Fågelström. Sie hatte sie von zu Hause mitgebracht, und sie stammten aus den Rumpelkammern ihrer Eltern.

Jetzt hatten die Eltern identische Holzkleiderbügel, und darauf hing nur das, was gerade zur Jahreszeit passte, dazu gab es einige freie für Gäste. Lisbeths Mutter hatte einmal gesagt, es sehe so elegant aus, wenn die Kleiderbügel frei hingen und wenn es Platz für Besucher gäbe. Wenn man das nicht habe, wolle man vielleicht gar keinen Besuch haben. Es sei von Anfang an das falsche Signal, und man habe niemals eine Möglichkeit, den ersten Eindruck zu korrigieren.

Lisbeth hängte ihre fleckige Jacke über eine Jeansjacke, die seit dem Sommer dort hing. Ihr Herz hatte sich nach einer Weile beruhigt, und entschieden verdrängte sie alle weiteren Gedanken an Harry. Natürlich hatte er die falsche Nummer erwischt, und auf keinen Fall würde sie ihn zurück­rufen.

Sie ließ sich auf den Stuhl neben dem Spiegel in der Diele sinken und zog die Stiefel aus. Fragte sich, wie lange sie die wohl schon hatte. Waren das überhaupt ihre eigenen, oder hatte sie auch die geerbt? Aber sie hatte ja beschlossen, sie wegzuwerfen, da konnte es doch egal sein.

Sie ging durch das Haus und schaltete weitere Lampen ein. Das dauerte nicht lange. Zwei Zimmer und Küche unten, zwei Zimmer mit schräger Decke oben. Aber es war ihr Haus. Sie hatte sich das Darlehen besorgt, hatte ein ­Angebot gemacht, hatte renoviert und war eingezogen.

Vielleicht war die Küche der gemütlichste Raum. Das Haus stammte aus den fünfziger Jahren, und die Schränke waren noch von damals. Perlgrau und ein wenig abgenutzt. Es gab sogar so ein Regal mit Gläsern für Zucker und Mehl und Rosinen, solche, wie man inzwischen in Antiquitätenläden finden konnte, wie sie festgestellt hatte.

Sie ließ sich an dem mit einer bestickten Decke mit Spitzenrand geschmückten Küchentisch nieder. Die Decke stammte von der früheren Besitzerin, der 93-jährigen ­Estrid, die den Großteil ihres Lebens mit Mann und Kindern hier verbracht hatte. Estrid hatte allerlei hinterlassen, wie diese Decke, einige Küchengeräte, Besteck, einen Schreibtisch und einige Kissen. Lisbeth hatte es nicht übers Herz g­ebracht, sich von diesen Dingen zu trennen. Sie ­gaben ihr ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Estrid war lieb gewesen. Hatte ihr das Haus überlassen, obwohl irgendjemand sie noch im letzten Moment überboten hatte. Entscheidend war gewesen, dass Lisbeth versprochen hatte, das Haus nicht abreißen zu lassen, um ein neues zu bauen, wie alle übrigen Interessenten vorgehabt hatten. Zweifellos lockte die Lage in Strandnähe, nicht das Haus selbst. Aber Lisbeth verstand, wie stolz Estrid auf ihr Haus war, das Zuhause, wo Kinder und Enkelkinder gespielt hatten, und das zu verlassen ihr ohnehin so schwerfiel. Außerdem hatte sie selbst sich in das Haus verliebt, so wie es war.

Und deshalb konnte sie es am Ende kaufen. Sie konnte sich noch genau an dieses Gefühl erinnern, den Stolz, weil es ihr gelungen war, ein alles andere als einfaches Rennen zu gewinnen. Aber zugleich schien die Energie sie verlassen zu haben. Sie brachte ihre wenigen Möbel aus Stockholm her, Überbleibsel von Eltern und Bekannten, und kaufte »provisorisch« billig dazu. Nun währte das Provisorium schon mehr als fünf Jahre.

Sie setzte Wasser auf. Schnupperte in der Luft. Etwas roch hier, und es roch nicht gut. Kein altes Essen, kein Schimmel. Eher der Abfluss. Sie hatte diesen Geruch während der letzten Wochen ab und zu bemerkt, gelüftet, den Abfall hinaus­gebracht und sich gesagt, es sei sicher ein Zufall. Der ­Geruch war dann auch für eine Weile verschwunden, aber nun musste sie sich doch eingestehen, dass er immer wiederkehrte. Konnte ihr eine Krabbenschale hinter den Herd gefallen sein? Aber sie hatte seit dem Sommer keine Krabben mehr gegessen.

Sie öffnete das Fenster und verdrängte den Gedanken daran, was es sein könnte. Starrte in den dezember­ruhigen Garten hinaus, während das Wasser kochte, bereitete ihren Tee zu und ging ins Wohnzimmer. Holzboden. Sofa und eine Kiste als Tisch. Bücherregal voller Bücher, die nach ihren Autoren und alphabetisch geordnet waren.

Mit der Tasse in der Hand wanderte sie durch das Zimmer. Fuhr mit der Hand über den Tisch, schob eine Topfblume auf der Fensterbank gerade. Trank ihren Tee, ging nach oben und warf einen Blick ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, und die Tagesdecke war achtlos über das Fußende geworfen. Auf dem Stuhl lag ein Stapel Kleider, die gewaschen waren, aber noch gefaltet und sortiert werden mussten. Sie hatte Harry immer dabei geholfen, und er hatte sie sehr gelobt.

Sie warf einen Blick auf den Kommodenspiegel. Es war ein schöner Spiegel. Von der Großmutter geerbt. Das Glas war ein bisschen trübe geworden und machte die Konturen weicher, glättete Falten besser als jede Creme. Ein letzter Blick in den Spiegel und man fühlte sich zufriedener, als wenn man sich im unbarmherzigeren Badezimmerspiegel betrachtet hätte.

Aber jetzt brauchte sie ja nicht in den Spiegel zu sehen, weder in den wirklichkeitsgetreuen noch in den schonenden, um zu wissen, wie sie aussah. Nordischblonde Haare, ja, danke, eher nordischmausgrau, die etwas schrägstehenden Augen und derselbe große Mund wie immer. Eigentlich war sie genau wie das Haus. Alles war achtlos zusammengewürfelt. Ein bisschen geerbt, ein bisschen ausgeliehen, nichts passte richtig zueinander, als wäre sie einfach ein Zufallsprodukt. Seht mal, das ist also dabei herausgekommen. Eine Lisbeth.

Sie verzichtete darauf, das zweite kleine Zimmer im Obergeschoss zu inspizieren, ihr Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Computer, mit dem im Moment blicklosen Auge, die Regale mit Arbeitsmaterial, die Zeichnungen der Schulkinder an den Wänden. Sie ging stattdessen nach unten und zurück in die Küche. Fing unvermittelt an, im untersten Regalfach in der Speisekammer herumzuwühlen. Fand eine halbe Flasche Glühwein vom Vorjahr. Wärmte ihn auf, füllte ihn in ein Glas und konnte sogar eine Handvoll Rosinen und einige Mandeln auftreiben. Da fehlte nur noch eine Zimtschnecke. Eine Monsterschnecke.

Lisbeth ließ sich auf das Sofa sinken. Zündete eine Kerze auf dem Tisch an. Trank einen Schluck Glühwein. Lecker. Eine Ahnung von Zimt, Nelken und Ingwer. Das erste Glas war bald geleert, und sie ging in die Küche zurück und holte Nachschub. Nun duftete es nach Glühwein und frischer Luft, und sie zog das Fenster zu und redete sich ein, dass der Abflussgeruch nichts Schlimmes zu bedeuten habe. Das Haus roch im Grunde ja immer gut. Nach Holz und Meer.

Sie könnte eigentlich die Weihnachtssachen heraus­suchen. Der Erste Advent war wie gesagt schon vorbei, und sie hatte noch nicht einmal den Adventsleuchter aufgestellt. Ihre ganze Adventsenergie schien von Schule und Schülern verbraucht worden zu sein. Alle hatten einen Kerzenleuchter von zu Hause mitbringen dürfen und stellten ihn vor sich auf den Tisch, und dann lasen sie vor, während die Flammen friedlich flackerten und selbst die Augen der Tunicht­gute vertrauensvoll und fromm glänzen ließen.

Kerzen im Klassenzimmer waren ganz bestimmt verboten, und Liesbeth wusste, dass sie mit einer schwerwiegenden Mahnung rechnen müsste, wenn jemand davon hörte. Aber sie fand es wunderbar, und die Kinder fanden es wunderbar, und irgendwann musste man doch etwas tun dürfen, das nicht als richtig und korrekt galt? Solange die Eltern keinen Einspruch erhoben, konnte es doch wohl nicht schaden.

Vielleicht war es die Erinnerung an ihre eigene Schulzeit. Die Erinnerung daran, dass sie einen Kerzenleuchter mitbringen durften und auf die Bank stellten. Annabellas Leuchter, ein silberner Engel, der die Kerze hielt. Sie war ja so neidisch gewesen. Hatte zu Hause nach einem ähnlichen Leuchter gesucht, hatte einen Holzengel gefunden, der aber bei weitem nicht so schön gewesen war.

Ja, vermutlich war es die Erinnerung an diesen schönen Silberengel, der sie dazu brachte, jedes Kind in der Schule eine Kerze anzünden zu lassen. Und jetzt sollte sie auch zu Hause ein bisschen schmücken. Der Glühwein hatte sie warm und froh gemacht. Sie in das Gefühl gehüllt, dass sie es im Großen und Ganzen gut getroffen hatte, und bald war Weihnachten und das konnte sogar nett werden, und eigentlich war sie nicht besonders seltsam oder besonders missraten oder nicht ganz gut geraten, was ab und zu ungefähr gleich schlimm war. Sie war eine selbständige Frau von achtunddreißig Jahren, die ein Haus fast am Strand besaß und so lebte, wie sie es sich selbst ausgesucht hatte.

Verliebt war sie gerade auch nicht. Darauf ein Prosit. Und diesen irrtümlichen Anruf würde sie so schnell wie möglich vergessen.

Sie fing an, in ihren CDs zu kramen. Brachte es nicht über sich, sich auf Spotify anzumelden. Fand etliche amerikanische, die von Harry stammten. Jede Menge Bing Crosby und »White Christmas« und »Jinglebells« und »All I want for Christmas is you« und andere Klassiker. »Santa Lucia« konnte warten, bis die weißgekleidete Prozession wirklich loszog und die Dunkelheit erleuchtete. Dann lieber eine Sammlung unterschiedlicher Melodien.

Sie drehte lauter und machte einige vorsichtige Tanzschritte. Tänzelte dann die Treppe hoch und weiter zu dem kleinen Dachbodenraum noch weiter oben. Einige Sessel vom Flohmarkt, die eigentlich neu bezogen werden müssten, ihre Skier und Schlittschuhe und Helme und ein kleiner Grill, ein Liegestuhl und ein Karton mit allen möglichen Produkten aus den Näh- und Werkstunden ihrer Kindheit, die ihre Eltern hatten loswerden wollen, auch wenn es sich bei ihnen anders angehört hatte. Der Weihnachtskarton stand ganz hinten unter dem kleineren Osterkarton.

»Hallo, Weihnachtswichtel«, klang durch die Holzbalken. Ein Lied, zu dem ihre Familie früher zu Weihnachten Ringelreihen getanzt hatte. Lisbeth stimmte ein, während sie den Karton hervorwuchtete, ihn die Treppe hinunterschleppte und mitten im Raum öffnete. Ganz oben lag der Adventsleuchter, den sie mit roten Kerzen, die sie wirklich vorrätig hatte, auf den Couchtisch stellte. Sie zündete die erste an.

Nun erging sich Michael Bublé in »White Christmas«. Harry hatte diesen Sänger geliebt, vielleicht, weil sie sich ein bisschen ähnlich sahen. Und er sang gut. So viel musste sie nach zwei Gläsern Glühwein zugeben.

Der Glühwein. Ja. Mehr Glühwein. Sie ging in die Küche und schenkte sich nach. Suchte gleichzeitig ein paar zerzauste Wichtel heraus, eine kleine Lucia-Prozession und eine Krippe, die sie nach kurzem Überlegen dann aber doch wieder zurückstellte. Dafür suchte sie nach etwas, das Licht in den pechschwarzen Garten hätte bringen können. Eine Lichterkette. Um sie in den Apfelbaum zu hängen. Wenn sie wollte. Denn sie machte das ja nur für sich selbst. Niemand würde sie zu Weihnachten besuchen. Sie würde wie immer bei ihren Eltern feiern. Zusammen mit ihrer Schwester ­Helena, deren Mann Micke und den drei Kindern, sowie dem vierten, das unterwegs war. Helena war wieder schwanger und würde am Heiligen Abend aussehen wie eine zum Bersten gefüllte Pute. Das Kind sollte irgendwann im Januar kommen, viel Zeit war also nicht mehr.

Aber Helena machte sich deshalb keine Sorgen. Sie war Ärztin und hatte den Tag sicher genau berechnet. Der Kleine in ihrem Bauch wusste garantiert genau, wann er herauskrabbeln dürfte. Wenn Lisbeth anstelle des Babys gewesen wäre, wäre sie so lange wie möglich drinnen geblie­ben, wo es ruhig und still war und wo sie ein eigenes Zimmer hatte. Er, ja. Doch, es war ein Er. Das war bereits offiziell. Sowie die Ankunft im Januar. Kinder ganz allgemein und Jungen im Besonderen hatten es ja schwerer, wenn sie spät im Jahr geboren wurden. Ein im Januar geborener Junge dagegen war prädestiniert für ein erfolgreiches Leben, er war schließlich daran gewöhnt, der Erste und im Vergleich zu den anderen seines Jahrgangs in seiner Entwicklung am weitesten fortgeschritten zu sein.

Nein, so genau ließ sich das natürlich nicht sagen. Natürlich wusste Helena das. Es wirkte nur mal wieder so, als ob Helena alles minutiös geplant hätte.

Und die vielen Kinder schienen die Schwester auch nicht weiter zu belasten. Helena hatte ihr Leben voll im Griff. Ihre Arbeit als Ärztin, ihre Forschungen, ihren Mann, ihre Orgelpfeifen-Söhne. Alles funktioniert, solange du weißt, was du willst und entsprechend planst, wie sie immer sagte. Es war ja nicht so, dass Lisbeth da nicht zugestimmt hätte. Die Energie und die Disziplin ihrer Schwester waren bewundernswert. Wenn auch manchmal ein bisschen zu viel.

Sie ließ sich zu Boden sinken. Leicht beschwipst und mit einer Klopapierrollen-Lucia in der Hand. Diese Lucia hatte sie vor vielen Jahren im Kindergarten angefertigt, als Klopapierrollen als harte Währung golten. Die Rolle war mit weißem Papier umwickelt mit einem roten Band in der Mitte, das die nicht vorhandene Taille markierte. Dazu eine Papier­kugel als Kopf und Wollreste als Haare. Pfeifenreiniger mit aufgeklebten Sternen darüber als Lichterkranz. Ein gemaltes Gesicht.

Die Klopapier-Lucia war einmal ein Weihnachtsgeschenk an die Eltern, hatte nun aber den Weg zurück zu Lisbeth gefunden. Sie passten zusammen, die Lucia und sie. Waren hilflos vereint in ihren Rollen.

Sie stellte die Lucia neben den Adventsleuchter. Schwank­te ein wenig. Der Glühwein tat wirklich seine Wirkung. Aber ihre Füße waren warm, und es machte nichts, dass die Uhrzeiger auf elf zugingen. Es war Donnerstag, und irgendwie würde sie am nächsten Morgen schon auf die Beine kommen. Bald war Freitagabend. Dann kam das Wochenende.

Als es klingelte, wusste sie zuerst nicht, ob es das Telefon oder die Musik gewesen war. Lisbeth suchte nach dem Telefon und war erleichtert, dass es nicht wieder Harry war, sondern Sara. Ihre fast treueste Verbündete im Ort, eine Bekannte, die zu einer guten Freundin geworden war. Wir haben genommen, was zu haben war, wie Sara immer sagte, wenn ihre Freundschaft zur Sprache gebracht wurde.

Sara führte den lokalen Frisiersalon. Einen davon, sollte man vielleicht hinzufügen. Da war auch noch Omar. Aber zwischen den beiden herrschte keine Feindschaft, nicht ein­mal Konkurrenz. Sie hatten durch Einwohner und ­poten­zielle Kundschaft einen Mittelscheitel gezogen, und die einen waren auf die eine Seite gefallen und der Rest auf die andere. Lisbeth war bei Sara gelandet, und sie hatten sich vom ersten Augenblick an gut verstanden.

Sara wohnte schon einige Jahre länger hier als Lisbeth. Sie hatte den Salon übernommen und betrieb ihn weiter mit sanfter Hand und verbindlicher Freundlichkeit. Sara zu besuchen, war, wie zu verreisen und gleichzeitig heim­zukehren. Sie konnte einen umsorgen, ohne jemals aufdringlich zu sein, und Vertraulichkeiten austauschen, ohne diese weiterzutragen. In Lisbeth Fall waren das ziemlich viele, und nichts sprach sich herum, wenn sie Sara darum bat, die ­Geheimnisse für sich zu behalten.

Sara hatte ein großes Herz und eine große Haarpracht. Neun von ihren Kommentaren waren schlicht und vielleicht ein wenig beliebig, der zehnte dagegen konnte stoische Weisheit enthalten. Dein Problem ist, dass du dich offenbar in Männer verliebst, denen es schlechter geht als dir, war ein Beispiel für Letzteres. Ein Kommentar, bei dem Lisbeth nach Luft geschnappt hatte.

Ganz zu schweigen davon, als Sara gesagt hatte, jetzt müsse sie aber aufhören, sich nach Dingen zu sehnen, die sie nicht haben könnte. Das habe noch niemals etwas ­gebracht und für die Haare sei es auch nicht gut. Entweder ließ man das Objekt der Sehnsucht fallen oder man handelte. Lauwarme, fettreduzierte Milch habe die Welt zu Fall gebracht.

Vielleicht hatte dieser Kommentar dann wirklich ­Lisbeths Besessenheit von Jan ein Ende gesetzt. Und sie beschließen lassen, nur noch Vollmilch zu trinken.

»Was machst du?«

Sara war keine, die Zeit mit unnötigen Einleitungen vergeudete. Alle wussten doch, dass Lisbeth eine Nachteule war.

»Ich stelle Weihnachtsschmuck auf.«

Sie hätte hinzufügen können, dass sie auch Glühwein getrunken hatte. Aber das konnte noch warten.

»Was hast du gesagt?«

»Weihnachtsschmuck. Du weißt vielleicht nicht, was das ist. Das sind Sachen, die man einmal im Jahr hervorkramt, normalerweise aus einem Karton voller kleiner roter Figuren, die Weihnachtswichtel genannt werden, oder weißgekleideter Frauen, die Lucia heißen. Wusstest du, dass ich eine Lucia aus einer Klopapierrolle gebastelt habe? Die ist wunderschön. Man wickelt Papier um die Rolle und setzt eine Papierkugel darauf, und dann klebt man Pfeifenreiniger auf den Kopf. Und Haare natürlich, das ist wichtig.«

»Hast du getrunken?«

Lisbeth warf einen Blick auf den Spiegel in der Diele. Ihr Gesicht war knallrot. Sie hätte selbst als Weihnachtsschmuck durchgehen können.

»Nur einen Schluck Glühwein. Ich war total durchgefroren, nachdem ich stundenlang auf dem Weihnachtsbasar der Schule saß, und außerdem habe ich beschlossen, dass der Wind der Veränderung weht, deshalb dekoriere ich.«

»Der Wind der Veränderung?«

»Japp. Der Wind der Veränderung. Den habe ich bereits im Hafen gespürt.«

»Aha.«

Das war der zehnte Kommentar. Der stoische, weise.

»Aber warum rufst du an?«

»Vergiss es. Komm morgen in den Salon. Um vier Uhr hat jemand abgesagt, und dann reden wir, während der Wind der Veränderung durch deine Haare weht.«

»Aber …«

»Und jetzt geh schlafen.«

Sara legte auf, und es wurde still. Lisbeth hätte schwören können, dass sie ein Lachen gefolgt von: »Wind der Veränderung? Ja, servus …«,gehört hatte, ehe die Verbindung unter­brochen wurde.

Lisbeth blieb mit dem Telefon in der Hand stehen. Wenn sich dieser Wind der Veränderung nur auf ihre Frisur ­beschränkte und nichts Unangenehmes herbeiwehte. Etwa im Gespräch mit der Rektorin Margaretha. Oder ein weiterer Anruf von Harry.

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Freitag, 8. Dezember

Im Salon war kein Mensch. Keine weitere Kundschaft und auch keine Sara. Lisbeth ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Die Glocke bimmelte weiter, aber noch immer wies nichts auf menschliche Anwesenheit hin.

Sie rief Hallo, zuerst vorsichtig, dann lauter. Konnte sie die Uhrzeit missverstanden haben? Aber wenn Sara schon Feierabend gemacht hätte, wäre die Tür doch abgeschlossen gewesen?

Saras Salon wirkte immer einladend. Im Sommer verwandelte sich das Schaufenster in einen Strand, und Fläschchen und Tuben reckten sich zu Pappsonnen hoch. Im Herbst leuchteten Blumensträuße in bunten Herbstfarben neben Vorschlägen für Haartönungen in ähnlichen ­Nuancen. In den Wintermonaten Glitzer, Schneemännlein und Empfehlungen für natürliche Blondinen sowie Mittel, mit denen die unnatürlichen ebenfalls natürlich aussehen könnten. Im Frühling war der ganze Salon mit Tulpen ­geschmückt.

Jetzt fiel die Dekoration spartanisch aus. Ein Weihnachtswichtel stand im Fenster und sah einsam aus, und die ­Regale klafften Lisbeth leer entgegen.

Sie ging zur Empfangstheke. Spielte mit dem Gedanken, einen Blick in die dahintergelegenen, privaten Räumlichkeiten zu werfen. In diesem Moment wurde der Vorhang ­geteilt und eine junge Frau trat heraus.

Sie mochte um die zwanzig sein, und sie trug einen ­engen Rock, eine Bluse und Stiefel. Rote Lippen in einem ansonsten ungeschminkten Gesicht und Haare, die in einer ­Nuance glänzten, die wirklich nur als grau bezeichnet werden konnte. Silberhaare. Diese Farbe hatten auch Lisbeths Großeltern gehabt, und ihre Mutter verbrachte jeden zweiten Monat drei Stunden damit, diesen Farbton jedesmal für ein gutes Sümmchen zu bekämpfen. Es konnte unmöglich die natürliche Haarfarbe dieser jungen Person sein. Färbte man sich die Haare neuerdings grau?

Aber egal. Wer jung und hübsch war, konnte sich jede Haarfarbe leisten.

Die junge Frau streckte die Hand aus.

»Halloooo. Wie cool, dass du gekommen bist.«

Lisbeth wollte schon sagen, das habe nichts mit cool zu tun. Sie habe einen Termin bestellt und sich zu selbigem eingefunden. Aber sie verkniff sich diese Bemerkung. Fand keinen Grund, sich jetzt schon wie eine übellaunige alte Kuh zu benehmen, noch dazu wie eine mit mausgrauen, nordischblonden Haaren.

»Hallo. Ich war für vier Uhr zu Sara bestellt. Wo ist sie?«

Das Mädchen verzog das Gesicht zu etwas, das ein ­Bedauern darstellen sollte.

»Sie musste leider weg.«

»Ach was. Ist etwas passiert?«

»Da fragst du sie besser selbst.«

Dieser Versuch, erwachsen aufzutreten, wirkte lächerlich altklug. Aber an sich hatte das Mädchen natürlich recht.

»Sara und ich sind gute Freundinnen.«

Das Mädchen legte den Kopf schräg.

»Ich verstehe. Aber es ist trotzdem besser, wenn du mit ihr selbst sprichst.«

»Dann sollte ich wohl …«

»Aber also, das ist kein Problem. Ich kümmere mich um dich.«

»Arbeitest du hier?«

»Ich gehe auf die Friseurschule in Göteborg und habe bei Sara Praktikum gemacht und springe manchmal ein, wenn sie Hilfe braucht. Frida heiße ich.«

Sie streckte die Hand aus. Die war warm und fast ein bisschen feucht, fühlte sich an wie die von Lisbeths Schülerinnen. Lisbeth machte sich klar, dass sie an dieses Mädchen nicht wie an ein Mädchen denken durfte. Und dass sie machen musste, dass sie hier wegkam.

»Sara hat gesagt, dass du etwas Neues ausprobieren möch­test. Bitte, setz dich und erzähl, was du dir so vorstellst.«

Viel später sollte Lisbeth an diesen Augenblick als an einen der lehrreichsten ihres Lebens zurückdenken. Es war ein Augenblick, in dem sie ein klares Nein hätte äußern sollen, oder darauf bestehen, sich die Sache nochmal zu überlegen und gegebenenfalls zurückkommen zu können, statt sich zu einer übereilten Zusage überreden zu lassen.

Sie würde zudem auf dieses Geschehnis verweisen, um ihren Schülern zu erklären, dass man den Bekundungen anderer Leute nicht immer vertrauen kann. Auch wenn sie dich nicht direkt anlügen, so erscheint ihnen die Wahrheit doch manchmal sehr dehnbar …

»Ich weiß nicht …«

Doch Frida war schon zu einer der beiden Nischen ­gegangen und hatte den Stuhl herangezogen.

»Sara sagte mir, dass du kommst und wir etwas Neues probieren sollen.«

Lisbeth setzte sich. Ehe sie sich’s versah, war ihr der ­Umhang umgelegt worden und sie konnte die Arme nicht mehr bewegen. Frida stand hinter ihr und machte sich an ihren Haaren zu schaffen. Das war ein angenehmes Gefühl. Diese Art von Berührung durch eine kompetente Person sorgt dafür, dass man sich geborgen fühlt. Eine Krankenschwester, die den Blutdruck misst. Ein Optiker, der den Sitz eines Brillenbügels überprüft.

»Du hast wunderschöne Haare. Du musst sie bloß ein bisschen aufpeppen. Ihnen ein wenig Form geben, meine ich.«

Lisbeth sah, wie Fridas Gesicht, gleich über ihrem eige­nen, ihre Haarsträhnen musterte. Wunderschöne Haare. Das hatte nicht einmal Sara gesagt, und wenn Sara diesem Mädchen vertraute, war es vielleicht nicht so gefährlich. Und sie selbst hatte sich doch den ganzen Tag auf den Friseur­besuch gefreut.

Der Morgen war eine Qual gewesen. Der Glühwein hatte in den Schläfen gepocht, und sie hatte sich im Morgentee eine Kopfschmerztablette auflösen müssen. In der Schule war Margaretha nicht in ihrem Büro gewesen, obwohl Lisbeth zweimal vorbeigeschaut hatte. Margaretha hatte zwar von der nächsten Woche gesprochen, aber Lisbeth wollte sich schließlich nicht das ganze Wochenende den Kopf ­darüber zerbrechen, was die Rektorin ihr wohl zu eröffnen hatte.

Die Kinder waren noch dazu unruhig, und es war schwer gewesen, sie zum Stillsitzen zu bringen. Entschuldigung, Frau Lehrerin, da ist Rotz auf der Bank, hatte eins laut und deutlich gesagt, während ein anderes in der Pause nicht auf den Hof gewollt hatte. Seine Jacke war tatsächlich viel zu dünn, und Lisbeth fiel es schwer, die Kleine hinauszu­scheuchen.

Frida kämmte ihr jetzt die Haare nach hinten.

»Also, was stellst du dir vor?«

»Etwas Neues. Aber nicht zu neu. Diese Länge würde ich gern behalten.«