2,99 €
enthält die beiden Titel
Liebe mit Bass und
Liebe mit Rhythmus
Talina liebt die Musik. Seit ihrer Kindheit spielt sie Kontrabass und Klarinette. Außerdem singt sie im Chor.
Eines Tages lernt sie über eine Freundin Jens kennen. Er möchte eine Thrash Metal Band gründen und sucht dafür Mitglieder.
Bis er einen geeigneten Bassisten findet, soll Talina diesen Part übernehmen. Thrash Metal ist nicht ganz ihr bevorzugter Stil. Aber zeitweise lässt sich das sicher aushalten…
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2018
„Mensch: das einzige Lebewesen, das erröten kann. Es ist aber auch das einzige, was Grund dazu hat.“
Dieses Zitat von Mark Twain tanzte vor meinem inneren Auge, während mein schlechtes Gewissen sämtliche meiner Organe piesackte.
Im Moment hatte ich allen Grund, zu erröten, mich zu schämen.
Dabei hatte ich damals noch geglaubt, dass ich nicht so eine Person wäre…
Gemeinsam mit Sarah, meiner besten Freundin, schlenderte ich in der Fußgängerzone an den Geschäften vorbei. Ab und zu blieben wir stehen und sahen uns die Schaufenster genauer an.
Für den achtzigsten Geburtstag meiner Großmutter Theudelinde brauchte ich noch ein schönes Kleid. Welche Farbe es haben sollte, wusste ich bereits; es musste unbedingt orange sein, denn das war meine Lieblingsfarbe. Überhaupt mochte ich es bunt; eine Welt ohne Farben konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Plötzlich sichtete ich mein Traumkleid, von dem ich magisch angezogen wurde. Ohne auf Sarah, die gerade eine Freundin von ihr entdeckt hatte und ihr eifrig zuwinkte, zu achten, betrat ich den Laden und steuerte zielstrebig auf das Kleidungsstück zu.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, sprach mich eine Verkäuferin an.
„Ja, ich hätte gerne das schöne Kleid in Orange, das im Schaufenster ausgestellt ist“, antwortete ich, in freudiger Erwartung, es endlich am Körper zu tragen.
„Ich vermute, Sie tragen Größe 38“, meinte die Verkäuferin, was ich mit einem zaghaften Nicken quittierte.
Sie versprach, im Lager nach meiner Größe zu suchen, während ich meinen Blick durch das Geschäft schweifen ließ. Als ich mich selbst in einem Spiegel sah, schaute ich genauer hin, und ein gewisser Stolz strömte durch meine Adern. Noch vor einem Jahr hatte ich Kleidergröße 44 getragen und mich nicht sehr wohl gefühlt, weshalb ich mich bei einem Zumba-Kurs angemeldet und meine Ernährung umgestellt hatte. Seitdem waren die Pfunde gepurzelt, und ich hatte inzwischen mein Wohlfühlgewicht erreicht.
„Talina, hier bist du. Ich habe mich nur eben kurz mit Daniela unterhalten, und plötzlich warst du verschwunden.“ Sarah stürmte gehetzt auf mich zu, die Wangen gerötet, was bei ihr immer der Fall war, wenn sie sich aufregte.
„Sarah, ich habe das ideale Kleid für Omas Geburtstag gefunden. Es ist knielang, im 50er-Jahre-Stil geschnitten, orange, einfach perfekt, ein Traum“, schwärmte ich ihr vor.
„Schön, du hättest trotzdem Bescheid sagen können.“ Schnaufend verschränkte sie die Arme vor der Brust – typisch für sie; Sarah war schnell beleidigt, blieb jedoch nicht lange wütend.
„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich hastig, als die Verkäuferin mit dem Kleid zurückkam.
„Bitteschön, ein Kleid haben wir noch in Ihrer Größe.“
Überglücklich nahm ich es entgegen und machte mich voller Euphorie auf den Weg zu den Umkleidekabinen.
Das Kleid schmiegte sich perfekt an meinen Körper, und ich fühlte mich sofort wohl darin. Ich zog den Vorhang zur Seite und trat hervor, um mich Sarah zu zeigen.
„Es ist wie gemacht für dich.“ Meine beste Freundin klatschte begeistert in die Hände.
„Ja, am liebsten würde ich es gleich anbehalten“, erwiderte ich und drehte mich schwungvoll im Kreis. „Ich kaufe es auf jeden Fall.“
Nachdem ich wieder meine Alltagskleidung trug, ging ich zur Kasse und kramte meinen Geldbeutel aus meiner Tasche.
„Das macht dann 119,90 €“, sagte die Verkäuferin, wodurch ich tief Luft holen musste; auf den Preis hatte ich überhaupt nicht geachtet.
So viel Geld hatte ich nicht dabei; meine Mutter hatte mir einhundert Euro mitgegeben. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, maximal die Hälfte für ein Kleid auszugeben und den Rest zu sparen.
„Kann man da vielleicht noch etwas am Preis machen?“, versuchte ich, zu handeln.
„Einen Moment, bitte.“ Sie rief nach einer Frau Blume, die kurz darauf erschien.
„Guten Tag“, begrüßte sie mich, und ich schilderte ihr die Situation.
„Wir können den Preis auf 109,90 € senken“, teilte mir Frau Blume mit.
Enttäuscht erklärte ich, dass ich leider nicht genug dabeihatte. Sarah bot an, mir das restliche Geld zu leihen, wofür ich sie dankbar umarmte.
Meine Augen strahlten, als mir die Tüte mit dem Kleid überreicht wurde.
„Danke, Sarah, du hast meinen Tag gerettet“, seufzte ich, als wir den Laden verließen.
„Schon in Ordnung, das habe ich doch gerne gemacht.“
„Ich werde dir das Geld schnellstmöglich zurückzahlen“, versprach ich ihr. „Ach, Sarah, das wird so toll am Samstag; wir werden jede Menge Spaß auf dem Geburtstag haben.“
Ein Schatten huschte über Sarahs Gesicht, und sie wandte den Kopf ab. „Ähm, also, ich kann am Samstag leider nicht.“
„Was?“ Geschockt sah ich sie an, doch sie traute sich nicht, mit mir Blickkontakt aufzunehmen.
„Davids Band hat am Samstag einen Auftritt; ich soll ihn dabei unterstützen“, erzählte sie; ihr Gesicht hatte die Farbe einer vollreifen Tomate angenommen.
„Das glaube ich nicht. Warum hast du mir das nicht gesagt?“, regte ich mich auf.
„Talina, es tut mir leid. Der Auftritt sollte eigentlich am Freitag stattfinden. Daniela hat mir gerade erzählt, dass er auf Samstag verschoben worden ist. Ich hatte bis eben selbst keine Ahnung; David hat es mir auch nicht gesagt“, versuchte sie, mich zu beschwichtigen.
Meine Enttäuschung, dass sie nicht auf den Geburtstag meiner Großmutter kam, versuchte ich, so gut ich konnte, zu verbergen.
David war Sarahs Freund; die beiden waren bereits seit zwei Jahren ein Paar. Genau wie Danielas Freund Robin war er in einer Hard Rock-Band; David spielte Gitarre und Robin Bass.
Sarah hatte mich schon einige Male zu überreden versucht, dass ich sie doch einmal zu einem der Auftritte begleiten sollte. Allerdings war Hard Rock überhaupt nichts für mich; ich bevorzugte die leisen Töne und hörte am liebsten Balladen und Soul. Instrumente konnte ich auch spielen, Klarinette und Kontrabass. Seit ich sieben Jahre alt war, sang ich außerdem im Chor, jedoch nur als Backgroundsängerin. Ich war keine Person, die gerne im Mittelpunkt, und schon gar nicht im Rampenlicht, stand. Deswegen käme es auch nie für mich in Frage, in einer Band zu spielen, erst recht nicht in einer Hard Rock-Band. Für mich war das keine Musik, sondern einfach nur Krach.
Auf dem Nachhauseweg überfiel mich das schlechte Gewissen; immerhin hatte das Kleid ein Drittel meines monatlichen Azubi-Gehaltes gekostet. Als Steuerfachangestellte im ersten Ausbildungsjahr verdiente ich nicht gerade viel, um nicht zu sagen, kaum etwas. So gerne würde ich endlich in eine eigene Wohnung ziehen, doch leider konnte ich es mir einfach nicht leisten.
Mein Handy klingelte und zeigte eine eingegangene SMS an; sie war von Vanessa, die von allen jedoch bloß Nessi genannt wurde.
Talina, wo bleibst du denn? Deine Stunde läuft schon seit zwanzig Minuten.
Hektisch warf ich einen Blick auf die Uhr; tatsächlich war ich zu spät für die Musikstunde. Nessis Mutter war Musiklehrerin und gab mir Klarinetten- und Kontrabass-Unterricht. Ihr Vater leitete den Chor. Damals hatte er mich zu einer Probestunde eingeladen, was mir so Spaß bereitet hatte, dass ich seitdem so gut wie keine Stunde verpasst hatte.
Meine Mutter war davon nicht gerade begeistert; mit Musik wollte sie nichts zu tun haben. Dabei war mein Vater sogar Mitglied einer Band, doch er hatte uns verlassen, als ich gerade vier Jahre alt gewesen war, weil er auf den großen Durchbruch gehofft hatte, und wir für ihn ein Klotz am Bein gewesen waren. Auf den großen Durchbruch hoffte er immer noch.
Meiner Großmutter hatte ich es zu verdanken, dass ich Instrumente spielen und singen durfte, denn sie unterstützte mich, so gut sie konnte.
Während des Gehens tippte ich schnell eine Antwort ein.
Tut mir leid, ich musste noch ein Kleid für Omas Geburtstag kaufen. Ich komme jetzt sofort zu euch.
„Sarah, ich muss mich beeilen; ich habe die Musikstunde komplett vergessen“, entschuldigte ich mich bei meiner besten Freundin.
„Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die vergesslich ist. Talina, schon in Ordnung. Geh!“ Sarah lächelte mich aufmunternd an; ihre dunkelbraunen Augen sahen mich freundlich an und zeigten mir, dass sie nicht wütend auf mich war.
Zum Abschied umarmte ich sie, winkte ihr noch einmal zu und rannte zur U-Bahn-Station.
Völlig außer Atem erreichte ich schließlich Nessis Haus, wo ich erst einmal durchschnaufen musste.
„Hallo Talina, da bist du ja“, begrüßte mich Frau Rose, Nessis Mutter.
„Es tut mir so leid; ich habe es vergessen.“ Das schlechte Gewissen konnte man mir deutlich ansehen; es war mir ins Gesicht geschrieben.
„Schon in Ordnung, Talina. Komm doch herein!“
Fast schon schüchtern trat ich ein und folgte ihr in den schallisolierten Raum, in dem der Unterricht stattfand.
Die Instrumente, die ich spielte, gehörten Frau Rose; eine eigene Klarinette oder ein eigener Kontrabass war mir einfach zu teuer. Da meine Mutter meine Hobbys nicht guthieß, konnte ich von ihr hierfür keinen Zuschuss erwarten; meine Großmutter hätte mir sofort ein Instrument gekauft, doch das fand ich zu viel. Schließlich finanzierte sie mir bereits den Unterricht; da wollte ich ihr nicht noch mehr auf der Tasche liegen.
Heute war ich nicht ganz bei der Sache, was Frau Rose nicht unbemerkt blieb.
„Stimmt irgendetwas nicht, Talina?“, fragte sie besorgt nach.
„Es ist alles in Ordnung, Frau Rose“, antwortete ich, wobei ich selbst nicht wusste, ob das stimmte.
Vermutlich war es die Enttäuschung darüber, dass mich Sarah nicht auf den Geburtstag begleitete. Natürlich konnte ich sie verstehen, dass sie lieber den Auftritt ihres Freundes besuchen wollte, als mit achtzigjährigen Rentnern den Samstag zu verbringen.
„Na ja, ich glaube, das macht keinen Sinn mehr. Machen wir also Schluss für heute. Wir sehen uns dann nächste Woche.“ Frau Rose erhob sich und streckte mir ihre Hand entgegen, die ich zögerlich ergriff.
Normalerweise übte ich jeweils fünfundvierzig Minuten pro Instrument mit ihr.
„Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe.“
„Du hast doch nicht meine Zeit verschwendet. Ich merke bloß, dass du heute nicht so fit bist.“
Ich hätte mich selbst ohrfeigen können. Erst erschien ich viel zu spät zur Stunde; dann verspielte ich mich andauernd. Wenn es Frau Rose ärgerte, so zeigte sie es jedenfalls nicht.
Müde und niedergeschlagen schlurfte ich nach Hause. „Mama, ich bin da.“
„Hast du ein schönes Kleid gefunden?“, rief mir meine Mutter zu, deren Stimme aus dem Wohnzimmer drang.
Die Tüte mit dem Kleid fest in der Hand, stiefelte ich zu ihr und zeigte ihr meinen Kauf. „Ist es nicht schön?“
„Orange“, war die einzige Reaktion meiner Mutter.
Zustimmend nickte ich. „Ja, es ist eben meine Lieblingsfarbe.“
„Konntest du nicht ein Kleid in einer etwas unauffälligeren Farbe aussuchen? Es ist Oma Theudis achtzigster Geburtstag. Du wirst damit auffallen wie ein bunter Hund.“
„Vielleicht möchte ich ja auffallen wie ein bunter Hund“, konterte ich und packte das Kleid wieder in die Tüte, als es an der Haustür klingelte.
„Hast du jemanden eingeladen?“, wollte sie von mir wissen.
„Nein, habe ich nicht“, erwiderte ich schulterzuckend und eilte zur Tür, um zu öffnen.
Der Besuch, oder besser gesagt, die Besucherin, war meine Großmutter, die mich stürmisch umarmte. „Talina, meine Große.“
„Oma, schön, dich zu sehen.“ Schlagartig änderte sich meine Laune, und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
„Ich habe großartige Neuigkeiten für dich. Darf ich denn hereinkommen?“
„Klar, Oma. Ich habe endlich ein schönes Kleid für deinen Geburtstag gefunden“, berichtete ich ihr und zog sie mit mir ins Wohnzimmer.
„120 Euro für ein Kleid? Talina, bist du denn noch bei Trost?“ Vorwurfsvoll schaute mich meine Mutter, die das Preisschild entdeckt hatte, an.
„Mama, lass mich erklären! Ich habe mich unsterblich in dieses Kleid verliebt“, versuchte ich, sie zu besänftigen.
„Kerstin, reg dich doch nicht so auf!“
„Mutter, misch dich da nicht ein! Voller Vertrauen habe ich deiner Enkelin einhundert Euro mitgegeben, und sie missbraucht dieses Vertrauen, indem sie ein schreckliches Kleid für 120 Euro kauft.“ Vor lauter Aufregung hatte meine Mutter rote Flecken im Gesicht.
Wenn ich jetzt anmerken würde, dass es nur 110 Euro gekostet hatte, würde sie komplett ausrasten.
„Warum siehst du darin einen Vertrauensmissbrauch? Das ist unlogisch“, meinte meine Großmutter dazu, womit sie recht hatte.
Was meine Mutter da eben gesagt hatte, machte überhaupt keinen Sinn.
„Sieh dir das Kleid doch an! Es ist abscheulich.“
Enttäuscht senkte ich den Blick. Ich hatte mir schon gedacht, dass sie nicht in Jubelgesänge über das Kleid ausbrechen würde. Dass sie aber so gemein wurde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Meine Großmutter, die für ihr Alter noch erstaunlich fit war, betrachtete das Kleid genauer. „Mir gefällt es sehr gut. Talina, du siehst bestimmt wunderschön in diesem Kleid aus.“
„Trotzdem finde ich es viel zu teuer; wenn das Kleid wenigstens schön wäre.“ Meine Mutter schien sich nicht zu beruhigen.
„Weißt du was, Kerstin? Ich werde das Kleid bezahlen; dann hast du auch keinen Grund mehr, dich aufzuregen.“ Meine Großmutter zückte bereits ihren Geldbeutel, als meine Mutter abwehrend ihre Hände hob.
„Oh nein, Mutter, das wirst du nicht. Du verwöhnst Talina sowieso schon genug, bezahlst ihr diese unnützen Musikstunden.“
„Sie sind nicht unnütz, sie machen mir Spaß“, rechtfertigte ich mich, und meine Großmutter stimmte mir nickend zu.
„Talina hat recht. Ihr macht die Musik Spaß. Du solltest sie unterstützen, statt ihr Vorwürfe zu machen.“
„Denkst du, ich möchte, dass sie so wie ihr Vater enden wird? Er hatte diesen verrückten Traum, von der Musik leben zu können, und dafür seine Familie verlassen. Gebracht hat es ihm rein gar nichts.“
„Ich glaube es nicht, dass du nach all den Jahren immer noch nicht über Florian hinweg bist. Nur weil er dich verlassen hat, um mit seiner Band durchzustarten, verbietest du deiner Tochter die Musik. Das ändert nichts an der Situation, und dadurch kommt er auch nicht zu dir zurück.“
„Er hat nicht nur mich verlassen, sondern auch seine erst vierjährige Tochter.“
„Ich weiß; trotzdem solltest du ihr nicht etwas verbieten, das sie wirklich mag.“
Da ich ahnte, dass diese Diskussion noch ein wenig dauern konnte, wechselte ich schnell das Thema. „Oma, du hast doch von großartigen Neuigkeiten gesprochen.“
„Ach ja, stimmt. Also, du hast mir doch erzählt, dass du gerne ausziehen würdest“, begann meine Großmutter, wurde von meiner Mutter jedoch sofort unterbrochen.
„Was soll das heißen? Talina will doch nicht ausziehen.“
„Nun ja“, druckste ich herum, weil ich meine Mutter nicht verletzen wollte.
„Doch, Talina möchte ausziehen, und ich habe eine Wohnung für sie.“
„Mutter, du wirst ihr doch nicht etwa die Miete für eine Wohnung zahlen?“
„Keine Sorge, meine Tochter, das kann Talina ganz allein.“ Meine Großmutter lächelte mich freundlich an, während ich nur geschockt den Kopf schüttelte.
„Oma, ich kann mir bestimmt keine Miete leisten.“
„Doch, du wirst nämlich in eine WG einziehen.“
„Eine WG?“, erwiderten meine Mutter und ich wie aus einem Mund.
„Die Enkeltochter meiner besten Freundin Gertrude wohnt in einer WG. Gerade ist dort ein Mädchen ausgezogen, und sie suchen dringend eine Nachmieterin“, erzählte meine Großmutter.
„Wo ist denn die WG?“, hakte ich nach.
„In der Hafenstraße; dann kannst du auch zu Fuß zur Arbeit gehen. Da in der WG noch drei weitere Mädchen wohnen, beträgt dein Anteil an der Miete nur ein Viertel.“
Das klang zu schön, um wahr zu sein. Überglücklich fiel ich ihr um den Hals, doch als ich den Ausdruck im Gesicht meiner Mutter erkannte, wurde meine Freude etwas getrübt.
„Du verlässt mich also“, murmelte sie und die Enttäuschung war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören.
Manchmal schien sie zu vergessen, dass ich bereits achtzehn und kein kleines Kind mehr war.
„Hallo, du musst Tatjana sein.“ Das Mädchen, das mir die Tür öffnete, lächelte mich freundlich an.
„Nicht ganz, mein Name ist Talina“, verbesserte ich sie und streckte ihr meine Hand entgegen.
„Entschuldige, Talina. Das ist aber ein ungewöhnlicher Name; den habe ich jedenfalls noch nicht gehört. Ich heiße Kim-Sophie, aber bitte nenn mich nur Sophie! Komm herein! Ich zeige dir das Zimmer.“
In ihren mörderhohen High Heels stöckelte sie selbstsicher voran, und ich folgte ihr nachdenklich. Ob ich mich mit ihr und den anderen beiden Mädchen verstehen würde?
Das Zimmer, das für mich bestimmt war, war vielleicht nicht gerade groß, aber gemütlich – und ich hatte es für mich allein.
Neben den vier Schlafzimmern gab es noch eine Küche, ein Bad und ein Wohnzimmer.
„Sophie, ist sie schon da?“, rief eine glockenhelle Stimme; kurz darauf erschienen zwei Mädchen in der Küche, in der Sophie und ich gerade saßen und Kekse aßen.
„Ja, das ist Talina, unsere neue Mitbewohnerin – also, wenn sie das möchte“, entgegnete Sophie und stellte uns gegenseitig vor.
Annika hatte lange, braune Haare mit roten Strähnchen, blaue Augen, und ein Drachentattoo zierte ihren linken Arm, während Ronja lockige, hellblonde Haare und grüne Augen hatte. Sophies Haare waren kurz und schwarz und ihre Augen braun.
Eine Weile unterhielten wir uns und ich beschloss, die drei sympathisch zu finden; ich konnte mir gut vorstellen, mit ihnen in einer WG zu wohnen.
„Und, was sagst du, Talina?“, wollte Ronja wissen und plötzlich waren alle Augen auf mich gerichtet.
„Ich denke, ich nehme das Zimmer.“ Mein ganzer Körper kribbelte vor lauter Glücksgefühlen; es war einfach zu schön, um wahr zu sein.
„Wir finden, du passt gut zu uns“, meinte Annika nickend.
Sophie stimmte ihr zu und wandte sich mir zu. „Dein Mietanteil beträgt 250 Euro.“
Geschockt hielt ich die Luft an; das war viel zu viel für mich. Wie sollte ich meinen Mietanteil zahlen, wenn ich gerade einmal 350 Euro im Monat verdiente? Nein, ich hätte es wissen müssen; es war tatsächlich zu schön, als dass es wahr sein konnte.
„Stimmt irgendetwas nicht?“, erkundigte sich Sophie.
Mein Gesicht hatte sich inzwischen vermutlich rot gefärbt, da ich immer noch nicht atmete. Annika stupste mich an, und ich stieß die Luft geräuschvoll aus.
„Das, also, ähm, d…d… das ist mir zu teuer“, gestand ich stotternd und schämte mich.
„Deine Großmutter hat gesagt, dass es in Ordnung geht“, sagte Sophie und warf einen strengen Blick zu Ronja, die sich gerade eine Zigarette anzünden wollte. „Ronja, du weißt genau, dass ich nicht will, dass du in der Wohnung rauchst. Geh auf den Balkon!“
Ronja murmelte irgendetwas Unverständliches, erhob sich jedoch und stiefelte auf den Balkon.
„Rauchst du?“, fragte mich Annika.
Skeptisch schaute ich sie an. „Ist das jetzt eine Fangfrage?“
„Nein, ich würde es nur gerne wissen.“
„Nein, ich bin höchstens Passivraucher.“
Sophie klatschte in die Hände. „Zum Glück, eine Raucherin als Mitbewohnerin reicht mir vollkommen.“
„Oma, du hast doch gesagt, dass ich mir die Wohnung leisten kann. Das stimmt aber nicht; mein Mietanteil wäre 250 Euro. Das ist mir etwas zu viel.“ Sophie, Annika und Ronja hatte ich gebeten, mich einen Moment zu entschuldigen, damit ich meine Großmutter anrufen konnte.
„Ich werde dir natürlich einen kleinen Zuschuss geben.“
„Nein, Oma, das wirst du nicht. Du bezahlst schon die Musikstunden. Was meinst du überhaupt mit kleinem Zuschuss? Du hast doch nicht vor, den kompletten Anteil zu tragen.“
Meine Großmutter lachte; es war ein warmes, freundliches Lachen. „Ich würde dir jeden Monat 150 Euro dazugeben.“
Daraufhin musste ich heftig schlucken. „Oma, das ist viel zu viel.“
„Lass mir doch die Freude!“, bat sie mich.
Bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach ich sie. „Oma, es ist dir eine Freude, mir Geld zu geben?“
„Natürlich ist es das; du bist meine einzige Enkelin. Mir geht es gut, wenn du dich freust. Ich weiß doch ganz genau, dass du davon träumst, endlich auszuziehen.“
„Ach, Oma. Ja, ich würde sehr gerne ausziehen, aber ich habe auch ein schlechtes Gewissen Mama gegenüber; sie wäre dann ganz allein.“
Meine Mutter hatte keine Freunde; auch mit unseren Nachbarn redete sie seit Jahren nicht mehr, und mit ihrer Mutter nur das Notwendige. Nachdem mein Vater uns verlassen hatte, war ich eigentlich der einzige Mensch, den sie hatte.
Ja, sie klammerte sehr, und manchmal hatte ich das Gefühl zu ersticken. Gleichzeitig hatte ich auch Angst, in die WG zu ziehen, weil ich nicht wollte, dass sie allein war.
„Talina, du kannst nicht dein ganzes Leben auf deine Mutter Rücksicht nehmen. Sie ist alt genug, um allein auf sich aufzupassen; du musst nicht länger ihr Babysitter sein. Außerdem verlässt du sie doch nicht; du kannst sie jederzeit besuchen“, versuchte mich meine Großmutter zu überreden, was ihr gelang.
„Du hast recht, Oma. Also, wenn dein Angebot immer noch gilt, würde ich es gerne annehmen; die Wohnung ist wirklich toll“, entschied ich mich schließlich.
Meine Großmutter lachte herzlich. „Natürlich gilt das Angebot noch.“
Inzwischen wohnte ich fast einen Monat in der WG und hatte mich einigermaßen eingelebt.
Der Geburtstag meiner Großmutter Theudelinde vor vier Wochen war toll gewesen; entgegen den Befürchtungen meiner Mutter war mein Kleid ausschließlich gelobt worden.
Mit Sophie verstand ich mich besonders gut, auch, oder gerade weil wir so unterschiedlich waren. Sie war eine richtige Chaotin, die ständig etwas verlegte, sodass wir anderen anschließend die gesamte Wohnung auf den Kopf stellen mussten. Mit Annika hatte ich weniger Kontakt; wenn ich richtig verstanden hatte, war sie gerade frisch verliebt und verbrachte jede freie Minute mit ihrem Freund. Ronja dagegen war frisch von ihrem Freund getrennt und dementsprechend nicht immer bester Laune. Sie meinte, er hätte sie nur verlassen, weil sie zu dick wäre, und so hatte sie verschiedene Ratgeber gekauft, die schnellen Diäterfolg versprachen. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie es war, wenn man sich nicht wohl in seinem Körper fühlte, doch bei Ronja konnte ich es überhaupt nicht verstehen; sie war nun wirklich keine Person, die eine Diät nötig hatte. Leider prallten jegliche Versuche diesbezüglich an ihr ab; sobald ich mit ihr darüber sprechen wollte, suchte sie schnell das Weite.
So waren meist nur Sophie und ich diejenigen, die Zeit miteinander verbrachten; wir gingen ins Kino, Eis essen oder machten es uns auf der Couch mit Salzstangen, Chips und einem Film bequem. Ab und zu war auch Sarah dabei, wenn wir etwas unternahmen.
Zweimal in der Woche, immer nach dem Chor und den Musikstunden, hielt ich mein Versprechen und schaute bei meiner Mutter vorbei, die sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt hatte, dass ich ausgezogen war.
Eines Tages, als Annika und Ronja wieder unterwegs waren, kündigte Sophie Besuch eines Freundes von ihr an.
„Oh, nur ein Freund oder dein Freund?“, fragte ich schmunzelnd nach.
„Nur ein Freund; ich kenne Jens schon seit dem Kindergarten; da läuft wirklich absolut nichts“, erwiderte sie sofort.
„Hast du denn einen Freund?“, hakte ich neugierig nach.
Sophie schüttelte den Kopf. „Im Moment will ich auch keinen; ich habe erst einmal genug von Kerlen. Olivia, die vor dir hier gewohnt hat, hat mir meinen letzten Freund ausgespannt. Dabei war ich so naiv gewesen, zu glauben, dass wir Freundinnen wären.“
„Das ist ja schrecklich. Sie kann keine Freundin gewesen sein, sonst hätte sie das ja wohl kaum getan. Ist sie deshalb ausgezogen?“
Sie nickte zur Bestätigung und öffnete eine Tüte mit Minibrezeln, die sie in eine Schüssel füllte. „Sie wohnt jetzt mit ihm zusammen.“
„Oh.“ Verzweifelt überlegte ich, was ich sonst noch sagen konnte.
„Na ja, egal. Hast du eigentlich einen Freund?“
„Nein“, war meine einzige Reaktion.
„Und gab es einmal jemanden?“ Eindringlich sah mich Sophie an, sodass ich den Kopf abwandte.
„Talina?“ Sie ließ sich neben mir auf der Couch nieder.
Sollte ich mit der Wahrheit herausrücken? So lange kannte ich sie nicht, obwohl ich gerne mit jemanden darüber sprechen würde. Sophie hatte mir auch erzählt, warum ihre letzte Beziehung gescheitert war, weswegen ich beschloss, sie einzuweihen.
„Also, ja, bis vor ein paar Monaten war ich noch mit jemand zusammen.“
„Woran ist die Beziehung zerbrochen?“
Ich musste heftig schlucken; plötzlich fühlte sich mein Hals trocken an. „Wegen meiner Mutter.“
„Deine Mutter hat dir die Beziehung verboten?“
„Na ja, nicht direkt; sie wusste überhaupt nichts davon.“
Die Verwirrtheit war Sophie buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
„Meine Mutter will nicht, dass ich einen Freund habe. Sie hat furchtbare Angst, allein zu sein; sie hält es auch für keine gute Idee, dass ich ausgezogen bin. Irgendwann habe ich mich in einen Jungen verliebt und er sich in mich. Alles war so schön, und ich war überglücklich; er stellte mich eines Tages sogar seinen Eltern vor“, erklärte ich ihr und nahm einen großen Schluck Wasser.
„Das klingt doch traumhaft. Wo ist der Haken?“, erkundigte sie sich.
„Irgendwann wollte er meine Mutter kennenlernen; das musste ich um jeden Fall verhindern. Leider verstand er es falsch und dachte, ich würde mich seinetwegen schämen, und wollte ihn deshalb nicht meiner Mutter vorstellen. Er hat Schluss gemacht.“ Mein Herz fühlte sich schwer an, während ich davon berichtete.
„Ich weiß gar nicht so recht, was ich dazu sagen soll.“ Sophie griff nach einer Brezel und schob sie sich in den Mund. „Dann kann ich wohl den Gedanken vergessen, dich mit Jens zu verkuppeln.“
Geschockt blickte ich sie an. „Das hattest du vor?“
„Nein, das war nur ein Scherz.“ Sie winkte lachend ab, doch ich konnte ihr ansehen, dass sie vermutlich – zumindest für einen Augenblick –, daran gedacht hatte.
In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür und Sophie sprang hastig auf. „Das muss Jens sein.“
Langsam erhob ich mich und strich mein orange-gelbes Sommerkleid glatt, während sie zur Tür stöckelte und öffnete.
„Jens, komm doch herein!“ Sie trat zur Seite, sodass dieser Jens hereinkommen konnte.
Als mein Blick auf ihn fiel, erschrak ich zunächst; er sah leicht furchteinflößend aus. Er war breit gebaut, die Arme – und wer wusste schon, welche Körperstellen noch –, waren voller Tattoos; die Jeans war ebenso tiefschwarz wie das T-Shirt, auf dem groß und in dunkelgrau The Agonist stand. Seine mausgrauen Augen sahen mich mit einer Mischung von Arroganz und Provokation an, während seine kurzen, braunen Haare dagegen schon fast brav wirkten. Von Sophie erfuhr ich, dass Jens vor ein paar Tagen dreiundzwanzig Jahre alt geworden war, weshalb ich ihm mit der Standardfloskel zum Geburtstag gratulierte. Unhöflich wollte ich nicht sein, auch wenn ich ihn überhaupt nicht kannte.
Meine Mutter bekäme einen Schock für ihr Leben, wenn sie ihn sehen würde. Sie hatte das Vorurteil, dass Menschen mit Tattoos böse sein mussten, was vermutlich daran lag, dass mein Vater tätowiert war. Obwohl sie ständig versuchte, mir das auch einzutrichtern, war ich anderer Ansicht. Es waren auch nicht Jens’ Tattoos, die mich erschrocken hatten, sondern sein Auftreten; er wirkte so selbstsicher und gleichzeitig einschüchternd auf mich.
„Wer ist das?“, fragte er Sophie.
Irrte ich mich, oder war sein Tonfall tatsächlich herablassend?
Fast wie in Zeitlupe hob ich meine Hand zum Gruß. „Hallo, mein Name ist Talina.“
Jens kam schnellen Schrittes auf mich zu, sodass ich ein kleines Stück nach hinten trat. Er streckte mir seine Hand entgegen, die ich zögerlich ergriff.
„Jens“, sagte er mit tiefer Stimme. „Magst du Metal?“
„W… was?“, stotterte ich perplex.
War seine erste Frage an mich wirklich, ob ich Metal mochte?
„Jens steht total auf Metal; für ihn gibt es nichts anderes“, klärte mich Sophie auf und ich musste zerknirscht lächeln.
„Ach so, äh, ich bin nicht gerade ein Fan von Metal, aber Freunde von mir sind in einer Hard Rock-Band“, gestand ich.
„Hard Rock? Das ist doch so lahm“, meinte Jens dazu, und ich konnte nicht anders, als ihn entsetzt anzustarren.
Er fand Hard Rock zu lahm? Was würde er erst dazu sagen, dass ich Soul und Balladen hörte? Vermutlich rief er dann einen Exorzisten, um mir meinen – in seinen Augen beziehungsweise Ohren – grauenhaften Musikgeschmack auszutreiben.
„Wenn du meinst, du Idiot“, murmelte ich nur, in der Hoffnung, dass er es nicht gehört hatte.
„Was hörst du denn?“, wollte er wissen, worauf ich am liebsten nicht antworten wollte, weswegen ich schnell das Thema wechselte.
„Möchtest du vielleicht ein paar Minibrezeln?“
Jens schüttelte den Kopf und wiederholte seine Frage.
„Soul und Balladen“, gab ich schließlich zu, womit ich Jens lauthals zum Lachen brachte.
„Das ist so verrückt, Balladen. Wahrscheinlich findest du auch Hard Rock zu heftig“, grinste er und hielt sich den Bauch.
„Nein, natürlich nicht“, log ich und merkte, wie mir vor Scham die Hitze ins Gesicht stieg.
Zum Glück kam mir Sophie zu Hilfe. „Jens, was möchtest du trinken?“
„Bier“, entgegnete Jens.
Sie wandte sich mir zu. „Talina, ein Glas Wasser?“
Stumm nickte ich und ließ mich in den Sessel sinken.
„Bier magst du wohl auch nicht?“ Jens musterte mich genau und hob eine Augenbraue.
„Im Moment nicht“, antwortete ich.
Die Wahrheit war, dass ich überhaupt keinen Alkohol trank. Das lag daran, dass ich mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen war. Es schränkte mich nicht weiter ein; die Tabletten, die ich täglich einnehmen musste, halfen mir, ein weitestgehend normales Leben zu führen. Alkohol war dabei, genau wie Extremsport, für mich tabu, womit ich gut leben konnte.
Sophie kehrte mit den Getränken zurück. „Was macht deine Band, Jens?“
„Diese Luschen wollen einfach keine richtige Musik machen; deswegen bin ich ausgetreten und habe meine eigene Band gegründet.“ Jens nahm einen großen Schluck Bier.
„Hast du schon Mitglieder gefunden?“, erkundigte sich Sophie. „Kenne ich jemanden davon?“
„Ja, du kennst sie allerdings nicht. Zum Glück mögen sie auch alle Thrash Metal. Okay, ein Bassist fehlt mir noch, aber den werden wir auch noch finden.“ Er nahm eine Handvoll Brezeln und stopfte sie sich in den Mund.
„Talina, du spielst doch Bass“, warf Sophie ein, und Jens verschluckte sich an seinem Snack.
Verlegen strich ich eine Haarsträhne hinter mein Ohr.
„Moment, du spielst Bass?“ Ungläubig schaute er mich an.
„Kontrabass“, erwiderte ich, während mein Herz ruckartig – wie ein Stein – Richtung Bauchnabel fiel.
„Da ist doch kein großer Unterschied“, meinte Sophie, obwohl sie von Instrumenten überhaupt keine Ahnung hatte. „Du wirst dich bestimmt schnell umgewöhnen.“
„Ich halte das für keine gute Idee“, betonte Jens, und ich stimmte ihm zu, doch Sophie schien ihren Vorschlag unglaublich großartig zu finden.
„Überleg es dir, Jens! Talina ist sehr musikalisch; sie spielt außerdem Klarinette und singt im Chor; so hättet ihr auch gleich eine Sängerin.“
In diesem Moment wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Wieso erzählte sie ihm, dass ich Klarinette spielte und im Chor sang? Das bestätigte ihn doch nur darin, dass ich eine Lusche – um es mit seinen Worten auszudrücken –, wäre. Gleichzeitig ärgerte ich mich über mich selbst, dass es mir überhaupt peinlich war. Warum konnte ich denn nicht einfach zu meinen Interessen stehen?
„Sie passt überhaupt nicht zu uns“, grummelte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich wette, du schaust keine richtigen Filme.“ Jens hatte inzwischen sein Bier leergetrunken, das er jetzt mit einem Knall auf den Couchtisch stellte.
Genervt rollte ich die Augen. Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
„Was verstehst du unter richtigen Filmen?“, fragte ich nach.
„Richtige Filme eben, keine kitschigen Liebesschnulzen“, erwiderte er grinsend.
„Du glaubst, ich schaue kitschige Liebesschnulzen? Dann schätzt du mich vollkommen falsch ein.“
„Was schaust du denn für Filme?“, hakte er neugierig nach.
„Das geht dich doch überhaupt nichts an“, fuhr ich ihn gereizt an und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Also doch kitschige Liebesschnulzen.“ Lachend schüttelte Jens den Kopf.
„Wenn du das meinst“, entgegnete ich und verließ erhobenen Hauptes das Wohnzimmer.
Mein Bedarf an weiteren Gesprächen mit dieser merkwürdigen Person war vorerst gedeckt. Die ganze Zeit hatte er mich nach meinen Vorlieben ausgefragt, nur, um sich darüber lustig zu machen. Auf dieses Spielchen hatte ich einfach keine Lust mehr. Meinetwegen sollte er denken, dass ich mir Liebesfilme grundsätzlich nur mit Taschentüchern anschaute. In Wahrheit mochte ich zwar solche Filme, allerdings nur, wenn sie nicht ins Kitschige abdrifteten. Am liebsten sah ich jedoch Komödien, bei denen man nicht großartig nachdenken musste, um zu lachen. Ich vertrat die Meinung, dass das Leben schon ernst genug war, weswegen ich mir grundsätzlich keine Dramen anschaute. Für mich sollte ein Film einfach Spaß machen und einen nicht gefühlsmäßig herunterziehen. Vielleicht stand ich mit dieser Meinung allein da, was mir jedoch egal war.
„Talina, bleib hier!“, rief mir Sophie hinterher, doch ich stellte mich taub und betrat mein Zimmer.
Kurz darauf flog die Tür auf und meine Mitbewohnerin stand im Raum. „Hat dir irgendjemand etwas getan?“
„Dieser Jens nervt mich; außerdem finde ich ihn unverschämt“, antwortete ich und suchte nach dem Fantasybuch, das ich im Moment las. Ich liebte es, in andere Welten einzutauchen, und es war eine willkommene Abwechslung zu den ganzen Gesetzestexten, mit denen ich auf der Arbeit und in der Berufsschule zu tun hatte.
„Er war nicht unverschämt. Es ist doch nett, dass er dich nach deinen Interessen fragt.“ Sophie lächelte mich aufmunternd an.
„Nur, um sie direkt ins Lächerliche zu ziehen“, äußerte ich mich und schlug meine Lektüre auf.
„Talina, komm bitte wieder ins Wohnzimmer!“, versuchte sie durchzusetzen. „Es ist unhöflich; wir haben einen Gast.“
„Er ist dein Gast“, warf ich ein.
„Trotzdem, ich bitte dich. Jens ist ein sehr guter Freund von mir, vielleicht sogar der beste, den ich habe. Ich möchte, dass ihr beiden euch gut versteht.“ Sophies Stimme klang beinahe flehend, und sie warf mir Blicke zu, die mich an einen winselnden Hund erinnerten.
„Na gut, Sophie, du hast gewonnen.“ Mein Buch schlug ich zu und warf es sachte auf mein Bett; heute Abend konnte ich es immer noch weiterlesen.
Strahlend fiel sie mir um den Hals. „Danke, das werde ich dir nie vergessen.“
Schmunzelnd befreite ich mich aus ihrer Umarmung. „Ja, ist schon in Ordnung. Übertreib nicht!“
„Könnte ich heute bei euch übernachten?“, wollte Jens wissen.
Während ich sofort energisch den Kopf schüttelte, stimmte Sophie begeistert zu.
„Du doch immer; du kannst auf der Couch schlafen; die kann man zur Liegefläche ausziehen.“
„Und wenn Annika und Ronja damit nicht einverstanden sind?“, versuchte ich, ein Argument zu finden, das gegen Jens’ Übernachtung bei uns sprach.
Sophie winkte grinsend ab. „Annika wird sowieso bei ihrem Freund schlafen, und Ronja hat bestimmt kein Problem damit.“
„In Ordnung; wenn Ronja damit einverstanden ist, sage ich auch nichts dagegen“, lenkte ich schließlich ein.
Mein Handy vibrierte auf dem Tisch und ich griff hastig danach. Die Nachricht war von meiner besten Freundin Sarah.
Hey Talina. Lust, nachher mit mir ins Kino zu gehen?
Sie war meine Rettung; so musste ich den Rest des Tages nicht mehr mit Jens verbringen. Vielleicht konnte ich heute bei Sarah übernachten; aufgeregt schrieb ich ihr eine Antwort.
Gerne, Sarah, ich freue mich schon. An welchen Film hast du gedacht?
Nur wenig später zeigte mein Handy den Eingang einer neuen Nachricht an.
Diese neue Liebeskomödie mit Aaron Jeffrey Scott. Läuft heute um 20:00 Uhr.
Aaron Jeffrey Scott war der Lieblingsschauspieler von Sarah. Es gab keinen Film mit ihm, den sie nicht gesehen hatte.
„Wem schreibst du da die ganze Zeit?“, fragte mich Sophie, doch ich ignorierte sie und tippte schnell die nächste SMS ein.
Das klingt gut, ich bin dabei. Darf ich vielleicht bei dir übernachten?
Klar, kein Problem. Bist du dann um 19:30 Uhr bei mir?
19:30 Uhr. Ist notiert. Bis später. Ich freue mich schon.
Da sich meine Laune schlagartig gebessert hatte, fügte ich noch fünf fröhliche Smileys hinzu.
„Talina, was strahlst du plötzlich wie ein Honigkuchenpferd? Hast du eine Nachricht von einem Verehrer bekommen?“
Erschrocken hob ich den Kopf und merkte, dass die Blicke von Sophie und Jens auf mich gerichtet waren.
„Oh, äh, nein, ich habe mit meiner besten Freundin Sarah geschrieben“, klärte ich die beiden auf.
„Ich dachte mir schon, dass du keinen Freund hast“, meinte Jens und ließ mich empört nach Luft schnappen.
„Woher willst du wissen, dass ich keinen Freund habe?“
„Du bist so merkwürdig.“
„Wie bitte? Ich bin merkwürdig? Was ist mit dir?“
„Ich bin zufrieden mit mir, und das merken die anderen. Du dagegen scheinst dich unwohl in deiner eigenen Haut zu fühlen.“
„Du liegst falsch; ich fühle mich pudelwohl. Und weißt du was? Sarahs Bruder und ich sind verliebt. Er geht jetzt gleich mit mir ins Kino“, log ich und hoffte, dass ihm meine zittrige Stimme nicht auffiel.
Sarah hatte zwar tatsächlich einen älteren Bruder, für den ich sogar einmal geschwärmt hatte, doch ein Paar würden Oliver und ich niemals werden. Vor einem Jahr hatte er seine Jugendliebe geheiratet, und die beiden erwarteten jetzt ein Baby.
„Uh, du und der Bruder deiner besten Freundin, wie wunderbar.“ Der Sarkasmus triefte ihm förmlich aus allen Poren. „Bestimmt schaut ihr euch irgendeinen schnulzigen Film an.“
„Ja, eine romantische Komödie, obwohl wir wahrscheinlich vom Film nicht viel mitbekommen, weil er die ganze Zeit seine Zunge in meinen Hals steckt.“
Das musste ich einfach loswerden, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Normalerweise hielt ich überhaupt nichts von solch kindischen Spielen; diesem Idioten hatte ich es einfach zeigen wollen.
„Du hast mir doch erzählt, dass du im Moment keinen Freund hast“, mischte sich Sophie ein.
Meine Kinnlade schoss nach unten, während mein Gesicht feuerrot wurde.
„Äh, äh“, stammelte ich nur, womit den beiden klar sein dürfte, dass ich eben gelogen hatte.
Na klasse, jetzt hatte dieser Jens noch mehr Grund, sich über mich lustig zu machen.
Es tat so gut, mit Sarah ausgelassen zu lachen. Wir hatten Riesenspaß im Kino, wobei wir vor lauter Lachen Tränen in den Augen hatten. Es ließ mich vorerst den Stress mit Jens vergessen.
Als wir ihr Zuhause erreichten, fiel mir ein, dass ich überhaupt keine Sachen zum Schlafen dabei hatte, weil ich meine Wohnung wegen Jens so überstürzt verlassen hatte. Sarahs Angebot, mir einen ihrer Shortys zu leihen, nahm ich dankend an; so musste ich nicht wieder zurück und diesem Spinner über den Weg laufen.
„Der Abend ist noch jung. Worauf hättest du Lust?“ Es war eine rhetorische Frage von Sarah. Ich wusste schon längst, was sie vorhatte. Sarah liebte Karaoke über alles, und ich fand es eine willkommene Ablenkung.
„Danke Sarah, dass ich bei dir übernachten darf“, meinte ich, als wir uns später bettfertig machten.
„Das ist doch kein Problem. Wozu sind wir beste Freundinnen?“, erwiderte Sarah und lächelte mich freundlich an.
„Im Moment hat Sophie Besuch von Jens, der ein richtiger Idiot ist“, erzählte ich ihr und zog mir das Schlafshirt an, das mir Sarah gegeben hatte.
Meine beste Freundin war ein paar Mal zu Besuch in meiner neuen Wohnung gewesen, weshalb sie auch Sophie, Annika und Ronja kannte.
„Ist Jens der Freund von Sophie?“, hakte Sarah nach.
„Nein, er ist nur ein Freund von Sophie, aber er regt mich richtig auf“, erwiderte ich und stieg in die kurze Schlafhose.
„Warum regt er dich auf?“
„Er ist unausstehlich. Erst fragt er mich über sämtliche Interessen aus, und direkt im Anschluss macht er sich darüber lustig. Er braucht jedenfalls nicht zu denken, dass ich als Bassistin in seiner Band einsteige“, entgegnete ich schnaubend, bevor ich unter die Bettdecke schlüpfte.
„Moment, wie war das? Er hat auch eine Band?“ Sarah sah mich erwartungsvoll an, doch ich nickte nur.
„Was für eine Band? Welches Instrument spielt er? Oder ist er der Sänger?“ Die Fragen feuerte sie wie ein Maschinengewehr auf mich ein.
„Thrash Metal, also, als Musik kann man das wirklich nicht bezeichnen. Ich weiß auch nicht, welches Instrument er spielt. Was heißt hier überhaupt Sänger? Metal ist doch kein Gesang, das ist nur Geschrei.“ Die Wut, die ich im Bauch verspürte, verursachte rote Flecken in meinem Gesicht, was bei mir immer der Fall war, wenn ich mich aufregte.
„Talina, du solltest offener werden. Das klingt doch klasse mit der Band; du musst unbedingt sagen, dass du einsteigst.“ Sarahs Begeisterung steigerte sich von Wort zu Wort.
Für sie wäre es ein Traum, Mitglied einer Band zu sein; allerdings fehlte ihr – eigenen Angaben zufolge – etwas ganz Entschiedenes: Talent. Sarah behauptete immer, dass sie weder singen konnte noch irgendein Instrument beherrschte; dabei sang sie beim Karaoke gar nicht so schlecht.
„Bist du verrückt?“, knurrte ich entsetzt. „Niemals werde ich in seine Band einsteigen.“
„Warum denn nicht? Ist es nur wegen der Musik oder wegen Jens?“
„Wegen der Musik und Jens. Außerdem habe ich für so etwas gar keine Zeit; ich habe Musikstunden und Chorproben. Wann soll ich da noch in einer Band spielen? Oh, und ich spiele Kontrabass und keinen E-Bass.“
Sarah sprang mit einem Satz auf ihr Bett, während die Worte nur so aus ihr heraussprudelten. „Ich sehe überhaupt keine Probleme. Wenn du Mitglied der Band bist, hast du doch ein Mitspracherecht bei den Songs. Vielleicht kannst du die anderen überreden, auch Rockballaden zu spielen. Seit wann kennst du Jens? Seit heute? Da kannst du noch gar nicht beurteilen, wie er wirklich ist; du solltest nicht so vorschnell urteilen. Die Musikstunden kannst du auf zweimal pro Monat reduzieren; das hilft so auch dem Geldbeutel deiner Oma. Du hast wirklich nicht mehr Unterricht nötig; du spielst so gut. Okay, mit Kontrabass und E-Bass kenne ich mich nicht aus; aber ich glaube kaum, dass dir der Umstieg besonders schwerfallen wird.“
„Selbst wenn ich in die Band wollte – was ich natürlich unter keinen Umständen möchte –, würde ich sowieso nicht aufgenommen werden. Jens hat auch gleich protestiert, als Sophie ihm ihren Vorschlag unterbreitet hat“, warf ich ein.
„Aber“, begann Sarah, wurde von mir jedoch unterbrochen: „Ende der Diskussion. Gute Nacht.“
Schwungvoll drehte ich mich zur Seite und schloss die Augen.
Ausgeschlafen und vor allem besserer Laune kehrte ich am nächsten Tag in meine Wohnung zurück. Sarah hatte mir freundlicherweise ein Kleid von ihr geliehen, nachdem ich auf meins Fruchtsaft geschüttet hatte.
Hoffentlich war Jens inzwischen verschwunden; ein weiteres Zusammentreffen mit ihm konnte ich wirklich nicht gebrauchen.
Mein stummes Gebet war nicht erhört worden; Jens hatte es sich auf unserer Couch bequem gemacht und starrte auf den Fernseher, in dem gerade eine wilde Schießerei zugange war.
„Oh, du bist ja noch da“, war meine Reaktion auf die Situation.
„Und du schon wieder da“, konterte er. „Hast du schön mit deinem imaginären Freund geknutscht?“
„Okay, ich habe gelogen, dass ich im Moment einen Freund habe. Du brauchst nicht weiter darauf herumzureiten“, sagte ich.
Mein Selbstbewusstsein schien gerade tief und fest zu schlafen; es wurde Zeit, dass ich es wieder weckte.
„Hast du vielleicht versucht, mich eifersüchtig zu machen?“ Schelmisch grinste er mich an.
„Nein, aber nur so rein aus Neugier: Warst du denn eifersüchtig?“ Ha, wenn er glaubte, dass ich jetzt einknickte, konnte er warten, bis er schwarz wurde. Mein Selbstbewusstsein war endlich erwacht und half mir dabei, mich nicht von ihm einschüchtern zu lassen.
„Nein, hättest du gerne, dass ich eifersüchtig gewesen wäre?“
In diesem Moment betrat Sophie mit Popcorn das Wohnzimmer und ersparte mir eine Antwort.
„Talina, du bist wieder da. Warst du gestern im Kino?“, fragte sie mich.
Zustimmend nickte ich. „Ja, mit Sarah.“
„War der Film gut?“, erkundigte sie sich.
„Wir haben Lachtränen geweint; der Film ist wirklich weiterzuempfehlen“, antwortete ich.
„Jens und ich schauen gerade Run and fight, das ist ein Actionfilm. Wenn du Lust hast, kannst du dich gerne zu uns setzen“, schlug Sophie vor.
„Warum nicht“, entgegnete ich und ließ mich auf dem Sessel nieder.
Eine Woche war seit dem Besuch von Jens vergangen; er war nicht wieder hier aufgetaucht. Wenn ich naiv wäre, würde ich jetzt glauben, dass er sich nicht mehr blicken ließe. Da ich dies jedoch nicht war – so hoffte ich jedenfalls –, wusste ich genau, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er wieder auftauchte.
Auf der Arbeit war es heute besonders stressig. Es war der letzte Tag, um die Umsatzsteuervoranmeldungen noch fristgerecht abzugeben. Natürlich gab es Mandanten, die auf den letzten Drücker angehetzt kamen, und jetzt von uns erwarteten, dass wir zauberten. Seit gestern durfte ich selbst Belege kontieren, um sie nach Kontrolle einer erfahrenen Kollegin ins Programm einzubuchen; das war auch heute der Fall.
Da ich damit noch keine große Erfahrung hatte und mir bei einigen Kontierungen nicht ganz sicher war, musste ich natürlich nachfragen, was Zeit kostete. Ich befürchtete, dass ich die Buchungen nicht rechtzeitig zum Feierabend schaffen würde, und deshalb Überstunden leisten musste. Umso erleichterter war ich, als ich zwei Minuten vor Schluss den letzten Buchungssatz eintippte.
Es war nur eine kleine Steuerkanzlei, in der ich meine Ausbildung absolvierte. Das war auch der Grund, warum ich so wenig verdiente. Die monatliche Vergütung durfte bis zu zwanzig Prozent von dem Wert abweichen, den die Steuerberaterkammer als angemessen ansah, was mein Chef natürlich ausnutzte. Neben dem Steuerberater und mir arbeiteten dort noch eine Steuerfachwirtin, Frau Huber, die sehr nett war, Herr Meerrath, der allerdings ein Stinkstiefel war, sowie eine andere Auszubildende namens Luisa, die bereits im zweiten Jahr lernte.
Erschöpft lehnte ich mich nach hinten. „Geschafft.“
„Dann wünsche ich dir einen schönen Feierabend“, meinte Frau Huber freundlich und sah mich lächelnd an.
„Den wünsche ich Ihnen auch. Morgen bin ich nicht da, da habe ich Berufsschule“, erzählte ich ihr.
„Gut, dann weiß ich Bescheid. Auf Wiedersehen, Talina.“
Zum Abschied nickte ich ihr zu. „Bis übermorgen, Frau Huber.“
Gerade wollte ich die Wohnungstür aufschließen, als mein Name gerufen wurde. Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich um. Jens, der erneut ausschließlich schwarz gekleidet war, stand mit einem Blumenstrauß vor mir.
Irritiert schaute ich ihn an. „Sind die für mich?“
„Natürlich nicht. Ich wollte Sophie eine Freude bereiten; sie liebt doch fliederfarbene Rosen“, erwiderte er.
„Ach so, ja klar“, murmelte ich und sperrte die Tür auf.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Weißt du, dann muss ich dich nämlich enttäuschen. Du bist absolut nicht mein Typ.“ Anscheinend hatte er heute wieder Lust auf dieses Bist-du-eifersüchtig-Spiel.
Genervt rollte ich meine Augen. „Nein, bin ich nicht; du bist nämlich auch nicht mein Typ.“
„Was ist denn dein Typ? Ein Anzugträger?“
„Warum willst du das wissen, wenn ich doch sowieso nicht dein Typ bin?“
„Könnt ihr vielleicht mit euren albernen Kindereien aufhören? Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.“ Annika lag auf der Couch, einen nassen Waschlappen auf die Stirn gedrückt.
„Warum legst du dich denn nicht in dein Zimmer?“, fragte ich sie.
„Das ist ja wohl auch mein Wohnzimmer. Wenn ihr miteinander flirten wollt, könnt ihr das gerne in deinem Zimmer tun.“
„Jens will Sophie besuchen, nicht mich“, klärte ich sie auf und rief nach Sophie.
„Mir reicht es; ich räume freiwillig das Feld.“ Annika erhob sich und wankte in ihr Zimmer.
Kurz darauf erschien Sophie. „Jens, schön, dich zu sehen.“ Stürmisch fiel sie ihm um den Hals.
Jens hielt ihr die Blumen entgegen. „Bitteschön, für die beste Freundin der Welt.“
So ein Schleimer, dachte ich und stolzierte in die Küche, um mir etwas zu essen zuzubereiten.
„Wollt ihr mitessen?“, wollte ich von Sophie wissen.
„Was gibt es denn?“ Sie stöckelte herein, Jens im Schlepptau.
„Ich dachte, ich mache heute etwas ganz Einfaches, Spaghetti mit Tomatensoße.“
Sophie rieb sich genießerisch den Bauch. „Das klingt gut, da bin ich dabei. Ronja ist bei einer Freundin; Annika hat wahrscheinlich keinen Appetit, aber Jens isst bestimmt mit.“
„Ja, bei Spaghetti kann man ja nicht viel falsch machen“, meinte Jens dazu und setzte sich an den Tisch.
Sophie ließ sich auf dem Stuhl neben ihm nieder. „Was macht eigentlich deine Band? Hast du inzwischen einen Bassisten gefunden?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum keiner in meine Band will.“
„Ich schon“, wisperte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ich habe es ja schon einmal gesagt. Talina kann doch den Bass spielen“, schlug Sophie vor und strahlte, als hätte sie gerade die Lösung gefunden, um den Hunger auf der Welt zu beenden.
„Bestimmt nicht“, protestierte ich sofort, und auch Jens war davon alles andere als begeistert.
„Wieso nicht? Ich finde die Idee großartig.“ Sie schöpfte sich einen Berg aus Spaghetti auf ihren Teller und ertränkte ihn im Tomatensoßenmeer.
„Thrash Metal ist doch nicht ihr Stil“, merkte Jens an.
„Ja, Thrash Metal ist doch nicht mein Stil“, wiederholte ich wie ein gut trainierter Papagei.
Sophie hatte sofort eine andere Idee. „Talina könnte doch wenigstens so lange einspringen, bis ihr einen Bassisten gefunden habt, der es wirklich machen will.“
„Nein“, riefen Jens und ich wie aus einem Mund.
„Was habt ihr schon zu verlieren? Wenn Talina ein paar Wochen in der Band spielt, bringt das euch beide nicht sofort um“, argumentierte sie und drehte ein paar Spaghetti mit der Gabel auf.
Eigentlich hatte sie recht damit; ein paar Wochen würde ich es vermutlich aushalten.
Jens erwiderte nichts dazu, seinen Blick starr auf seinen Teller gerichtet.
„Jens, bist du damit einverstanden, dass Talina übergangsweise in deiner Band spielt?“ Mit beiden Armen wedelte sie vor seinem Gesicht herum.
„Wenn die anderen Bandmitglieder damit einverstanden sind, soll es mir recht sein“, brummte er; sein Tonfall verriet, dass er nicht allzu viel von diesem Vorschlag hielt; überzeugt hörte sich anders an.
„Schön. Talina?“ Sophie wirkte sehr zufrieden.
„Wenn ich es zeitlich schaffe“, verkündete ich nach einer kurzen Bedenkzeit.
Jens teilte mir mit, wann die Bandprobe immer stattfinden sollte. Es gab keine Überschneidungen mit meiner Musikstunde und der Chorprobe, sodass ich schließlich zustimmte.
Sophie hatte es sich nicht nehmen lassen, mich zu meiner ersten Bandprobe zu begleiten. Da ich mich wenigstens einigermaßen wohlfühlen wollte, hatte ich mir mein Lieblingsshirt – natürlich in Orange – sowie meinen grünen Jeansrock angezogen. Die Probe fand in Jens’ Keller statt, in dem er einen schallisolierten Raum gebaut hatte.
Als Jens, der – oh Überraschung – schwarz wie die Nacht gekleidet war, die Tür öffnete, riss er vor Schreck seinen Mund auf. „Farbschock!“
So ein Idiot, dachte ich nur und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Na, hast du dir deine heutige Kleidung bei einem Clown geliehen?“, provozierte er mich weiter.
Sei schlagfertig! Gib ihm Konter!, forderte ich mich selbst in Gedanken auf.
„Tja, und du trägst immer so Schwarz, weil du gerne Schwarz magst?“, erwiderte ich; im selben Moment hätte ich mich selbst ohrfeigen können; das war alles andere als schlagfertig gewesen.
„Ich hoffe, du spielst besser Bass, als du versuchst, schlagfertig zu sein“, entgegnete er grinsend.
„Sind die anderen Bandmitglieder schon da?“, mischte sich Sophie ein, wofür ich sie dankbar anlächelte.
„Ja, folgt mir! Komm mit, Farbtopf!“
„Und du kaufst deine Kleidung wohl bei Sensenmann und Dracula?“, sagte ich, in der Hoffnung, dass er sich getroffen fühlte.
Doch Jens hatte allem Anschein nach ein Selbstbewusstsein, das bis zum Mond reichte. „Sollen wir einmal zusammen shoppen gehen? Dann zeige ich dir ein paar richtig coole Klamotten. Vielleicht siehst du darin gar nicht so schrecklich wie sonst aus.“
So schrecklich wie sonst? Das war ja wohl die Höhe; empört stieß ich die Luft aus der Nase aus. „Und du denkst wohl, du bist unwiderstehlich in deinen rabenschwarzen Sachen? Dabei siehst du darin wie der Tod aus.“
„Sollte das jetzt eine Beleidigung sein? Wärst du glücklich, wenn ich so tun würde, als wäre ich eingeschnappt?“
„Genug jetzt, ihr Streithähne!“
„Er hat angefangen“, versuchte ich, mich zu rechtfertigen.
Sophie schob mich in Jens’ Wohnung. „Das ist ja wie im Kindergarten mit euch.“
„Er sollte mir dankbar sein, denn immerhin braucht er mich, nicht ich ihn. Soviel ich weiß, hat er keinen Bassisten in seiner Band.“
Ha, Jens zuckte zusammen; ich hatte also einen wunden Punkt bei ihm getroffen.
„Ich erwarte eine Entschuldigung, oder er kann sich jemand anderen suchen, der Bass spielt.“ Herausfordernd sah ich ihn an.
Die Lippen fest aufeinandergepresst, zischte er: „Entschuldige.“
Langsam trat ich ein Stück näher auf ihn zu. „Wie war das? Ich habe dich nicht verstanden.“
„Entschuldigung“, wiederholte er grummelnd und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Lauter, bitte! Ich bin ein wenig schwerhörig“, meinte ich, was mir einen wütenden Blick von Jens einbrachte.
„Treib es nicht zu weit, Fräulein!“
Wie sich herausstellte, spielte Jens Schlagzeug; laut eigenen Angaben war er natürlich der beste Drummer weit und breit. Mich hätte es auch gewundert, wenn er sich bescheiden gezeigt hätte; dieses Wort gehörte einfach nicht zu seinem Vokabular.
„Alle mal zugehört! Das ist Talina, aber ihr braucht euch ihren Namen nicht zu merken. Sie wird nur so lange in der Band spielen, bis wir endlich einen richtigen Bassisten gefunden haben. Diese Person hält nämlich nichts von Metal; sie mag nur Luschenmusik“, erzählte Jens den übrigen Bandmitgliedern.
Einer der Jungs erhob sich, schritt auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. „Hallo Talina. Ich bin Paul, der Leadgitarrist. Hör nicht auf Jens! In Wahrheit ist er ein ganz Netter; er möchte nur als knallharter Kerl rüberkommen.“
Ein ganz Netter? Das wagte ich zu bezweifeln, sprach es jedoch nicht laut aus.
Jetzt stellten sich auch die anderen vor; Tim spielte Rhythmusgitarre und Fabian war der Schreier, äh, der Sänger.
„Wo ist denn dein Bass?“, wollte Tim wissen.
„Ich habe keinen“, antwortete ich. „Das weiß Jens doch. Ich dachte, ich bekomme einen Bass geliehen. Das hat er mir jedenfalls versprochen. Nur, weil ich ein paar Mal in eurer Band spiele, kaufe ich mir nicht direkt so ein Instrument.“
„Ja, ich habe einen P-Bass, den ich dir leihen kann. Aber pass gut darauf auf! Er war teuer“, erwiderte Jens.
„Wie heißt eigentlich eure Band?“, interessierte ich mich.
„Ready to kill“, lautete die Antwort von Jens.
„Ready to kill?“, wiederholte ich wie ein Papagei.
„Ja, ich habe diese Band gegründet, also steht mir auch das Recht zu, ihr den Namen zu geben“, erklärte er und nahm seine Sticks hervor, die er leicht gegeneinander schlug.
„Das klingt ganz schön düster. Warum sucht ihr euch nicht einen fröhlichen Bandnamen aus?“, schlug ich vor.
Paul, Tim und Fabian starrten mich mit offenem Mund an, während Jens schnellen Schrittes auf mich zukam, was mich instinktiv etwas zurückweichen ließ.
„Einen fröhlichen Bandnamen? Einen fröhlichen Bandnamen? Wir sind eine Metal-Band und machen keine Volksmusik. Du kannst ja selbst eine Band gründen und sie dann Die fröhlichen Hüpfzwerge nennen.“
Ja, es war vielleicht eine dumme Idee gewesen, einen fröhlichen Namen vorzuschlagen. Aber das wollte ich nicht zugeben.
„Ich meinte doch nur“, begann ich, wurde von Jens jedoch sofort unterbrochen. „Jemand, der Soul und Balladen mag, sollte sich da heraushalten. Es zeigt doch bereits, dass du überhaupt keine Ahnung von Musik hast.“
Ich sollte keine Ahnung von Musik haben? Das konnte ich unmöglich so auf mir sitzenlassen.
„Ach ja? Ich habe also keine Ahnung von Musik? Warum singe ich dann seit Jahren im Chor und spiele Klarinette und Kontrabass? Oh, und außerdem bin ich so freundlich, dir zu helfen. Anscheinend bist du doch derjenige, der keine Ahnung von Musik hat; sonst wüsstest du, dass es auch etwas anderes als Metal gibt.“
„Ich glaube, es ist doch keine gute Idee, wenn Talina in unserer Band mitspielt. Wahrscheinlich wird sie sowieso die ganze Zeit nörgeln, dass ihr die Musik zu heftig ist, weil sie nur Luschenmusik gewöhnt ist“, wandte sich Jens an die anderen.
„Warum bin ich dann hier, wenn es mir zu heftig ist? Aber, wenn du mich nicht brauchst, kann ich ja wieder gehen. Viel Spaß bei der Suche nach einem Bassisten!“, erwiderte ich und sah ihn herausfordernd an.
Er trommelte mit den Sticks auf das Becken ein und schien zu überlegen, was er darauf antworten sollte.
Haha, scheinbar hatte ich ihn in eine Zwickmühle getrieben.
Sophie hatte uns die ganze Zeit über gebannt beobachtet, allerdings ohne ein Kommentar abzugeben. Jetzt fand sie wohl, dass sie sich doch einmischen sollte. „Jens, das hatten wir eben schon. Sei nicht immer so ein Sturkopf! Du weißt, dass du Talina brauchst.“
Paul stimmte ihr zu. „Ich finde es nett von Talina, dass sie uns hilft.“
Fabian, der eine zugegebenermaßen angenehme Sprechstimme hatte, nickte. „Ja, das finde ich auch. Wisst ihr, was ich noch finde? Wir sollten jetzt endlich anfangen; wir haben schon zu viel Zeit verloren.“
„Äh, was spielt ihr denn für Songs? Eigene?“, hakte ich nach, und Tim schüttelte den Kopf.
„Nein, wir covern Songs.“ Er zählte mehrere Bands und Songs auf, von denen ich bisher noch nie gehört hatte.
„Das ist natürlich nur für den Anfang“, klärte mich Jens auf. „Später einmal wollen wir eigene Songs spielen; dazu müssen wir aber noch jemanden finden, der die Texte schreiben kann.“
Bevor Sophie ihre Idee, dass ich doch die Texte schreiben könnte, laut aussprach, trat ich sie sachte gegen ihr Schienbein; ich ahnte ganz genau, dass sie das vorhatte.
„Texte schreiben? Braucht ihr das überhaupt? Man versteht doch sowieso nicht, was ihr da herumschreit, oh, ich meine natürlich, was ihr singt“, sagte ich.
Jens’ Gesicht nahm einen roten Ton an, während sich Tim und Paul scheinbar nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen konnten. Fabian, der Sänger, dagegen schien nicht begeistert zu sein, dass ich seinen Gesang als Geschrei bezeichnet hatte. Aber ganz ehrlich: Metal war doch wirklich kein Gesang.
„Lasst uns einfach loslegen!“, meinte Paul schließlich.
Jens überreichte mir seinen mahagonifarbenen P-Bass von Fender und zeigte mir, welche Akkorde ich darauf für den ersten Song spielen sollte. An das Instrument hatte ich mich schnell gewöhnt, auch wenn es sich doch vom Kontrabass unterschied. Wenn ich auch sonst kein besonderes Talent hatte, so fiel es mir wenigstens leicht, Instrumente zu spielen. Nur mit dem Musikstil konnte ich mich nicht anfreunden; er war mir einfach zu heftig. Zwar würde ich nicht lange in der Band bleiben – jedenfalls hoffte ich, dass Jens bald einen Bassisten fand –, trotzdem konnte ich doch vorschlagen, ob man nicht zusätzlich ein paar Rockballaden spielen könnte, um sich von den harten Klängen des Thrash Metals zu erholen.
„Nein, nein, nein! Das klingt viel zu lahm“, regte sich Jens auf und sah uns andere verärgert an.
„Also, ich finde, ihr klingt richtig gut“, meinte Sophie optimistisch dazu. „Ihr müsst auch bedenken, dass es eure erste Bandprobe ist.“
„Nächstes Jahr ist ein großer Nachwuchswettbewerb für Bands, an dem Ready to kill teilnehmen wird. Es ist ja wohl klar, dass wir auch gewinnen wollen; das werden wir aber nicht schaffen, wenn wir wie Schlaftabletten auf die Zuhörer wirken. Nein, wir müssen härter klingen“, erwiderte er und nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche zu sich.
„Noch härter?“ Eigentlich hatte ich das gar nicht laut aussprechen wollen.
„Miss Bitte-Langsam, was haben Sie schon wieder für ein Problem?“ Jens sah mir direkt in die Augen; obwohl ich es krampfhaft versuchte, konnte ich dem Blickkontakt nicht standhalten und senkte meinen Kopf.
„Hast du deine Zunge verschluckt?“, fragte er mich, nachdem ich nichts darauf entgegnet hatte.
„Nein, habe ich nicht. Ich finde nur, dass wir bereits hart genug klingen. Es soll doch den Menschen Spaß machen und sie nicht verscheuchen“, sagte ich schließlich.
„Thrash Metal macht Spaß und genau aus diesem Grund haben wir uns diesem Musikstil verschrieben. Es ist eben keine 0-8-15-Musik. Was weißt du eigentlich darüber?“
Okay, jetzt war es an der Zeit, mein Gedächtnis nach Informationen diesbezüglich zu durchwühlen. In der Schule – ich glaube, es war in der siebten oder achten Klasse –, hatten wir doch sämtliche Musikrichtungen ausführlich besprochen.
Eine Art Spickzettel tauchte vor meinem inneren Auge auf; ich musste den Vortrag über Thrash Metal nur ablesen. „Thrash bedeutet auf Deutsch soviel wie prügeln. Thrash Metal gehört neben Death und Black Metal zum Extreme Metal und entstand Anfang der 80er Jahre.“
„Halt! Hör auf!“, unterbrach mich Jens.
„Warum? Stimmt das alles etwa nicht?“, wunderte ich mich.
„Du hast das so monoton vorgetragen – wie ein Roboter. Es kam mir vor, als würdest du es von einem Zettel ablesen.“
Empört schnappte ich nach Luft. „Habe ich etwa gerade einen Zettel in der Hand?“
„Nein, das nicht. Oh, ich habe es; du hast dich vorher über Thrash Metal informiert. Heißt das etwa, du wolltest mich damit beeindrucken?“ Er grinste spitzbübisch, während ich ihm am liebsten seine Sticks in die Nasenlöcher gerammt hätte.
Bei der Vorstellung, wie das aussehen würde, musste ich unweigerlich kichern.
„Wusste ich es doch; tief in deinem Inneren wünschst du dir einen starken Freund. Es tut mir wirklich leid, dich zu enttäuschen, aber ich stehe nun einmal nicht auf Farbtöpfe.“
Weder von Sophie noch von den anderen kam irgendeine Reaktion, sodass ich mich umschaute, ob sie überhaupt noch im Raum waren. Das waren sie; neugierig beobachteten sie uns, fast so, als wäre es ein richtig spannender Film, den sie gerade sahen. Es fehlte nur noch, dass sie Popcorn in sich hineinstopften und mit Cola nachspülten.
„Warum betonst du das immer wieder, dass du nicht auf mich stehst? Vielleicht tust du es ja – in deinem Inneren“, konterte ich und ich konnte förmlich spüren, wie Sophie gespannt den Atem anhielt; vermutlich hatte sie Angst, dass sie sonst etwas von unserer Unterhaltung überhörte.
„Das wünschst du dir, habe ich recht?“
Dieses ewige Hin und Her ging mir langsam, aber sicher, auf die Nerven; trotzdem stachelte mich mein erwachter Dickkopf dazu an, unbedingt das letzte Wort zu haben.
„Du hättest gerne, dass ich es mir wünsche, weil sich dein Unterbewusstsein nach etwas Farbe in deinem schwarzen, tristen Alltag sehnt.“
Baff, das hatte gesessen und ich konnte so etwas wie das achte Weltwunder erleben: Jens war sprachlos und wusste keine Antwort darauf. Man merkte, wie die Gedanken in seinem Kopf rasten.
„Lasst uns endlich weiterproben!“, wechselte er das Thema. „Wir ziehen das Tempo auf 180 beats per minute an.“
Damit waren Paul, Tim und Fabian einverstanden, und auch ich gab nach. Ich würde ihm beweisen, dass harte Nummern kein Problem für mich waren; jedenfalls sollte er das glauben. Wenn ich mich kooperativ zeigte, taten das vielleicht auch die anderen, und ich könnte bei der nächsten Bandprobe den Vorschlag mit den Rockballaden unterbreiten.
„Es ist so herrlich, dich und Jens zu beobachten“, erzählte Sophie auf dem Nachhauseweg. „Man braucht gar nicht mehr ins Kino zu gehen, wenn man euch zusieht. Nächstes Mal komme ich auf jeden Fall nochmals mit zur Probe, aber dann werde ich mir Mikrowellen-Popcorn mitnehmen.“
„Das wirst du nicht“, setzte ich entgegen.
„Was werde ich nicht? Dich zur nächsten Bandprobe begleiten?“, hakte sie nach und ich schüttelte den Kopf.
„Das meine ich nicht. Du wirst ganz bestimmt kein Popcorn mitbringen. Das ist keine Komödie, über die ihr anderen euch amüsieren könnt“, meinte ich und atmete erleichtert auf, als endlich der Bus anfuhr.
„Es ist besser als jede Komödie. Schon meine Mutter hat immer gesagt, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Ich habe eine geniale Idee: Ich werde ein Buch über eure langsam aufkeimende Liebe schreiben. Vielleicht wird es ja ein Bestseller und sogar verfilmt.“ Sophie steigerte sich in die Geschichte herein und schien ein paar Meter über der Erde zu schweben; ich musste sie dringend wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen.
„Sophie, hör auf mit diesen Fantasien!“, bat ich sie; noch war mein Tonfall freundlich.
„Welche Fantasien?“, gab sie sich unwissend.
„Jens und ich werden uns nicht verlieben“, stellte ich klar.
„Oh, doch, das werdet ihr.“ Sie schien überzeugt davon, dass Jens und ich irgendwann einmal ein Paar werden würden.
„Das. Werden. Wir. Nicht“, wiederholte ich mit Nachdruck.
„Okay, kann ich trotzdem ein Buch über dein Leben schreiben?“
„Warum denn? Ich glaube kaum, dass jemand etwas über mein Leben lesen will; das ist doch total langweilig.“
„Das ist so aufregend; ich wollte schon immer eine beste Freundin haben, die in einer Band spielt.“ Aufgeregt, wie ein kleines Kind an Weihnachten, hüpfte Sarah auf und ab.
„Beruhige dich und setz dich wieder hin! So etwas Besonderes ist das jetzt auch nicht; außerdem bin ich nur die Übergangs-Bassistin. Und was ist überhaupt mit David? Ich dachte ja, dass es für dich viel interessanter ist, wenn der feste Freund in einer Band ist“, erwiderte ich, denn ihre Euphorie konnte ich bei weitem nicht teilen.
„Wie sehen die anderen Bandmitglieder aus? Sind die so heiß wie dieser Jens?“, wollte sie wissen, woraufhin ich entsetzt nach Luft schnappte.
„Warum willst du überhaupt wissen, wie die anderen aussehen? Du hast einen Freund. Jens hast du noch gar nicht gesehen. Woher weißt du dann, dass er heiß ist?“, entgegnete ich leicht genervt.
„Du hast mir doch gerade gesagt, dass er heiß ist.“ Sie trug ein breites Grinsen im Gesicht, während ich versuchte, meine Wut, die gerade auszubrechen drohte, wieder in ihr inneres Gefängnis zu sperren.
„Das habe ich nicht“, meinte ich und hoffte, dass endlich das Stück Kuchen kam, das ich mir bestellt hatte.
Nach der Arbeit hatte mich Sarah in die kleine Cafeteria eingeladen, die sich in unmittelbarer Nähe zu ihrer Wohnung befand. Normalerweise backte ich lieber selber einen Kuchen, auch wenn ich nicht gerade eine herausragende Bäckerin war. Marmorkuchen oder einfachen Becherkuchen bekam ich dennoch hin; so lange er schmeckte, war für mich die Welt in Ordnung.
„Doch, hast du. Woher weißt du dann, dass er heiß ist? Das waren deine Worte.“
Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, brachte uns die Kellnerin Sarahs Schokoladen-Muffin und mein Stück Nusskuchen.
„Sag schon! Wie sieht Jens aus?“, hakte meine beste Freundin neugierig nach.
„Habe ich dir das nicht bereits erzählt? Bestimmt nicht heiß; er ist breit gebaut“, begann ich, zu erzählen.
„Fett?“, redete sie dazwischen.
„Nein, breit gebaut eben. Man könnte auch sagen, er ist ein Muskelberg.“
„Dann ist er also sportlich?“
„Angeblich macht er Aikido; das ist eine japanische Kampfkunst. Aber ich habe das nachgeforscht; von dieser Sportart bekommt man nicht so viele Muskeln. Ich wette, er nimmt Anabolika“, erzählte ich ihr.
„Talina, manchmal spinnst du. Ich glaube nicht, dass er Anabolika nimmt. Aber ich finde es süß, dass du dich über sein Hobby informiert hast; dann musst du ihn ja irgendwie anziehend finden“, entgegnete Sarah und biss ein großzügiges Stück von ihrem Muffin ab, von dem dadurch nur noch die Hälfte übrig war.
„Ich habe mich nur darüber informiert, ob es diese Kampfkunst auch wirklich gibt; ich hatte vermutet, dass er mich angelogen hatte“, rechtfertigte ich mich, doch meine beste Freundin schien mir nicht zu glauben.
„Sicher doch“, murmelte sie.
„Ja, du weißt doch, welchen Geschmack ich bei Jungs habe. Ich stehe nicht auf Kerle, die sich ausschließlich schwarz kleiden, beide Arme komplett tätowiert haben und Extreme Metal hören.“
„Seit wann bist du eigentlich so oberflächlich? Du erinnerst mich gerade sehr an deine Mutter.“
Mein Atem stockte, als mir klar wurde, dass sie recht hatte; zugeben konnte ich das allerdings nicht.
„Ich meine auch nicht seine Äußerlichkeiten und seinen Musikgeschmack, die mich stören; es ist seine ganze Art. Er ist unmöglich. Wenn er eine Freundin hat, tut sie mir sehr leid. Ich muss mich ja nur einmal die Woche mit ihm treffen; die Arme hat ihn die ganze Zeit am Hals“, sagte ich deshalb schnell.
„Du musst ihn unbedingt fragen, ob er eine Freundin hat. Du kannst ihm ja sagen, dass ich es wissen will“, meinte Sarah und aß den Rest ihres Muffins auf, indessen ich noch keinen Krümel meines Kuchens angerührt hatte.
„Warum fragst du ihn nicht selber? Du kannst mich gerne zur nächsten Probe begleiten“, schlug ich vor, was sie begeistert klatschen ließ.
„Wirklich? Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen“, freute sie sich. „Ich kann die Bandprobe kaum noch abwarten.“
„Das glaube ich dir aufs Wort“, erwiderte ich schmunzelnd.
„Hallo, hier bin ich.“ Strahlend wie ein Honigkuchenpferd, stand Sarah vor meiner Wohnungstür; heute sollte sie mich zur Bandprobe begleiten.
„Was hast du denn an?“, war meine erste Reaktion auf ihr schwarzes Kleid, auf dem eine rote Metal-Hand abgebildet war.
„Sieht gut aus, nicht wahr?“ Sie machte einen kleinen Hofknicks.
„Findest du das nicht übertrieben?“, wollte ich wissen.
„Das finde ich ganz und gar nicht. Mir gefällt das Kleid richtig gut; Daniela hat es mir für heute ausgeliehen. Du solltest dich optisch vielleicht auch etwas anpassen. Musst du denn ausgerechnet dieses knallorangene Kleid anziehen? Wenn du dir wenigstens etwas Rotes ausgesucht hättest.“ Die Hände in die Hüften gestemmt, womit sie mich sehr an meine Mutter erinnerte, musterte sie mich genau.