Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung - Linus Giese - E-Book

Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung E-Book

Linus Giese

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Beschreibung

Warum wir selbst über unseren Namen und unser Geschlecht entscheiden können sollten: Vor fünf Jahren hatte Linus Giese sein Coming out als trans Mann. Weil er sich traute, öffentlich darüber zu sprechen, erntete er Hass – und überwältigenden Zuspruch, insbesondere von jungen Menschen. Mit seinem neuen Buch möchte er ihnen etwas zurückgeben und Mut machen für die Zukunft. Trans Menschen erleben Diskriminierung im Alltag und auch strukturell, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, durch das Transsexuellengesetz, das als verfassungswidrig eingestuft wurde. Dagegen entwirft Giese ein Szenario, wie wir leben würden, wenn das Recht auf Selbstbestimmung für alle nicht nur ideell eingeräumt, sondern auch gesetzlich verankert würde. Und warum endlich Schluss sein muss mit der Pathologisierung der Geschlechterdiversität, um für alle Teile der Gesellschaft mehr Freiheit zu ermöglichen. »Ein durch und durch zauberhaftes Buch über durch und durch große Fragen.« Daniel Schreiber

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 51

Veröffentlichungsjahr: 2023

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LINUS GIESE

Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung

Briefe an die kommenden GenerationenBand 1

Für alle trans* Kinder und Jugendlichen: Ihr seid gut so, wie ihr seid

Lieber Jonas,

du wunderst dich vielleicht darüber, dass du von mir einen Brief bekommst, und ich habe auch lange darüber nachgedacht, ob das überhaupt der richtige Weg ist, um dich zu erreichen. Schreiben Menschen sich heutzutage noch Briefe? Ist das überhaupt noch zeitgemäß? Ich habe mich dazu entschlossen, dir zu schreiben, weil unsere kurze Begegnung mir noch lange im Kopf geblieben ist.

Ich bekomme zurzeit viele Nachrichten von Menschen, die mich um Hilfe bitten. Die sich Rat suchend an mich wenden, weil sie nicht wissen, ob sie wirklich trans* sind oder wie sie sich bei ihren Eltern outen sollen. Das sind oft Menschen, die sich ganz viele Fragen stellen und sonst niemanden zum Reden haben. Manchmal kommen sie auch direkt in den Buchladen, in dem ich arbeite, mit einem dringenden Bedürfnis nach Austausch, Aufmerksamkeit, Zuwendung. Ich habe regelmäßig das Gefühl, die Erwartungen, die sie an mich haben, nicht erfüllen zu können. Damit meine ich nicht nur die ganz konkreten Erwartungen an mich als vermeintlichen Experten, wie der Wunsch nach Rat, Hilfe oder Antworten, sondern auch die Erwartungen an mich als Person. Diese Erwartung setzt sich zusammen aus dem, was Menschen durch mein Buch und meine sozialen Kanäle über mich zu wissen glauben.

In meinem Buch steckt ein Teil von mir, ein zugewandter und offener Teil, der sich traut, sich auch verletzbar zu zeigen – doch das ist nur ein kleiner Ausschnitt meines Lebens. An meinem Arbeitsplatz kann ich nicht immer zugewandt und offen sein, weil ich dort als Buchhändler arbeite und nicht gleichzeitig die Rolle als Berater, als verständnisvoller Freund, als geduldiger Zuhörer oder auch als Vorbild ausfüllen kann.

Diesen Konflikt in mir habe ich auch gespürt, als wir uns begegnet sind. Ich hätte dir so gerne etwas von deiner Angst genommen und dir Zuversicht, Kraft und Mut geschenkt, aber die Zeit reichte dafür einfach nicht aus. Ich hoffe, einiges von dem, was ich dir hätte sagen wollen, findet sich in diesem Brief.

Erinnerst du dich noch daran, wie wir uns vor etwa einem Jahr kennengelernt haben? Oder ist unsere Begegnung nur mir so stark im Gedächtnis geblieben?

Es war ein Freitagnachmittag Ende Juli, als du gemeinsam mit deiner Mutter die Buchhandlung betreten hast, in der ich damals arbeitete. Ich weiß das noch so genau, weil du mir erzählt hast, dass du am nächsten Tag zusammen mit deiner Mutter zum Christopher Street Day gehen wolltest. Das hat mich damals sehr berührt. Ich konnte mir gut vorstellen, wie wichtig es für dich sein muss, dass deine Mutter dich unterstützt.

Ich kenne so viele Kinder, Jugendliche und auch erwachsene Menschen, denen diese Unterstützung verwehrt bleibt – oder lange verwehrt geblieben ist. Zwar sind mir keine offiziellen Statistiken bekannt. Aber ich weiß, sie alle wünschen sich nichts sehnlicher, als von ihren Eltern, Großeltern oder auch von ihren Kolleg*innen gesehen und akzeptiert zu werden und dass man sie bei dem Namen nennt, der sich für sie selbst richtig anfühlt.

Ich muss an dieser Stelle an eine Dokumentation über ein trans* Mädchen zurückdenken, die ich vor einiger Zeit im Kino sah: Darin kämpft die Mutter des Mädchens auf beeindruckende Weise dafür, dass ihr Kind so sein darf, wie es ist – auch in der Schule, gegen zahlreiche Widerstände der Leitung, der Lehrer*innen oder auch der Eltern ihrer Mitschüler*innen. Diese Form der bedingungslosen Solidarität und Akzeptanz ist so wichtig. Forscher*innen der Universität Texas veröffentlichten 2018 eine Studie, laut der das Risiko, an einer Depression zu erkranken oder Suizid zu begehen, signifikant sinkt, wenn trans* Menschen in der Schule, auf der Arbeit oder in ihrem häuslichen Umfeld mit ihrem selbst gewählten Namen angesprochen werden.

Damals bei uns im Laden warst du ganz aufgekratzt – du wirktest glücklich. Deine Mutter und du erzähltet mir, wie ihr beide mein Buch Ich bin Linus gelesen habt. Du hattest dein Exemplar extra mitgebracht, damit ich es dir signiere. »Lieber Jonas, bitte nicht vergessen: Niemals aufhören anzufangen«, schrieb ich hinein und unterzeichnete mit meinem Namen. Ich schreibe diese Worte in viele der Bücher, die ich signiere, denn ich glaube fest daran, dass sie wahr sind.

Kurz bevor ihr wieder gehen wolltet, sagte deine Mutter: »Das ist alles gar nicht so einfach, Jonas hat den ganzen Weg ja noch vor sich.« Diese Worte sind mir lange im Gedächtnis geblieben. Vielleicht kann ich euch beiden mit meinem Brief ein paar eurer Ängste und Befürchtungen nehmen, und gleichzeitig Freude und Neugier wecken – auf alles, was noch vor euch liegen könnte.

Jetzt sitze ich hier an meinem Schreibtisch in Berlin, ich bin sechsunddreißig Jahre alt, draußen wird es bereits langsam dunkel, aber es ist immer noch warm. An diesem Schreibtisch saß ich auch vor drei Jahren, damals schrieb ich meine eigene Geschichte auf. Es ist ein großer, schwerer Schreibtisch mit vielen Schubladen. Es brauchte zwei starke Männer, die ihn schweißgebadet zu mir in den dritten Stock trugen.

Vor zwei Jahren erschien meine Geschichte mit dem Untertitel Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war. Darin erzähle ich von meinem Coming-out und Leben als trans* Mann. Seitdem das Buch erschienen ist, bin ich in zahlreiche Städte gereist, um daraus zu lesen. Und bei fast jeder dieser Veranstaltungen hatte ich das Gefühl, dass sich im Laufe des Abends ein Raum zur ernsthaften, aufrichtigen Begegnung öffnet. Ein Begegnungsraum für Menschen, die den Wunsch nach Austausch haben, nach einem Gespräch. Die verstehen wollen, die sich mir oder vielleicht auch sich selber näher fühlen wollen.

Ich denke oft darüber nach, warum mein Buch für viele Menschen zu einer Art Identifikationsfläche geworden ist. Es gibt noch nicht allzu viele Bücher, in denen trans* Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen dürfen – bei meinem eigenen Coming-out las ich Darling Days