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Seit dem Frühjahr 2018 gestaltet der in Halle (Saale) lebende Literaturwissenschaftler, Autor und Liedermacher Paul Bartsch die monatliche Rundfunksendung "LiveRillen" auf Radio Corax, in der er ausgewählte Ausschnitte aus Konzert-LPs und Live-Alben direkt vom Plattenteller serviert und kommentiert. Die mit viel Liebe zum Detail ausgearbeiteten Sendemanuskripte bilden die Grundlage für diese Publikationsreihe. Ein unterhaltsames Lektürevergnügen für all jene, die Freude an guter Musik haben und mehr über deren Hintergründe und Protagonisten erfahren wollen. Themen dieses Bandes sind unter anderem: * Jazz rockt's! * Blues-Generationen * 50 Jahre Isle of Wight Festival * Neil Young - eine Legende wird 75 * Gratulationen für Joan Baez und Phil Collins * Gary Moore zum 10. Todestag * Das Saxofon in Jazz, Blues & Rock * Runde Songwriter-Geburtstage
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Seitenzahl: 198
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Aufgrund der Vielzahl und des Alters der im Text erwähnten Schallplatten ist es schier unmöglich, die jeweiligen Bild- und Urheberrechte für die Cover bei den größtenteils nicht mehr existierenden Labels zu klären. Ich habe die Cover hier in durchaus werbender Absicht in den Text eingefügt. Als Quelle sind die konkreten Plattenausgaben mit Label und Erscheinungsjahr angegeben. Sollte(n) sich der oder die Inhaber der jeweiligen Rechte dennoch benachteiligt fühlen, bitte ich um entsprechende Information – sicher finden wir gemeinsam eine probate Lösung.
Falls Sie Interesse haben, die eine oder andere LiveRillen-Sendung komplett nachzuhören, stelle ich Ihnen diese gern zur Verfügung. Die mp3-Datei wird Ihnen per WeTransfer übertragen und ist ausschließlich für den privaten Gebrauch gedacht!
Anfragen richten Sie bitte per Mail an: [email protected].
Eine weitere Rille vorab
No. 28: Jazz rockt’s! – Teil I
No. 29: Fathers & Sons – Blues-Generationen
No. 30: Noch mehr Blues / 50 Jahre Isle Of Wight Festival
No. 31: Vier Geburtstage und ein Todesfall
No. 32: Neil Young – eine Legende wird 75
No. 33: Gratulationen und Erinnerungen (für Joan Armatrading, Michael Granda, Tony Hicks und Jorma Kaukonen sowie an Alex Chilton, Frank Zappa und John Lennon)
No. 34: Joan Baez und Richie Havens werden 80 Phil Collins wird 70
No. 35: Sonny Landreth wird 70 / Erinnerung an Gary Moore zum 10. Todestag
No. 36: 175 Jahre Saxophon / Walter Trout 70
No. 37: Vom Saxofon (Teil II) zur Bluesharp
No. 38: Runde Songwriter-Geburtstage
Index der Bands, Musiker und Stichworte
Nachsatz
Wie sagte schon Loriot: Ein Leben ohne Schallplatten sei zwar möglich, aber sinnlos. Oder so ähnlich…
Nun, zumindest ist es für jene, die eifrig den rarer werdenden alten Scheiben in diversen Second-Hand-Läden oder auf Plattenbörsen hinterherjagen, ein erfüllendes Hobby, das – wie wahrscheinlich jedes andere Hobby zwischen Philatelie und Schrebergarten auch – die Eigenschaft hat, die Kommunikation zwischen einander zuvor völlig Fremden, aber erkennbar Gleichgesinnten zu beflügeln. Und so ist es noch nie passiert, dass sich bei meinen (vor Corona erfolgten und hoffentlich bald wieder möglichen) Besuchen in Plattenläden – ganz gleich ob in Warnemünde oder Leipzig, in Dresden oder Frankfurt – nicht interessante Gespräche ergeben hätten, deren Ausgangspunkt eben das war, was man gerade in Händen hielt oder wonach man mal wieder vergebens suchte. Da werden Tipps gegeben, Erfahrungen ausgetauscht, rare Fundstücke bestaunt. Schallplattensammler sind rasch per Du, und erfreulicherweise keineswegs nur männlich und im Rentenalter. Auch wenn es da – zugegeben – schon eine gewisse Konzentration gibt, die sich habituell in schütterem Grauhaar, etwas weiteren Jeans und verbeultem Parka manifestiert. Mal sehr pauschal gesprochen.
Wie der Philatelist die Blaue Mauritius und der Kleingärtner den größten Kürbis wertschätzt, so haben natürlich auch Schallplattenfreunde Träume. Und für seltene Exemplare und spezielle Pressungen werden schon mal höhere Summen aufgerufen. Wie bei jeder Leidenschaft kann man auch hier übertreiben. Ich gestehe, dass es mir vorrangig um die Musik geht – wenn die klingt, dann nehme ich auch eine Pressung aus Indien oder von Yugoton in Kauf. Dem Cover einer Bluesplatte von John Mayall oder Muddy Waters darf man ruhig ansehen, dass es in mehr als fünfzig Jahren durch viele Hände gegangen ist, und selbst den einen oder anderen Knackser kann ich verzeihen. Es ist eben kein Null-Eins-codierter Digitalstream, sondern (so lautet mein werbender Slogan für die monatliche LiveRillen-Sendung auf Radio Corax) „der analoge Hörgenuss im digitalen Zeitalter“. Dafür nehme ich gern vermeintliche, aber sehr authentische Abstriche in Kauf. Hinzu kommt, dass auch meine Plattenspieler keineswegs High-End-Produkte auf der nach oben offenen Preisskala sind – eher untere Mittelklasse, bestenfalls. Auch da ergibt sich ja für Sound-Fetischisten ein unerschöpfliches Diskussionsfeld, zu dem ich nur wenig beitragen kann.
Verwunderung löst bei den sich spontan ergebenden Gesprächen mit anderen Jüngern der schwarzen Scheiben allerdings jedes Mal mein Geständnis aus, ausschließlich Live-Alben zu sammeln. In den fünf Jahren, die seit meinem richtungsweisenden Entschluss vergangen sind, habe ich auch noch nie jemanden getroffen, der dies in dieser Konsequenz auch tut. Ja, mehr noch: Viele der Sammler lassen genau davon die Finger und bevorzugen Studio-LPs, aus welchen Gründen auch immer. Das hat für mich den Vorteil, dass ich eben doch das eine oder andere Schnäppchen aus den Kisten und Kartons fischen kann. Nach meinen Gründen für diese besondere Ausrichtung befragt, führe ich neben der Tatsache, dass mich als Musiker besonders interessiert, was andere auf der Bühne leisten (Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit, nicht wahr?!) natürlich meine seit April 2018 laufende Radiosendung ins Feld, die mir inzwischen selbst zu einem echten Bedürfnis geworden ist. Dass ich darauf auch Resonanz von Hörerinnen und Hörern bekomme, ist ein wunderbarer Effekt. Und ich bin immer wieder erstaunt, auf welche Dinge ich – ausgehend von einem bestimmten Song, einem besonderen Konzertort, einer Band, einer Jahreszahl – bei der vertiefenden Recherche so stoße.
Jüngst habe ich mir etwa die Mühe gemacht, alle (also wirklich alle!) Musikerinnen und Musiker, die an den jeweiligen Liveaufnahmen beteiligt waren, mit ihren Instrumenten in einer alphabetischen Liste zu erfassen. Diese Liste ist nunmehr einhundertsechs Seiten lang und macht deutlich, wer da schon mit wem livehaftig zugange gewesen ist. Höchst aufschlussreich – und eine gute Hilfe bei der Vorbereitung meiner Sendungen, wenn ich etwa zeigen will, wessen Musik durch das herausragende Saxofonspiel von Mel Collins veredelt wurde, mit wem Eric Clapton im Laufe der Jahrzehnte die Bühne teilte oder in welchen personellen Zusammenhängen Jim Gordon am Schlagzeug gesessen hat.
Nun gut, das braucht natürlich nicht jeder. Wer dennoch Interesse an dieser Liste (oder auch jener Übersicht, in der ich mein Live-Archiv komplett erfasst habe) hat, mag mir eine Mail schreiben (siehe Seite 127), dann schicke ich gern die Listen als PDF-Datei zu.
Meine Sammlung ist übrigens wachstumsbegrenzt. Bei Tausend ist Schluss! Klingt etwas willkürlich, aber irgendwo muss man ja den Strich ziehen. Derzeit stehen 965 Platten in meinen Regalen. Viel Platz ist also nicht mehr, und einige Wünsche sind durchaus noch offen (abgesehen davon, dass ja immer wieder alte, bisher unbekannte Aufnahmen aus Archiven ans Tageslicht befördert und auf 180-Gramm-Vinyl veröffentlicht werden). Aber gut – ich kann mich ja im Laufe der Zeit von einigen Platten trennen, um den Neuankömmlingen den Zugang zu gewähren. Und da kann ich nur hoffen, dass es auch in Zukunft Menschen geben wird, die meine Leidenschaft für die (zumeist) schwarzen Scheiben mit der wunderbare Klangwelten erzeugenden Rille teilen. Denn wie sagte schon Loriot ganz richtig…?
In diesem Sinne wünsche ich euch mit diesem dritten Band der LiveRillen, der die Sendungen 28 bis 38 (Juli 2020 bis Mai 2021) umfasst, eine entspannte – und in euerm Inneren wohlklingende – Lektüre!
Also: Auf Weiteres!
Heute geht es um ein Genre der populären Musik, das es durchaus nicht einfach hatte, sich vor nunmehr über 50 Jahren in der einerseits durch den britischen Mersey-Beat, andererseits durch den Rhythm&Blues US-amerikanischer Prägung bestimmten Musikmarkt zu etablieren: Jazzrock – und den Begriff verwende ich im weiten Sinne.
Natürlich war Jazz spätestens seit den so genannten Goldenen Zwanzigern beliebt und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch wieder in Europa populär, aber sein Publikum unterschied sich doch deutlich von jenem, das beim Hüftschwung von Elvis oder angesichts von Paul, John, George und Ringo gerne mal in Ohnmacht fiel.
Wobei natürlich auch Jazz keineswegs homogen war: Da gab es die Bigbands von Duke Ellington, Count Basie und Benny Goodman oder das britische Pasadena Roof Orchestra mit seinem mitreißenden Swing neben dem feucht-fröhlichen Dixieland oder der doch eher cool-intellektuellen Improvisationsmusik der zahllosen Solisten und kleineren Ensembles bis hin zum Free Jazz. Einig war man sich offenbar nur in der Abgrenzung zur doch eher als trivial empfundenen Beat- und Rockmusik.
Nun ja – musikalische Genregrenzen können schwer bewacht sein – undurchdringlich sind sie natürlich nicht. Und wurden die mutigen Grenzgänger beider Lager auch anfangs entweder belächelt oder beschimpft, so überzeugte doch sehr schnell die aufgrund der Virtuosität vieler Jazzer durch die Fusion mit Rock, Blues und Pop freigesetzte Qualität und Originalität, auch wenn sich das nicht unbedingt in Hitparadenplatzierungen der doch eher konventionell ausgerichteten Charts niederschlug.
Starten wir mit zwei der bekanntesten Bands, die vor einem reichlichen halben Jahrhundert ihre Rockbesetzung mit einem treibenden Bläsersatz erweiterten und sich dadurch neue musikalische Horizonte erschlossen: Chicago und Blood, Sweat & Tears.
Chicago gründeten sich aus dem Vorläufer Big Thing 1968 noch unter dem Namen Chicago Transit Authority in der nämlichen Millionenstadt im mittleren Osten der USA. Alle Bandmitglieder waren Profimusiker, die zuvor in teils hochkarätigen Jazzformationen gespielt hatten. Ihren Durchbruch feierten sie bereits ein Jahr später durch ihre regelmäßigen Konzerte an kalifornischen Colleges und Universitäten; rund 200 Auftritte im Jahr waren keine Seltenheit. Ihre musikalische Ausrichtung beschreibt Siegfried Schmidt-Joos als Melange aus „Beatles-Harmonien, Country-Melismatik, Free Jazz-Techniken, Neutöner-Effekten und Big Band-Swing“, was nach seiner Auffassung einen wirklich eigenen Stil verhindert habe.
Da darf man durchaus anderer Meinung sein, auch wenn der energiereiche Chicago-Sound in den späten 70er Jahren dann tatsächlich immer mehr verwässerte durch zwar kompositorisch ausgefeilte, insgesamt aber weichgespülte Songs a la „If You Leave Me Now“ oder „Hard To Say I’m Sorry“, bei denen sich Bassist Peter Cetera als Schmusesänger auszeichnen durfte.
Hier aber sind Chicago noch voller Jazzrock-Power im Jahr 1969 mit zwei ihrer bekanntesten Stücke: zunächst das rhythmusdominierte „I’m A Man“ – geschrieben vom damals grade mal 17jährigen Steve Winwood, dem Keyboarder und Sänger der Spencer-Davis-Group – und danach das eingängige „25 Or 6 To 4“, eine Komposition des Chicago-Keyboarders Robert Lamm.
Chicago: I’m A Man / 25 Or 6 To 4
Nun zur zweiten Jazzrock-Band jener Jahre, die mit großem Bläsersatz der populären Musik einen frischen Rückenwind verlieh: Blood, Sweat & Tears, ebenfalls 1968 gegründet und vom Rolling Stone als die beste Sache, die der Rockmusik 1968 widerfahren sei, begrüßt.
Zusammengerufen hatte die virtuosen Solisten der Organist Al Kooper, der zuvor mit seinem Blues Project bekanntgeworden war.
Blood, Sweat & Tears gelang es wohl auch aufgrund des charismatischen Sängers David Clayton-Thomas, das Publikum beider Lager zu überzeugen, zumal nicht nur die Studioproduktionen, sondern auch die Livekonzerte von herausragender Soundqualität waren. Und das, obwohl das Personalkarussell der Band doch ziemlich heftig rotierte.
Bei den Aufnahmen, die 1976 als Livealbum „In Concert“ erschienen, war dann auch neben Clayton-Thomas nur noch Schlagzeuger Bobby Colomby von der Urbesetzung dabei. Dennoch sind es bemerkenswerte Livemitschnitte, die das Potenzial der Band nachhaltig demonstrieren.
Hier zwei ganz unterschiedliche Stücke: „Spinning Wheel“, geschrieben von David Clayton-Thomas, und danach „I Love You More Than You’ll Ever Know“ aus der Feder von Al Kooper, das insbesondere Anthony Klatka an der Trompete viel Raum bietet, sich solistisch auszuzeichnen.
Blood, Sweat & Tears: Spinning Wheel / I Love You More Than You’ll Ever Know
Mein persönlicher Favorit der Jazzrock-Band ist eine Coverversion, und die will ich auf jeden Fall noch präsentieren, weil sie gerade im Posaunensolo von Dave Bargeron den Humor der Gruppe aufzeigt: „And When I Die“. Geschrieben von der US-Folksängerin Laura Nyro, hatten Peter, Paul & Mary den Song 1967 zu einem kleinen Hit gemacht. Ein Jahr später dann bemächtigten sich Blood, Sweat & Tears des Stückes und kitzelten heraus, was rauszuholen war – das geht in dieser Liveversion bis zum Blues, indem da kurzerhand John Lee Hookers „One Room Country Shack“ integriert wird. Eine wunderbare Version, wie ich finde…
Blood, Sweat & Tears: And When I Die
Eine Band, die um 1970 herum trotz ausgesprochen hoher musikalischer Qualität nicht so recht aus dem Schatten von Chicago oder Blood, Sweat & Tears herauskam, war Lighthouse, in der zeitweise 13 kanadische Jazz- und Rockmusiker gemeinsam spielten. Sie gingen durch ausgefeilte Gesangssätze sowie den Einsatz von Violine und Cello sogar noch über die Konzepte ihrer US-amerikanischen Konkurrenten hinaus, ohne deren Erfolg auch nur annähernd zu erreichen. Immerhin gelangte dieses Stück 1970 in Kanada zu Gold-Ehren und konnte sich auch in den US-Charts platzieren: „One Fine Morning“.
Den hören wir gleich, zuvor noch ihr „Take It Slow“ – hier sind Lighthouse live.
Lighthouse: Take It Slow / One Fine Morning
Das Konzert der kanadischen Band wurde im Februar 1972 in der New Yorker Carnegie Hall mitgeschnitten; Lighthouse bestand zu diesem Zeitpunkt noch aus zehn Musikern und interpretierte unter anderem auch eine viertelstündige Version des Byrds-Klassikers „Eight Miles High“ aus der Feder von David Crosby.
Als der große Durchbruch für die Kanadier auf sich warten ließ, versuchten sie in den Folgejahren durch Wechsel des Labels und eine weitere Kommerzialisierung ihres Stils in Richtung Disco-Sound, Boden gutzumachen – das misslang, und so verschwanden Lighthouse schon Mitte der 70er Jahre wieder von der Bildfläche.
Wir springen jetzt über den großen Teich nach Europa, genauer gesagt nach London, wo sich 1970 ein sanfter Riese gründete: die Jazzrockgruppe Gentle Giant.
Im Zentrum die Brüder Phil, Derek und Raymond Shulman, in Schottland geborene Multiinstrumentalisten, die zuvor mit einem gewissen Reginald Dwight musiziert hatten, der später als Elton John durchaus bekannt werden sollte… Gentle Giant verbanden wie kaum eine andere Band ihrer Zeit klassische Kompositionstechniken – den Kontrapunkt etwa – mit jazziger Spielweise bis hin zum Free Jazz einerseits und rockiger Rhythmik andererseits. 1977 erschien ihr fulminantes Doppel-Live-Album „Playing The Fool“, dessen Aufnahmen bei der Europa-Tour ein Jahr zuvor mitgeschnitten worden waren. Daraus jetzt ihr exemplarisches Stück „In A Glass House“.
Gentle Giant: In A Glass House
Wir bleiben noch in England und bei einer weiteren führenden Fusion-Band dieser Zeit, die sich schlicht Man nannte.
Von 1968 bis zu ihrer ersten Auflösung 1977 feierte die Gruppe der Gitarristen Micky Jones und Deke Leonhard vor allem in den USA große Erfolge mit ihrer explosiven Mischung aus Rock, Blues, Folk und Jazzelementen; letztere machten sich vor allem in den teils vertrackten rhythmischen Strukturen ihrer nicht unbedingt tanzbaren Titel bemerkbar. Mit einem Livealbum nahmen sie 1977 vorübergehend Abschied von der Öffentlichkeit, um sich dann in den Achtzigern und selbst bis heute immer mal wieder in wechselnder Besetzung zu reformieren – zeitweise war sogar der Gentle-Giant-Drummer John Weather dabei, den wir ja gerade mit seiner eigentlichen Band gehört haben.
„All’s Well That Ends Well” – alles ist gut, was gut endet, so der Titel des besagten Abschieds-Albums, aus dem ich „Born With A Future“ ausgewählt habe, ein mitreißender Fusion-Titel, der alle Vorzüge von Man in sich vereint, die zu diesem Zeitpunkt neben den beiden Gitarristen mit Terry Williams am Schlagzeug, Philipp Ryan an den Keyboards und Martin Ace am Bass spielten.
Man: Born With A Future / Die With A Past
Einen wichtigen Beitrag zu Fusion und Rockjazz hat in den 1970er Jahren auch eine weitere britische Band geleistet, die für ihren Bandnamen sogar nur zwei Buchstaben benötigte: If, 1969 in London gegründet von John Mealing (Keyboards), Terry Smith (Gitarre), Jim Richardson (Bass), Dick Morrissey (Saxofon, Querflöte), J. W. Hodkinson (Gesang, Percussion), Spike Wells (Schlagzeug) und Dave Quincy (Saxofon). Trotz ihrer überzeugenden Tourneen und ausgefeilter Kompositionen blieb der kommerzielle Erfolg aus; Mitte der 70er Jahre kam das Aus für If.
Insbesondere der im Jahr 2000 mit nur 60 Jahren an Krebs verstorbene Dick Morrissey machte später als Begleitmusiker zahlreicher Stars der Rock- und Jazzszene von sich reden.
Ich lege jetzt die im April 1972 bei Konzerten in Deutschland eingespielte LP „On Tour In Germany“ von If auf, und wir hören mit „Waterfall“ eines ihrer bekanntesten Stücke – an der Querflöte brilliert Dick Morrissey, der den Song auch geschrieben hat.
If: Waterfall
Dass auch deutsche Musiker an der Entwicklung des Jazzrock als vielgestaltigem Subgenre der populären Musik ihren sicht- und vor allem hörbaren Anteil hatten, ist unbestritten. Vor allem Klaus Doldinger und seine hochkarätig besetzte Band Passport stehen dafür in den Jazzrock-Annalen fest verzeichnet. Der 1936 in Berlin geborene Saxofonist gehört bis heute nicht nur zu den bekanntesten Jazzern hierzulande, sondern ist auch erfolgreicher Filmkomponist – man denke an die „Unendliche Geschichte“ oder an „Das Boot“ – und natürlich mit der Tatort-Titelmelodie wöchentlich in den deutschen Fernsehstuben präsent, bekanntlich sitzt dabei Udo Lindenberg am Schlagzeug.
1971 gegründet, galten Passport aufgrund herausragender Platten und überzeugender Livekonzerte bald schon als deutsche Antwort auf Joe Zawinuls Weather Report oder Chick Coreas Return To Forever.
Da hatte Klaus Doldinger aber bereits eine lange Jazzkarriere hinter sich, die mit ersten Dixieland-Auftritten 1953 ihren Anfang genommen hatte. Somit stand 1973 das 20jährige Bühnenjubiläum an, und es gelang dem mit Doldinger befreundeten Konzertveranstalter und Plattenproduzenten Siegfried Loch, ein hochkarätiges Line-Up für zwei Jubiläumskonzerte in Hamburg und Düsseldorf zu versammeln, eine Traumbesetzung der damaligen Fusion-Szene. Auf der Bühne standen der Tenorsaxofonist Johnny Griffin, der Organist Brian Auger, Alexis Korner an der Gitarre, Pete York am Schlagzeug und dazu die deutsche Creme de la Creme mit dem Bassisten Wolfgang Schmid, mit Curt Cress am Schlagzeug, mit dem noch jungen, hoch talentierten Gitarristen Volker Kriegel und mit Christian Schultze am Fender-Piano.
Glücklicherweise hatte Siegfried Loch zudem das Rolling Stones Mobile geordert, sodass das Düsseldorfer Konzert mitgeschnitten und anschließend als Vinylausgabe veröffentlicht werden konnte. Daraus jetzt der Eröffnungstitel des Abends, den Doldinger schlicht genauso betitelt hat, wie er seine Musik stets verstand: „Handmade“ – handgemacht! Man beachte besonders die wunderbaren Soli von Johnny Griffin und Volker Kriegel, und der seinerzeit ganz innovative Moog Synthesizer wird von Kristian Schultze bedient.
Klaus Doldinger: Handmade
Gerade war von Chick Corea die Rede, der zur selben Zeit mit seiner Band Return To Forever das sich erweiternde Angebot der internationalen Musikküche wesentlich mitbestimmte. Der 1941 in Massachusetts geborene Pianist und Komponist hatte sich zu Beginn der 60er Jahre als Mitspieler zahlreicher Jazzgrößen – darunter Stan Getz und Miles Davis – einen Namen gemacht, bevor er mit Circle eine erste eigene, von Kritikern hoch gelobte und von einem vornehmlich intellektuellen Publikum bejubelte Band gründete. Dabei überzeugte er vor allem als kompositorischer Grenzgänger zwischen diversen Spielarten von Jazz und Rock, aber auch als hochsensibler Pianist, dessen Soloplatten durchweg durch ihre weiten Spannungsbögen überzeugen und der damit zweifellos auch einen Keith Jarrett angeregt hat.
1972 gründete Chick Corea mit dem Bassisten Stanley Clarke, dem Saxofonisten Joe Farrell, dem Brasilianer Airto Moreira am Schlagzeug und dessen Frau, der Sängerin Flora Purim, die Gruppe Return To Forever, benannt nach ihrer ersten Plattenveröffentlichung. Einigen Jazzpuristen war zwar die Öffnung für rockmusikalische Elemente suspekt, doch der weltweite Erfolg gab Chick Corea letztendlich recht – seine Fusion Music übersprang mühelos alle stilistischen Gräben.
1977 wurde ein Konzert von Return To Forever im New Yorker Palladium Theatre mitgeschnitten und im Folgejahr als Live-LP veröffentlicht. Die Band war inzwischen durch eine komplette Bläsersektion ergänzt worden, allerdings war der Gitarrist Al Di Meola gerade wieder ausgestiegen. Von dieser Platte hier die Chick-Corea-Komposition „The Musician“, eingeleitet von Vokalisen der singenden Keyboarderin Gayle Moran und den einzelnen Musikern viel Raum bietend für ihr improvisatorisches Können – hier sind Return To Forever – die Rückkehr zur Ewigkeit – live. Chick Corea, gerade 79 geworden, ist ja noch immer erfolgreich auf den Bühnen der Welt präsent … (traurige Anmerkung: im Februar 2021 ist Chick Corea kurz vor seinem 80. Geburtstag verstorben).
Return To Forever: The Musician
Nicht unerwähnt bleiben soll freilich Chick Coreas Mitgliedschaft bei Scientology, die seit Jahrzehnten für Kritik sorgt und ihm auch einige Konzertabsagen einbrachte.
Ich habe ja bereits angedeutet, dass diese LiveRillen-Ausgabe nur ein Einstieg in das Thema Jazzrock sein kann bei der Fülle des Livematerials, das in meinen Plattenregalen auf Berücksichtigung wartet. So müssen sich beispielsweise die Gitarristen Larry Coryell, George Benson, Al Di Meola und Pat Metheney ebenso wie der Pianist Les McCann oder die Schlagzeuger Elvin Jones und Billy Cobham noch etwas gedulden – eine spätere LiveRille wird diese Lücke aber bestimmt füllen!
Dafür habe ich hier noch einen Künstler, den man vielleicht beim Genre Jazzrock nicht unbedingt gleich auf dem Schirm hat: Carlos Santana. Seine von karibischer Rhythmik geprägte Musik hatte ja schon in Woodstock für Furore gesorgt und ist – kombiniert mit seinem geradezu singenden Gitarrensound – bis heute zweifellos sein Markenzeichen. Zu Beginn der 1970er Jahre unternahm er aber durchaus musikalische Expeditionen in benachbarte Territorien, so unter anderem mit dem äußerst kreativen Schlagzeuger Buddy Miles, der im Jazz begonnen hatte und der – nach Wilson Pickett, The Electric Flag und der Band Of Gypsys von Jimi Hendrix – gerade für John McLaughlin ein Album eingetrommelt hatte. 1971 dann folgte eine gemeinsame Tournee mit Santana und einem Programm, in dem beider Kompositionen im Mittelpunkt standen und das so eine durchaus jazzige Grundstimmung erhielt, was man auf der dazu erschienenen Konzert-LP gut nachempfinden kann.
Hier ist die Santana-Band 1971 – zu diesem Zeitpunkt unter anderem mit Neil Schon an der Gitarre, der später mit Journey die Stadien der Welt rocken wird, dazu Ron Johnson am Bass, der auch mit ex-Allman-Brothers-Gitarrist Warren Haynes und dessen Gov’t Mule jammte, und Robert Hogins, der unter anderem beim Grateful Dead-Ableger Kingfish die Tasten drückte – und natürlich mit dem erwähnten Buddy Miles am Schlagzeug.
Bei dem Titel „Marbles“, den ich aus diesem
Konzert ausgewählt habe, bedient sich Carlos Santana zudem noch bei einem der bedeutendsten Jazzrock-Musiker überhaupt: Der Fusion-Gitarrist John McLaughlin (er wird in den LiveRillen No. 4 ab S. 97 ausführlich gewürdigt) ist nämlich der Komponist der musikalischen Murmeln. Und gleich nach „Marbles“ gibt’s noch das kurze „Lava“ aus der Feder von Buddy Miles.
Santana: Marbles / Lava
Das Motto der nächsten LiveRillen-Ausgabe lautet „Fathers And Sons“ – dann geht es um schwarze und weiße Bluesmusiker dreier Generationen in ihren wechselseitigen Beziehungen. Im Mittelpunkt steht natürlich das gleichnamige Album, das Muddy Waters unter anderem mit Otis Spann, Michael Bloomfield und Paul Butterfield im Jahr 1969 realisiert hat – und auch dabei saß Buddy Miles zumindest zeitweise am Schlagzeug – so schließen sich Kreise!
Zum Abschluss dieser Ausgabe nun doch noch jener Gitarrist, dessen Name heute schon mehrfach fiel: John McLaughlin mit seinem legendären Mahavishnu-Orchestra, das er 1971 gemeinsam mit dem Geiger Jerry Goodman, Jan Hammer an den Keyboards, Rick Laird am Bass und Billy Cobham am Schlagzeug gegründet hat.
In dieser illustren Besetzung kongenialer Solisten entstand nur zwei Jahre später bei einem Konzert im Central Park die Live-LP „Between Nothingness & Eternity“ – angesiedelt also zwischen dem Nichts und der Ewigkeit, wobei aus heutiger Sicht zweifellos letzteres zutrifft – ein Album, das die Zeit überdauert hat!
Daraus jetzt die „Trilogy“ aus „The Sunlit Path“, „La Mere de la Mer“ und „Tomorrow’s Story Not The Same“ – John McLaughlin und das Mahavishnu Orchestra – live!
Mahavishnu Orchestra: Trilogy
Quellen:
Blood, Sweat & Tears: In Concert, Do.-LP, CBS, 1976
Chicago Transit Authority: Live In Concert, LP, Bellaphon, 1978
Klaus Doldinger & Passport: Doldinger Jubilee Concert, LP, WEA/Atlantic, 1974
Gentle Giant: Playing The Fool, Do.-LP, Chrysalis, 1976
If: On Tour In Germany – April 72, United Artists, 1972
Lighthouse: Lighthouse Live! (Carnegie Hall), Do.-LP, Bellaphon, 1972
Mahavishnu Orchestra (John McLaughlin): Beetween Nothingnesss & Eternity / Live, LP, CBS, 1973
Man: Live At The Padget Rooms Penarth, LP, United Artists, 1972
Man: All’s Well That Ends Well, LP, MCA, 1977
• Carlos Santana & Buddy Miles: Live!, LP, CBS, 1972
Bevor ich ins neue Thema einsteige, zunächst noch ein ergänzender Nachtrag zur letzten LiveRillen-Ausgabe – ihr erinnert euch: Jazzrock war angesagt. Und die Sendung vor einem Monat begann mit der Gruppe Chicago. Aber wie das so ist – manche Scheiben trudeln erst später ein, und so habe ich in der Zwischenzeit ein nagelneues Doppelalbum von Chicago erbeutet, das den famosen Auftritt der Band beim Isle-Of-Wight-Festival