Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Copyright
DER AUTOR
Ulli Potofski begann seine Medienlaufbahn 1974 als Radio Diskjockey bei RTL. 1988 bekommt er als beliebtester Moderator im Privatfernsehen ein Bambi vom Burda Verlag verliehen. Er hat unzählige Sportsendungen moderiert und inzwischen auch eine eigene Unterhaltungssendung konzipiert, die er selbst moderiert. »Locke bleibt am Ball« ist sein erstes Kinderbuch.
Von Ulli Potofski ist beicbj erschienen:
Locke bleibt am Ball Locke stürmt los
OMNIBUS ist der Taschenbuchverlag für Kinder Verlagsgruppe Random House
Ohne Jürgen Heinzerling hätte es dieses Buch nie gegeben.
Ich denke an ihn – wo immer er auch ist.
Er lebt durch Locke weiter – auch für seine Kinder und seine Frau.
1
Als Locke die Westkurve zum dritten Mal durchquerte, sah er ein, dass seine Kondition nicht mehr die beste war. Zwar merkte er kaum noch etwas von der Erkältung, aber die hinter ihm liegenden drei Wochen ohne Training begannen, sich bitter zu rächen.
Er biss die Zähne zusammen, um gegen die Seitenstiche anzukämpfen, und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die Nachmittagssonne hatte die rote Asche der Laufbahn so sehr aufgeheizt, dass die Luft am entfernten Ende des Parcours zu flimmern begann.
»Wasser...«, stöhnte Matz, der direkt hinter ihm hertrottete. »Erbarmen, Trainer!«
Willy war der Coach der U16 von Blau-Weiß Gelsenkirchen. Er stand weit hinten am gegenüberliegenden Teil des Spielfeldes und trieb ein paar Nachzügler an, die heute keine rechte Lust hatten, sich anzustrengen.
Locke musste lachen, was wegen der Seitenstiche überhaupt nicht angenehm war. Er schloss für eine Sekunde die Augen, um den Schmerz abzuschütteln. Als er sie wieder öffnete, sah er mit einem Blick über die Schulter, dass Matz die Bahn gewechselt hatte und nun langsam zu ihm aufschloss.
»Bitte hör auf mit deinen dämlichen Witzen!«, keuchte Locke, als Matz neben ihm war. »Kriege schon so keine Luft!«
Und wie auf Bestellung stolperte Locke jetzt auch noch über seine Füße. Fast wäre er lang hingeschlagen.
»Mann, was ist mit dir los«, sagte Matz. »Du solltest vielleicht …«
Er sprach nicht weiter, weil der schrille Ton einer Trillerpfeife zu hören war. Das Echo flatterte von der überdachten Tribüne zurück, sodass man nicht wirklich ausmachen konnte, aus welcher Richtung der Pfiff kam. Locke sah aber automatisch zum anderen Ende des Spielfeldes, wo Willy stand, der Co-Trainer des Teams.
»Hör mal auf!«, hallte Willys Schrei herüber.
Locke richtete den Finger auf seine Brust.
Willy nickte übertrieben und winkte ihn zu sich.
Locke verlangsamte sein Tempo und kürzte den Weg über das Spielfeld ab, während der Coach ihm bereits entgegenlief.
»Hör mal, Patrick«, erklärte er mit sorgenvollem Blick, »es bringt echt nichts, wenn du mit Gewalt mitzuhalten versuchst. Ich habe dir doch extra gesagt, brich ab, wenn du nicht mehr kannst!«
»Hach.« Locke hob abwehrend die Hände. »Habe nur Seitenstiche gehabt, was ist da Besonderes dran?«
Willy runzelte seine buschigen Brauen, die bereits von grauen Haaren durchzogen waren. Eigentlich hieß er Wilfried Neuberg und war ein Cousin von Pfarrer Lukas Kelter, der sich im »Nebenjob« seit Jahren unermüdlich für den Verein einsetzte und Willy mit viel Überzeugungskraft aus dem Ruhestand geholt hatte. Neuberg war früher Trainer der Zwölfjährigen des Vereins gewesen – die aber stets und ständig nur im unteren Drittel der Tabelle herumgekrebst waren. Das hatte Willy so genervt, dass er mit dem Eintritt ins Rentenalter seine Klamotten hingeschmissen und sich von allem zurückgezogen hatte. Bis Lukas Kelter zu ihm kam...
»Wenn du Bedenken hast, dass ich dich jetzt aus der Mannschaft herausnehme, liegst du falsch«, erklärte Willy ruhig. »Das würde ich nur tun, wenn ich Angst haben müsste, dass du mir zusammenbrichst. Wir brauchen jetzt jeden Mann.«
Locke bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass der Coach ihm soeben seine schlimmsten Befürchtungen genommen hatte: wegen des Trainingsausfalls während der Grippetage aus dem Spiel geworfen zu werden...
»Schon klar«, murmelte er.
»Ich habe dich aber nicht nur wegen deiner Seitenstiche zu mir gerufen, sondern auch weil ich mit dir etwas besprechen muss«, erklärte Willy. »Du weißt, Patrick, dass ich über unsere Strategie nachdenken wollte. Und ich meine, wir sollten ganz klar auf Verteidigung setzen, wenn wir gegen die Engländer punkten wollen. Die Null muss stehen, wir dürfen uns kein Gegentor einfangen! Das heißt«, führte Willy weiter aus, »nur noch zwei Mann im Sturm, dann vier im Mittelfeld, davon drei defensiv, und unverändert vier Mann als Abwehrbollwerk. Ich weiß, dass ihr bislang anders gespielt habt. Aber ich kriege beim besten Willen keine vernünftige Aufstellung in der alten Formation zusammen.«
Locke war anderer Meinung, doch er widersprach nur zaghaft. »Eigentlich würde ich ja lieber offensiver spielen, aber wenn Sie meinen...«, er räusperte sich, »der Trainer hat das letzte Wort.«
Willy nickte zufrieden.
In einigen Wochen sollten die Jungs im Städtevergleich gegen eine Mannschaft aus dem englischen Newcastle antreten. Bekanntermaßen galten die Boys als eine der besten Mannschaften der Insel.
»Die Engländer gehen hart ran, was?«, mutmaßte Locke.
»Rau, das wäre das richtige Wort.« Willy machte eine Grimasse. »Ich möchte den Ball möglichst nicht weiter als drei ßig Meter vor unserer Kiste sehen. Wenn wir offensiv spielen, wie du es meinst«, er blickte Locke an, »dann kontern sie uns möglicherweise eiskalt aus und gewinnen haushoch. Dann dürfte die Moral für den Rest der Saison ziemlich im Eimer sein.«
»Und wen wollen Sie in der Defensive einsetzen?«, fragte Locke, obwohl ihm die Antwort bereits klar war. »Andy?«
Der Coach nickte. »Er hat nun mal die beste Kondition. Schwimmtraining und Judo, beides zweimal die Woche, während die meisten anderen außer dem Training nichts machen. Die gehen lieber in die Disko.«
Der leise Vorwurf in Willys Stimme war nicht zu überhören. Aber Locke war nicht bereit, sich diesen Schuh anzuziehen.
»Ich gehe nicht in die Disko«, erwiderte er fest. »Nicht oft, jedenfalls. Okay, die Band kostet eine Menge Zeit, das gebe ich zu. Aber deshalb habe ich bislang keine einzige Trainingsstunde ausfallen lassen. In den letzten Wochen war ich krank, daran kann ich auch nichts ändern.«
»Hey.« Willy sah ihn ernst an. »Das war gar nicht auf dich gemünzt, Patrick. Bestimmt nicht. Und das mit der Band finde ich gut, weil es zeigt, dass dein Ehrgeiz sich nicht nur auf eine einzige Sache ausrichtet.«
»So wie bei Andy, ja? Der hat doch nur Tore und Ecken im Kopf.« Diese Bemerkung rutschte Locke einfach heraus, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
Willy schien überrascht zu sein. »Ist das wirklich so bei ihm?«
Locke war ein wenig mulmig zumute, weil er nicht vorhatte zu klatschen. »Na ja, die Schule nimmt er jedenfalls nicht gerade ernst«, murmelte er und zuckte die Schultern. »Sieht so aus, als würde er dieses Jahr eine Ehrenrunde drehen.«
»Das habe ich nicht gewusst«, sagte Willy und schüttelte den Kopf. »Ein gesunder Enthusiasmus ist was Positives, aber dass er sich da so reinsteigert... Hast du eine Ahnung, woran das liegen könnte?«
»Nicht so direkt, ich habe ja nicht viel mit ihm zu tun.« Locke hielt für einen Augenblick die Luft an, weil er unsicher war, ob er sagen sollte, was ihm durch den Kopf ging.
Aber als er Willys interessierten, etwas besorgten Blick sah, wusste er instinktiv, dass es richtig war. »Es ist wohl sein Vater, der hat nichts als Fußball im Kopf. Er will unbedingt, dass Andy Profi wird, nimmt fast jedes Spiel auf Video auf, selbst aus der zweiten Liga. Damit er sieht, wie’s gemacht wird.«
»Das ist nicht gut.« Willy sog seine Unterlippe ein. »Und seine Mutter – die mischt sich nicht ein, oder?«
Locke schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich quatsch kaum mit ihm. Er hat doch schon Starallüren. Läuft hier ständig im Beckham-Trikot von Real Madrid rum. Und seine Clique macht’s ihm nach.«
»Du magst ihn nicht besonders, was?« Der Hauch eines verständnisvollen Lächelns zog über Willys Gesicht. »Okay, das ist deine Sache. Man muss nicht jeden mögen. Aber hier im Team«, Willy wurde wieder ernst, »solltest du deine Abneigung vergessen. Du bist der Kapitän, Patrick – wenn du die Stärken deiner Teamkameraden nicht zu schätzen weißt, kannst du sie wohl kaum zu Höchstleistungen antreiben.«
Was soll das?, dachte Locke. Okay, ich habe nichts für Andy Strutz übrig, aber das ist es dann auch... Ich behandle ihn wie jeden anderen, bei dem mir völlig egal ist, ob ihm morgen früh in der großen Pause die Ohren abfallen oder sonst was mit ihm passiert...
»Ich weiß, was dir jetzt im Kopf herumgeht«, behauptete Willy. »Du magst ihn nicht, er interessiert dich nicht. Okay, das ist dein gutes Recht. Aber als Kapitän musst du dir Mühe geben, ihn das nicht merken zu lassen.« Er sah ihn eindringlich an. »Patrick, bei der Gelegenheit mal etwas Grundsätzliches: Wenn es Probleme im Team gibt, solltest du mit mir darüber reden. Das betrifft jeden Spieler, also auch dich selbst.«
»Ich hab keine Probleme. Wirklich nicht. Nicht mit mir und nicht mit Andy.«
»In Ordnung, Locke, ich sag’s ja nur.« Willy lächelte. »Ich mach den Job hier lang genug, um zu wissen, dass ihr unter euch Regeln habt, die euch wichtig sind. Die möchte ich weiß Gott auch nicht umstoßen. Ehrlich nicht. Aber wenn es ums Team geht, muss man manchmal andere Maßstäbe anlegen.«
Locke nickte.
»Okay, Locke. Lass uns das Gespräch für heute abbrechen, ja? Die anderen sind fast durch, also zieh dir deine Fußballschuhe an und bereite sie seelisch darauf vor, dass wir gleich noch mal die Deckung beim Freistoß durchgehen.«
Mit diesen Worten drehte sich Willy um und lief zum Rand des Spielfeldes, um die Bälle zu holen.
Locke wusste, wenn Willy ihn ausnahmsweise mit seinem Spitznamen ansprach, war ihm die Sache besonders wichtig. Das machte er sonst nie, auch nicht bei Lockes Freund
Matz, der eigentlich Irfan hieß… Im Übrigen aber war es ihm egal, ob jemand Locke zu ihm sagte oder eben Patrick. So richtig mochte er beides nicht.
»Hey, was wollte der Coco denn von dir?«, sagte eine Stimme.
Als hätte er gewusst, dass Locke gerade an ihn gedacht hatte, stand Matz hinter ihm; er hatte damit begonnen, ausgiebige Dehnübungen zu machen.
»Coco?«
»Ja, für Co-Coach«, erklärte Matz grinsend.
»Nicht schlecht.« Locke grinste zurück. »Nichts Besonderes eigentlich. Es ging nur um Teamführung und so.« Er zuckte seine Achseln. »Der übliche Quatsch.«
»Klar doch«, erwiderte Matz. »Wir folgen dir auch so blind in den Untergang.«
»Da sagst du was!« Locke nickte. »Diese Spielsaison – wir werden baden gehen und zwar mit Mann und Maus.«
»Hähä«, machte Matz. »Weißt du was? Wir sollten gegen uns Wetten abschließen, dann haben wir wenigstens was davon.«
Es passierte, als er gerade in eine Flanke hineinlief, die Matz ihm so zugespielt hatte, dass er sie rechts an der Abwehrmauer vorbei ins Tor dreschen konnte. Das Manöver war alles andere als brillant, aber trotzdem ging er davon aus, dass er den Ball ins Netz bekommen würde. Die Abwehr klebte viel zu eng aneinander und ließ den Torwart im Regen stehen...
Sein Bein schnellte nach vorne, und er spürte den Ball auf dem Fuß, als etwas sehr Merkwürdiges geschah. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das bizarre Gefühl, durch den Ball hindurchzutreten. Dann merkte er, wie seine Fußspitze nach oben abrutschte.
Der eigene Schwung ließ ihn nach vorn stolpern. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, konnte er nur noch fassungslos zusehen, wie der Ball kraftlos auf das Tor zukullerte. Ben, der Keeper, musste sich nicht mal beeilen, um ihn mit dem Fuß abzustoppen. Er eierte im Zeitlupentempo auf den Ball zu, in der Haltung eines Orang-Utans.
Lockes rechter Fuß fühlte sich ausgesprochen seltsam an. Er schielte nach unten auf seine alten, gammligen Fußballschuhe. Der linke sah noch halbwegs vertretbar aus, obwohl sich einige der Nähte gelöst hatten.
Ganz im Gegensatz zum rechten, dessen Oberleder vorne an der Spitze aufgeplatzt war, sodass er seinen Socken sehen konnte. Er hob den Fuß, worauf die Sohle nach unten klappte wie der Kiefer eines Krokodils. Es sah wirklich zu albern aus.
Locke verzog wütend den Mund, als er das Gelächter der anderen hörte.
»Wir haben ja immer ein Maskottchen gesucht!«, brüllte Andy über den Platz. »Warum nehmen wir nicht Lockes Pöhler? Los, abstimmen – wer ist noch dafür!«
Einige Arme schossen in die Höhe, und Locke brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, wer auf Andys Seite war. Sicher nicht Matz, und auch nicht unbedingt Oliver, der zwar gerne herumalberte, dabei aber fair blieb. Dennis, Alexander und die beiden Koslowski-Brüder gehörten gewiss auch nicht zu Andys Fanclub, aber das war es dann auch schon. Geschlossen für Andy waren natürlich die Beckham-Angeber, die Jungs in den Trikots von Real.
Plötzlich ertönte eine spöttische Stimme vom Rand des Spielfeldes. Es war Andys Vater, der wie so oft beim Training zusah, ob sein Sohn weitere Fortschritte machte und nach Möglichkeit die eine oder andere Aktion von ihm laut kommentierte, nicht immer qualifiziert. So auch heute. »Nur als Maskottchenlieferant ist der Locke besser als mein Sohn!«, tönte es über den Platz.
»So, jetzt reicht’s!«, rief Willy, den der Zwischenruf ärgerte, in das Gegacker und Gekicher hinein. »Wir haben noch viel zu tun. Los, los!« Er klatschte laut in die Hände. »Patrick, du hast doch Ersatzschuhe dabei, oder?«
Willy hatte sich bereits wieder umgedreht, weil er offenbar gar nicht damit rechnete, dass es eine andere Antwort geben könnte als »Ja«.
Klar, du Trollo, dachte Locke wütend. Ich habe zu Hause ein ganzes Regal mit Fußballschuhen. Alle Marken, alle Farben.
Was durchaus einen wahren Kern hatte. Zwar standen seine Teile nicht in einem Regal, sondern im Schuhschrank in der Diele – und es waren bestimmt zwölf Paar -, aber die meisten davon waren ihm längst zu klein.
Im letzten Jahr war er ein ganzes Stück in die Höhe geschossen, wobei manche Körperteile mehr abbekommen hatten als andere. Vor allem die Füße! Sandra, seine Mutter, hatte ihm innerhalb weniger Monate zweimal neue Schuhe kaufen müssen – nicht nur Fußballschuhe, sondern auch Turnschuhe für draußen und für die Halle und am Ende auch noch Winterstiefel. Die letzten, noch fast neuen Fußballteile standen immer noch im Schrank, ordentlich in der Reihe neben ihren noch kleineren Vorgängern, als ob Sandra heimlich die Hoffnung hegte, dass seine Füße eines Tages wieder auf mysteriöse Weise schrumpfen würden.
Da blieben jetzt nur die üblichen Turnschuhe. Während er zum Rand des Spielfelds zu seiner Tasche lief, hörte er Sandras Stimme in seinem Kopf, so klar und deutlich, dass er ihr schmales, von dichten schwarzen Haaren eingerahmtes Gesicht deutlich vor sich hatte.
»Tut mir Leid, Patrick«, hatte sie erst vor ein paar Tagen gesagt. »Es ist momentan einfach nicht drin. Vielleicht in ein bis zwei Monaten, aber nicht jetzt...«
Als er seine Turnschuhe zuband, überlegte er kurz, ob er die abgelatschten, gecrashten Pöhler nicht einfach in den Mülleimer der Trainerloge stopfen sollte, die nur wenige Schritte von ihm entfernt lag.
Nee, entschied er sich dann. Ich nehme sie mit nach Hause, sozusagen als Beweis. Jetzt muss es neue geben!
Wie immer dienstags nach dem Training ging Locke zum Probenraum seiner Band. Der Raum befand sich im Keller des katholischen Pfarrzentrums, das praktisch auf Lockes Heimweg vom Stadion lag. Er stellte sein Bike im Fahrradständer ab und nahm den Gigbag mit dem Bass vom Rücken.
Heute freute er sich besonders auf die Probe, was wohl zum Teil daran lag, dass er immer noch sauer war wegen der Sachen beim Training. Erst das mit dem Seitenstechen, dann die Predigt von Willy – und schließlich die Blamage mit den Schuhen. Er hatte immer noch das höhnische Gelächter von Andy und seiner Clique im Ohr.
Noch so’n Ding und die können sich einen neuen Kapitän suchen, dachte er wütend, während er durch den knallblau gestrichenen Kellergang lief.
Für diese Spielsaison sah er ohnehin schwarz. Im Verlauf des Jahres waren mit Pierre, Alex und Tony drei gute Spieler aus der U16 ausgetreten, weil sie keine Lust mehr hatten, es gab ja noch genügend andere Dinge, die man machen konnte. Zum Beispiel in die Disko gehen, das war seit einigen Monaten das angesagte Ding.
Es gab genug Jugendzentren in der Stadt, in denen Bohlen und die anderen Superstars liefen. Matz und Locke waren auch ein paarmal mitgegangen, aber da ihnen der seichte Sound dort nicht gefiel, war das nicht zu einer Dauereinrichtung geworden. Sie standen auf Bands wie Santana, Bon Jovie und Metallica. Und das spielten sie auch in ihrer Gruppe, den Kicking Devils.
Locke lief auf die grün lackierte Stahltür zu, auf der zwei bunte Computerausdrucke mit Klebeband befestigt waren. Einer davon zeigte das bunte Logo der Kicking Devils. Matz, der super zeichnen konnte, hatte sich bei diesem Logo selbst übertroffen. Die roten Teufelsköpfe auf dem metallenen Hintergrund schienen einem wirklich ins Gesicht zu springen.
Der andere Aufkleber trug nur einen Schriftzug aus altertümlichen Buchstaben im Metallic-Effekt: Rainbow Warriors. Das war der Name von Kevin Spiekers Heavy-Metal-Truppe, mit der sie sich fast ein Jahr lang den Probenraum geteilt hatten, bis sich die Band was anderes suchte. Kevin war schon vierundzwanzig und ein Star in der Stadt, seine Fans küssten ihm geradezu die Füße.
Doch Locke fand, dass Kevin die Beweihräucherungen seiner Anhänger mächtig zu Kopf gestiegen waren. Kevin hatte sich innerhalb der zwei Jahre, die Locke ihn kannte, von einer halbwegs netten Dumpfbacke zu einem unerträglichen, aufgeblasenen Mega-Ekel entwickelt. Was nichts daran änderte, dass die meisten ihn als so eine Art Gitarrengott anhimmelten.
Locke hielt ihn für einen Blender, der wahnsinnig was von sich hermachte, aber nicht wirklich gut spielte. Matz hatte vor einiger Zeit bei ihm Unterricht genommen und schien Kevins Selbsteinschätzung zumindest gelegentlich zu teilen, was Locke ziemlich auf die Nerven ging. In ein paar Jahren würde Matz um Klassen besser sein als Kevin, davon war er überzeugt.
Was nichts daran änderte, dass vor allem die Mädchen voll auf Kevin abfuhren, und das konnte Locke wirklich nicht nachvollziehen. Aus der Oberstufe sowieso. Aber sogar einige aus seiner Klasse.
Ob Eva auch...? Nee, bestimmt nicht. Glaube ich nicht.
Überhaupt Eva. Die nicht das Zimmer voll hatte mit Bildern von Alexander aus der RTL-Castingshow und den Pseudoschauspielern aus GZSZ, wie die meisten anderen Mädchen. Bei ihr hingen Poster von Be Three und von Jennifer Lopez an der Wand – und dazu eines von Bayern München und seinem Star Michael Ballack, Letzterer in Lebensgröße. Damit wurde Eva für die Fußball spielenden Jungs aus der Band gleich noch einmal so interessant wie die anderen Mädchen in der Klasse. Locke fand Eva ziemlich cool, sie gefiel ihm echt gut. – Was auch so geblieben war, seit er und Matz sie gelegentlich mitnahmen zu ihren Bike-Touren in der Umgebung oder das Bergerfeld hoch bis in die Gegend, wo sie wohnte.
Eva kam nicht aus den Mietshaussiedlungen nahe dem Zentrum der Stadt wie die meisten anderen Schüler, sondern aus dem schicken Viertel der Vorstadt, wo es nur einzeln stehende Einfamilienhäuser gab mit Garten und Garage. Dr. Dahl, ihr Vater, war eben Zahnarzt und musste nicht zu Hause sitzen, und ihre Mutter musste nicht mitverdienen, damit sie über die Runden kamen. Locke nahm sich vor, sie bei Gelegenheit einmal nach Kevin zu fragen. Nur sicherheitshalber, eigentlich glaubte er nicht daran, dass auch sie ihn anhimmelte. Eva interessierte sich außer für die aktuelle Szene nur noch für Zauberkram, so Räucherstäbchen, Amulette und Kerzen. Angeblich stand eine Menge solch Zeugs auch in ihrem Zimmer – wobei ihre Vorliebe für schwarze Klamotten schon deutlich genug machte, dass sie es ein bisschen mit den Hexen hielt.
Als er die Tür öffnete und den Probenraum betrat, sah er Lukas Kelter, den Pfarrer und gleichzeitig Cheftrainer der U16 von Blau-Weiß Gelsenkirchen. Er stand über einen altertümlich wirkenden Verstärker gebeugt und nickte ihm kurz zu, als er Hallo sagte. Kelter war alles andere als ein typischer Pfarrer, er war groß, trug die Haare ziemlich lang und war durchtrainiert wie ein Profiboxer. Seine fünfundvierzig Jahre sah man ihm nicht an.
»Du – gib mir mal bitte den Schraubenzieher«, sagte Kelter zu Matz, der neben der Werkzeugkiste auf dem Boden hockte.
»Den gelben?«
»Ja. Der müsste passen.«
»Ist das Teil wieder hinzukriegen?«, fragte Matz und sah dabei den alten Gesangsverstärker zweifelnd an. »Das Ding ist doch sicher schon an die zwanzig Jahre alt.«
»Mehr als zwanzig«, meinte Kelter, während er den Netzstecker aufschraubte. »Ist wahrscheinlich ein Draht lose, deshalb ist auch vorhin die Sicherung rausgeflogen. Ein Kurzschluss, mehr nicht.«
»Mehr als zwanzig Jahre!« Matz sah zu Locke und verdrehte die Augen. »Fast Vorkriegsmodell, was?«
»Eben nur fast. Ich hab ihn in den Achtzigern gekauft, gebraucht, für fünfzig Mark«, erklärte Kelter. »Hat ganz schön an unserer Bandkasse gezehrt, das sage ich euch. Aber er hat sich mehr als bezahlt gemacht in den Jahren.«
Die Kicking Devils wussten, dass Lukas Kelter in frühen Jugendjahren einmal Chef einer Band gewesen war. Er ließ es sich gefallen, dass sie ihn ab und zu ein bisschen damit aufzogen. So in der Art: einst Bandleader und eisenharte Töne, jetzt Pfarrer und Halleluja-Klänge... Manchmal griff er auch heute noch zur Gitarre und legte ein exaktes Solo von irgendeinem aktuellen Stück hin.
»Waren Sie auch Seelsorger in Ihrer Band?«, fragte Matz. Er grinste.
»Nein. Nur Gitarrist.« Kelter lachte auf.
»Was haben Sie denn eigentlich so gespielt damals?«, fragte Locke neugierig. »Doch nicht Metal oder so?«
»Nein, eher so eine Art Krautrock«, erklärte der Pfarrer und hielt den Stecker hoch. »Seht ihr, alles total verschmort. Ab in die Mülltonne damit.«
»Sieht aber gar nicht so schlimm aus«, meinte Matz. »Mein Vater sagt immer, so was muss man nicht wegschmei ßen. Der kriegt alles wieder hin!«
»Nein«, erwiderte der Pfarrer entschlossen. »Das ist lebensgefährlich, der Stecker gehört in die Tonne – oder besser gesagt in den Sondermüll. Matz, guck mal in die Kiste, ganz unten. Da müsste noch ein neuer sein.«
»Krautrock...« Matz kramte in der Kiste herum, bis er den Stecker fand. »Was ist denn das für eine Richtung?«
»Rock von hier eben.« Der Pfarrer zuckte seine Achseln. »Mit englischen Texten.«
»Und wieso Kraut?«
Kelter lachte. »Das war so eine Art Schimpfwort, das die Engländer erfunden haben. Weil wir uns angeblich nur von Sauerkraut ernähren.«
Locke verzog das Gesicht, er mochte kein Sauerkraut. »Gibt es noch Aufnahmen davon?«, fragte er.
»Aufnahmen?« Kelter runzelte zerstreut die Stirn. »Ach, von meiner Band, meinst du? Ja, ich habe irgendwo noch einige Tonbänder davon. Ihr wisst schon, richtige Tonbänder auf großen Spulen.«
»Wow!« Matz war echt beeindruckt. »Mein Onkel Irfan hat so ein Ding. Staubt aber bei ihm ein, ist ihm einfach zu unbequem mit der ganzen Fummelei.«
»Das war damals der Stand der Technik«, sagte Kelter und zuckte die Schultern. »Saitenschneider, bitte!«
Matz kramte wieder in der Kiste herum, bis er das Werkzeug gefunden hatte.
»Irfan, hast du eben gesagt?«, fragte Kelter plötzlich. »Hat man dich nach ihm benannt?«
Matz hob den Kopf und wirkte ziemlich unglücklich. »Ja«, gab er zu. »Mein Onkel hat meinem Vater geholfen, als er ein paar Jahre nach ihm hier rüber kam. Irfan Hischam.«
»Der Name gefällt dir aber nicht, was?«
»Nee.«
»Frauen können auch so heißen«, verriet Locke.
»Irfan oder Hischam?«
»Irfan«, antwortete Matz mit eisiger Miene.
»Aha. Man lernt nie aus! Na, ich würde mir da nicht so viel draus machen, wenn ich an deiner Stelle wäre«, sagte Kelter freundlich.
»Hach!«, machte Matz. »Ich hasse diesen Namen, echt! Megapeinlich, das Ganze.«
»Vielleicht lassen wir lieber das Thema«, schlug Locke grinsend vor. »Er kann sich über seinen Namen stundenlang aufregen, mit wachsender Begeisterung!«
Kelter nickte. »Okay. Machen wir weiter.«
Locke betrachtete die hässliche goldfarbene Frontplatte des alten Verstärkers, auf der ungefähr zwei Dutzend Knöpfe und Schalter, Buchsen und Leuchten zu sehen waren. – Weit weniger übrigens als an dem Gesangsverstärker, den sich Kevin Spieker gerade neu gekauft hatte. Ein Teil, an dem es mehr zu schalten und zu verstellen gab als im Cockpit eines Flugzeugs. Kevin selbst war gar nicht clever genug, um das Ding richtig bedienen zu können, und selbst Matz, der technisch echt was draufhatte, musste erst ein halbes Wochenende mit der Bedienungsanleitung verbringen, bevor er da halbwegs durchblickte. Allerdings schwärmte Matz von den neuen Soundeffekten, die das Gerät konnte und mit denen Kevins Stimme angeblich sensationell zur Geltung kam.
»So, am besten geht ihr in Deckung«, sagte Kelter. »Ich schalte das alte Monster jetzt ein. Achtung, Godzilla erwacht!«
Er drückte einen Kippschalter nach oben, während sich Matz die Finger in die Ohren steckte.
Nach einigen Sekunden war ein sanftes Brummen zu hören, das allmählich lauter wurde und dann wieder abschwoll. Pfarrer Kelter nickte zufrieden.
»Die Potis knistern ein wenig, wenn man sie dreht«, kommentierte er.
»Da hilft Kontaktspray«, erklärte Matz.
»Na klar, das hilft immer. Vielleicht solltest du das Zeugs mal in die Disko mitnehmen«, bemerkte Locke grinsend.
»Haha.«
»Matz, stöpselst du bitte mal ein Mikrofon ein, hier in diese Buchse?«, bat Kelter.
»Kommt sofort.« Matz sprang auf und holte sein Gesangsmikro.
»Test, Test!« Kelter drehte an den Knöpfen herum, bis es laut zu fiepsen begann. Er drehte die Lautstärke rasch wieder zurück und stieß erleichtert die Luft aus.
»Ich hatte ja meine Zweifel! Aber ihr seht, der Kasten tut es noch. Also, ich erkläre euch jetzt kurz, wie ihr damit umgehen müsst.«
Eine knappe Viertelstunde später verabschiedete sich der Pfarrer. Locke und Matz begannen, ihre Instrumente zu stimmen. Kurz darauf trudelte Ben ein, der Schlagzeuger der Band und ebenfalls Kicker bei der U16. Auf seinem braunen Gesicht lag ein entschuldigendes Lächeln. Soweit man das als Lächeln bezeichnen konnte. Er kam eine satte Stunde zu spät, weil er noch beim Zahnarzt gewesen war. Deshalb hatte er auch das Training heute sausen lassen müssen. – Der vierte Mann der Devils