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Locke hält seine Fans in Atem!
Für Locke erfüllt sich sein größter Traum: Er darf zum Sichtungslehrgang der U15-Nationalmannschaft! Dort trifft er auf seinen härtesten Konkurrenten Björn, der mit fiesen Tricks versucht, Locke aus der Mannschaft zu kicken. Und tatsächlich: Locke wird für das heiß ersehnte Länderspiel gegen Portugal nicht nominiert! Jetzt stürmt Locke so richtig los – und bekommt eine zweite Chance!
• Spannendes Fußball-Abenteuer rund um die Jugendnationalmannschaft
• Ulli Potofski ist einer der renommiertesten Sportreporter im deutschen Fernsehen
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Seitenzahl: 290
Ulli Potofski
Locke stürmt los
DER AUTOR
Ulli Potofski begann seine Medienlaufbahn 1974 als Radio Diskjockey bei RTL.
1988 bekommt er als beliebtester Moderator im Privatfernsehen ein Bambi vom Burda Verlag verliehen. Er hat unzählige Sportsendungen moderiert und inzwischen auch eine eigene Unterhaltungssendung konzipiert, die er selbst moderiert.
Vom Autor ist außerdem bei Omnibus erschienen:
Locke bleibt am Ball (21640)
OMNIBUS
ist der Taschenbuchverlag für Kinder
Verlagsgruppe Random House
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg
www.kreutzfeldt.de
Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Erstmals als OMNIBUS Taschenbuch März 2008
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2006 cbj, München
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch OMNIBUS, München.
Lektorat: Burkhard Heiland
ISBN 978-3-641-01362-2
www.omnibus-verlag.de
Um den Wohnzimmertisch der Familie Schubert saßen zwei Jungen und ein Mädchen, dicht über einen Stapel Fotos und Zeitungsausschnitte gebeugt. Ab und zu griff einer der drei wie geistesabwesend in die Tüte mit Kartoffelchips vor ihnen, schob sich ein paar davon in den Mund, um gleich anschließend wieder auf eine der bunten Fotografien zu zeigen, über irgendetwas loszulachen oder ein paar Sätze aus den Zeitungsartikeln vorzulesen. Draußen regnete es, der Wind klatschte dicke Tropfen an die Fensterscheiben, ganze Sturzbäche schienen heute aus den Wolken zu fallen. Doch die drei achteten nicht darauf, ihr Interesse galt voll und ganz dem, was da vor ihnen auf dem Tisch lag.
Eva, Locke und Matz hatten sich bei Schuberts – Lockes Eltern – getroffen, um sich noch einmal zurückzuversetzen in den gemeinsamen Ausflug nach Newcastle in England. Der heutige Tag mit seinem üblen Wetter war genau der richtige für eine solche Beschäftigung. Die Ereignisse in England lagen erst einige Monate zurück – aber den drei Freunden kam es vor, als ob Jahre vergangen wären. Beim Betrachten der Fotos allerdings wurde die Erinnerung schnell wieder wach. Eva prustete laut los, als sie das Foto nach dem entscheidenden Tor von Matz hochhielt, zu dem Locke geniale Vorarbeit geleistet hatte. »Schaut euch das an, ein Topspieler wie Patrick« – Lockes tatsächlicher Name – »in Socken auf dem Fußballplatz.«
Immer noch war allen unerklärlich, was da eigentlich beim 4:3-Sieg in England passiert war. Locke hatte in der zweiten Halbzeit nach einem 0:3-Rückstand mit den legendären Schuhen von Stan Libuda weitergespielt. Diese Schuhe hätten eigentlich bei Max, dem alten Schuster, liegen müssen, um repariert zu werden. Trainer Kelter hatte sie Locke dann in der Umkleidekabine überraschend in die Hand gedrückt – und ihn überredet, die zweiten 45 Minuten mit diesen Schuhen eines Exnationalspielers anzugehen.
Und dann kam eine unglaubliche Leistungssteigerung von Blau-Weiß Gelsenkirchen! Locke hatte drei sensationelle Tore geschossen – und seinem besten Freund Matz in der letzten Minute den Ball so vorgelegt, dass der das Leder nur noch zum 4:3-Sieg eindrücken musste. Tja, und dann... hatten sich die alten Schuhe in Nichts aufgelöst – und Locke stand nur noch in Socken auf dem Platz.
Matz schaute sich das Bild nochmals aus der Nähe an. »Es ist nicht zu fassen! Ich kann es immer noch nicht begreifen – nichts, aber auch nichts mehr von den alten Latschen zu sehen, nur noch deine komischen grauen Strümpfe. Was ist da bloß passiert? Irgendwie ein Fall für Harry Potter! Und du hast wirklich nichts an den Füßen gespürt, Locke?«
Die Antwort des Helden von Newcastle – so hatten ihn einige Zeitungen genannt – fiel knapp aus: »Es machte irgendwie nur wisch-wasch-wusch und schon waren diese merkwürdigen Schuhe verschwunden.«
Eva bohrte nach. »Aber du hast doch auch von diesem Zettel aus Packpapier gesprochen – was stand da noch mal drauf?«
»Irgendwas von: ›Für drei, höchsten vier... sind sie noch gut... dann fallen diese Schuhe auseinander. Gruß Max – der alte Schuster.‹ Ich ärgere mich, dass ich damals den Zettel zerknüllt und weggeworfen habe. Vielleicht hätten wir doch etwas mehr über die Schuhe herausfinden können. Womöglich stand ja noch was auf der Rückseite...«
Matz hatte dazu nur einen bösen Spruch auf Lager: »Du hättest Verbrecher werden sollen – im Vernichten von Beweisen bist du ganz, ganz groß!« Fragen konnte man Max, den alten Schuster, nicht mehr, denn er war kurz vor dem bewussten Spiel in England gestorben.
Das nächste Foto, das Locke in die Hand nahm, wollte er eigentlich schnell wieder verschwinden lassen, denn es zeigte ihn und Eva Hand in Hand bei der Siegesfeier in Newcastle. Und richtig: Matz hatte natürlich wieder einen flotten Spruch auf Lager: »Da begann das junge Glück«, flötete er, »ach wie süß!«
Genau mit so einem dämlichen Satz hatte Locke gerechnet und konterte: »Was verstehen Kinder wie du schon von der Liebe.«
Eva musste lachen und fuhr mit der Hand durch Lockes Haar. »Hört auf, ihr zwei, wir sollten jetzt noch gemeinsam was trinken – und dann muss ich nach Hause. Es wird Zeit...« Sie blickte zum Fenster hinüber. Der Regen hatte endlich nachgelassen.
Eva war wieder einmal die Vernünftige und Kluge. Locke sah sie an. Seit den Erlebnissen von Newcastle war sie bestimmt nochmals um zehn Zentimeter gewachsen – ihre roten Haare wohl auch um etwa diese Länge –, und insgesamt musste man auch als Fußballer zugeben, dass sie einfach klasse aussah. Mit ihren nun fünfzehn Jahren war sie die fast perfekte Braut. Locke, knapp drei Monate älter als sie, hatte einen noch größeren Sprung gemacht – mit gut Einmeterachtzig überragte er sie um mehr als eine Handbreit. Was für ihn aber viel wichtiger war: Bei dieser Größe war er ein idealer Kopfballspieler! Matz dagegen hatte irgendwie die Einsfünfundsechzig nicht überspringen können, was ihn nervte – denn überall wurde er nur »der Kleine« genannt. Und er wirkte auch eher wie dreizehn; dabei war er genauso alt wie Eva und Locke...
Die Freunde verabschiedeten sich. Matz ging nicht ohne einen letzten Griff in die Kartoffelchipstüte auf dem Tisch und verließ mampfend das Schubert’sche Wohnzimmer. Eva durfte nicht gehen, ohne Locke einen Kuss auf die Wange zu geben – was sie auch tat!
Eigentlich war in Lockes Leben seit seinem super Spiel in England alles ganz normal gelaufen – er war zum Training gegangen, hatte weiterhin bei den KICKING DEVILS Gitarre gespielt, sich mit seinen Freunden getroffen und versucht, in der Schule Schritt zu halten. Doch eines Tages hatte der Postbote etwas ganz Besonderes in den Kasten gesteckt, ein Schreiben, das Lockes Tagesablauf völlig veränderte. Auf einen Schlag!
Locke war aus der Schule gekommen, und sein Vater – der seit einem Schlaganfall immer zu Hause bleiben musste – kam ihm schon im Flur in seinem Rollstuhl entgegen. Markus Schubert hielt ein sehr amtlich aussehendes Kuvert in seinen Händen. »Hier, Patrick, für dich«, sagte er aufgeregt, »ein Brief vom Deutschen Fußball-Bund in Frankfurt! Ich konnte gar nicht erwarten, dass du nach Hause kommst – da steht bestimmt etwas sehr Spannendes drin.«
Locke schaute erstaunt, so kannte er seinen Vater nicht, der war ja neugieriger als er selbst. Er nahm den Brief und schaute zunächst auf die Adresse. Tatsächlich, da stand PATRICK SCHUBERT, OVERHOFSTRASSE 8, 45656 GELSENKIRCHEN. Ein dickes PERSÖNLICH war noch zusätzlich aufgeklebt. Das klang sehr erwachsen und sehr geheimnisvoll – einen solchen Brief hatte er noch nie bekommen. Etwas unentschlossen starrte Locke darauf.
Markus Schubert drängte seinen Sohn. »Nun mach schon!«, sagte er aufgeregt. »Lass sehen, was die von dir wollen – persönlich...!«
Locke tat zunächst ultracool. »Vielleicht bekomme ich eine Sperre aufgebrummt – wegen meiner Beleidigung gegenüber dem Schiedsrichter von letzter Woche«, meinte er und legte den Briefumschlag zur Seite. Locke hatte tatsächlich einen Schiedsrichter bei einem Meisterschaftsspiel mit den Worten: »Du pfeifst, wie Dieter Bohlen singt!«, dazu gebracht, ihm eine rote Karte zu zeigen. Da half es auch nicht mehr, dass er es wieder gutzumachen versuchte. Seine Entschuldigung: »Ich bin aber ein großer Fan von Bohlen«, hatte der Schiedsrichter nur mit einem Lächeln quittiert und mit dem Satz: »Deine Sperre müsste wegen dieser Lüge eigentlich extra lang ausfallen.«
»Mach den Brief auf und rede keinen Blödsinn«, antwortete Markus, »als ob der DFB jetzt schon Jugendspielern wegen eines so harmlosen Vergehens Post schicken würde – also los! Guck endlich, was drinsteht!«
Locke dachte gar nicht daran. Immer wenn seine Eltern etwas erzwingen wollten, wurde er bockig. »Jetzt lass mich doch in Ruhe, Dad«, sagte er, »du wirst noch früh genug hören, was mit dem blöden Brief ist. Ich werd erst mal schön was essen und trinken – und meiner Familie dann vielleicht meine Berufung zum Nationalspieler mitteilen.« Er sprach’s, grinste, schlurfte zum Kühlschrank und griff sich eine Flasche Milch aus dem Türfach.
Lockes Vater war leicht verärgert. Aber natürlich kannte er seinen Sohn gut genug, um zu wissen: Jetzt geht nichts. Also fuhr er mit dem Rollstuhl um den Tisch herum und wartete darauf, dass Locke sich ein Brot machte.
Es wurde kein Brot, sondern eine Stulle unglaublichen Ausmaßes. Eine Art Hochhaus der Sandwichs. Brot, Butter, Gurke, Tomate, Speck, Käse, Salami, gekochtes Ei, ein Blatt Salat, eine Peperoni, etwas Majonäse, ein Spritzer Ketschup und nochmals eine Scheibe Brot. Höhe dieser Konstruktion etwa fünfundzwanzig Zentimeter. Locke griff zu Messer und Gabel und bugsierte das Ganze auf einen Teller. Wenn er versucht hätte, einfach so in dieses Meisterwerk der Kochkunst zu beißen – er hätte sich eine Maulsperre für mindestens eine Woche zugezogen. Er setzte sich zu seinem Vater, lächelte ihn schief an und sagte: »Sorry, war nicht so gemeint eben...«
Lockes Vater nickte nur kurz und murmelte zurück: »Ist schon okay.«
Die zwei Männer im Haushalt Schubert verstanden sich eigentlich blind – aber gelegentlich kommt es nun mal zu Missverständnissen zwischen Vater und Sohn. Locke erzählte also zunächst von seinem Schultag. Der übliche Ärger. Sein Klassenlehrer Bertram Bölter hatte heute im Mathematikunterricht wieder einmal an seinen Fähigkeiten generell gezweifelt. Dabei gab sich Locke doch immer viel Mühe. Er paukte all die Gleichungen nach bestem Wissen und Gewissen, aber so recht war dieses Fach nicht seine Welt – und würde es wohl niemals werden. Besser funktionierte es in einigen anderen Fächern, vor allem in Deutsch. Patrick schrieb die besten Aufsätze der ganzen Klasse.
Eva half ihm in Sachen Mathe, wann immer es ging – auch während des Unterrichts; aber sie saß drei Reihen von Locke entfernt, und bis die Ergebnisse bei ihm angekommen waren, musste man ganz schön an Bölter vorbeitricksen. Und außerdem: Nicht so überzeugend, diese Methode, um in Mathematik eine bessere Note zu bekommen. Zu allem Überfluss war Matz – Lockes bester Kumpel, aus der Türkei stammend – eigentlich in allen Fächern nicht besonders gut, außer natürlich in Sport. Also versorgte Locke ihn hier und da mit kleinen Hilfeleistungen, und bei den Deutschaufsätzen verfasste er sogar eine zweite Version für ihn, so auch wieder vorige Woche... Das Schulleben war also wie immer alles andere als einfach. Lediglich beim Sportunterricht lief es optimal, jedenfalls solange Sportlehrer Gottfried Klamm Fußball spielen ließ; beim Turnen hatten fast alle Fußballer so ihre Probleme. Zum Glück war Klamm jedoch ein ausgesprochener Fußballfreak und so bestand der Sportunterricht fast zu neunzig Prozent aus den berühmten zwei mal 45 Minuten. Und Klamm spielte generell auch mit! Allerdings achtete der Lehrer streng darauf, dass er stets in der Mannschaft war, die wohl die besten Spieler vereinte. Klamm wollte immer gewinnen. Lehrer müssen wohl so sein.
»Alles wird gut – und Professor möchte ich sowieso nicht werden...«, beendete Patrick seinen Bericht vom heutigen Schultag; einfach und hoffnungsvoll.
Markus Schubert erwiderte nur knapp: »Eine vernünftige Schulbildung hat noch keinem geschadet, und es soll sogar schon Leute mit Abitur gegeben haben in der Nationalmannschaft.«
Das war ein gutes Stichwort. Patrick angelte sich den Brief vom DFB.
Er las nochmals die Anschrift und murmelte mehr für sich: »Dann wollen wir doch mal lesen, was der Klinsmann von mir will.« Er riss das Schreiben langsam und sorgfältig auf. Vater Schubert saß gespannt daneben. Er starrte förmlich auf die Hände von Locke – aber er sagte nicht ein einziges Wort.
Patrick faltete den Brief fast aufreizend langsam auf. Dann las er Wort für Wort, beinahe im Zeitlupentempo. Nach etwa einer Minute und dreißig Sekunden konnte Markus Schubert einen Gesichtsausdruck bei seinem Sohn registrieren, den er noch nie bei ihm wahrgenommen hatte. Der Junge strahlte wie ein Millionengewinner bei »Wer wird Millionär?«, der RTL-Quizshow mit Günther Jauch. Nun wurde Lockes Vater doch wieder sehr neugierig. »Junge, was ist passiert?«, fragte er. »Was steht denn in dem Zauberbrief?«
Und Locke begann vorzulesen, in einer unglaublichen Lautstärke!
Lieber Patrick Schubert,
wir freuen uns, dir mitteilen zu können, dass unser Trainer für die deutsche Schüler-Nationalmannschaft, Detlef Stettler, dich in das vorläufige Aufgebot für das U15-Länderspiel gegen Portugal am 22. Mai in Bochum berufen hat. Zu diesem Aufgebot gehören fünfundzwanzig Spieler.
Wir treffen uns eine Woche vor dem Spiel in der Sportschule in Duisburg-Wedau. Der Kader wird am 20. Mai auf achtzehn Mitglieder reduziert. Alle schulischen Dinge werden wir mit deinem Schulleiter in Gelsenkirchen absprechen. Selbstverständlich erhalten die Auswahlspieler des DFB während ihres Aufenthaltes in der Sportschule auch einen normalen Schulunterricht.
Der Nachmittag und der Abend in Duisburg werden aber komplett mit Fußball bestritten!
Bitte finde dich am 15. Mai um sieben Uhr dreißig in der Sportschule in Wedau ein. Alle entstehenden Kosten übernimmt selbstverständlich der DFB. Bitte informiere auch entsprechend deine Eltern.
Mit freundlichen Grüßen
Günther Thielen
DFB Jugendfußball
Was jetzt in der Overhofstraße 8 in Gelsenkirchen passierte, spottete jeder Beschreibung.
Vater und Sohn Schubert flippten komplett aus. Locke schob den Rollstuhl seines Vaters durch die Wohnung, als sei es ein Ferrari von Michael Schumacher. Vater Locke sang dazu aus voller Brust: »Mit meinem Sohn Locke schlagen wir Portugal...!«, frei nach der Melodie von »Ohne Holland fahr’n wir zur WM!« Nach etwa fünf Minuten legte sich der spontane Taumel und die beiden saßen wieder am Küchentisch und freuten sich etwas leiser über diesen Brief. »Da wird Mutter aber Augen machen!« – Das war der erste halbwegs vernünftige Satz, den Locke wieder formulieren konnte.
Dr Brief war am 2. Mai bei den Schuberts eingetroffen. Dreizehn Tage galt es nun zu überstehen, bevor der große Augenblick Wahrheit werden würde. Die Zeit kroch dahin. Die Uhr tickte so langsam wie noch nie – und der Schulunterricht wurde zur größten Qual auf Erden. Wie sollte man sich auf Biologie, Erdkunde oder gar Mathematik konzentrieren können, wenn die Schüler-Nationalmannschaft auf einen wartete.
Auch Matz hatte natürlich euphorisch auf die Nachricht reagiert, ganz klar. »Mein Freund Locke wird Nationalspieler«, hatte er ausgerufen, »und ich gründe sofort den ersten internationalen Locke-Fanklub.« Und dann gab er Patrick den kostenlosen Rat: »Junge, wir sollten jetzt ab sofort einige Sondereinheiten auf dem Schürenkamp einlegen!«
Der Schürenkamp war der Heimatsportplatz von Blau- Weiß Gelsenkirchen. Ein Aschenplatz mit einem Container als Klubhaus und einer Flutlichtanlage, die langsam vor sich hin rostete. Das einzig Positive für Locke bestand darin, dass der Platz nur etwa sechshundert Meter von der Wohnung der Familie Schubert entfernt lag.
Lukas Kelter hatte als Vereinstrainer von Locke natürlich auch einen Brief vom DFB bekommen. Er freute sich riesig für Patrick – aber er hatte es schon geahnt, dass eine Berufung seines besten Stürmers für die Schüler-Nationalmannschaft bevorstand! Schließlich wusste er seit einer ganzen Zeit, dass Locke von einem Verbandstrainer beobachtet wurde. Doch er hatte seinem Talent Patrick Schubert nie davon erzählt, damit der nicht nervös oder – was noch schlimmer gewesen wäre – übermütig würde. Starallüren konnte Kelter in seiner Mannschaft überhaupt nicht gebrauchen. Zwar musste er sich eingestehen, dass Locke dazu eigentlich nicht neigte, aber er wollte ihn auch nicht »in Versuchung« bringen, wie er es für sich nannte. Jetzt galt es, Patrick für den Aufenthalt in der Sportschule vorzubereiten.
Für Kelter aber war das gar nicht so einfach, denn im »Hauptjob« war er Pfarrer in der Gemeinde St. Joseph im Gelsenkirchener Ortsteil Schalke, und da blieb wenig Gelegenheit, um auch noch extra Trainingseinheiten mit Locke einzulegen. Aber Kelter hatte einen Entschluss gefasst – es sollte eine faustdicke Überraschung für Patrick Schubert werden.
Eva am Telefon von dem sensationellen Brief erzählt hatte, klang sie zunächst wenig begeistert. Er hatte sich auf einen Jubelschrei eingestellt – aber sie quetschte nur heraus: »Dann hast du ja noch weniger Zeit!«
So kannte er Eva gar nicht – sonst hatte sie sich immer mit ihm gefreut über all seine Erfolge und jetzt diese Zurückhaltung... Locke versuchte, mit einem Spruch die Situation etwas zu entkrampfen. »Wenn Robbie Williams dein Freund wäre«, er grinste, »dann müsstest du auch damit leben, dass er immer auf Welttournee ist. Und außerdem sind in der Sportschule bekannterweise nur Jungen und keine Tänzerinnen untergebracht.«
Jetzt musste Eva doch lachen. »Bilde dir nur nicht ein, dass ich jemals eifersüchtig werden könnte«, sagte sie schon deutlich freundlicher, um dann noch hinzuzufügen: »Es ist nur so, dass ich zusammen mit dir am Wochenende einfach mal eine Disko von innen sehen möchte.«
»Wenn ich mein erstes Tor für Deutschland geschossen habe«, antwortete Locke feierlich, »lade ich dich ins Royal ein.« Das Royal war die angesagteste Diskothek in Gelsenkirchen. Die Dreizehn- bis Achtzehnjährigen trafen sich am frühen Samstagabend in dieser coolen Location. Eigentlich nicht das Ding von Locke – aber für Eva würde er demnächst bestimmt über seinen Schatten springen.
»Dann werden wir wohl die beiden Ersten sein, die im altersheimreifen Alter von fünfundzwanzig in dem Schuppen auftauchen«, fügte seine Freundin noch witzig hinzu – und damit war die Situation zunächst geklärt.
Sandra, Lockes Mutter, kam gerade von der Arbeit aus dem Bosporus-Grill, als er den Telefonhörer auflegte, und sie freute sich unendlich mit ihm über die Einladung zur Schüler-Nationalmannschaft. Aber wie Mütter nun einmal sind: Sie musste auch gleich einige Bedenken anmelden. »Hoffentlich leidet die Schule nicht darunter.« Und: »Nun hast du noch weniger Zeit für deine Eltern.« Patrick hatte aber alle Bedenken leicht zerstreuen können. Der DFB wollte ja während des Aufenthaltes in Duisburg den Unterricht nicht ausfallen lassen – und selbstverständlich würde er dafür sorgen, dass seine Eltern auch Karten für das Spiel in Bochum am 22. Mai bekämen. Für Locke war total klar, dass er am Ende des Trainings zum Kader für das Länderspiel gegen Portugal zählen würde.
Noch knapp zwei Wochen...
Wie immer Freitag nachmittags um vier trafen sich die Spieler von Blau-Weiß im Vereinsheim, um die Aufstellung für das nächste Spiel zu besprechen. »Spielersitzung« wurde dieses Treffen etwas hochtrabend genannt. Natürlich ging es meist locker ab, doch es gab auch ernsthafte Gesprächsgegenstände. Es begann grundsätzlich mit einer kurzen Ansprache von Cheftrainer Kelter; er nannte die Namen der elf Spieler sowie die der Ersatzleute, anschließend gab er eine kurze taktische Einweisung über den jeweiligen Gegner. Länger als eine gute halbe Stunde dauerte der ernsthafte Teil selten; danach spielte man noch etwas Tischtennis und es wurde rumgealbert.
Heute aber war alles ein ganz klein wenig anders – denn Kelter teilte den Jungs mit, dass ihr Mannschaftskamerad Patrick demnächst zur Schüler-Nationalmannschaft, genannt U15, stoßen würde. Alles brach daraufhin in Jubelgeheul aus. Jeder einzelne Spieler von Blau-Weiß haute Locke kräftig auf die Schulter, sodass sein Rücken förmlich brannte. Locke war froh, als sich der Trubel etwas legte.
Kelter erhob nun wieder die Stimme. »Jungs«, erklärte er feierlich, »das ist eine große Ehre für die ganze Mannschaft; deshalb sollten wir versuchen, unseren Freund Locke bestens vorbereitet nach Duisburg zu schicken. Er soll schließlich unseren Verein ehrenvoll vertreten.« Der Trainer machte eine kurze Pause und räusperte sich. »Ich habe mich aus diesem Grund entschlossen, einige Tage freizunehmen. Wir werden nach unserem Spiel am kommenden Sonntag gegen Grün-Weiß Heßler nicht – wie bisher – nur am Dienstag und Donnerstag trainieren, sondern auch am Mittwoch und am Freitag.« Ein zustimmendes Gemurmel setzte ein, und Matz rief vorlaut in die Runde: »Wir wollen Locke dann ja auch irgendwann einmal für viel Geld verkaufen...«
Kelter lachte. »Unsere Vereinskasse hätte das nötig«, antwortete er trocken, »aber jetzt gilt es zunächst, unseren Starstürmer für die Schüler-Nationalmannschaft tauglich zu machen.«
Die Überraschung war ihm voll gelungen. Locke sah seinen Trainer dankbar an. Toll, dass er sich so viel Zeit nahm, um ihn, Locke, auf seine Berufung richtig gut vorzubereiten.
Das Wochenende ging ziemlich normal vorbei. Den Samstag verbrachte Patrick mit seinen Eltern und am Nachmittag traf er sich mit Eva und Matz, diesmal in der Wohnung von Evas Eltern. In ihrem Zimmer hörten sie etwas Musik. »Green Day« hieß ihre jetzige Lieblingsband. Klarer Rock ohne Schnörkel. In allerbester Stimmung sangen alle drei den Refrain von »Boulevard of Broken Dreams« laut mit.
Locke beschlich wieder einmal das schlechte Gewissen, was ihre Band, die KICKING DEVILS, betraf. Er und Matz, die beiden Gitarristen, Ben als Schlagzeuger und Thomas an den Keyboards, hatten die Band vor zwei Jahren gegründet – und unter gelegentlicher Hilfestellung von Pfarrer Kelter, der nicht nur etwas von Fußball verstand, sondern auch über ein beachtliches musikalisches Talent verfügte, kamen sie bald auf einen grünen Zweig. Sie konnten sich hören lassen! Ein paarmal hatten sie auf Klassenfeten gespielt, als Einlage zwischen den laufenden Musiknummern von den CDs. Ein weiterer Höhepunkt war der Auftritt bei Evas Geburtstagsfeier gewesen. Doch schon seit der Vorbereitung auf das Spiel in England geriet die Band ein wenig in den Hintergrund und irgendwie hatten die vier Bandmitglieder auch danach nicht mehr regelmäßig geprobt...
Wenn Locke ehrlich zu sich selbst war, hatte es auch bei den letzten Zusammenkünften nicht so richtig rund geklungen. Man musste sich schon echt Sorgen machen um den jetzigen Stand, auf dem die Band sich befand. Locke hatte deshalb auch ein schlechtes Gewissen. Schließlich war er der Gründer der KICKING DEVILS und müsste eigentlich so etwas wie ihr Motor sein. – Allerdings hatte er längst eine super Idee, um der Sache wieder Schwung zu geben...
Auch heute, gerade eben, war ganz eindeutig Evas Stimme klar aus dem leidlichen Zweiklang der Jungs herauszuhören, die zu allem Leid auch noch mit dem Stimmbruch kämpften. Seine Freundin übertönte ihn und Matz ohne Mühe und ihre Stimme »hatte« etwas. So ein bisschen klang sie wie Katie Melua und dabei war aber auch noch etwas ganz Besonderes in ihrem Sound, irgendwie... Vielleicht – so Lockes heimlicher Gedanke auch an diesem Nachmittag – könnte Eva ja eine ideale Sängerin für ihre Band werden? Wenn man so in die Hitparaden schaute, dann musste man feststellen, dass Gruppen wie »Juli« oder »Silbermond« ein Mädchen als Star vorne auf der Bühne stehen hatten...
Nach der Musikstunde wurde so gegen halb fünf das Radio eingeschaltet, denn WDR 2 übertrug die Bundesligaspiele in einer spannenden Konferenzschaltung live – und diese Sendung war bei den Freunden echt Kult. Im Hause Schubert war kein Geld für ein Premiere-Abo vorhanden, und schließlich schärfte Radiohören eindeutig die Fantasie; später am Abend konnte man immer noch die bewegten Bilder in der ARD-Sportschau sehen.
Was man zunächst aber zu hören bekam, war alles andere als lustig – denn Manni Breuckmann, der WDR-Starreporter, meldete sich aus der Arena Auf Schalke und berichtete mit seiner markanten, sich fast überschlagenden Stimme über eine 1:0-Führung der Gäste aus Hamburg. »Mist«, meinte Matz, »wird wohl wieder nichts aus der Meisterschaft für Schalke 04. Ich lade schon mal ein für das Jahr 2008: Fünfzig Jahre keine Meisterschaft für Schalke 04! Wow, wird das eine tolle Fete...«
Tatsächlich war Schalke 04 im Jahr 1958 das letzte Mal deutscher Meister geworden; damals hatte die Mannschaft in Hannover – als es noch ein richtiges Endspiel um den Titel gab – 3:0 gegen den HSV gewonnen, gegen den man aktuell nun hinten lag. Die Laune sollte sich auch nach der Radioübertragung der Bundesligaspiele nicht bessern, denn Schalke hatte 1:2 verloren, und die Bayern gewannen im Olympiastadion gegen Borussia Mönchengladbach mit 2:0. Damit war einmal mehr klar, dass die Königsblauen auch in dieser Spielzeit nicht mehr die Meisterschaft gewinnen konnten.
Eva, Locke und Matz trennten sich schon gegen sieben Uhr – denn morgen trat ja die Schülerelf von Blau-Weiß gegen Grün-Weiß Heßler an, einen der weiteren Ortsvereine von Gelsenkirchen. Blau-Weiß lag in der Schülermeisterschaft derzeit auf Platz drei – mit fünf Punkten Rückstand auf Erle 08; da musste man gegen die Mannschaft von Heßler, die nur einen Punkt hinter Lockes Team stand, natürlich unbedingt gewinnen.
Nach der Sportschau nahm Locke deshalb nur noch das Abendessen mit seinen Eltern ein – und verzog sich gegen zehn auf sein Zimmer; er wollte früh schlafen, denn das Spiel gegen Heßler begann schon um elf Uhr. Mit gemischten Gefühlen legte sich Locke in sein Bett; einerseits freute er sich unheimlich auf die Schüler-Nationalmannschaft, aber andererseits war ihm klar, dass nun jedes Spiel bei Blau- Weiß schwerer werden würde. Zum Beispiel schon morgen! Es war logisch, dass seine künftigen Gegenspieler gegen ihn glänzen wollten.
Es war unglaublich, aber alle Spieler von Grün-Weiß wussten von der Berufung Patrick Schuberts in das vorläufige Aufgebot und dem Training in Duisburg-Wedau.
Beim Treffen der beiden Kontrahenten am nächsten Vormittag auf dem Schürenkamp hatte fast jeder Spieler einen lockeren Spruch für Locke auf Lager. Man spürte aber auch, dass einige Neider dabei waren. Zum Beispiel Innenverteidiger Martin Bartz von Grün-Weiß, ein ziemlich kantiger, unangenehmer Typ; er kam noch vor dem Anpfiff beim Warmmachen auf Patrick zu und meinte: »Wollte schon immer mal gegen ’nen Nationalspieler antreten – wenn du heute kein Tor machst, dann ruf ich mal beim DFB-Jugendtrainer an und mach ihm klar, dass du eigentlich eine Pfeife bist.« Darüber aber konnte Locke nur grinsen. Die gemischten Gefühle von gestern Abend waren vergessen. Jetzt war die allgemeine Aufmerksamkeit, die er bekam, fast noch eine zusätzliche Motivation für die bevorstehende Begegnung.
Natürlich wusste auch Schiedsrichter Karl Kröger von der Berufung des blau-weißen Stürmers. Und auch er konnte sich eine kleine Bemerkung nicht verkneifen.
»Kein Bonus für Nationalspieler, Herr Schubert – ich pfeife wie immer«, meinte er und schlug Locke auf die Schulter.
»Erwarte ich auch nicht, Herr Schiedsrichter«, erwiderte Patrick ernsthaft, »außerdem bin ich noch kein Nationalspieler, sondern erst mal nur ins Trainingslager eingeladen.«
Das Spiel war dann eine überraschend eindeutige Angelegenheit für Lockes Team. 3:0 gewann Blau-Weiß beinahe ohne Probleme. Locke war nicht unter den Torschützen – aber an allen drei Treffern beteiligt. Und selbst Bartz musste anerkennen: »Bist schon ein Guter, Locke – wünsche dir viel Glück in Duisburg!« Allerdings blieb ihm auch nichts anderes übrig, denn Patrick hatte ihm fast einen Knoten in die Beine gespielt.
Vater Schubert war wie fast immer von seiner Frau auf den Platz gerollt worden. Er lächelte zufrieden – und das war die höchste Form der Anerkennung für Locke.
In den nächsten Tagen versuchte er, alles unter einen Hut zu bekommen. Das zusätzliche Training, die verflixte Schule, seine Freundin Eva, seinen Kumpel Matz, seine Eltern – und mal wieder eine Probe mit den KICKING DEVILS... Irgendwie funktionierte es auch einigermaßen. Allerdings träumte er nachts manchmal ziemlich wüste Geschichten. Reihenweise schoss er Eigentore und bei den Begegnungen mit seiner Band spielte er ständig falsche Töne. Alles lachte und zeigte sogar mit dem Finger auf ihn in diesen nächtlichen Träumen – selbst Eva schüttelte den Kopf über ihn; allerdings blieb sie wenigstens stumm.
Kelter führte ein tolles Zusatztraining für Patrick durch. Seine Freunde von Blau-Weiß zogen vorbildlich mit und irgendwie packten sie ihn alle total in Watte – er sollte sich voll konzentrieren können auf den größten Tag seiner bisherigen Fußballerzeit. Am Sonntag, dem 13. Mai, unmittelbar vor der Abfahrt nach Duisburg, hatte Locke noch ein Stadtmeisterschaftsspiel mit Blau-Weiß gegen Borussia Scholven.
In Scholven gewann das Team von Locke & Co. sehr mühsam mit 1:0. Irgendwie wirkte Patrick etwas überspielt – er hatte schon Besseres gezeigt. In der Tabelle aber war seine Truppe auf Platz zwei gesprungen. Der bisherige Tabellenzweite STV Horst hatte nämlich nur 1:1 gegen Arminia Ückendorf gespielt. Was aber noch erfreulicher war: Der Tabellenführer Erle 08 hatte in Buer beim SSV überraschend 0:1 verloren. Zwei Spieltage vor Ende der Saison sah die Tabellenspitze in der Gelsenkirchener Stadtmeisterschaft nun so aus:
1.Erle 08: 58 Punkte
2.Blau-Weiß Gelsenkirchen: 56 Punkte
3.STV Horst: 55 Punkte
Die Meisterschaft war also komplett wieder offen – und das Allerbeste: Das letzte Spiel der Meisterschaft hieß Blau- Weiß Gelsenkirchen gegen Erle 08. Schön auch, dass es sich um ein Heimspiel handeln würde. Man konnte sich berechtigte Hoffnungen auf den Titel machen. Nun musste Locke nur noch den Montag überstehen, und dann war er da – der erste Tag bei der Schüler-Nationalmannschaft in Duisburg!
Am Abend zuvor verabschiedete er sich von Eva bei einem Eisessen in ihrer Lieblingseisdiele. »Eva, ich hoffe, dass du mir die berühmten beiden Daumen drückst.« Eva nahm ihn als Antwort in den Arm. »Lieber drücke ich dich als meine Daumen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Aber natürlich werde ich in den nächsten Tagen besonders intensiv an dich denken!«
In der vorläufig letzten Nacht in seinem Bett machte Locke kaum ein Auge zu. Er musste es sich eingestehen: Er war nervös wie nie zuvor in seinem Leben. Es war erst halb fünf und er lag schon wieder wach in seinem Bett. Eigentlich hätte er gemütlich bis sechs schlafen können, aber es ging einfach nicht.
So drehte er sich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf, starrte auf die Poster in seinem Zimmer und überlegte – ob es wohl auch von ihm einmal ein Großbild geben und die Wände in Zimmern wie diesem zieren würde...? »So ein Quatsch!«, sagte er dann laut. »Locke, du fängst an zu spinnen!« Er schüttelte den Kopf über sich selbst.
Mit einem Schwung warf er nun die Decke von sich und sprang aus seinem Bett. Von dort ging es direkt ins Bad. Ein Blick in den Spiegel bestätigte wieder einmal mehr, dass er den Spitznamen Locke, den er seit Menschengedenken hatte, zu Recht trug. In letzter Zeit hatte er sich die Haare ziemlich lang wachsen lassen – und die blonden Naturlocken standen wild um seinen Kopf. Grinsend stellte er sich unter die Dusche, plantschte ausgiebig unter dem Wasser und schon um fünf saß er am großen Küchentisch der Familie Schubert.
Er hatte sich die Tageszeitung aus dem Briefkasten geholt und überflog die Schlagzeilen, im Sportteil natürlich. Schalke hatte einen neuen Stürmer verpflichtet – und schon wieder gingen Lockes Träume mit ihm durch. Ob wohl auch mein Name einmal als Neuverpflichtung bei einem Bundesligisten in der Zeitung steht? Gedacht und schon vergessen, denn zunächst wartete heute die deutsche Schüler-Nationalmannschaft auf ihn, und das machte ihn sehr stolz, aber auch etwas unruhig...
In diesem Augenblick betrat Sandra die Küche, seine Mutter. Sie blinzelte verschlafen, knotete den Gürtel um ihren Morgenmantel und strich sich die Haare aus der Stirn. Dann lächelte sie. »Was ist denn mit dir los?«, fragte sie. »Sonst kommst du doch nie aus den Federn. Wohl aus dem Bett gefallen – oder hat mein Sohn etwa Lampenfieber?«
Wider besseren Wissens stritt Locke dies energisch ab und lenkte auf ein anderes Thema: das Frühstück. Angeblich hielt er es vor Hunger nicht mehr aus, und so machte ihm seine Mutter ein paar Brote, dick bestrichen mit Nutella. Er haute richtig rein.
»Hast du deine Tasche eigentlich gepackt?«, kam da die Frage seiner Mutter. Was sollte das jetzt? Patrick hatte all seine Klamotten natürlich schon am Abend vorher komplett in der großen Adidas-Tasche verstaut. Fußballschuhe inklusive. Als er die Töppen in der Hand hielt, waren ihm wieder einmal diese unglaublichen Schuhe von Stan Libuda eingefallen, mit denen er in Newcastle Tor auf Tor geschossen hatte. Manchmal wünschte sich Locke, der Stürmer, wieder solche Teile, wenigstens in Reserve... Aber die Libuda-Schuhe hatten sich ja unwiderruflich in England verabschiedet. Locke musste sich jetzt immer komplett auf seine eigenen Kräfte verlassen. Vom DFB sollte er übrigens heute eine komplett neue Ausstattung bekommen: Trainingsanzug, diverse Trikots, Laufschuhe und... und... und. Fast so wie bei einem Profi.
Locke biss in das zweite Nutellabrot. Seine Mutter verschwand im Badezimmer, sie wusste, ihr Sohn war ausreichend versorgt; als sie nach einer Viertelstunde vor ihm stand, fertig zur Abfahrt, wartete Locke schon auf sie – betont ruhig, wie er meinte. Die Tasche mit den Klamotten hielt er in der Hand.
Und seine Mutter lächelte ihm zum zweiten Mal an diesem Morgen zu.
Endlich, endlich war es jetzt also so weit. Kurze, aber herzliche Verabschiedung vom Vater, der ihm noch mit auf den Weg gab: »Glaub an dich und gib alles – dann schaffst du es!«, und dann ging es los, mit ihrem zwölf Jahre alten Suzuki über die A 42 nach Duisburg.
Auch für Eva war dieser Morgen ein ganz besonderer. Doch waren ihre Sorgen anderer Art, nämlich: Heimlich, still und leise hatte sie sich zu einem Casting angemeldet. Seit einiger Zeit gab es im privaten TV, bei RTL, einen Wettbewerb unter dem Titel »Deutschland sucht den Superstar«, und sie wollte probieren, ob sie es schaffen würde, dabei zugelassen zu werden. Der Wunsch hatte eine Vorgeschichte: Seit ungefähr einem Jahr probierte Eva ihre Stimme aus, und daraus war fast ein richtiges Training geworden; mit dem Resultat, dass ihre Stimme sich entwickelte und immer besser wurde. Und so hatte sie seit Monaten eigentlich nur einen großen Wunsch: Furchtbar gern würde sie mitmachen wollen bei den Jungs, bei den KICKING DEVILS! Aber irgendwie hatte sie sich nie getraut zu fragen, ob die Herren der Schöpfung sie in ihre Band aufnehmen würden... Ja, ab und zu hatte sie bei den Proben schon mal mitsingen dürfen, aber die echte Anerkennung war das eben nicht, und da niemand in der Band bisher so recht auf ihre Stimme reagierte, hatte sie sich etwas anderes überlegt. Sie besorgte sich für ihre PlayStation das Spiel »Singstar« – und wann immer sie Zeit hatte, stand sie daheim vor dem Fernseher und übte Songs ein. Das Lustige an dem Spiel war nämlich, dass man sich mit der so genannten Eye-Toy-Technik auch noch beim Trällern beobachten konnte.
Anfangs empfand sie die Aktion als etwas albern – aber mit der Zeit hatte sie durchaus Gefallen an der Arbeit mit dem Mikrofon gefunden. Ja, Arbeit war durchaus das richtige Wort: Nur Singen allein reichte irgendwie nicht, man musste sich auch gut bewegen können und irgendwie eine Show abziehen, wenn solch ein Auftritt wirklich beeindrucken sollte. Wie allerdings Locke auf ihre Absichten reagieren würde, wusste sie nicht so ganz genau...
Zufällig hatten sie also heute beide einen wichtigen Tag, Locke als Fußballer und sie als angehende Sängerin – vielleicht, wenn es mit dem Casting klappte...
Eva war daher ebenfalls früh aufgestanden.
Das übliche Ritual. Frühstück mit den Eltern. Vater verabschieden, der als Zahnarzt früh in die Praxis musste, und noch etwas mit Mutter plaudern. Sonst fuhr Eva nach dem Frühstück in die Schule, aber heute war alles anders. Der Unterricht war ausgefallen, da die Lehrer eine Fortbildung hatten. Gute Idee eigentlich – Lehrer sollten auch häufiger zur Schule gehen...
Betont beiläufig wollte Eva ihrer Mutter nun von dem bevorstehenden Casting erzählen. Sie hatte bisher darüber geschwiegen, um keine Diskussionen daheim heraufzubeschwören, vor allem wegen ihres Vaters, der, so glaubte sie, ihrem Vorhaben bestimmt nicht ohne Skepsis gegenüberstehen würde.
Sie rührte in ihrer Tasse herum und blickte dabei die Mutter an.
»Mama, ich werde heute mit der Straßenbahn nach Essen fahren.« Der Löffel klapperte. »Im ›Hotel Marriott‹ veranstaltet RTL ein Casting für zukünftige Sängerinnen und Sänger – und ich habe mich dort angemeldet. Ich... also ich will mal testen, wie gut ich bin.«
Evas Mutter hatte einige Male gehört, wie Eva geübt hatte – und ermunterte ihre Tochter! »Keine schlechte Idee«, rief sie, »dabei wirst du dann feststellen, ob du gut, schlecht oder ein neuer weiblicher Kübelböck bist.« Sie nickte Eva zu. »Fahr ruhig hin, du weißt ja, ich habe als Fünfzehnjährige mal an einem JE-KA-MI-Abend teilgenommen. Das war die Abkürzung für ›Jeder kann mitmachen!‹ Es fand in einer verrückten Diskothek an der Mosel statt – und ich habe einen sensationellen zweiten Platz mit einem Lied von Marianne Rosenberg gemacht. Talent solltest du demnach ausreichend haben.« Beide mussten lachen und Eva ging völlig entspannt in den Wettbewerb...