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Wenn Petra Wendeler sich in ihrem Haus umschaut, müsste sie sich eigentlich glücklich preisen. Sie hat alles, was eine junge Ehefrau sich nur wünschen kann: Geld, ein luxuriös eingerichtetes Haus, einen Mann, der sie verwöhnt, viel freie Zeit. Aber Petra ist nicht glücklich, denn sie sehnt sich nach einem Kind. Georg, ihr Mann, ist jedoch strikt gegen Kinder, er lehnt jede Diskussion darüber rigoros ab.
Da kommt Petra auf eine Idee: Kurz vor einem gemeinsamen Urlaub sucht sie ein Waisenhaus auf und bittet, eines der Kinder mit in den Urlaub nehmen zu dürfen. Als sie dort die kleine, verängstigte Helli trifft, schließt sie das Mädchen sofort in ihr Herz. Petra nimmt Helli, die in der jungen Frau ihre neue Mutti sieht, mit nach Hause, um sie ihrem Mann vorzustellen. Sie glaubt, dass auch er sie lieben und mit in den Urlaub nehmen werde. Georg jedoch bleibt hart, er beschimpft seine junge Frau zum ersten Mal. Als Petra die kleine Helli traurig zurückbringt, ist etwas in ihr zerbrochen, und ihre Ehe hat einen tiefen Riss erhalten ...
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Seitenzahl: 159
Cover
Von Kindern durfte sie nur träumen
Vorschau
Impressum
Von Kindern durfte sie nur träumen
Zu Herzen gehender Roman um den größten Wunsch einer liebenden Frau
Von Ursula Fischer
Wenn Petra Wendeler sich in ihrem Haus umschaut, müsste sie sich eigentlich glücklich preisen. Sie hat alles, was eine junge Ehefrau sich nur wünschen kann: Geld, ein luxuriös eingerichtetes Haus, einen Mann, der sie verwöhnt, viel freie Zeit. Aber Petra ist nicht glücklich, denn sie sehnt sich nach einem Kind. Georg, ihr Mann, ist jedoch strikt gegen Kinder, er lehnt jede Diskussion darüber rigoros ab.
Da kommt Petra auf eine Idee: Kurz vor einem gemeinsamen Urlaub sucht sie ein Waisenhaus auf und bittet, eines der Kinder mit in den Urlaub nehmen zu dürfen. Als sie dort die kleine, verängstigte Helli trifft, schließt sie das Mädchen sofort in ihr Herz. Petra nimmt Helli, die in der jungen Frau ihre neue Mutti sieht, mit nach Hause, um sie ihrem Mann vorzustellen. Sie glaubt, dass auch er sie lieben und mit in den Urlaub nehmen werde. Georg jedoch bleibt hart, er beschimpft seine junge Frau zum ersten Mal. Als Petra die kleine Helli traurig zurückbringt, ist etwas in ihr zerbrochen, und ihre Ehe hat einen tiefen Riss erhalten ...
»Georg!« Petra Wendeler umklammerte die Lehne ihres Sessels, als brauche sie für das, was sie sagen wollte, einen festen Halt.
Ihr Mann hatte sie nicht gehört. Seine Augen fielen ihm fast zu. Ein anstrengender Tag lag hinter ihm.
»Georg!«, wiederholte Petra lauter und drängender.
Der Mann hob den Kopf und schaute sie an.
»Hast du noch etwas auf dem Herzen?«, fragte er und musste schon wieder gähnen.
»Georg, glaubst du eigentlich, dass wir eine glückliche Ehe führen?«
Der Mann richtete sich im Sessel auf und lachte. »Was für eine dumme Frage. Wir sind das glücklichste Ehepaar, das ich kenne. Wie kommst du überhaupt darauf, so etwas zu fragen?«
»Weil ich nämlich nicht glücklich bin.« Es war das erste Mal, dass Petra es so unumwunden aussprach.
Georg hob den Kopf und schaute in ihr Gesicht.
»Hast du dich heute über irgendetwas geärgert?«, fragte er nachsichtig. »Dann heraus damit. Wenn du es dir vom Herzen geredet hast, ist wieder alles gut.«
»So einfach ist das nicht. Manchmal komme ich mir vor wie in einem goldenen Käfig. Ich habe alles, was sich eine Frau nur wünschen kann, wirst du mir entgegenhalten.«
Georg Wendeler nickte. »Und was fehlt dir noch? Ein neues Kostüm? Dann kaufe es dir. Ich weiß ja, dass du so vernünftig bist, keine törichten Forderungen zu stellen. Mit dir habe ich Glück gehabt. Du bist die beste Frau, die sich ein Mann nur wünschen kann.«
»Ich bin eine sehr bequeme Frau«, erklärte Petra mit dunkler Stimme. »Ich tue alles, was du willst.«
Der Mann runzelte die Stirn. »So soll es in einer guten Ehe doch auch sein. Schließlich erfülle ich dir jeden Wunsch. Also nun heraus, was möchtest du haben?«
»Ich möchte Kinder haben, Georg.«
Der Mann entspannte sich wieder.
»Wir waren uns doch einig, dass wir beide keine Kinder wollen. Weshalb fängst du neuerdings immer wieder davon an?«
»Weil ich eingesehen habe, dass ich ein unerfülltes Leben führe.«
»Unerfüllt? Du hast den ganzen Tag Zeit, dich mit Dingen zu beschäftigen, von denen andere kaum zu träumen wagen. Ich wünschte, ich könnte so viel lesen wie du. Aber wann bekomme ich schon mal ein Buch in die Hand? Höchstens im Urlaub, und da reicht es dann gerade für einen Krimi.«
»Ich möchte ein Kind. Bitte, Georg, lass uns doch einmal in Ruhe darüber reden.«
»Nein!« Der Mann schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich bitte dich, dieses leidige Thema fallenzulassen. Von Anfang an habe ich gesagt, dass ich Kinder nicht mag.«
Petra konnte nicht widersprechen, es war die Wahrheit. Georg hatte eine sehr unglückliche Kindheit erlebt und sich damals geschworen, keine Kinder haben zu wollen.
Der Mann stand auf und reckte sich.
»Was für dumme Gedanken du manchmal hast, Kleines. Kinder machen nur Sorgen und Ärger, dankbar sind sie nie. Sobald sie auf eigenen Füßen stehen, verlassen sie dich. Und dann sitzt du da, hast die schönsten Jahre deines Lebens für sie geopfert, und wenn du sie besuchen willst, dann merkst du, dass du störst. Ich will keine Kinder, Petra. Und wenn du einmal nachdenkst über das, was ich dir nun schon tausendmal gesagt habe, dann kannst du im Grunde genommen auch keine wollen. Sag mal, hat deine Freundin Dorothea dir einen Floh ins Ohr gesetzt?«
Ein schattenhaftes Lächeln glitt über Petras Lippen.
»O nein, sie redet genau wie du. Aber ihre Kinder würde sie nicht hergeben, keines von ihren dreien, auch wenn sie ständig über die Arbeit stöhnt, die sie mit ihnen hat.«
»Siehst du, da hörst du es aus berufenem Mund. Man schafft sich doch freiwillig keine Kinder an, wenn man ein vernünftiger Mensch ist.«
»Bitte, Georg, ich will nicht länger vernünftig sein. Ich — ich habe Angst, dass ich am Leben vorbeilebe. So schön das alles ist, was du aufgebaut hast, aber man kann es nicht lieben. Man kann nur einen Menschen lieben.«
»Dann lieb mich«, sagte der Mann schmunzelnd. »Ist das nicht ein guter Vorschlag? Und nun gehen wir ins Bett. Morgen früh hast du deine dummen Gedanken vergessen und bist wieder meine liebe kleine Petra.«
Aber als Georg schon längst eingeschlafen war, lag Petra an seiner Seite und fand keinen Schlaf. Er versteht mich nicht, dachte sie. Er ist ein Mann, er fühlt anders als ich.
Georg war in einem Waisenhaus groß geworden, und die Jahre dort hatten unauslöschliche Spuren in ihm hinterlassen. Schlecht gegangen war es ihm nicht, aber er hatte niemals das Gefühl gehabt, ein Mensch zu sein, wie er Petra einmal gestanden hatte.
»Und da habe ich Kinder kennengelernt, das kann ich dir sagen. Ich habe nie einen Freund gehabt. Kinder sind kleine Bestien, die nur an sich denken. Du warst für mich eine Offenbarung, Petra. Als ich dich kennenlernte, da wusste ich erst, wofür ich lebe und dass das Leben auch schön sein kann. Du bist für mich der Schlüssel zur Welt. Und niemals wollen wir Kinder haben, wir beide, niemals.«
Petra erinnerte sich auch noch an ihre Antwort.
»Du genügst mir, Liebster«, hatte sie damals ihm ins Ohr geflüstert. Er war ihr Mann und ihr Kind zugleich, trotz seiner äußeren Stärke so leicht verletzbar und im gewissen Sinn noch immer hilfsbedürftig.
Petra richtete sich auf den Ellenbogen auf und schaute ihren schlafenden Mann an. Das Mondlicht reichte gerade aus, dass sie sein Gesicht erkennen konnte.
Liebe ich ihn jetzt nicht mehr so wie früher?, fragte sie sich. Hat sich in mir irgendetwas geändert? Er ist doch so liebevoll und zärtlich geblieben wie am Anfang unserer Ehe. Weshalb genügt er mir nicht mehr? Was hat sich geändert?
***
Eines Morgens stand Petra vor einem großen, an eine Kaserne erinnernden Haus. Es war die Städtische Waisenanstalt. Trotz der sommerlichen Hitze lief Petra ein Frösteln über den Rücken.
Es kostete sie direkt Überwindung, die ausgetretenen Sandsteinstufen zum altmodischen Portal emporzugehen.
Die Halle war mit Steinen ausgelegt, die von unzähligen Füßen Vertiefungen bekommen hatten. Es roch durchdringend nach Desinfektionsmitteln und Bohnerwachs, ein Geruch, den Petra schon als Kind gehasst hatte.
Die Schwester in der Anmeldung wies ihr den Weg zum Büro der Anstaltsleiterin. Petra ging sehr schnell, unbewusst hatte sie den Wunsch, dieses graue Gebäude möglichst schnell wieder zu verlassen.
Ob das Waisenhaus, in dem Georg aufgewachsen ist, wohl so ähnlich ausgesehen hat?, fragte sie sich. Wenn es der Fall war, verstand sie wenigstens, weshalb Georg nur so ungern über seine Kindheit sprach. Wenn er es einmal tat, dann wirkten seine Worte stets gequält, und es war ihr immer erschienen, als verwandele er sich beim Reden in einen anderen Menschen, in einen geduckten, scheuen Mann, der Angst vor seiner Umwelt hat.
Eine Sekretärin im Vorzimmer bat sie, sich einen Moment zu gedulden.
»Frau Hildebrandt telefoniert gerade.«
Das Vorzimmer passte ganz genau zum Äußeren des Hauses.
Ein paar Minuten später öffnete ihr die Sekretärin die Tür zum Büro der Anstaltsleiterin. Irgendwie hatte Petra eine verknöcherte, streng wirkende Frau in dunkler Kleidung erwartet und war ganz überrascht, eine gut aussehende Dame mittleren Alters vorzufinden.
Frau Hildebrandt trug ein helles Kleid, das in der spartanischen Einrichtung des Büros direkt fehl am Platze wirkte. Sie trug ihr Haar modisch, und als Petra ihr zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte, da war ihr Lächeln freundlich und willkommen heißend.
»Nehmen Sie doch Platz, Frau Wendeler. Sie wollen mich sprechen?«
Petra riss sich zusammen, als sie sich dabei ertappte, dass ihre Gedanken abgeirrt waren. Sie ahnte, dass Frau Hildebrandt viel zu tun hatte. Ihr Schreibtisch war voller Akten und Zettel, drei der Wände mit Regalen vollgestellt. Vor den Fenstern hingen Gardinen, aber wenigstens standen ein paar Blumen auf dem Fensterbrett.
»Wir haben keine Kinder«, begann Petra. »Und in wenigen Tagen fahren wir in Urlaub, mein Mann und ich. Da dachte ich, ob es nicht möglich wäre, ein erholungsbedürftiges Kind aus ihrem Heim für etwa vier Wochen mitzunehmen. Wir fahren nach Italien«, schloss sie.
Frau Hildebrandt lehnte sich zurück und ließ sich bei Petras Musterung Zeit. Der jungen Frau war es, als würde sie von diesen grauen Augen auf Herz und Nieren geprüft.
»Ein etwas ungewöhnlicher Wunsch, Frau Wendeler. Sind Sie sich bewusst, was für eine Verantwortung Sie freiwillig auf sich nehmen wollen?«
»Ja. Ich würde für das Kind sehr gut sorgen.«
»Daran zweifle ich nicht. Darf ich fragen, warum Sie keine eigenen Kinder haben?«
Errötend senkte Petra den Kopf. Die Wahrheit durfte sie nicht sagen, und das Lügen fiel ihr schwer. Sie brachte es nicht fertig, Frau Hildebrandt dabei in die Augen zu sehen.
»Es hat noch nicht geklappt bei uns«, sagte sie leise. Sie spürte, dass die Röte jetzt die Ohren erreicht hatte. Wie schrecklich war es doch, die sympathische Frau anlügen zu müssen.
»Viele Kinder unseres Heimes sind sehr erholungsbedürftig, leider. An was für ein Kind hatten Sie gedacht? Junge oder Mädchen, und wie alt soll es sein?«
»Ich hätte gern einen Jungen. So fünf oder sechs Jahre alt, ein frisches, aufgewecktes Kind, an dem mein Mann seine Freude haben würde.«
Die Heimleiterin runzelte die Stirn.
»Schade«, sagte sie. »Wir haben nämlich ein Mädchen zu betreuen, das Erholung am nötigsten brauchte. Ich weiß auch nicht, ob eine Verschickung für Helli das Richtige wäre. Helli ist ein besonders sensibles Kind, das einen Menschen braucht, der auf sie eingeht. Ich bin überzeugt, sie würde es Ihnen durch eine unendliche Liebe danken, wenn Sie sich Zeit für sie nehmen würden. Soll ich Helli einmal rufen lassen?«
Sie drückte einen Knopf der Sprechanlage und gab der Sekretärin einen entsprechenden Auftrag, ohne Petra zu Wort kommen zu lassen.
Sie beschloss, sich nicht auf Frau Hildebrandts Vorschlag einzulassen.
Ihre Gedanken standen ihr wohl deutlich auf dem Gesicht geschrieben, denn Frau Hildebrandt machte einen etwas traurigen Eindruck.
»Hellis Schicksal liegt mir sehr am Herzen«, erzählte sie, um die Wartezeit zu verkürzen. »Wir haben sie vor etwa einem Jahr im Heim aufgenommen. Die Kleine hat sehr an ihrer Mutter gehangen. Frau Jakobsen ist durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen ...«
Petra schwieg. Sie wollte nicht zuhören, aber seine Ohren kann man nicht verschließen.
Frau Hildebrandt räusperte sich.
»Über den Vater der kleinen Helli wissen wir nichts. Sie kennt ihn nicht, und in ihrer Geburtsurkunde ist er nicht aufgeführt. Frau Jakobsen hat sich geweigert, seinen Namen zu nennen.«
»Darf ich rauchen?«, fragte sie und steckte sich nervös eine Zigarette an, als die Heimleiterin nickte. Sie rauchte nur selten, aber im Augenblick verspürte sie das Verlangen, ihre Hände zu beschäftigen. Dieses untätige Herumsitzen und Warten strapazierte ihre Nerven.
Sie wandte den Kopf, als die Sekretärin anklopfte und das Waisenkind hereinführte. Petra saß da und schaute unverwandt auf das Kind. Es war etwa fünf Jahre alt, sehr blass, sehr dünn, mit wunderschönen großen dunklen Augen.
Neben der Tür blieb Helli stehen. Sie fürchtete sich, das war offensichtlich. Sicherlich bedeutete es nur selten etwas Gutes, zur Direktion gerufen zu werden. Und welches fünfjährige Mädchen hat schon immer ein reines Gewissen?
»Danke, ich melde mich, wenn Sie Helli zurückbringen können«, verabschiedete Frau Hildebrandt ihre Sekretärin. Ihre Stimme veränderte sich und bekam einen warmen Unterton, als sie sich an das verschüchtert dastehende Kind wandte.
»Komm näher, Helli, die Tante möchte dich kennenlernen. Gib ihr die Hand.«
Zaghaft gehorchte die Kleine, aber man sah ihr an, dass jeder Schritt sie Überwindung kostete. Ihr Blick war unverwandt auf Petras Gesicht gerichtet, und Petra meinte, nie zuvor so viel Schmerz und Angst in menschlichen Augen gesehen zu haben.
Hatte sie wirklich einen fünfjährigen Jungen haben wollen? Jetzt nicht mehr. Dieses Kind brauchte Liebe, das sah sie so deutlich, als hätte man es ihr ins Ohr geschrien. Es brauchte Liebe, Verständnis, Geborgenheit.
Es durchrieselte sie ganz eigenartig, als sie die kleine, zerbrechlich dünne Kinderhand in ihrer spürte. Hellis Finger waren kalt vor Aufregung.
»Hast du Lust, mit mir in den Urlaub zu fahren?«, fragte Petra leise. Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. »Mein Mann und ich möchten, dass ein Kind uns begleitet. Wir fahren mit dem Auto.«
Helli senkte den Kopf, und ein paar Tränen rannen über ihre blassen Wangen. Dann entriss sie Petra ihre Hand und versteckte sie hinter dem Rücken.
»Willst du der Tante nicht antworten?«, fragte Frau Hildebrandt geduldig. »Es wird bestimmt schön, du hast sicherlich viel Spaß auf der Fahrt. Und dann kannst du baden, am Strand spielen ...«
Die Tränen des Kindes verstärkten sich noch bei den liebevoll gesprochenen Worten der Heimleiterin.
Frau Hildebrandt fing Petras fragenden Blick auf und zuckte bekümmert die Schultern.
»Unsere Helli ist es nicht gewöhnt, dass das Leben mit ihr freundlich umgeht«, sagte sie. »Sie findet nicht leicht Kontakt zu den anderen im Saal. Dabei ist sie alles andere als schwierig. Sie kennt nur die Liebe einer Mutter und kann sich deshalb schlecht an die neue Umgebung gewöhnen. Es wäre gut für ihre seelische Entwicklung, wenn sie für ein paar Wochen hier herauskäme und Menschen fände, die ihr zeigten, dass man sie gern hat.«
»Ich komme morgen wieder, und dann sagst du mir, ob du uns begleiten willst. Einverstanden?«
Die Kleine nickte eifrig und wischte sich dann die Tränen aus den Augen.
»Geh wieder zu den anderen zurück. Was macht ihr gerade?«
»Sie spielen«, sagte Helli, und Petra erschrak über diese Formulierung.
Als die Tür sich hinter der Kleinen geschlossen hatte, wandte Frau Hildebrandt den Kopf zu ihrer Besucherin.
»Soll ich noch ein paar Jungen rufen lassen?«, fragte sie.
Petra schüttelte den Kopf. »Kann man nichts tun, um Helli zu helfen?«, fragte sie. »Das Kind ist hier unglücklich.«
»Leid gibt es überall. Aber es ist schön, wenn sich wenigstens einige Menschen finden, die bereit sind, durch ihr Handeln Leid zu lindern. Geldspenden allein tun es auch nicht, so gut sie auch oftmals gemeint sind. Häufig versteckt sich Trägheit des Herzens dahinter.«
»Darf ich Helli morgen etwas mitbringen? Spielzeug oder Schokolade?«
Die Heimleiterin schüttelte den Kopf.
»Es ist besser, Sie unterlassen es, Frau Wendeler. Aber dennoch sage ich Ihnen meinen besten Dank für Ihre gute Absicht. Wir bemühen uns, die Kinder alle gleich zu behandeln. Alle vierzehn Tage bekommen sie eine halbe Tafel Schokolade, wenn sie sich nichts zuschulden haben kommen lassen.«
»Ich verstehe. Aber wäre es möglich, dass ich Helli einmal mit nach Hause nähme? Ich habe ein schönes Haus. Ich könnte sie vielleicht morgens abholen ...«
Die Heimleiterin lehnte sich zurück und klopfte nachdenklich mit dem Kugelschreiber auf die Akte, die vor ihr lag.
Wahrscheinlich verstößt meine Bitte gegen irgendeine Vorschrift, dachte Petra. Sicherlich ist Frau Hildebrandt durch tausend Vorschriften gebunden. Aber sie hat ein Herz, vielleicht siegte es über die Paragraphen.
»Wenn Sie mit Helli verwandt wären ...«, murmelte Frau Hildebrandt. »Aber außer einer Schwester der Frau Jakobsen existieren meines Wissens keine Angehörigen mehr.«
»Es würde für Helli gut sein, könnte sie einen Tag bei mir verleben. Und vielleicht bekäme sie dann auch Lust, uns in unserem Urlaub zu begleiten.«
»Ja, das natürlich ... Selbstverständlich ...« Frau Hildebrandt lächelte erleichtert. Offenbar hatte sie einen Paragraphen entdeckt, der es ihr erlaubte, Helli Urlaub zu geben. »Wann soll sich die Kleine bereit halten?«, fragte sie.
»Geht neun Uhr?«, fragte Petra. Dann war Georg schon fort, und sie hatte den ganzen Tag für das Kind Zeit.
»Selbstverständlich. Ich freue mich sehr, Frau Wendeler.« Frau Hildebrandt erhob sich. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die junge Frau zu verabschieden, die Arbeit wartete.
Wie benommen ging Petra hinaus.
***
»Du hast es heute ja eilig, mich loszuwerden«, stellte Georg am nächsten Morgen beim Frühstück verwundert fest. »Hat sich der Hausfreund so früh angemeldet?«, scherzte er, umfasste sie und gab ihr einen Kuss. »Am liebsten würde ich dableiben und Büro Büro sein lassen«, fuhr er fort. »In ein paar Tagen sind wir beide den ganzen Tag zusammen, nur wir beide allein. Du glaubst nicht, wie ich mich darauf freue.«
Petras Finger spielten nervös mit dem Kaffeelöffel.
»Wird es dir nicht langweilig, immer nur mit mir zusammen zu sein?«, tastete sie sich vor. »Wir kennen uns nun schon so viele Jahre, du weißt alles von mir ...«
»Es wird mir nie langweilig sein, mit dir zusammen zu sein. Aber jetzt muss ich wirklich ins Büro, sonst komme ich zu spät. Hoffentlich gibt es keine Verkehrsstockungen. Bis heute Abend dann.«
»Fahr vorsichtig«, gab Petra ihm wie immer mit auf den Weg. »Was möchtest du essen?«
»Irgendetwas«, rief Georg ihr vom Auto aus zu. Er stieg ein, winkte noch einmal und fuhr dann davon.
Es war kurz nach acht. Vor achtzehn Uhr kommt er nicht zurück, dachte Petra. Zehn Stunden, die ich allein bin.
Niemals hätte er sie verstanden. Petra gab allerdings die Hoffnung nicht auf, dass es ihr doch irgendwann einmal gelingen würde, die richtigen Worte zu finden. Nur daran konnte es doch liegen, wenn Georg sich dagegen sperrte, Kinder zu haben.
Bald nach ihm setzte sie sich an das Steuer ihres Wagens. Georg fuhr eine große Limousine, er war es seiner Position schuldig.
Dann lag wieder das graue Haus vor ihr. Petras Herz klopfte hart, als sie die Stufen hinaufhastete. Sie nickte der Frau in der Anmeldung flüchtig zu; jetzt kannte sie ja ihren Weg.
Frau Hildebrandt begrüßte sie mit festem Händedruck und ließ dann sofort Helli kommen. Das Kind trug gottlob nicht die Anstaltskleidung, sondern ihre eigenen Sachen. Nur war sie leider inzwischen gewachsen und wirkte wie ein zerrupftes Vöglein in dem viel zu kurzen Kleid.
»Nun, hast du Lust, mich einmal zu besuchen?«, fragte Petra freundlich. Ihr Herz krampfte sich mitleidig zusammen.
Helli nickte verschüchtert. Sie wagte wohl nicht mehr, an echte Zuneigung zu glauben.
»Wann bringen Sie mir die Kleine wieder?«, fragte Frau Hildebrandt.
»Gegen siebzehn Uhr, ist das recht?«
»Selbstverständlich. Dann kann Helli noch bei uns zu Abend essen. Auf Wiedersehen, Helli, und sei brav bei Tante Petra.«
Wieder nickte die Kleine. Sie entzog Petra ihre Hand nicht, als die junge Frau danach griff. Sie trippelte an Petras Seite hinaus. Beim Anblick des Autos leuchteten ihre Augen auf.
»Gehört dir?« fragte sie.
»Ja. Fährst du gern Auto?«
»Sehr gern. Aber meine Mutti hatte keins. Und das Auto gehört dir ganz allein?«