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Es geht auf Mitternacht zu. Wolfgang Wedelken steht auf der Dachterrasse seines Apartments. Unter ihm ziehen die Lichter der Stadt vorbei. Aber er kann sich nicht an dem herrlichen Anblick erfreuen. Vor sich sieht er nur ein schmales, schönes Gesicht, das ihn seit Langem schon bis in den Schlaf hinein verfolgt.
Ja, er weiß noch ganz genau, wie er sie das erste Mal im Büro seines Freundes gesehen hat. Und nun ist sie glücklich verheiratet! Glücklich mit seinem besten Freund - Thorwald Salzmann, Juniorchef der großen Lackfabrik.
Wolfgang schließt die Augen, und es ist ihm, als stünde sie direkt neben ihm, als brauche er nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Ich bin zu spät gekommen, hämmert es wieder und wieder in seinem Kopf. Anja ist ihm für immer verloren, die einzige Frau, an der ihm bisher wirklich etwas gelegen war.
Da hört Wolfgang plötzlich die Sirenen, und er öffnet die Augen. Am Horizont leuchtet ein verheerendes Feuer. Die Salzmann’sche Fabrik steht lichterloh in Flammen ...
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Seitenzahl: 141
Cover
Impressum
Die Frau seines Freundes
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Trotskaya Nastassia/shutterstock
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5817-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Frau seines Freundes
Ergreifender Roman um eine opferbereite Liebe
Von Ursula Fischer
Es geht auf Mitternacht zu. Wolfgang Wedelken steht auf der Dachterrasse seines Apartments. Unter ihm ziehen die Lichter der Stadt vorbei. Aber er kann sich nicht an dem herrlichen Anblick erfreuen. Vor sich sieht er nur ein schmales, schönes Gesicht, das ihn seit Langem schon bis in den Schlaf hinein verfolgt.
Ja, er weiß noch ganz genau, wie er sie das erste Mal im Büro seines Freundes gesehen hat. Und nun ist sie glücklich verheiratet! Glücklich mit seinem besten Freund – Thorwald Salzmann, Juniorchef der großen Lackfabrik.
Wolfgang schließt die Augen, und es ist ihm, als stünde sie direkt neben ihm, als brauche er nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Ich bin zu spät gekommen, hämmert es wieder und wieder in seinem Kopf. Anja ist ihm für immer verloren, die einzige Frau, an der ihm bisher wirklich etwas gelegen war.
Da hört Wolfgang plötzlich die Sirenen, und er öffnet die Augen. Am Horizont leuchtet ein verheerendes Feuer. Die Salzmann’sche Fabrik steht lichterloh in Flammen …
„Haben Sie das große Los gewonnen?“, fragte Frau Hübner ihre hübsche Untermieterin. „Sie strahlen ja so …“
Anja Nielsen nahm die füllige Frau in den Arm und gab ihr einen Kuss.
„Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht“, stieß sie überglücklich hervor. „Heute Abend.“
„Herr Salzmann?“, vergewisserte sich Frau Hübner ungläubig. „Ihr Chef? Und einen richtigen Heiratsantrag? Nein, das müssen Sie mir ausführlich erzählen. Kommen Sie in die Küche.“
Anja ließ sich nicht zweimal auffordern. Sie musste einfach mit jemandem sprechen. Sie nahm sich kaum Zeit, ihren Mantel auf den Bügel zu hängen. Es war für sie ja selbst kaum fassbar, dass Thorwald Salzmann tatsächlich ernsthafte Absichten hatte.
„Was sagen denn seine Eltern dazu?“, fragte Frau Hübner.
In dem altmodischen Herd loderte ein Feuer, sie hatte noch ein Stückchen Holznachgelegt, und im Handumdrehen wurde es in dem kleinen Raum sehr warm.
„Seine Eltern?“ Anja zuckte mit den Schultern. „Er will mich heiraten, Frau Hübner. Ich kann es selbst nicht fassen!“
„Er ist doch Millionär?“
„Bestimmt. Der Familie gehören die Farbwerke seit Generationen, und dann haben sie das wunderschöne Haus …“
„Kommt mir vor wie ein Schloss, wenn Sie mich fragen. Müssen große Zimmer drinnen sein. Was es wohl kosten mag, solch ein Haus zu heizen! Wollen Sie denn dort wohnen?“
„Darüber haben wir noch nicht gesprochen.“ Anja schaute versonnen vor sich hin.
„Das hätten Sie sich auch nicht träumen lassen, als Sie damals anfingen, für ihn zu arbeiten“, meinte Frau Hübner nachdenklich. „Wann heiratet ein Chef tatsächlich schon einmal ein Mädchen aus seinem Büro? Natürlich kommt es vor, aber doch sehr selten. Ich freue mich für Sie. Ihnen gönne ich solch ein Glück.“
Anja wusste, dass Frau Hübner die Wahrheit sprach. Bei den herzlichen Worten der Frau wurden ihre Augen unwillkürlich feucht.
„Und wann soll geheiratet werden?“, fragte die Wirtin und legte voller Anteilnahme den Kopf schief. „Schon bald, oder wollen Sie noch warten? Lange Verlobungszeiten sind ja heute nicht mehr modern.“
„Wir wollen bald heiraten. Unsere Hochzeitsreise soll in den Süden gehen, nach Spanien. Dort ist es auch im Winter sehr schön.“
„Spanien, dort wollte ich schon immer mal hin, aber ich kenne es nur von der Landkarte. Wenn Sie erst einmal eine reiche Frau sind, dann können Sie sich solche Reisen leicht erlauben. Es muss schön sein, Geld zu haben.“
„Ich hätte Thorwald auch genommen, wenn er keinen Pfennig besäße“, versicherte Anja.
Frau Hübner nickte. „Ja, er sieht gut aus. Er stellt etwas dar. Man sieht, dass er aus einer guten Familie stammt und Geld hat. So etwas prägt einen Menschen. Dann werde ich Sie wohl bald als Mieterin verlieren. Das tut mir ein bisschen leid bei der ganzen Geschichte. Es ist nicht angenehm, wenn man einen neuen Mieter suchen muss. Und meistens – Sie sind eine Ausnahme, Fräulein Nielsen. So solide, immer nett, nie ungeduldig, und dabei haben Sie in der Firma auch genug zu tun. Heutzutage wird einem nirgendwo etwas geschenkt.“
„Früher auch nicht“, meinte Anja lachend. „Mir macht die Arbeit nichts aus. Ich sitze ja im Vorzimmer von Thorwald.“
„Kein Wunder, dass Sie ihm aufgefallen sind. Nur, dass er Sie auch heiratet … Ich hatte vor Ihnen eine junge Dame hier wohnen, die hatte auch was mit ihrem Chef. Aber von heiraten war da nie die Rede. Der hat ihr einen Pelz geschenkt, einen wunderschönen, und auch manchmal ein bisschen Schmuck. Aber geheiratet hat er sie nicht. Sie wollte sich nie etwas anmerken lassen, aber ich habe doch gespürt, wie es in ihr aussah. Sie war ja nicht leichtsinnig. Sie hat sich in den Mann verliebt. Hoffentlich wissen Sie, was für ein Glück Sie haben, dass Herr Salzmann Sie heiraten will.“
„Er ist ganz anders als andere Männer. Er ist mir nie zu nahegetreten.“ Einen Moment stockte Anja, weil sie dabei an ihren letzten Chef denken musste. Er war manchmal direkt widerlich gewesen, wie er versucht hatte, sie in Verlegenheit zu bringen. „Er war immer nett. Und schon von Anfang an – das hat er mir heute erst gesagt …“
„Eine Liebe auf den ersten Blick.“ Frau Hübner nickte. „So etwas gibt es. Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, ich bin einfach nicht der Typ, dem so etwas liegt, aber trotzdem gibt es das.“
„Er möchte, dass Sie ihn kennenlernen, Frau Hübner. Ist es Ihnen recht, wenn ich ihn morgen Abend mitbringe? Ich habe ihm so viel von Ihnen erzählt.“
Frau Hübner lächelte. „Natürlich“, entgegnete sie freundlich.
„Sie sind wie eine Mutter zu mir“, fuhr Anja fort. „Ich habe vorher andere möblierte Zimmer gehabt. Manche waren einfach schrecklich. Ungemütlich und teuer. Hier bei Ihnen habe ich mich vom ersten Augenblick an wohlgefühlt.“
„Lieb, dass Sie das sagen“, murmelte Frau Hübner direkt ein bisschen verlegen. „Ich hab mir ja Mühe gegeben, es meinen Mietern ein bisschen nett zu machen, aber die meisten erkennen das nicht an. Sie haben an allem was herumzumäkeln.“
„Das verstehe ich nicht. Mein Zimmer ist doch wirklich gemütlich. Halte ich Sie auch nicht von der Arbeit ab, Frau Hübner?“
„Keineswegs. Was habe ich denn schon zu tun! Das bisschen Hausarbeit und kochen, gar nicht der Rede wert. Wollen wir noch eine Tasse Kaffee trinken, Fräulein Nielsen?“
„Von meinem Kaffee.“ Anja stand sofort auf. „Einen Moment, ich hole ihn rasch.“
Sie achtete nicht auf Frau Hübners abwehrende Handbewegung. Frau Hübner trank leidenschaftlich gern Kaffee, aber nur einmal am Tag, morgens. Nachmittags gab es nur den zweiten Aufguss. Kaffee war zu teuer für eine Rentnerin.
Das Wasser summte im Kessel, als Anja gleich darauf zurückkam. Frau Hübner hatte schon alles vorbereitet.
„Waren Sie schon einmal in dem Haus?“, fragte sie mit freundlicher Anteilnahme.
„Nein.“ Anja schüttelte leicht den Kopf. „Ich soll am Sonntag zum Essen kommen. Thorwald holt mich ab. Er will mich dann mit seinen Eltern bekannt machen.“
„Die werden sich freuen, solch eine nette Schwiegertochter zu bekommen“, meinte Frau Hübner. „Wenn ich da an meine denke …“ Einen Moment presste sie die Lippen aufeinander. „Ich glaube nicht, dass sie lange um meinen Jungen getrauert hat. Solch ein Typ ist sie nicht. Na ja, die Menschen sind eben verschieden. Hätte ich eine Schwiegertochter wie Sie …“
Frau Hübners Sohn war bei einem Arbeitsunfall zu Tode gekommen, und seitdem hatte sie niemanden mehr, der ihr nahestand. Sie gehörte allerdings nicht zu den Frauen, die ihr Schicksal lautstark beklagen. So war es nun einmal, und damit musste sie sich abfinden.
„Hoffentlich kann ich nach dem Kaffee schlafen“, meinte Anja nach dem ersten Schluck. „Haben Sie noch etwas heißes Wasser? Ich möchte ihn mir verdünnen.“
Frau Hübner lächelte nachsichtig. Sie verstand Fräulein Nielsen nicht ganz. Wie konnte man freiwillig auf den Genuss einer richtig guten Tasse Kaffee verzichten?
„Wollen Sie in Weiß heiraten?“, kam sie wieder auf das Thema zurück, das sie im Augenblick am meisten interessierte.
„Ich möchte schon, ich habe mit Thorwald darüber gesprochen.“
„Männer machen sich meistens nicht so viel daraus. Ich finde, es ist der größte Tag im Leben einer Frau, und den müsste man auch entsprechend äußerlich begehen. Geben Sie nicht zu schnell nach. Ich erinnere mich noch an meine Hochzeit. Wir haben im Winter geheiratet. Tagelang hatte es geschneit, aber als wir aus der Kirche kamen, regnete es. Und trotzdem – ich möchte nicht auf diesen Tag in meinem Leben verzichten.“
Ob sie eine glückliche Ehe geführt hat?, fragte sich Anja. Sie war eigentlich überzeugt davon, denn mit Frau Hübner musste jeder Mensch auskommen. Sie hatte etwas ungemein Liebenswürdiges an sich.
Trotz ihrer inneren Anspannung spürte Anja ihre Müdigkeit und gähnte verstohlen. Sonst lag sie um diese Zeit schon im Bett – wenn sie nicht gerade mit Thorwald zusammen war.
„Möchten Sie noch eine Tasse?“ Frau Hübner drängte sie nicht, als Anja den Kopf schüttelte. „Dann träumen Sie etwas Schönes“, wünschte sie ihrer reizenden Untermieterin. „Es ist herrlich, so jung zu sein wie Sie, das ganze Leben vor sich zu haben, und dann solch ein Leben. Wenn Sie erst verheiratet sind, kann Ihnen nichts mehr passieren. Geld schützt.“
„Nicht vor allem. Die Hauptsache ist, dass Thorwald mich immer liebt.“
Frau Hübner lächelte ein bisschen traurig.
„Im Laufe der Zeit wandelt sich die Liebe, Fräulein Nielsen. Es bleibt nicht immer so, wie es jetzt ist. Aber es kann trotzdem schön sein, wenn man sich versteht. Zwischen meinem Mann und mir ist kaum jemals ein böses Wort gefallen. Aber er hat mir auch nie gesagt, dass, na ja, das ist wohl auch nur bei jungen Leuten üblich, aber manchmal hätte ich es eben doch gern gehört.“
Anja lächelte verträumt. Thorwald war anders. Er würde sie immer lieben, und er würde ihr auch immer sagen, was sie ihm bedeutete. Heute noch hatte er es ihr geschworen.
Thorwald war eben anders …
***
Zur gleichen Zeit, in der Anja bei Frau Hübner in der Küche saß, betrat Thorwald Salzmann sein Elternhaus. In der Diele hängte er seinen Mantel sorgfältig auf einen Bügel. Seine Eltern waren im Wohnzimmer, er hörte schon ihre Stimmen.
„Da kommst du ja endlich“, empfing ihn seine Mutter. Sie musterte ihn von oben bis unten. „Wo warst du so lange?“
Es amüsierte Thorwald immer wieder, dass sie ihn noch immer wie einen Jungen behandelte. Allerdings hatte er es sich längst abgewöhnt, dagegen zu protestieren. Es war ein vergebliches Unterfangen.
„Ich habe mich nur verlobt“, äußerte er lässig und warf sich in einen der bequemen Sessel vor dem Kamin. Er liebte es, seine Mutter zu schockieren.
Auch jetzt hatte er mit seinen Worten einen vollen Erfolg. Frau Brigitta fuhr aus ihrem Sessel förmlich hoch, sah dann das Schmunzeln ihres Mannes und ließ sich dann wieder zurückfallen. Selbstverständlich, der Junge hatte nur einen Scherz gemacht.
„Muss man gratulieren oder sollen wir dir unser Beileid aussprechen?“, erkundigte sich sein Vater gelassen.
Er arbeitete mit seinem Sohn zusammen in der Fabrik und wusste, dass Thorwald nicht fest gebunden war.
„Melanie? Hast du dich mit Melanie verlobt?“, fragte seine Mutter. „Wir haben dir ja immer gesagt …“
„Ihr kennt sie nicht. Das heißt, du kennst sie nicht Mutter, und Vater nur vom Sehen.“
Das Lächeln seines Vaters erstarrte zur Grimasse. War es etwa kein Scherz? Er beugte sich vor und schnippte die Asche von seiner Zigarre in den Aschenbecher.
„Sie heißt Anja Nielsen. Sie arbeitet in meinem Vorzimmer. Wir kennen uns jetzt ungefähr ein halbes Jahr. Heute habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten will.“
Brigitta Salzmann rang buchstäblich nach Luft. Es dauerte Sekunden, bis sie sprechen konnte.
„Hast du das gehört, Stephan?“, wandte sie sich dann klagend an ihren Mann. „Ein Mädchen aus seinem Vorzimmer!“
„So eine heiratet man nicht“, äußerte der alte Herr grimmig. „Wenn du dich mit ihr amüsieren willst, meinetwegen, wenn ich es auch nicht besonders geschmackvoll finde, wenn du etwas mit einer Betriebsangehörigen anfängst, aber heiraten …“
„Was sind ihre Eltern?“, fragte Brigitta Salzmann.
Thorwald zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Sind jedenfalls beide tot.“
„Nicht einmal eine Familie hat sie“, murmelte seine Mutter erschlagen. „Wie steht es mit Vermögen?“
„Das ist reichlich vorhanden“, versicherte Thorwald schmunzelnd. „Anja ist ein Schatz. Geld oder Sachwerte besitzt sie allerdings nicht.“
„Hast du das gehört, Stephan?“, flüsterte Frau Brigitta erstickt. „Er hat sich einfangen lassen. Aber das kommt überhaupt nicht infrage, Thorwald, schlag dir diese Idee aus dem Kopf. Du wirst kein Mädchen heiraten, das nichts ist und nichts hat. Dir bieten sich andere Möglichkeiten.“
„Die gute Melanie zum Beispiel.“
„Zum Beispiel“, bestätigte sein Vater wütend. „Hättest du einen Funken Verstand. dann hättest du Melanie schon längst einen Heiratsantrag gemacht. Eine bessere Partie gibt es gar nicht.“
„Ich will keine Partie machen, ich will eine Frau heiraten, die ich liebe. Ich habe Anja übrigens Sonntag zum Mittagessen eingeladen. Ich hoffe, es ist euch recht.“
„Die Frau kommt nicht in mein Haus!“, stieß seine Mutter hervor. „Was fällt dir ein, so etwas zu tun? Du hättest uns wenigstens vorher fragen müssen.“
„Warum?“, fragte Thorwald mit unerschütterlicher Ruhe. „Ich habe doch genau gewusst, was du sagen würdest. Du sagst immer erst Nein, grundsätzlich.“
„Thorwald“, mahnte sein Vater. Der Junge hatte zwar recht, aber es gab Dinge, die man besser nicht beim Namen nannte. „Ich muss sagen, ich finde dein Vorgehen übereilt.“
Er hatte einen Moment nach dem richtigen Ausdruck gesucht, der Thorwald nicht kränkte. Als Seniorchef wusste er schließlich, was er von den Fähigkeiten seines Sohnes zu halten hatte. Thorwald war im Laufe der letzten Jahre für ihn unentbehrlich geworden, und hinter seinem Rücken nannte man Thorwald die Seele des Werkes.
„Ich hoffe, ihr nehmt Anja so freundlich auf, wie sie es verdient“, fuhr Thorwald, fort, als wäre er überhaupt nicht unterbrochen worden. „Sie braucht viel Liebe. Außer uns hat sie niemanden.“
„Dann soll sie sich andere suchen. Warum gerade uns? Thorwald, du weißt nicht, was du tun willst. Wir sind frei von Vorurteilen, aber …“
„Aber wir besitzen einen ganzen Sack voll“, fiel ihr Thorwald mehr aufrichtig als höflich ins Wort. „Ihr kennt Anja nicht, und trotzdem wisst ihr, dass sie nicht zu uns passt. Seht sie euch doch wenigstens erst einmal an, bevor ihr urteilt.“
„Ich glaube ja, dass sie in ihrer Art ein nettes Geschöpf ist“, versicherte seine Mutter, „aber sie passt eben nicht zu dir. Was würden denn die Leute sagen, wenn du als künftiger Chef eine kleine Tippse heiratest? Und in der Gesellschaft wird man dieses Fräulein niemals ernst nehmen, niemals.“
„Die Gesellschaft, die Anja ablehnt, nur weil sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen musste, kann mir gestohlen bleiben, Mutter.“
Wie jung er manchmal noch ist, dachte ihr Vater. Habe ich früher auch einmal so gedacht wie Thorwald? Inzwischen wusste er es jedenfalls besser. Man lebt nicht isoliert, man braucht die anderen, auch wenn man von den anderen vielleicht nicht viel hält.
„Sonntag … das sind ja nur noch drei Tage“, rechnete Brigitta Salzmann aus. „Nun sag du doch etwas, Stephan. Willst du wirklich eine kleine Angestellte am Sonntag als Gast in deinem Hause haben? Wie hat sie es nur geschafft, dir so den Kopf zu verdrehen, Thorwald? Du weißt doch, worauf es ankommt.“
„Ich hoffe, das gerade in diesem Falle bewiesen zu haben“, erwiderte der junge Mann schlagfertig. „Man muss Anja einfach gernhaben. Euch wird es nicht anders gehen als mir, und dass sie kein Geld hat …“
„Gerade jetzt, wo die Zeiten so schwer geworden sind, könntest du gut eine reiche Frau gebrauchen, Thorwald. Vorhin hat dein Vater noch gesagt …“
„Ich verkaufe mich nicht. Ich würde es selbst nicht tun, wenn ich dadurch die Fabrik retten könnte. Aber davon kann auch gar nicht die Rede sein. Wir befinden uns nicht in ernsten Schwierigkeiten. Das Bargeld ist im Moment etwas knapp, gut, aber solche Engpässe haben wir auch in der Vergangenheit schon überlebt und überstanden. Die Zeiten werden sich schon wieder bessern.“
„Sie hat es doch nur auf dein Geld abgesehen. Diese Frau kommt mir jedenfalls nicht ins Haus.“
Thorwald hatte gewusst, dass ihm eine harte Auseinandersetzung bevorstand, aber mit solch einer Entschiedenheit seiner Mutter hatte er doch nicht gerechnet. Ihre Engstirnigkeit regte ihn auf.
„Das wirst du dir noch überlegen.“
„Nein. Ich denke nicht daran. Das hier ist mein Haus, und ich suche mir meine Gäste selbst aus“, beharrte sie.
„Wie du willst. Ich werde mir eine Wohnung suchen und ausziehen. Vielleicht auch eine andere Stellung annehmen. Meine Kündigung reiche ich dann rechtzeitig ein, Vater.“ Thorwald stand auf, ein schlanker, hochgewachsener Mann, dessen liebenswürdiges, meist lächelndes Gesicht jetzt ungewöhnlich verbissen aussah. „Ich habe mich entschieden für Anja. Und ich stehe zu meinem Wort. Gute Nacht.“
Er nickte ihnen flüchtig zu und stürmte hinaus, besaß aber noch Selbstbeherrschung genug, die Türen nicht hinter sich zuzuknallen.