Lost & Dark Places Stuttgart - Benedikt Grimmler - E-Book

Lost & Dark Places Stuttgart E-Book

Benedikt Grimmler

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Beschreibung

Das Stuttgarter Schloss kennt jeder, aber wer hätte gewusst, dass Stuttgart früher als die deutsche Schokoladenhochburg galt? Kriege machten der Stadt durch Zerstörungen immer wieder zu schaffen. Verschwundene Klöster und aufgegebene Kirchen, viele tote Alchemisten, versteckte bis weltberühmte Gefängnisse, kaputte Erholungsstätten, Brückenreste und leerstehende Gasthäuser – auch das findet man hier. Entdecken Sie die dunkle Seite der Schwabenmetropole.

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Seitenzahl: 184

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Nicht die Schokoladenseite (Kapitel 11)

Benedikt Grimmler

Lost & Dark PlacesSTUTTGART

33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte

In Würde sterben lassen (Kapitel 2)

Grabesunruhe (Kapitel 3)

Sendeschluss im Schloss (Kapitel 10)

INHALT

Einleitung

Verhaltensregeln für Lost Places

33 LOST & DARK PLACES

1Ein schwebendes Verfahren

Die ehemalige Bahndirektion

2In Würde sterben lassen

Das Neue Lusthaus

3Grabesunruhe

Der Hoppenlaufriedhof

4Ausgebremste Reformer

Das Dominikanerkloster Stuttgart

5Gefährdete Goldjungen

Alchemistisches Labor im Alten Lusthaus

6Etikettenwechsel

Schellenturm und Stuttgarter Stadtmauer

7Es geht bergab

Die Sünderstaffel

8Knatsch, Knast, Kunst

Das Pönitentiarhaus Stuttgart

9Tod einer Diva

Mord in der Schubartstraße

10Sendeschluss im Schloss

Villa Berg

11Nicht die Schokoladenseite

Die Villa Moser

12Der Scherbenhaufen

Auf dem Birkenkopf

13Abgestumpft

Der Hasenbergturm

14Die Messe ist gelesen

Die Kirche St. Stefan

15Im Westen nichts mehr Neues

Der Westbahnhof

16Es gibt kein Halten

Die Bahnhöfe Heslach und Wildpark

17Eine abgebrochene Verbindung

König-Wilhelm-Viadukt

18Kein Aushängeschild

Das Bahnhofsviertel von Münster

19Süßer Süden

Die Zuckerfabrik

20Aus der Stuttgarter Stein-Zeit

Der Travertin-Park

21Braune Architektur

Die Säulen am Kraftwerk Münster

22Betten und Besetzer

Die Bettfedernfabrik Cannstatt

23Angst im Vatikan

In der Kienbachstraße

24Die katholische Zuflucht

Burgruine Hofen und Engelburg

25Unterhöhlte Moral

Der Pionierstollen Mühlhausen

26Bomben, Bonatz und Ballkünstler

Hochbunker Pragsattel und Rosensteinbrücke

27Die »kleinen« Burgen

Dischingen und Frauenberg

28Im toten Winkel

Winkeltürme in Stuttgart

29Hauptquartier der RAF

Die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim

30In der Problemzone

An der Böblinger Straße

31Bittere Pille

Apotheke am Schillerplatz

32Ruhetage in Rohr

Das Gasthaus Kanonenbäck

33Versteckte Moderne

Der IBM-Campus

Register

Impressum

Es gibt kein Halten. (Kapitel 16)

Aus der Stuttgarter Stein-Zeit (Kapitel 20)

Auf einem Hügel im Boden: Ruine Engelburg (Kapitel 24)

EINLEITUNG

Was tun mit dem alten Hauptbahnhof? Das scheint eine Frage zu sein, die in Stuttgart gut alle hundert Jahre von Neuem auftaucht. Lange vor Vollendung seines Nachfolgers 1922 betraf sie den großen Neorenaissancebau in der damaligen Schlosstraße, der kaum fünfzig Jahre gedient hatte, zumindest in diesem schmucken Outfit, denn er war selbst bereits ein Nachfolger des allerersten eher schlichten Central-Bahnhofes. Vom stolzen Äußeren ist wenig geblieben, genau genommen nur die drei – von einst fünf – großen Eingangsbögen der Bolzstraße 10, der Rest fiel der Spitzhacke zum Opfer und der Moderne, die hier sozusagen doppelt einzog, architektonisch und mit dem neuen Liebling der Massen, dem Kino. Das erlebte gerade seine besten Zeiten, das Dekor für die Säle im Inneren war so prächtig ausgeführt, dass der Ausdruck Ufa-Palast durchaus seine Berechtigung hatte. Die zweite große Beliebtheitswelle des Kinos rettete das zerbombte Gebäude in der Nachkriegszeit, nun als Metropol-Palast neu erstanden, seine Nachfolger hatten dann schon mit allerlei Konkurrenz zu kämpfen, 2020 gingen die Lichter in dem, wenn man so will, Bahnhofs-Kino erst einmal aus und damit eine lange Tradition zu Ende.

Das Haus in der Bolzstraße hat also eine spannende Geschichte zu erzählen, die einige für die Landeshauptstadt durchaus typische Elemente enthält. Prägend bis heute sind nicht nur Diskussionen um Bahnprojekte aller Art, die in diesem Buch mehrfach eine wichtige Rolle spielen werden – wir kommen gleich darauf zurück –, sondern auch die für Stuttgarts Aussehen bedeutenden Jahre der Weimarer Republik, die Zerstörungen des Luftkriegs, das Verschwinden alter Gebäude und namhafter Geschäfte und der manchmal radikal geschichtsvergessen anmutende Umgang mit erhaltenswerten Hinterlassenschaften. Heute kaum mehr vorstellbar, scheiterte der lange Zeit vorgesehene Abbruch des Neuen Schlosses in der Nachkriegszeit nach heftigen Protesten nur äußerst knapp im Landesparlament.

Andere Bauten kamen zu verschiedenen Zeiten nicht so glimpflich davon. Vielleicht muss man rein architektonisch nicht allen hinterhertrauern, aber gerade erst in jüngster Vergangenheit verschwundene Industriebauten wie die Zuckerfabrik (siehe 19), die Travertin-Steinbrüche (20) oder die Cannstatter Bettfedernfabrik (22) waren für ihre Zeit prägend und nicht selten Aushängeschilder des Industriestandorts Stuttgart, der weit mehr zu bieten hatte als nur fahrbare Untersätze. Etwa Schokolade, woran die spärlichen und reichlich vernachlässigten Überreste der Villa Moser (11) erinnern. Da tröstet wenig, dass auch deren königliches Vorbild, die Villa Berg (10), wenig vom alten Glanz ausstrahlt oder selbst hochmoderne Konzernzentren längst nicht mehr preisgekrönt, sondern dem Verfall preisgegeben sind (33).

Bei all der Über- und Neubebauung sind die Hinterlassenschaften des Mittelalters in der Neckarmetropole rar, aber für kundige Spurensucher durchaus zu entdecken. Das gilt für die wenigen Überbleibsel der Stadtmauer (6), aber besonders auch für Burgen, mit denen das heutige Stuttgarter Stadtgebiet durchaus reichlich gesegnet war. Die vielen Ruinen liegen heute eher flach (24, 27), während das Alte Schloss noch steht und von manch unrühmlichen Episoden erzählen kann (5). Die haben auch mit dem Neuen Lusthaus zu tun, einst ein Quasi-Weltwunder, heute ein So-Da-Treppenhaus im Schlosspark (2).

Dass so viel gebaut werden musste, lag natürlich auch an viel Zerstörung. Der von den Nazis heraufbeschworene Weltkrieg hat das Bild Stuttgarts massiv verändert. Und zwar nicht nur an der Oberfläche. Die Stadt ist gut unterhöhlt (25) – allerdings auch ohne Kriegseinflüsse (23) – durch Bunker, die umgekehrt noch immer an nicht wenigen Stellen in die Höhe ragen (26, 28). Markante Zeugnisse jener unseligen Tage sind gut sichtbar auch der große Trümmerhaufen des Birkenkopfes (12) und deutlich weniger gut sichtbar einige Säulen für die größenwahnsinnige »Welthauptstadt Germania«.

Damit zum erwähnten verlässlichen Lost-Place-Lieferanten Bahn und den nie enden wollenden Diskussionen um Gleise, Brücken, Tunnel – und natürlich existieren auch in Stuttgart aufgelassene (15, 16) oder heruntergekommene Bahnhöfe (18). Als Besonderheit dürfen die kurzzeitig in die Luft gehobene ehemalige Bahndirektion (1) und die auf mehrere Plätze verteilten Reste eines einst hochgelobten Viaduktes (17) gelten.

Aber natürlich ist da noch einiges mehr: Klassiker wie geschlossene Gasthäuser ohne Gäste, vernachlässigt-verwunschene Friedhöfe zum Flanieren (oder Spielen) oder Kirchen ohne Gottesdienstbesucher, die nach neuen Nutzungen suchen müssen, um nicht dem Abriss zu verfallen. Während das eine frühere Gefängnis sich mitten im Wohngebiet fast unsichtbar macht (8), ist das andere am Stadtrand nicht zu übersehen und aufgrund seiner »terroristischen« Vergangenheit nicht nur namentlich fast weltweit bekannt (29). Kuriose Geschichten haben am Neckar auch Aussichtstürme zu berichten, die zwar längst »abgestumpft« waren, für die aber noch Eintrittsgelder gezahlt wurden (13), selbst hübsche Treppen haben eine gar nicht harmlose Vergangenheit (7) und manches unscheinbare Wohngebäude verbirgt hinter der Fassade schaurige Tragödien (9). Stuttgart, Stadt der biederen Schwaben und braven Häuslebauer? Wer das glaubt, der täuscht sich gewaltig … und hat dieses Buch einfach noch nicht gelesen.

Freiluftkonzert auf unsicherem Grund: in der Kienbachstraße (Kapitel 23)

Heute geschlossen, morgen auch: das einstige IBM-Hauptquartier (Kapitel 33)

VERHALTENSREGELN FÜR LOST PLACES

1. Behandeln Sie die Orte mit Respekt

Jedes Bauwerk und jedes Gebäude erzählt eine Geschichte aus vergangenen Tagen. Dies gilt es zu schützen. Und auch wenn es nicht immer so aussieht, hat jeder Lost Place einen Eigentümer. Dies ist zu respektieren und Zuwiderhandlungen können ernsthafte rechtliche Konsequenzen haben. Betreten Sie keine Gebäude oder Grundstücke unbefugt, zerstören oder beschädigen Sie nichts, öffnen Sie nichts gewaltsam. Sind Fenster oder Türen verschlossen, soll das auch so bleiben. Dieses Buch ist so konzipiert, dass Sie viele der Orte frei oder auf Nachfrage betreten dürfen (Burgruinen etc.) oder, falls dies nicht offiziell erlaubt ist, die Orte auch »mit Abstand« erfahren und genießen können.

2. Nehmen Sie nichts mit, lassen Sie nichts da

Wenn Sie etwas von einem Lost Place mitnehmen, und sei es noch so klein, ist es Diebstahl. Wie bereits in Punkt 1 gesagt, alle diese Orte haben einen Eigentümer. Daher gilt die Regel: Alles bleibt, wie es ist. Belassen Sie es bei den schönen Einblicken und Fotos, die Sie an dem Ort machen.

Das bedeutet auch: Lassen Sie nichts zurück, keine Essensreste, keine Kaugummis, keine Zigarettenkippen..

Die Lichter sind aus: Villa Berg. (Kapitel 10)

3. Rauchen verboten

Das bringt uns zum nächsten Punkt: Rauchen verboten. Zollen Sie dem ehrwürdigen Ort Respekt und verzichten Sie für die Zeit, die Sie da sind, aufs Rauchen. Zigarettenkippen brauchen nicht nur 15 Jahre zum Verrotten (sie sollten übrigens nirgends achtlos weggeworfen werden), sondern können schnell ein verheerendes Feuer verursachen.

4. Keine Graffiti

Dass Sie nichts hinterlassen sollen, gilt auch für »Kunstwerke« an den Wänden. Lassen Sie Wände und Mauern, wie sie sind. Auch die Menschen nach Ihnen sollen den Ort so erleben können, wie er früher einmal war.

5. Seien Sie vorsichtig und gehen Sie nicht allein

Besonders wichtig: Vorsicht ist besser als Nachsicht. Das gilt vor allem bei Lost Places. Brüchige Mauern, frühere Keller, herumliegende Überreste oder auch Müll, aber auch natürliche Gegebenheiten (Bodenlöcher, Höhlen) bergen einige Gefahren. Zudem liegen manche der Objekte recht einsam. Deshalb ist es ratsam, immer mindestens zu zweit, besser noch zu dritt einen Lost Place zu besuchen. Da gilt die alte Regel: Ist eine Person verletzt, bleibt die zweite vor Ort und die dritte holt Hilfe. Zudem weiß man nie, wen man vor Ort trifft. Plünderer, Spinner oder Betrunkene sind auch oft rund um Lost Places anzutreffen. Da ist es beruhigender, nicht allein unterwegs zu sein.

Schuttabladeplatz einer ganzen Stadt: der Monte Scherbelino (Kapitel 12)

Keine Weinkeller, sondern Luftschutzräume: Pionierstollen in Mühlhausen (Kapitel 25)

 1 

EIN SCHWEBENDES VERFAHREN

Die ehemalige Bahndirektion

Das Schicksal des stattlichen Verwaltungsgebäudes bestimmten jeweils die neuen Bahnhöfe gleich nebenan: Dank eines solchen ist es überhaupt erst entstanden, dank dessen Nachfolger ist seine Zukunft ungewiss.

Stadtbezirk Stuttgart-Mitte Ort Jägerstr. 17, 70174 Stuttgart GPS 48.785103, 9.179540 Anfahrt Bus 40, 42, 44, 47, Haltestelle Hauptbahnhof Arnulf-Klett-Platz; Stadtbahn 5, 6, 8, 9, 11, 12, 14, 15, 29 Haltestelle Hauptbahnhof Arnulf-Klett-Platz

Mittlerweile zwar wieder auf festen Boden zurückgekehrt, fehlt der früheren Bahndirektion noch immer die Zukunftsperspektive.

EIN WETTBEWERB, TEIL 1 Wer heute an der Kreuzung Kriegsbergstraße/Heilbronner Straße steht, der braucht viel Fantasie: Umgeben von riesigen Baustellen fällt es schwer, sich vorzustellen, wie die Umgebung nördlich des neuen Hauptbahnhofes aussehen soll, wenn all die Kräne und Baumaschinen in mittelnaher Zukunft einmal verschwunden und die neuen Gebäude entstanden sind. Ganz ähnliche Fragen mochten sich die Stuttgarter schon kurz nach der Jahrhundertwende um 1910 in genau der gleichen Ecke ihrer Stadt gestellt haben. Zu diesem Zeitpunkt war endgültig beschlossen worden, den bisherigen Hauptbahnhof, der in der Nähe des Schlossplatzes lag, durch einen wesentlich größeren Bau zu ersetzen und ihn an den Rand der Innenstadt zu verschieben. Die Entscheidung brachte es mit sich, dass auch die Unterkünfte der damals noch Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen ein neues Zuhause bekommen sollten, bislang hatten sie verteilt auf mehrere Häuser ebenfalls in der Innenstadt residiert, nun sollten sie ein einziges, aber sehr repräsentatives großes Verwaltungsgebäude bekommen, in dem alle Abteilungen gemeinsam untergebracht werden konnten. Wie auch für den Bahnhof selbst, wurde für dieses Vorhaben ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, in dem genau diese Vorgaben von den Teilnehmern gefordert wurden. Der Baugrund war bereits erstanden: eine großräumige Fläche nördlich des zukünftigen Bahnhofes zwischen der Kriegsberg-, Jäger-, Heilbronner und Ossietzkystraße (heutige Straßennamen). Da stattliche Preisgelder winkten, gingen bei der Jury des 1909 ausgeschriebenen Wettbewerbs zahlreiche Vorschläge ein. Wer sich die Entwürfe heute ansieht, den erstaunt die Ähnlichkeit der Ideen, die zwar einerseits zeitbedingt ist, andererseits durch die Prämissen eingeschränkt gleichzeitig ein gewisses konformes Denken verrät. Die Preisrichter waren jedenfalls zufrieden, verteilten eifrig Gelder, aber letztlich keinem der Teilnehmer den Auftrag.

Die Fassade wurde extra auf den Bahnhof ausgerichtet.

OHNE VERSPÄTUNG Den bekam Martin Mayer, der hierfür die nun zahlreich vorhandenen Pläne nutzen konnte, zugleich aber eigene Ideen einbrachte – gleichwohl ähnelte sein Entwurf wiederum erneut stark den Wettbewerbern. Entstehen sollte ein mehrstöckiger Block um einen großen Innenhof mit Schaufassade in Richtung Bahnhof, im Inneren die Abteilungen säuberlich getrennt auf den bis zu sechs Stockwerken, aber eben alle dadurch leicht erreichbar für die jeweils andere. Mitbedacht wurde zudem eine mögliche Erweiterung im Nordosten. Äußerlich war das Gebäude zeittypisch dem Historismus verpflichtet, klassizistische und neobarocke Elemente verbanden sich, dies jedoch in einem insgesamt sehr zurückhaltenden Stil, ganz im Sinne der Auftraggeber: Übersehbar war der Bau durch seine Lage und Größe nicht, genau wie es einer Direktion entsprach, pompösen Glanz durfte er aber ebenfalls nicht ausstrahlen, handelte es sich doch letztlich schlicht um ein Verwaltungsgebäude. Mit Architekt Mayer konnte man zufrieden sein. Dank des gärtnerisch angelegten Innenhofes war für die Inhaber der Büros auf dieser an sich nicht begünstigten Seite der Blick aus den Fenstern trotzdem angenehm. Außerdem durfte ein Künstler dort ein großes Fries anbringen, damit die Beamten nicht vergaßen, womit sie sich beschäftigten: Gezeigt wurde auf den längst verschwundenen Bildern die Entstehung einer neuen Eisenbahnstrecke von den ersten Vermessungsarbeiten bis zur Einweihung. Ein weiterer Pluspunkt war, dass für die Innenausstattung die modernste Technik, die in jenen Tagen verfügbar war, Verwendung fand: Von der Zentralheizung über verborgene Leitungen, von Kühlschränken bis zu Müllschluckern, hier war die Bahndirektion auf dem absolut neuesten Stand. Und drittens gelang es Mayer, seinen Bau binnen kurzer Frist zu vollenden – lange vor dem benachbarten Hauptbahnhof, vor allem aber auch, was er natürlich nicht wissen konnte, vor dem Ersten Weltkrieg, der viele Bauprojekte stoppte. Dieses Problem hatte die Bahndirektion nicht, sie war vorher bezugsfertig und trat in Dienst. 1920 ging sie an die Deutsche Reichsbahn über, die ein oder anderen Anbauten erfolgten, nach dem nächsten Weltkrieg lautete der Name des Besitzers Deutsche Bundesbahn und noch ein paar weitere Anbauten erfolgten, nachdem die teils massiven Kriegsschäden beseitigt worden waren. Irgendwann kam dann wieder die Idee eines neuen Hauptbahnhofes auf …

Der Bewuchs verdeckt auch manche Schäden.

EIN WETTBEWERB, TEIL 2 Die Bahnreform des Jahres 1994 machte die zentrale Bahndirektion größtenteils überflüssig, durch eine Neuordnung wurden die Abteilungen anderen Institutionen angegliedert, die ihre Sitze größtenteils nicht mehr in Stuttgart hatten. Zwischenzeitlich zog die Stadtverwaltung während der Renovierung des Rathauses hierher, ihr folgte eine gemischte Nutzung für Büros, Ateliers und Vergnügungsstätten mit absehbar begrenzter Dauer. Das ebenso enorme wie bekanntlich nicht unumstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 mit dem Neubau des Hauptbahnhofes im Mittelpunkt bedrohte nämlich folgerichtig auch das Direktionsgebäude – und zwar auf vielerlei Art. Als Verwaltungssitz überflüssig, stand es den Vorhaben noch dazu buchstäblich im Wege: Die neuen unterirdischen Gleisanlagen, die ja im 90°-Winkel zu den bisherigen verlaufen sollen, führten in einem Tunnel direkt unter dem Gebäude hindurch. Die Bahn erhielt die Genehmigung zum Abriss der fast exakt einhundert Jahre alten Direktion – mit einer Einschränkung: Der zum Hauptbahnhof ausgerichtete Block mit der Schaufassade musste erhalten bleiben, hier griff der Denkmalschutz. Der Rest verschwand ziemlich schnell, doch der gestutzte Direktionsbau war für die Arbeiten noch immer ein Problem. Zwar stand er inzwischen allein auf weiter Flur, doch er befand sich noch immer direkt über dem vorgesehenen Tunnel. Die Lösung: eine riesige Stelzenkonstruktion. Während unter ihm die Baumaschinen baggerten, stand ab 2016 die ehemalige Bahndirektion wie ein Pfahlbau vom Bodensee quasi in der Luft. 2020 war der Schwebezustand beendet, das Gebäude senkte sich auf den fertiggestellten Tunnel. Über die weitere Zukunft wird – wieder einmal – ein Wettbewerb entscheiden. Dessen Aufgabe ist die Gesamtgestaltung des Areals am Nordausgang des Bahnhofs, klare Vorgabe hierbei: Das Bahndirektionsgebäude muss integriert werden. Der derzeit eher schäbige Zustand soll sich nach Möglichkeit, so der bislang prominenteste Vorschlag, in ein exklusives Fünf-Sterne-Hotel verwandeln. Auch dafür braucht man momentan noch sehr viel Fantasie.

Das besondere Erlebnis

Erstmals unterhöhlt wurde die Bahndirektion bereits im Frühjahr 1939. Kriegsvorbereitend entstand unter dem Flügel an der Heilbronner Straße ein Luftschutzkeller, der anfangs für gut 220 Personen gedacht und mit einem weiteren Bunker in direkter Nachbarschaft verbunden war. Im Laufe des Weltkrieges wurde er zudem noch geringfügig erweitert. Obwohl nach 1945 unzugänglich gemacht und damit funktionslos, blieb er bis zu den Bauarbeiten für Stuttgart 21 erhalten, die schließlich für den endgültigen Abriss beziehungsweise die Auffüllung des Luftschutzkellers sorgten.

Funktional sollte das Gebäude sein, aber trotzdem natürlich auch repräsentativ.

 2 

IN WÜRDE STERBEN LASSEN

Das Neue Lusthaus

Es galt als Wunder seiner Zeit und faszinierte Besucher aus ganz Europa, doch das Schicksal meinte es nicht gut mit dem Neuen Lusthaus Herzog Ludwigs. Selbst die in den Schlossgarten versetzte Ruine war bis in jüngste Gegenwart gefährdet.

Stadtbezirk Stuttgart-Mitte Ort Willy-Brandt-Str. (Mittlerer Schlossgarten), 70173 Stuttgart GPS 48.784872, 9.187837 Anfahrt Bus 40, 42, 47, Haltestelle Staatsgalerie; Stadtbahn 1, 2, 4, 9, 11, 14, Haltestelle Staatsgalerie

Wie ein Fremdkörper wirkt die Lusthausruine im Schlossgarten – denn dort gehört sie ja auch nicht hin.

EIN MEISTERSTÜCK »Der allmechtig ewig Gott wölle/ Solch werckh nach seinem Willen vor Unglückh gnädig/ Lichen beschützen und beständig erhalten. Amen.« Man kann leider nicht behaupten, dass dieser buchstäblich fromme Wunsch in Erfüllung ging, den Auftraggeber Herzog Ludwig auf einer Urkunde in das Fundament seines Großprojektes Neues Lusthaus einmauern ließ. Nicht einmal für ihn selbst, der die Vollendung des Gebäudes nicht erleben sollte – er starb wenige Tage vorher. 1584 hatten die Arbeiten begonnen, in das sumpfige Gelände nahe des Alten Schlosses mussten zunächst 1700 Baumpfähle gerammt werden, um eine belastbare Grundlage für das Vorhaben zu schaffen, das Herzog Ludwigs Ruhm vergrößern sollte. Die Idee war noch relativ neu: Da es im Schloss oder Rathaus keinen geeigneten Raum hierfür gab, sollte für Empfänge und Festlichkeiten, Familienfeiern und Aufführungen ein eigenes, selbstständiges Gebäude nur für diesen Zweck errichtet werden: ein Lusthaus. Ein reiner Repräsentationsbau, deshalb durfte man sich auch nicht lumpen lassen. Was Architekt Georg Beer erschaffen sollte, war in diesen Ausmaßen noch nie dagewesen. Einmal vollendet, würde das Lusthaus bis auf die Höhe der Stiftskirche heranreichen, das Stadtbild komplett verändern und für viele Besucher zum Schönsten und Erstaunlichsten zählen, was an Baukunst im ganzen Reich zu sehen war. Der verschnörkelte Renaissancebau mit seinen vier archaischen Ecktürmen – die keinerlei Wehrzweck mehr besaßen, sondern nur den Herrschaftsanspruch unterstrichen –, den hohen Giebeln, den umlaufenden Arkaden und äußeren Treppenhäusern, überreich verziert mit Ornamenten, war schon von außen ein Hingucker. Das Innere hielt locker mit: Auf das Erdgeschoss, eine Brunnenhalle mit Wasserbassins, folgte der Festsaal, gut 55 mal 20 Meter groß, komplett überwölbt von einem säulenlosen Holzgewölbe – für die Zeitgenossen geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Natürlich war die Ausstattung reinster Prunk: Gemälde, Bilder und Statuen verwiesen auf das württembergische Haus und seine Ahnen, auf die Städte und Länder des Herrschaftsgebietes, auf die eigene Frömmigkeit und vorbildliche Herrscher. Nach kaum zehn Jahren Bauzeit stand das Neue Lusthaus im August 1593 vor der Einweihung.

ZWECKENTFREMDUNGEN Womöglich war es ein schlechtes Omen, dass Bauherr Herzog Ludwig unerwartet mit nur 39 Jahren wenige Tage vor diesem Termin verstarb. Seine Nachfolger aber wussten seine Hinterlassenschaft zu schätzen und zu nutzen. Für die nächsten Jahrzehnte erfüllte das Lusthaus seinen vorgesehenen Zweck in jeder Hinsicht: Nicht nur fanden dort ausschweifende Festlichkeiten statt, sämtliche Gäste von Taufen, Hochzeiten, Empfängen und Verhandlungen waren von dem Gebäude und seinem Saal vollends überwältigt, sein Ruf verbreitete sich in ganz Europa. Doch die Glanzzeit währte nur kurz, mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 1618 kam das abrupte Ende aller Fröhlichkeiten. Danach war die Zeit über das Lusthaus hinweggegangen: Bedarf an einem Festsaal dieses Ausmaßes bestand nicht mehr, die heranbrechende Epoche des Barock ließ das einstige Wunderwerk der Renaissance nunmehr als veraltet erscheinen, das Interesse an dem Bau ging verloren, lange stand es sogar leer. Erst als am Hof das Interesse an Theateraufführungen und vor allem der Oper geweckt wurde, fiel der Blick wieder auf das Lusthaus. Eher provisorisch wurde der Saal – das Erdgeschoss war zum besseren Lagerraum verkommen – nun für diese Zwecke genutzt, doch war dies keine befriedigende Lösung. Ab 1750 ließ Herzog Carl Eugen das Lusthaus mehrfach im Sinne des Barocks für große Opernaufführungen umbauen, Stuttgart genoss in dieser Kunst in jenen Tagen einen europaweit hervorragenden Ruf. Fortan veränderte sich das Lusthaus innerlich wie äußerlich stetig. Vom alten Renaissancebau war durch Anbauten bald kaum mehr etwas erkennbar. Da es aber nie so recht den jeweils neuesten Anforderungen des Theaterwesens entsprach, blieb es sowohl eine Art Dauerprovisorium wie auch Dauerbaustelle. Nach der nächsten großen Umbauphase 1811 hatte sich das Aussehen vollends verändert, was allerdings nicht verhinderte, dass wiederum dreißig Jahre später der komplette Abbruch und Neubau des Lusthauses auf dem Plan standen.

Was einmal filigran war, erscheint (und ist) heute zerbrechlich.

RETTUNGSVERSUCHE Ausgerechnet der extra hierfür engagierte Architekt Carl Friedrich Beisbarth war entsetzt. Trotz der über all die Jahre erfolgten Umbauten erkannte er im Inneren die noch vorhandenen Überreste des ursprünglichen Lusthauses und deren unschätzbaren Wert. Allerdings war er der Einzige. Einerseits zuständig für das Niederreißen des Bauwerks, fertigte er in seiner Freizeit unter großen Mühen Hunderte von Zeichnungen an, um das Verschwindende zu dokumentieren. Der klotzige Neubau von 1845 hatte nichts mehr mit dem Lusthaus von einst gemein. Dachte man. Denn in der Nacht vom 19. auf den