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DAS BÖSE KOMMT NACHTS. - DAS HERZ STIRBT ZULETZT.
Liseys berühmter Mann ist tot – und sein Nachlass weckt albtraumhafte Erinnerungen und Ahnungen in ihr, die bald grausame Gewissheit werden ...
In Stephen Kings vielleicht dichtestem und persönlichstem Roman geht es um die Geheimsprache der Liebe und die Allgegenwart des Wahnsinns.
Lisey ist seit zwei Jahren Witwe. Bereits lange vor seinem Tod hat ihr Mann Scott Landon – ein hochangesehener Romanautor – für sie eine Spur mit Hinweisen ausgelegt, die sie nun immer tiefer in seine von Dämonen bevölkerte Vergangenheit führt. Stück für Stück werden sorgsam verdrängte Erinnerungen in ihr wach: an eine andere Welt, die sie einst mit Scott besucht hat, tagsüber ein märchenhaftes Paradies, während nachts überall das Böse lauert. Ob Scott dort auf sie wartet, damit sie ihn ins Leben zurückholt? Plötzlich tritt ein Verrückter auf den Plan, der sich Zack McCool nennt und es auf Scotts schriftstellerischen Nachlass abgesehen hat. Und um seine Forderungen zu bekräftigen, verletzt er Lisey auf bestialische Weise ...
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Seitenzahl: 939
DAS BUCH
Lisey ist seit zwei Jahren Witwe. Bereits lange vor seinem Tod hat ihr Mann Scott Landon – ein angesehener Romanautor – für sie eine Spur mit Hinweisen ausgelegt, die sie nun immer tiefer in seine von Dämonen bevölkerte Vergangenheit führt. Stück für Stück werden sorgsam verdrängte Erinnerungen in ihr wach: an eine andere Welt, die sie einst mit Scott besucht hat, tagsüber ein märchenhaftes Paradies, während nachts überall das Böse lauert. Ob Scott dort auf sie wartet, damit sie ihn ins Leben zurückholt? Plötzlich tritt ein Verrückter auf den Plan, der sich Zack McCool nennt und es auf Scotts schriftstellerischen Nachlass abgesehen hat. Und um seine Forderungen zu bekräftigen, schreckt er vor nichts zurück ...
»Auch wenn das Böse nicht immer besiegt werden kann: Love macht einen am Ende glücklich.« Badische Zeitung
DER AUTOR
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Bei Heyne erschien zuletzt sein Bestsellerroman Revival.
Im Anhang an den Roman findet sich ein ausführliches Werkverzeichnis des Autors.
Für Tabby
Where do you go when you’re lonely? Where do you go when you’re blue? Where do you go when you’re lonely? I’ll follow you When the stars go blue
Ryan Adams
Baby
Babylove
»Wäre ich der Mond, wüsste ich, wo ich hinfiele.«
– D.H. Lawrence, Der Regenbogen
1 Für die Öffentlichkeit sind die Ehefrauen berühmter Schriftsteller praktisch unsichtbar, und niemand wusste das besser als Lisey Landon. Ihr Mann hatte den Pulitzerpreis und den National Book Award gewonnen, aber Lisey hatte in ihrem Leben nur ein einziges Interview gegeben: für die bekannte Frauenzeitschrift, in der die Artikelserie »Ja, ich bin mit ihm verheiratet!« erscheint. Sie hatte ungefähr die Hälfte des fünfzig Zeilen langen Interviews auf die Erklärung verwendet, dass ihr Kosename sich auf »CeeCee« reimte. Der größte Teil der anderen Hälfte hatte mit ihrem Rezept für langsam gebratenes Roastbeef zu tun gehabt. Liseys Schwester Amanda sagte, das zu dem Interview gehörende Foto lasse Lisey dick aussehen.
Keine von Liseys Schwestern war über das Vergnügen erhaben, Aufregung zu provozieren (»Stunk zu machen«, wie ihr Vater sich immer ausgedrückt hatte) oder die schmutzige Wäsche anderer Leute durchzuhecheln, aber die Einzige, bei der es Lisey schwerfiel, sie zu mögen, war ebendiese Amanda. Amanda, die älteste (und sonderbarste) der ehemaligen Debusher-Girls aus Lisbon Falls, lebte gegenwärtig allein in einem Haus, das Lisey ihr zur Verfügung gestellt hatte: ein wetterfestes Häuschen nicht allzu weit vom Castle View entfernt, sodass Lisey, Darla und Cantata sie im Auge behalten konnten. Lisey hatte es ihr vor sieben Jahren gekauft, fünf bevor Scott gestorben war. Jung gestorben war. Vorzeitig abberufen worden war, wie man so schön sagte. Lisey konnte noch immer nicht recht glauben, dass er seit zwei Jahren nicht mehr da war. Es erschien ihr länger her zu sein und zugleich nur einen Wimpernschlag.
Als Lisey endlich dazu kam, sich daranzumachen, sein Büro auszuräumen – eine Flucht großer und schön beleuchteter Räume, die ursprünglich nur der Heuboden über einer Scheune gewesen waren –, war Amanda am dritten Tag aufgekreuzt, nachdem Lisey bereits mit der Bestandsaufnahme der ausländischen Ausgaben (von denen es Hunderte gab) fertig war, aber sonst noch nicht mehr hatte tun können, als eine Liste der Möbel zu erstellen, auf der Sternchen jene Stücke bezeichneten, von denen sie glaubte, sie behalten zu sollen. Sie wartete darauf, dass Amanda sie fragte, wieso sie um Himmels willen nicht schneller arbeite, aber Amanda stellte keine Fragen. Während Lisey von der Möbelfrage zu einer lustlosen (und ganztägigen) Betrachtung der in dem größten Schrank gestapelten Pappkartons mit alter Korrespondenz überging, schien Amandas gesamte Aufmerksamkeit weiter den eindrucksvollen Haufen und Stapeln von Memorabilien zu gelten, die auf ganzer Länge an der Südwand des Arbeitszimmers aufgetürmt waren. Sie tigerte vor dieser schlangenartigen Ansammlung auf und ab, sagte wenig oder nichts, schrieb aber häufig rasch etwas in ein kleines Notizbuch, das sie stets zur Hand hatte.
Lisey sagte nicht Was suchst du? oder Was notierst du dir da? Wie Scott mehr als einmal festgestellt hatte, besaß Lisey etwas, was bestimmt zu den seltensten menschlichen Gaben gehörte: Obwohl sie jemand war, der sich um den eigenen Kram kümmerte, störte es sie nicht, wenn man sich um anderer Leute Kram kümmerte. Das heißt, solange man keine Sprengsätze herstellte, um jemanden damit zu bewerfen, und in Amandas Fall waren Sprengsätze immer im Bereich des Möglichen. Sie war die Art Frau, die herumschnüffeln musste, die Art Frau, die früher oder später den Mund aufmachen würde.
Ihr Ehemann war 1985 von Rumford aus, wo sie gelebt hatten (»wie zwei in einem Abwasserrohr festsitzende Vielfraße«, hatte Scott nach einem Nachmittagsbesuch gesagt, den er nie zu wiederholen geschworen hatte), nach Süden abgehauen. Ihr einziges Kind, eine Tochter namens Intermezzo, kurz Metzie gerufen, war 1989 (mit einem Fernfahrer als Liebhaber) nach Kanada gegangen. »Eine flog nach Norden, eine nach Süden übers Land, eine konnt’ nicht halten ihren Lästerrand.« Das war in ihrer Kindheit ein Holperreim ihres Vaters gewesen, und diejenige von Dandy Dave Debushers Mädchen, die niemals ihren Lästerrand halten konnte, war bestimmt Manda, die erst von ihrem Mann sitzen gelassen und dann von ihrer Tochter verschmäht worden war.
Auch wenn es manchmal schwierig war, Amanda zu mögen, hatte Lisey nicht gewollt, dass sie allein dort unten in Rumford lebte, und obwohl sie sich nie darüber geäußert hatten, war Lisey sich sicher, dass Darla und Cantata das Gleiche empfanden. Deshalb hatte sie darüber mit Scott gesprochen und das kleine Cape-Cod-Haus gefunden, das für 97 000 Dollar bar auf den Tisch zu haben war. Wenig später war Amanda nach Norden gezogen, wo man sie leicht kontrollieren konnte.
Jetzt war Scott tot, und Lisey war endlich dazu gekommen, das Ausräumen seiner Schreibwerkstatt in Angriff zu nehmen. Gegen Mittag des vierten Tages waren die ausländischen Ausgaben in Kartons verpackt, die Korrespondenz war gekennzeichnet und in eine gewisse Ordnung gebracht, und sie hatte eine gute Vorstellung davon, welche Möbelstücke abtransportiert werden und welche bleiben würden. Weshalb hatte sie also das Gefühl, so wenig getan zu haben? Sie hatte von Anfang an gewusst, dass dies keine Aufgabe war, die sich beschleunigen ließ. Nicht zu reden von all den lästigen Briefen und Anrufen (und mehr als nur ein paar Besuchen), die sie seit Scotts Tod erhalten hatte. Letztlich würden die Leute, die sich für Scotts unveröffentlichten Nachlass interessierten, wohl bekommen, was sie wollten, allerdings nicht bevor sie auch bereit war, es ihnen zu überlassen. Dieser Punkt war ihnen anfangs nicht klar gewesen; sie hatten es nicht gefressen, wie es so schön hieß. Inzwischen glaubte sie aber, dass die meisten auf dem Laufenden waren.
Es gab viele Wörter für das Zeug, das Scott hinterlassen hatte. Das einzige, das sie wirklich verstand, war Memorabilien, aber es gab noch ein weiteres, ein komisches Wort, das wie Inkunkabilla klang. Auf die hatten es die ungeduldigen Leute, die Schmeichler, die Zornigen abgesehen: Scotts Inkunkabilla. Lisey fing an, die Leute in Gedanken als Inkunks zu bezeichnen.
2 Was sie vor allem empfand, besonders seit Amanda aufgekreuzt war, war Mutlosigkeit, so als hätte sie entweder die Aufgabe selbst weit unterschätzt oder ihre Fähigkeit, sie bis zum unvermeidlichen Ende durchzuziehen, (heftig) überschätzt – die aufzuhebenden Möbel, die unten in der Scheune eingelagert waren, die eingerollten und mit Klebeband zugeklebten Teppiche, der gelbe Ryder-Möbelwagen in der Einfahrt, wo er seinen Schatten auf den Bretterzaun zwischen ihrem Garten und dem der Galloways von nebenan warf.
Ach, und nicht zu vergessen das traurige Herzstück dieses Büros, die drei Desktop-Rechner (eigentlich waren es vier gewesen, aber der in Scotts Sammlerecke war jetzt weg, wofür Lisey selbst gesorgt hatte). Jeder war neuer und kleiner als sein Vorgänger, aber selbst der neueste war noch immer ein großes Desktop-Modell, und alle waren funktionsfähig. Sie waren auch passwortgeschützt, aber Lisey wusste nicht, wie die Passwörter lauteten. Sie hatte nie danach gefragt und auch sonst keine Ahnung, welcher Elektronikmüll auf den Festplatten der Computer gespeichert sein mochte. Einkaufslisten? Gedichte, Erotika? Sie war sich sicher, dass er einen Internetzugang gehabt hatte, hatte aber keine Ahnung, welche Seiten er dort besucht hatte. Amazon? Drudge Report? Hank Williams Lives? Madam Cruellas Golden Showers & Tower of Power? Sie neigte dazu, Letzteres nicht für möglich zu halten, sich einzubilden, sie hätte die Rechnungen dafür sehen müssen, aber in Wirklichkeit war das natürlich Bockmist. Hätte Scott einen Tausender im Monat vor ihr verbergen wollen, hätte er das tun können. Und die Passwörter? Der Witz war, dass er sie ihr vielleicht sogar verraten hatte. Sie vergaß solches Zeug nur, das war alles. Lisey nahm sich vor, es mit ihrem Namen zu versuchen. Vielleicht nachdem Amanda für heute heimgefahren war. Was allem Anschein nach nicht so bald passieren würde.
Lisey lehnte sich zurück und blies sich das Haar aus der Stirn. Bei diesem Tempo komme ich erst im Juli zu den Manuskripten, dachte sie. Die Inkunks würden überschnappen, wenn sie sähen, in welchem Schneckentempo ich vorankomme. Vor allem dieser letzte.
Der Letzte – das war vor fünf Monaten gewesen – hatte es geschafft, nicht zu explodieren, hatte es geschafft, weiter sehr höflich zu sprechen, bis sie anfing zu glauben, er könnte anders sein. Lisey hatte ihm erzählt, Scotts Büro stehe nun seit nahezu eineinhalb Jahren leer, aber sie habe schon fast die Energie und Willenskraft gesammelt, um dort hinaufzugehen und anzufangen, die Räume zu putzen und alles aufzuräumen.
Der Name ihres Besuchers war Professor Joseph Woodbody von der Anglistikfakultät der University of Pittsburgh gewesen. Die Pitt war Scotts Alma Mater gewesen, und Woodbodys Seminar »Scott Landon und der amerikanische Mythos« war äußerst beliebt und äußerst gut besucht. Außerdem hatte er dieses Jahr vier Doktoranden, die über Scott Landon promovierten, weshalb es wohl unvermeidbar war, dass der Inkunk-Krieger in den Vordergrund trat, als Lisey so vage Ausdrücke wie eher früher als später und fast bestimmt irgendwann diesen Sommer benutzte. Erst als sie ihm versicherte, sie werde ihn anrufen, »wenn der Staub sich gesetzt« habe, geriet Woodbody jedoch wirklich aus der Fassung.
Er sagte, die Tatsache, dass sie das Bett eines großen amerikanischen Schriftstellers geteilt habe, qualifiziere sie nicht dafür, als seine literarische Nachlassverwalterin zu fungieren. Das, sagte er, sei eine Aufgabe für einen Fachmann, und seines Wissens besitze Mrs. Landon nicht einmal einen College-Abschluss. Er erinnerte sie an die Jahre, die seit Scott Landons Tod bereits verstrichen waren, und die ständig zunehmenden Gerüchte. Angeblich gab es haufenweise unveröffentlichte Arbeiten Landons – Kurzgeschichten, sogar Romane. Konnte sie ihn nicht wenigstens für kurze Zeit in sein Arbeitszimmer lassen? Ihn ein bisschen in den Karteikästen und Schreibtischschubladen nachforschen lassen, und wäre es auch nur, um die wildesten Gerüchte zu widerlegen? Natürlich könne sie die ganze Zeit dabeibleiben – das verstehe sich von selbst.
»Nein«, hatte sie gesagt und Professor Woodbody die Tür gewiesen. »Ich bin noch nicht so weit.« Sie hatte die Tiefschläge des Mannes ignoriert – oder es zumindest versucht –, weil er offenbar doch so verrückt war wie alle anderen. Das hatte er nur geschickter und etwas länger getarnt. »Und wenn ich’s bin, werde ich mir alles ansehen wollen, nicht nur die Manuskripte.«
»Aber …«
Sie hatte ernst genickt. »Alles beim Alten.«
»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.«
Natürlich tat er das nicht. Das hatte zur vertraulichen Sprache ihrer Ehe gehört. Wie oft war Scott hereingeschneit und hatte gerufen: »He, Lisey, ich bin wieder da – alles beim Alten?« Womit er gemeint hatte: Ist alles in Ordnung, ist alles cool? Aber wie die meisten Schlagworte (Scott hatte ihr das einmal erklärt, aber Lisey hatte es bereits gewusst) hatte auch dieses eine innere Bedeutung. Ein Mann wie Woodbody konnte die innere Bedeutung von alles beim Alten nie erfassen. Lisey hätte sie ihm den ganzen Tag lang erklären können, und er hätte sie trotzdem nicht verstanden. Weshalb? Weil er ein Inkunk war, und wenn es um Scott Landon ging, interessierte die Inkunks nur eines.
»Spielt keine Rolle«, hatte sie an jenem Tag vor fünf Monaten zu Professor Woodbody gesagt. »Scott hätte es verstanden.«
3 Hätte Amanda sie gefragt, wo die Dinge aus Scotts »Sammlerecke« eingelagert seien – die Preise und Plaketten und solches Zeug –, hätte Lisey gelogen (was sie für jemanden, der das selten tat, leidlich gut konnte) und gesagt: »In einem Schließfach in Mechanic Falls.« Amanda fragte jedoch nicht. Sie blätterte nur immer demonstrativer in ihrem kleinen Notizbuch und versuchte offenbar, ihre jüngere Schwester dazu zu bringen, das Thema mit der geeigneten Frage anzuschneiden, aber auch Lisey fragte nicht. Sie dachte lediglich, wie leer diese Ecke jetzt doch war, wie leer und uninteressant, seit so viele von Scotts Erinnerungsstücken verschwunden waren. Entweder vernichtet (wie der Computermonitor) oder zu schlimm zerkratzt und verbeult, um gezeigt zu werden; eine solche Ausstellung hätte mehr Fragen aufgeworfen, als sie je hätte beantworten können.
Schließlich gab Amanda nach und schlug ihr Notizbuch auf. »Sieh dir das an«, sagte sie. »Sieh’s dir einfach an.«
Manda hielt ihr die erste Seite hin. Auf den blauen Linien, von den kleinen Metallbügeln links bis zum äußersten Blattrand rechts (wie eine codierte Nachricht von einem dieser auf den Straßen herumlaufenden Verrückten, denen man in New York ständig begegnet, weil für die öffentlich finanzierten Irrenanstalten nicht mehr genug Geld da ist, dachte Lisey matt), standen dicht gedrängt Zahlen. Die meisten waren umkringelt. Ganz wenige waren von Quadraten umgeben. Manda blätterte um, und nun waren zwei mit demselben Zeug vollgekritzelte Seiten zu sehen. Auf der nächsten Seite hörten die Zahlen in der Mitte auf. Die letzte schien 856 zu sein.
Amanda bedachte sie mit dem schrägen, rotwangigen, leicht lächerlichen hochmütigen Ausdruck, der früher, als sie zwölf und die kleine Lisey erst zwei gewesen war, bedeutet hatte, dass Manda hingegangen war und etwas auf eigene Faust unternommen hatte. Tränen für irgendjemanden würden folgen; meistens für Amanda selbst. Lisey merkte, dass sie mit gewissem Interesse (und leichtem Grausen) darauf wartete, was dieser Ausdruck wohl diesmal bedeuten würde. Amanda hatte sich, seit sie aufgekreuzt war, so verrückt benommen. Vielleicht lag das nur an dem trüben, schwülen Wetter. Wahrscheinlicher war jedoch, dass es mit dem plötzlichen Verschwinden ihres langjährigen Freundes zu tun hatte. Falls Manda vor der nächsten Periode emotionaler Stürme stand, weil Charlie Corriveau sie hatte sitzen lassen, musste Lisey sich wohl auf einiges gefasst machen. Banker hin oder her, sie hatte Corriveau nie leiden können, sie hatte ihm nie getraut. Wie konnte man auch einem Mann trauen, nachdem man beim Frühjahrs-Kuchenverkauf zugunsten der Bücherei mitbekommen hatte, wie die Jungs unten im Mellow Tiger ihn »Shootin’ Beans« nannten? Was für eine Art Spitzname war das für einen Banker? Was sollte er vor allem bedeuten? Charlie wusste doch bestimmt, dass Manda schon früher psychische Probleme gehabt hatte …
»Lisey?«, fragte Amanda. Auf ihrer Stirn standen tiefe Falten.
»Entschuldige«, sagte Lisey, »ich war nur … einen Augenblick lang nicht ganz da.«
»Das bist du öfter nicht«, sagte Amanda. »Ich schätze, das hast du von Scott. Pass jetzt auf, Lisey. Ich habe auf jede seiner Zeitschriften und das gelehrte Zeug eine kleine Zahl geschrieben. Auf die Sachen, die drüben an der Wand gestapelt sind.«
Lisey nickte, als würde sie verstehen, worauf dies hinauslief.
»Ich habe die Zahlen mit Bleistift geschrieben und nicht fest aufgedrückt«, fuhr Amanda fort. »Immer wenn du mir den Rücken zugekehrt hast oder irgendwo anders warst. Weil ich dachte, wenn du es plötzlich doch bemerkst, verlangst du vielleicht, dass ich damit aufhöre.«
»Hätte ich nicht.« Sie nahm das kleine Notizbuch, das vom Schweiß seiner Besitzerin schon ganz schlaff war. »Achthundertsechsundfünfzig! So viele!« Und sie wusste, dass die entlang der Wand aufgestapelten Druckerzeugnisse nicht zu denen gehörten, die sie selbst hätte lesen und im Haus haben wollen – Zeitschriften wie O und Good Housekeeping und Ms. –, stattdessen hießen sie Little Swanee Review, Glimmer Train oder Open City, manche hatten auch unverständliche Namen wie Piskya.
»Noch ziemlich viel mehr«, sagte Amanda und wies mit dem Daumen auf die Stapel aus Büchern und Zeitschriften. Als Lisey sie nun eingehender betrachtete, sah sie, dass ihre Schwester recht hatte. Das waren weit mehr als achthundertfünfzig und ein paar Zerquetschte. Ganz sicher. »Insgesamt fast dreitausend, und wo du sie hintun willst oder wer sie haben wollen könnte, weiß ich beim besten Willen nicht. Nein, achthundertsechsundfünfzig ist nur die Zahl von denen mit Bildern von dir drin.«
Das war so unbeholfen ausgedrückt, dass Lisey es zuerst nicht verstand. Als sie es schließlich tat, war sie entzückt. Auf die Idee, dass es einen so unerwarteten Bildervorrat geben könnte – solch eine versteckte Chronik ihrer gemeinsamen Jahre –, war sie nie gekommen. Doch als sie jetzt darüber nachdachte, erschien ihr das nur logisch. Sie waren über fünfundzwanzig Jahre verheiratet gewesen, als er gestorben war, und Scott war in all diesen Jahren ein passionierter, ruheloser Reisender gewesen, unermüdlich unterwegs zu Lesungen und Vorträgen kreuz und quer durchs ganze Land, und hatte bis zu neunzig Hochschulen im Jahr besucht, ohne dass sein scheinbar endloser Strom von Kurzgeschichten ins Stocken geriet. Und auf den meisten dieser Streifzüge hatte sie ihn begleitet. In wie vielen Motels hatte sie mit ihrem kleinen schwedischen Dampfbügeleisen einen seiner Anzüge aufgefrischt, während auf ihrer Seite des Zimmers der Fernseher Talkshow-Psalmen murmelte und auf seiner die Reiseschreibmaschine klapperte (in den ersten Ehejahren) oder der Laptop leise klickte (später), während er mit einer in die Stirn fallenden kommaförmigen Haarlocke darauf hinabsah?
Manda betrachtete sie säuerlich, offenbar unzufrieden mit ihrer bisherigen Reaktion. »Die Umkringelten – das sind über sechshundert – sind die, bei denen du in der Bildunterschrift schlecht wegkommst.«
»Tatsächlich?« Lisey war verblüfft.
»Ich zeig’s dir.« Amanda studierte ihr Notizbuch, trat an die schlummernde, die ganze Wand einnehmende Stapelreihe, sah nochmals nach und wählte zwei Titel aus. Der eine war ein teuer aussehender gebundener Halbjahresbericht der University of Kentucky in Bowling Green. Der andere, eine Zeitschrift im Pocketformat, die aussah wie von Studenten gemacht, hieß Push-Pelt: einer dieser bedeutungsleeren Namen, die sich Anglistikstudenten ausdenken und sich einbilden, sie würden charmant klingen.
»Schlag sie auf, schlag sie auf!«, befahl Amanda ihr, und als sie ihr die beiden in die Hände drückte, drang Lisey der stechende Schweißgeruch ihrer Schwester in die Nase. »Die Stellen sind mit Papierfitzeln markiert, siehst du?«
Fitzel. So hatte ihre Mutter kleine Papierfetzen genannt. Lisey schlug als Erstes den Halbjahresbericht an der markierten Stelle auf. Das darin enthaltene Foto von Scott und ihr war sehr gut, erstklassig gedruckt. Scott war dabei, ein Podium zu betreten, während sie hinter ihm stand und applaudierte. Vor der Bühne stand das Publikum ebenfalls klatschend. Das Foto von ihnen in Push-Pelt war deutlich unschärfer; sein Raster war so grob, als würden die Punkte von sehr weichen Bleistiften stammen, und zudem war das billige Papier voller Holzfasern, aber während sie das Bild betrachtete, hätte sie am liebsten losgeheult. Scott betrat irgendeinen dunklen, von Lärm erfüllten Keller. Auf seinem Gesicht stand das breite alte Scott-Grinsen, das sagte: Oh yeah, hier bin ich richtig! Sie war ein bis zwei Schritte hinter ihm, ihr eigenes Lächeln beleuchtet vom Widerschein eines offenbar gewaltigen Fotoblitzes. Sie konnte sogar die Bluse erkennen, die sie getragen hatte: die blaue von Ann Klein mit dem lustigen senkrechten roten Streifen auf der linken Seite. Was sie sonst noch trug, ging im Schatten unter, und sie hatte keinerlei Erinnerung an diesen speziellen Abend, sie wusste lediglich, dass es Jeans gewesen sein mussten. Wenn sie noch spät ausging, zog sie immer ihre ausgebleichten Jeans an. Die Bildunterschrift lautete: Lebende Legende Scott Landon (begleitet von seiner Gefährtin) besucht letzten Monat den Stalag 17 Club der University of Vermont. Landon las, tanzte und feierte bis zur Sperrstunde. Der Mann weiß, wie man abhängt.
Ja. Der Mann hatte gewusst, wie man abhängt. Das konnte sie bezeugen.
Sie betrachtete all die anderen Zeitschriften, war plötzlich überwältigt von den Reichtümern, die darin zu finden sein mochten, und spürte gleichzeitig, dass Amanda sie doch verletzt, ihr eine Wunde zugefügt hatte, die vielleicht lange bluten würde. War er der Einzige, der von den dunklen Orten gewusst hatte? Den schmuddeligen dunklen Orten, an denen man so allein und erbärmlich sprachlos war? Vielleicht wusste sie nicht alles, was er gewusst hatte, aber sie wusste genug. Jedenfalls wusste sie, dass er ein Gehetzter gewesen war und nach Sonnenuntergang nie in einen Spiegel gesehen hatte – nicht einmal auf eine reflektierende Oberfläche, wenn es sich vermeiden ließ. Und sie hatte ihn trotz alledem geliebt. Weil der Mann gewusst hatte, wie man abhängt.
Aber jetzt nicht mehr. Nun war der Mann ein für alle Male abgehängt. Er war dahingegangen, wie man sagte; ihr Leben war in eine neue Phase, eine Solophase getreten, und für eine Umkehr war es nun zu spät.
Diese Redewendung ließ ihr einen Schauder über den Rücken laufen und sie an Dinge denken
(das Purpurne, das Ding mit der gescheckten Seite)
an die man am besten nicht dachte, also dachte sie lieber weg.
»Ich bin echt froh, dass du diese Bilder gefunden hast«, erklärte sie Amanda eifrig. »Du bist eine ziemlich gute große Schwester, weißt du das?«
Und wie Lisey gehofft, aber nicht wirklich zu erwarten gewagt hatte, riss sie Manda damit geradewegs aus ihrem hochmütigen, kapriziösen kleinen Tanz. Sie starrte Lisey verunsichert an und schien nach Unaufrichtigkeit zu fahnden, aber keine zu entdecken. Nach und nach verwandelte sie sich in eine handzahmere, leichter zu verstehende Amanda. Sie nahm ihr Notizbuch wieder an sich und betrachtete es stirnrunzelnd, als wüsste sie nicht so recht, wo es plötzlich herkam. Lisey fand, dass dies angesichts der zwanghaften Zahlenreihen vielleicht ein großer Schritt in die richtige Richtung war.
Dann nickte Manda, wie jemand, der sich an etwas erinnert, was ihm nie hätte entfallen dürfen. »In den nicht umkringelten Titeln wirst du wenigstens genannt – Lisa Landon, eine leibhaftige Person. Last, not least – wenn man daran denkt, wie wir dich immer genannt haben, ist das beinahe ein Wortspiel, nicht wahr? – sind, wie du siehst, einige wenige Zahlen von einem Quadrat umgeben. Das sind Fotos von dir allein!« Sie warf Lisey einen imposanten, fast bedrohlichen Blick zu. »Die wirst du dir ansehen wollen.«
»Oh, auf jeden Fall.« Sie versuchte den Eindruck zu erwecken, als wäre sie ganz scharf darauf, während sie in Wahrheit nicht wusste, weshalb sie das geringste Interesse an Bildern haben sollte, die in den viel zu kurzen Jahren, in denen sie einen Mann gehabt hatte – einen guten Mann, einen Nicht-Inkunk, der wusste, wie man’s umschnallte –, mit dem sie sich ihre Tage und Nächte geteilt hatte, von ihr allein geschossen worden waren. Sie erhob ihren Blick zu den unordentlichen Haufen und Vorbergen aus Zeitschriften, die alle möglichen Umfänge und Formate hatten, und stellte sich vor, wie es sein würde, sie Stapel für Stapel durchzublättern, im Schneidersitz auf dem Boden der Sammlerecke (wo sonst) zu hocken und Jagd auf Bilder von Scott und sich zu machen. Und auf denen, die Amanda so wütend gemacht hatten, ging sie immer ein kleines Stück hinter ihm her, sah zu ihm auf. Applaudierten andere, applaudierte auch sie. Ihr Gesicht war glatt, gab wenig preis, ließ nichts als höfliche Aufmerksamkeit erkennen. Ihr Gesicht sagte: Er langweilt mich nicht. Ihr Gesicht sagte: Er hebt mich nicht in den Himmel. Ihr Gesicht sagte: Ich gerate seinetwegen nicht in Flammen und er nicht meinetwegen (die Lüge, die Lüge, die Lüge). Ihr Gesicht sagte: Alles beim Alten.
Amanda hasste diese Bilder. Für sie spielte ihre Schwester darauf das Salz für ein Rumpsteak, die Fassung für den Edelstein. Sie sah, wie ihre Schwester manchmal als Mrs. Landon, manchmal als Mrs. Scott Landon und manchmal – oh, das war bitter! – überhaupt nicht namentlich genannt wurde. Herabgestuft bis zur Gefährtin. Das musste Amanda als eine Art Mord erscheinen.
»Mandylein?«
Amanda sah sie an. Das Licht war grausam, und Lisey erinnerte sich ernsthaft schockiert daran, dass Manda im Herbst sechzig wurde. Sechzig! In diesem Augenblick musste Lisey unwillkürlich an das Ding denken, das ihrem Mann in so vielen schlaflosen Nächten zugesetzt hatte – das Ding, von dem die Woodbodys dieser Welt nie erfahren würden, wenn sie es irgendwie verhindern konnte. Etwas mit einer endlos gesprenkelten Seite – etwas, was am deutlichsten Krebspatienten beim Blick in kleine Gläser sahen, aus denen die letzten Schmerztabletten verschwunden waren; vor morgen früh würde es keine mehr geben.
Es ist ganz in der Nähe, Schatz. Ich kann es nicht sehen, aber ich höre es fressen.
Halt die Klappe, Scott, ich weiß nicht, wovon du redest.
»Lisey?«, fragte Amanda. »Hast du was gesagt?«
»Ich … hab nur etwas vor mich hin gemurmelt.« Sie versuchte zu lächeln.
»Hast du mit Scott geredet?«
Lisey gab es auf, sich ein Lächeln abzuringen. »Ja, das stimmt wohl. Das tu ich noch immer manchmal. Verrückt, was?«
»Finde ich nicht. Nicht, wenn’s funktioniert. Ich finde, verrückt ist, was nicht funktioniert. Und ich muss es wissen, ich hab schließlich Erfahrung. Richtig?«
»Manda …«
Aber Amanda hatte sich abgewandt, um erneut die Stapel von Zeitschriften, Jahrbüchern und Studentenzeitungen in Augenschein zu nehmen. Als sie wieder Lisey ansah, lächelte sie unsicher. »Hab ich das Richtige getan, Lisey? Ich wollte nur meinen Beitrag leisten …«
Lisey ergriff eine von Amandas Händen und drückte sie fest. »Das hast du. Was hältst du davon, wenn wir hier verschwinden? Wir losen, wer zuerst unter die Dusche darf.«
4Ich hatte mich im Dunkeln verirrt, und du hast mich gefunden. Mir war heiß – so heiß! –, und du hast mir Eis gegeben.
Scotts Stimme.
Lisey öffnete die Augen und glaubte, sie wäre am helllichten Tag bei irgendeiner Arbeit oder in irgendeinem Moment weggedöst und hätte einen kurzen, aber erstaunlich detaillierten Traum gehabt, in dem Scott tot und sie bei der Herkulesarbeit war, seinen Schriftstellerstall auszumisten. Als die Augen offen waren, begriff Lisey sofort, dass Scott wirklich tot war; nachdem sie Manda heimgefahren hatte, lag sie schlafend in ihrem eigenen Bett, und dies war ihr Traum.
Sie schien in Mondlicht zu schweben. Sie konnte exotische Blüten riechen. Ein lauer Sommerwind blies ihr das Haar von den Schläfen zurück – die Art Wind, die an irgendeinem geheimen Ort weit von der Heimat entfernt lange nach Mitternacht weht. Trotzdem war sie zu Hause, musste zu Hause sein, denn vor ihr stand die Scheune mit Scotts Schreibwerkstatt, dem Gegenstand so großen Inkunk-Interesses. Und dank Amanda wusste Lisey jetzt, dass sie all diese Bilder von ihr und ihrem verstorbenen Gatten enthielt. All diese vergrabenen Schätze, diese emotionale Beute.
Vielleicht wär es besser, sich diese Bilder nicht anzusehen, flüsterte ihr der Wind ins Ohr.
Oh, daran hatte sie keinen Zweifel. Dennoch würde sie sich die Bilder ansehen. Sie konnte gar nicht anders, jetzt, da sie wusste, dass sie existierten.
Sie war erfreut, als sie sah, dass sie auf einem großen, mondscheinvergoldeten Stück Tuch schwebte, das über und über mit den Worten PILLSBURY’S BEST FLOUR bedruckt war; die Ecken waren geknotet wie bei einem Taschentuch. Lisey bezauberte das Schrullige daran, ihr war, als schwebte sie auf einer Wolke.
Scott. Sie versuchte seinen Namen laut zu sagen und schaffte es nicht. Der Traum ließ es nicht zu. Die zur Scheune führende Zufahrt war verschwunden, wie sie nun sehen konnte. Auch der Hof zwischen ihr und dem Haus. Wo sie gewesen waren, lag jetzt ein weites Feld mit purpurroten Blumen, die im Mondschein träumten. Scott, ich habe dich geliebt, ich habe dich gerettet, ich
5 Dann war sie wach und konnte sich im Dunkeln immer wieder wie ein Mantra sagen hören: »Ich habe dich geliebt, ich habe dich gerettet, ich habe dir Eis besorgt. Ich habe dich geliebt, ich habe dich gerettet, ich habe dir Eis besorgt. Ich habe dich geliebt, ich habe dich gerettet, ich habe dir Eis besorgt.«
Sie lag lange da, erinnerte sich an einen heißen Augusttag in Nashville und sagte sich – nicht zum ersten Mal –, dass das Singledasein nach so langer Zweisamkeit echt ein seltsamer Schiet war. Sie hätte erwartet, dass zwei Jahre ausreichen, damit das Seltsame daran sich verlor, doch das stimmte nicht; die Zeit tat anscheinend nicht mehr, als die scharfe Klinge des Kummers ein klein wenig stumpfer zu machen, sodass sie eher hackte als schnitt. Denn es war ganz und gar nicht alles beim Alten. Weder nach außen noch nach innen drin, nicht für sie. Lisey lag in dem Bett, das früher Platz für zwei geboten hatte, und dachte, dass das Alleinsein sich am einsamsten anfühlte, wenn man aufwachte und entdeckte, dass man das Haus weiterhin für sich allein hatte. Dass man selbst und die Mäuse in den Wänden die Einzigen waren, die noch atmeten.
1 Am nächsten Morgen saß Lisey im Schneidersitz auf dem Boden von Scotts Sammlerecke und sah zu den Haufen und Stapeln von Zeitschriften, Jahresberichten, Fakultätsbulletins und Universitätsjournalen hinüber. Ihr war der Gedanke gekommen, dass es vielleicht genügen würde, sie sich anzusehen, um die Faszination, die all diese noch ungesehenen Bilder auf ihre Fantasie ausübten, zu brechen. Nun, da sie hier war, wusste sie, dass dies eine vergebliche Hoffnung gewesen war. Und sie würde auch Mandas schlaffes kleines Notizbuch mit all den Zahlen darin nicht brauchen. Es lag wie achtlos weggeworfen in ihrer Nähe auf dem Boden, und Lisey steckte es in die rechte Gesäßtasche ihrer Jeans. Sein Aussehen gefiel ihr nicht: wie ein in Ehren gehaltenes Artefakt eines nicht ganz zurechnungsfähigen Hirns.
Erneut begutachtete sie die lange Stapelreihe aus Büchern und Zeitschriften entlang der Südwand: eine eineinviertel Meter hohe und mindestens zehn Meter lange staubige Bücherschlange. Wäre Amanda nicht gewesen, hätte sie vermutlich alles in Wein- und Schnapskartons gepackt, ohne sich je zu fragen, wozu Scott dieses ganze Zeug aufgehoben hatte.
Mein Verstand arbeitet einfach nicht so, sagte sie sich. Ich bin eben keine große Denkerin.
Vielleicht nicht, aber du hattest immer ein tolles Gedächtnis .
Das war Scott in seiner neckenden, sehr charmanten, fast unwiderstehlichen Art, aber in Wahrheit verstand sie sich besser aufs Vergessen. Genau wie er, und sie hatten beide ihre Gründe dafür. Und wie um seine Behauptung zu untermauern, hörte sie jetzt trotzdem ein geisterhaftes Bruchstück einer Unterhaltung. Einer der Sprechenden – Scott – war ihr vertraut. Die andere Stimme hatte einen leichten Südstaatenakzent. Womöglich einen prätentiösen leichten Südstaatenakzent.
Tony hier schreibt darüber fürs [Dingsbums, Dingsda, was auch immer]. Sollen wir Ihnen ein Belegexemplar zuschicken, Mr. Landon?
Hm? Klar, ich bitte darum.
Gemurmel von allen Seiten. Scott, der kaum mitbekam, dass Tony darüber schreiben würde, hatte fast das Talent eines Politikers dafür besessen, sich in der Öffentlichkeit immer denen zuzuwenden, die gekommen waren, um ihn zu sehen, Scott horchte auf die Stimmen der anschwellenden Menge und dachte bereits darüber nach, wie er den Plug-in Point finden würde, jenen angenehmen Augenblick, in dem er den Stecker in die Steckdose schob und die Elektrizität von ihm zu ihnen floss, um dann doppelt oder gar dreifach zu ihm zurückzufließen, er liebte diesen elektrischen Strom, aber Lisey war überzeugt davon, dass er vor allem diesen Augenblick des Einsteckens geliebt hatte. Trotzdem hatte er sich die Zeit für eine Antwort genommen.
Sie können mir gern Fotos, Artikel und Besprechungen aus Campus-Zeitungen und Fakultätsberichten schicken, alles in der Art. Bitte. Ich möchte alles sehen, The Study, RFD #2, Sugar Top Hill Road, Castle Rock, Maine. Lisey weiß die Postleitzahl. Ich vergesse sie immer.
Sonst kein Wort über sie, nur Lisey weiß die Postleitzahl. Wie Manda aufgeheult hätte! Aber Lisey war es recht gewesen, dass sie auf diesen Reisen vergessen war: dabei und doch nicht da. Sie liebte es, zuzusehen.
Wie der Kerl in einem Pornofilm?, hatte Scott sie einmal gefragt, und sie hatte mit dem sichelmondförmigen Lächeln geantwortet, das ihn warnte, wenn er kurz davor war, zu weit zu gehen. Wenn du meinst, Schatz, hatte sie erwidert.
Er hatte sie immer bei der Ankunft vorgestellt, danach hier und da einzelnen Leuten, wenn es nötig wurde, was allerdings selten der Fall war. Außerhalb ihrer eigenen Fachgebiete legten Wissenschaftler erstaunlich wenig Neugier an den Tag. Die meisten waren einfach nur begeistert, den Autor von The Coaster’s Daughter (National Book Award) und Relics (Pulitzerpreis) in ihrer Mitte zu haben. Außerdem hatte es einen Zeitraum von ungefähr einem Jahrzehnt gegeben, in dem Scott irgendwie überlebensgroß geworden war – für andere und manchmal auch für sich selbst. (Nicht jedoch für Lisey; wie zuvor und danach musste sie ihm eine neue Rolle Klopapier bringen, wenn das auf der Toilette alle war.) Niemand setzte wirklich das Podium unter Strom, auf dem er mit dem Mikrofon in der Hand stand, doch selbst Lisey spürte die Verbindung, die er zu seinem Publikum herstellte. Die Hochspannung. Sie entstand zuverlässig und hatte wenig mit seiner Arbeit als Schriftsteller zu tun. Vielleicht gar nichts. Sie hing irgendwie mit seiner Scottheit zusammen. Das klang verrückt, aber es stimmte. Und sie schien ihn nie sonderlich zu verändern oder ihm zu schaden, zumindest nicht bis …
Ihre Augen hörten auf, sich zu bewegen, fixierten jetzt einen Buchrücken, auf dem in Goldbuchstaben U-TENN NASHVILLE 1988 REVIEW stand.
1988, das Jahr des Rockabilly-Romans. Des Romans, den er nie geschrieben hatte.
1988, das Jahr des Verrückten.
Tony hier wird darüber schreiben
»Nein«, sagte Lisey. »Falsch. Er hat nicht Tony gesagt, sondern …«
Toneh
Ja, das stimmt, er hat Toneh gesagt, er hat gesagt
Toneh hiah wid drüwah schreim
»… für den Jahresbericht 1988 der University of Tennessee«, sagte Lisey. »Er hat gesagt …«
’ch könnt alles mit Express schickn
Aber der Teufel sollte sie holen, wenn der kleine Möchtegern-Tennessee-Williams nicht fast Spress statt Express gesagt hatte. Das war die Stimme, richtig, das war Mr. Southern Fried Chickenshit. Dashmore? Dashman? Dash stimmte auf jeden Fall, dash wie sausen. Der Kerl war allerdings gesaust, er war gespurtet wie ein gottverdammter Sprinterstar, aber der zweite Teil stimmte nicht ganz. Er hatte …
»Dashmiel«, murmelte Lisey ins Leere und ballte dabei die Fäuste. Noch immer starrte sie das Buch mit dem goldbedruckten Rücken an, als könnte es verschwinden, sobald sie den Blick abwandte. »Der eingebildete Südstaatler hieß Dashmiel, und ER IST GERANNT WIE EIN HASE!«
Scott hatte sein Angebot, die Sachen mit Express Mail oder Federal Express zu schicken, ganz sicher dankend abgelehnt; so was hielt er für Geldverschwendung. Was die Korrespondenz betraf, hatte er es nie eilig – trieb sie stromabwärts vorbei, fischte er sie heraus. In Bezug auf Besprechungen seiner Romane hatte er viel weniger zu »Komm zurück aufs Floß, Huck, Schätzchen« und weit mehr zu »Was lässt Scotty ticken« tendiert, aber für Berichte über öffentliche Auftritte genügte ihm der gewöhnliche Postweg vollkommen. Da seine Schreibwerkstatt eine eigene Anschrift hatte, wusste Lisey, wie unwahrscheinlich es war, dass sie diese Dinge ankommen sah. Und sobald sie hier waren … nun, diese luftigen, gut beleuchteten Räume waren Scotts kreativer Spielplatz gewesen, nicht ihrer, ein überwiegend freundlicher Einmannklub, in dem er seine Geschichten geschrieben und so laut Musik gehört hatte, wie er wollte. Dafür gab es eigens eine schalldichte Zone, die er seine »Gummizelle« nannte. An der Tür hatte nie ein ZUTRITT VERBOTEN!-Schild gehangen; als er noch gelebt hatte, war sie oft hier oben gewesen, und Scott hatte sich immer gefreut, sie zu sehen, aber erst Amanda hatte erkannt, was sich im Bauch der an der Südwand schlafenden Bücherschlange verbarg. Die leicht gekränkte Amanda, die misstrauische Amanda, die abergläubische Amanda, die irgendwie zu der Überzeugung gelangt war, dass ihr Haus niederbrennen würde, wenn sie im Küchenherd nicht jedes Mal genau drei Ahornscheite nachlegte, nicht mehr und nicht weniger. Amanda mit der unausrottbaren Angewohnheit, sich dreimal auf ihrer Schwelle umzudrehen, wenn sie ins Haus zurückgehen musste, um etwas zu holen, was sie vergessen hatte. Beobachtete man sie dabei (oder hörte man sie beim Zähneputzen mitzählen), konnte man Manda ohne Weiteres als leicht verrückte alte Jungfer abtun, der am besten mal jemand ein Rezept für Zoloft oder Prozac ausstellte. Aber hätte die kleine Lisey ohne Manda jemals erkannt, dass hier oben Hunderte von Bildern ihres toten Ehemanns liegen, die nur darauf warten, von ihr betrachtet zu werden? Hunderte von Erinnerungen, die darauf warten, geweckt zu werden? Und die meisten davon bestimmt angenehmer als die Erinnerung an Dashmiel, diesen Waschlappen, diesen jämmerlichen Feigling …
»Schluss damit«, murmelte sie. »Hör sofort auf damit. Lisa Debusher Landon, Hand auf und loslassen.«
Aber sie war offenbar nicht bereit, das zu tun, denn sie stand auf, durchquerte den Raum und kniete sich vor die Bücher. Ihre rechte Hand schwebte wie bei einem Zaubertrick nach vorn und bekam den Band U-TENN NASHVILLE 1988 REVIEW zu fassen. Ihr Herz begann zu rasen, aber nicht vor Aufregung, sondern vor Angst. Der Kopf konnte dem Herzen sagen, dass dies alles achtzehn Jahre zurücklag, doch in Gefühlsdingen hatte das Herz seinen eigenen brillanten Wortschatz. Die Haare des Verrückten waren hellblond, fast weiß gewesen. Er war ein Verrückter im Graduiertenstudium gewesen, der nicht bloß unverständliches Zeug hervorgestoßen hatte. Am Tag nach dem Attentat – als Scotts Zustand sich von kritisch zu befriedigend verbessert hatte – hatte sie ihren Mann gefragt, ob der verrückte Graduierte in spe es umgeschnallt gehabt hätte, und Scott hatte geflüstert, er habe keine Ahnung, ob ein Verrückter irgendwas umschnallen könne. Es umzuschnallen sei eine heroische Tat, ein Willensakt, und Verrückte besäßen nicht viel eigenen Willen … oder sei sie da anderer Meinung?
Das weiß ich nicht, Scott. Ich werde darüber nachdenken.
Ohne es ernstlich vorzuhaben. Sie wollte nie wieder daran denken, wenn es sich vermeiden ließ. Aus Liseys Sicht sollte der Bekloppte mit der kleinen Pistole sich zu den übrigen Dingen gesellen, die sie erfolgreich vergessen hatte, seit sie Scott kannte.
Es war heiß, was?
Scott lag im Bett. Noch immer blass, viel zu blass, aber immerhin dabei, wieder etwas mehr Farbe zu bekommen. Beiläufig, ohne besonderen Anlass, nur um Konversation zu machen. Und Lisey Jetzt, Lisey Allein, der Witwe Landon lief ein kalter Schauer über den Rücken.
»Er konnte sich an nichts erinnern«, murmelte sie.
Dessen war sie sich sicher. An nichts davon, wie er auf dem Asphalt gelegen hatte und sie beide der Überzeugung gewesen waren, dass er nie wieder aufstehen würde. Dass er sterben und es nach den letzten Worten, die sie jetzt wechselten, keine weiteren mehr geben würde, obwohl sie einander doch noch immer so viel zu sagen hatten. Der Neurologe, mit dem sie sprach, nachdem sie ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte, erklärte ihr, dass das Vergessen der Umstände traumatischer Erlebnisse durchaus üblich sei und Patienten, die sich von solchen Traumata erholten, oft feststellten, im Film ihrer Erinnerungen sei ein schwarzes Loch eingebrannt. Diese Lücke konnte fünf Minuten, fünf Stunden oder fünf Tage umfassen. Manchmal tauchten zusammenhanglose Bilder oder Fragmente noch Jahre oder Jahrzehnte später auf. Der Neurologe nannte es Abwehrmechanismus.
Lisey leuchtete die Erklärung ein.
Vom Krankenhaus aus war sie zurück ins Motel gefahren, in dem sie sich ein Zimmer genommen hatte. Es war kein besonders gutes Zimmer – nach hinten hinaus, nichts zu sehen außer einem Bretterzaun, nichts zu hören außer einer Hundertschaft kläffender Köter –, aber aus solchen Dingen machte sie sich schon längst nichts mehr. Vor allem wollte sie nichts mit dem Campus zu tun haben, auf dem ihr Mann niedergeschossen worden war. Und als sie ihre Schuhe abstreifte und sich auf dem harten Doppelbett ausstreckte, dachte sie: Die Dunkelheit liebt ihn.
Stimmte das?
Wie konnte sie das sagen, wenn sie nicht einmal wusste, was es bedeutete?
Du weißt es. Daddys Belohnung war ein Kuss.
Lisey hatte ihren Kopf auf dem Kissen so rasch abgewandt, als ob eine unsichtbare Hand sie geohrfeigt hätte. Kein Wort darüber!
Keine Antwort … keine Antwort … und dann listig: Die Dunkelheit liebt ihn. Er tanzt mit ihr wie mit einer Geliebten, und der Mond geht auf über dem purpurroten Hügel, und was süß war, riecht sauer. Riecht wie Gift.
Sie hatte den Kopf wieder auf die andere Seite gedreht. Und außerhalb des Motelzimmers hatten die Hunde – jeder verflixte Köter in Nashville, wie es sich angehört hatte – gekläfft, während die Sonne in orangerotem Augustsmog unterging und Platz machte für die Nacht. Als Kind hatte ihre Mutter ihr versichert, vor der Dunkelheit müsste man sich nicht fürchten, und sie hatte es geglaubt. Sie war auch in der Dunkelheit unbekümmert fröhlich gewesen, selbst wenn die Nacht von Blitzen erhellt und von Donnerschlägen zerrissen wurde. Während ihre um Jahre ältere Schwester Manda sich unter der Bettdecke verkroch, hatte die kleine Lisey daumenlutschend auf dem eigenen Bett gesessen und verlangt, dass ihr jemand beim Licht einer Taschenlampe eine Geschichte vorlas. Als sie Scott davon erzählt hatte, hatte er ihre Hände genommen und gesagt: »Dann sei du mein Licht. Sei mein Licht, Lisey.« Und sie hatte es versucht, aber …
»Ich war an einem dunklen Ort«, murmelte Lisey, während sie nun mit der U-TENN NASHVILLE 1988 REVIEW in den Händen in seinem verlassenen Arbeitszimmer saß. »Hast du das gesagt, Scott? Du hast es gesagt, nicht wahr?«
Ich war an einem dunklen Ort, und du hast mich gefunden. Du hast mich gerettet.
In Nashville mochte das gestimmt haben. Zum Schluss nicht mehr.
Du hast mich immer gerettet, Lisey. Weißt du noch, wie ich zum ersten Mal bei dir übernachtet habe?
Lisey saß da mit dem Buch auf ihrem Schoß und lächelte. Natürlich wusste sie das noch. Am deutlichsten erinnerte sie sich an zu viel Pfefferminzschnaps, von dem sie Sodbrennen bekommen hatte. Und er hatte Schwierigkeiten gehabt, überhaupt eine Erektion zu bekommen und dann sie zu behalten, doch letztlich hatte alles geklappt. Damals hatte sie angenommen, der Alkohol wäre schuld. Erst später hatte er ihr gebeichtet, vor ihr sei er noch nie erfolgreich gewesen: Sie sei die erste und einzige Frau seines Lebens, und was er ihr oder sonst wem von seinem ausschweifenden Sexleben als Heranwachsender – schwul und hetero – erzählt habe, sei gelogen gewesen. Und Lisey? Lisey hatte ihn als unerledigtes Projekt betrachtet – als etwas, was vor dem Schlafengehen noch anstand. Denk dran, der Geschirrspülmaschine gut zuzureden, damit sie im lärmenden Teil ihres Waschgangs nicht schlappmacht; denk dran, die Kasserolle aus feuerfestem Glas über Nacht einzuweichen; denk dran, dem vielversprechenden jungen Schriftsteller einen zu blasen, bis er einen anständigen Steifen kriegt.
Als wir fertig waren und du eingeschlafen bist, habe ich wach gelegen und auf den Wecker auf deinem Nachttisch und den Wind draußen gehorcht und begriffen, dass ich wirklich zu Hause war, dass ich mit dir im Bett daheim war und dass etwas, was sich in der Dunkelheit angeschlichen hatte, plötzlich verschwunden war. Es konnte nicht bleiben. Es war verbannt worden. Es würde zurückkommen, da war ich mir sicher, aber es konnte nicht bleiben, und ich konnte wirklich einschlafen. Mein Herz bekam vor Dankbarkeit einen Sprung. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich wirklich Dankbarkeit empfunden habe. Ich habe neben dir gelegen, und mir sind Tränen übers Gesicht gelaufen und aufs Kissen getropft. Ich habe dich geliebt, und ich liebe dich jetzt, und ich habe dich in jeder Sekunde dazwischen geliebt. Ob du mich verstehst, ist mir egal. Verstehen wird weit überschätzt, aber Sicherheit kann man nie genug bekommen. Ich habe nie vergessen, wie sicher ich mich gefühlt habe, als dieses Ding aus der Dunkelheit verschwunden war.
»Daddys Belohnung war ein Kuss.«
Diesmal sagte Lisey es laut, und obwohl es in dem leeren Arbeitszimmer warm war, lief es ihr erneut eiskalt über den Rücken. Sie wusste noch immer nicht, was es zu bedeuten hatte, aber sie erinnerte sich recht gut daran, wann Scott ihr erzählt hatte, Daddys Belohnung sei ein Kuss, sie sei die Erste für ihn gewesen und Sicherheit könne man nie genug bekommen: Es war kurz vor ihrer Hochzeit. Lisey hatte ihm alle Sicherheit gegeben, die sie geben konnte, aber dennoch hatte sie am Ende nicht ausgereicht. Letzten Endes hatte Scotts Ding ihn dann doch geholt – das Ding, das er manchmal flüchtig in Spiegeln und Wassergläsern gesehen hatte, das Ding mit der langen gescheckten Seite. Der Long Boy.
Lisey sah sich sekundenlang ängstlich in dem Arbeitszimmer um und fragte sich, ob er sie jetzt gerade beobachtete.
2 Sie schlug die U-TENN NASHVILLE 1988 REVIEW auf. Das Knacken des Buchrückens klang wie ein Pistolenschuss, sodass sie vor Überraschung aufschrie und das Buch fallen ließ. Dann lachte sie (etwas zittrig, zugegeben). »Lisey, du Dummerchen.«
Dieses Mal fiel ein zusammengefalteter Zeitungsausschnitt heraus: vergilbt und beim Anfassen brüchig. Was sie entfaltete, war ein körniges Foto samt Bildunterschrift, auf dem ein vielleicht dreiundzwanzigjähriger Kerl zu sehen war, der wegen seines benommen schockierten Gesichtsausdrucks weit jünger wirkte. In der rechten Hand hielt er einen kurzstieligen Spaten mit silbernem Blatt. In besagtes Spatenblatt waren Wörter eingraviert, die auf dem Foto unleserlich waren, aber Lisey erinnerte sich gut an sie: ERSTER SPATENSTICH – SHIPMAN LIBRARY.
Der junge Mann … nun … er glotzte diesen Spaten an, und nicht nur sein Gesichtsausdruck, sondern die ganze unbeholfen verrenkte Haltung seines schlaksigen Körpers verriet, dass er keine Ahnung hatte, was er tatsächlich sah. Es hätte eine Artilleriegranate, ein Bonsaibäumchen, ein Strahlenspürgerät oder ein Sparschwein aus Porzellan sein können; oder auch ein Wang-Dang-Doodle, ein Talisman, der von der Unvergänglichkeit der Liebe zeugte, oder ein Glockenhut aus Kojotenfell. Es hätte der Penis des griechischen Dichters Pindar sein können. Dieser Kerl war zu weggetreten, um es zu wissen. Ebenso wenig, darauf hätte sie wetten können, war ihm bewusst, dass seine linke Hand von einem ebenfalls für immer in schwarzen Rasterpunkten festgehaltenen Mann umklammert wurde, der in einer Art Motor-Highway-Patrol-Kostüm steckte: ohne Waffe, aber mit einem schräg über die Brust laufenden Schulterriemen und etwas, was Scott lachend und mit gespielt großen Augen als »schaurig rihiesige Mundöffnung« bezeichnet hätte. Und auf seinem Gesicht stand ein schaurig rihiesiges Grinsen, ein erleichtertes Lieber-Gott-ichdanke-dir-Grinsen, das besagte: Mein Junge, solange ich noch ein paar Dollar in der Tasche habe, wirst du in keiner Bar, in der zufällig auch ich bin, jemals für einen Drink bezahlen müssen. Im Hintergrund konnte sie Dashmiel sehen, den eingebildeten Südstaatler, der davongerannt war. Roger C. Dashmiel, das fiel ihr jetzt ein; das große C. stand für Chickenshit.
Hatte sie, die kleine Lisey Landon, gesehen, wie der glückliche Campus-Sicherheitsbeamte dem benommenen jungen Mann die Hand geschüttelt hatte? Nein, aber … das heißt …
Sa-aach mal, Schätzchen … schön aufgepasst … willst du, dass ein Bild aus dem richtigen Leben solchen Märchenvisionen entspricht, in denen Alice in ihr Kaninchenloch fällt oder eine Kröte mit Zylinder ein Cabrio fährt? Dann sieh dir das hier an, am rechten Bildrand, ganz außen.
Lisey beugte sich tiefer, bis ihre Nasespitze fast das vergilbte Foto aus dem Nashville American berührte. In der breiten Mittelschublade von Scotts Hauptschreibtisch lag ein Vergrößerungsglas. Sie hatte es schon bei vielen Gelegenheiten dort liegen sehen: immer an seinem Platz zwischen der weltältesten ungeöffneten Packung Herbert-Tareyton-Zigaretten und dem weltältesten Rabattmarkenheft mit nicht eingelösten S&H Green Stamps. Sie hätte es holen können, sparte sich jedoch die Mühe. Sie brauchte keine Vergrößerung, um sich bestätigen zu lassen, was sie sah: einen halben braunen Mokassin. Tatsächlich einen halben Mokassin aus Korduanleder mit leicht erhöhtem Absatz. An diese Mokassins erinnerte sie sich sehr gut. Wie bequem sie gewesen waren! Und sie war an jenem Tag ziemlich flott darin unterwegs gewesen, nicht wahr? Als es anfing, hatte sie weder den glücklichen Cop noch den benommenen jungen Mann (Tony, dessen war sie sich sicher, der berühmte Toneh-hiah-wid-drüwah-schreim) gesehen; auch Dashmiel, Mr. Southern Fried Chickenshit, hatte sie nicht mehr wahrgenommen. Sie alle, die ganze verdammte Bande, waren ihr mit einem Schlag unwichtig geworden. Inzwischen hatte ihre Aufmerksamkeit nur noch einem gegolten, und zwar Scott. Er war bestimmt nicht weiter als drei Meter entfernt, aber sie wusste, dass die ihn umgebende Menge sie abdrängen würde, wenn sie ihn nicht sofort erreichte … und wenn sie abgedrängt wurde, konnte die Menge ihn töten. Mit ihrer gefährlichen Liebe und gierigen Besorgnis. Und hol’s der Teufel, Violet, vielleicht starb er ohnehin. Falls ja, wollte sie bei ihm sein, wenn er abtrat. Wenn er verschied, wie die Generation ihrer Eltern es ausgedrückt hätte.
»Ich war mir sicher, dass er sterben würde«, sagte Lisey zu dem stillen, von Sonnenlicht durchfluteten Raum, zu der sich windenden staubigen Gestalt der Bücherschlange.
Also war sie zu ihrem zusammengebrochenen Mann gelaufen, und der Pressefotograf – der nur gekommen war, um das obligatorische Foto von Würdenträgern der Universität und dem berühmten Schriftsteller auf Besuch zu machen, während der symbolische erste Spatenstich für die neue Bibliothek erfolgte – hatte letztlich ein weit dynamischeres Bild geschossen, nicht wahr? Eine Aufnahme für die Titelseiten, vielleicht sogar für die Ruhmeshalle der Fotografie, ein Foto von der Art, die einen mit einem Löffel Frühstücksflocken auf halbem Weg zwischen Schale und Mund verharren und Milch auf die Kleinanzeigen sabbern ließ – wie das Foto von Oswald, auf dem er sich den Bauch hält und den Mund zu einem letzten Japsen aufreißt, ein gewissermaßen eingefrorenes Bild, das man nie vergisst. Nur Lisey selbst würde je erkennen, dass auch die Frau des Schriftstellers mit auf dem Foto war. Genau gesagt, ein leicht erhöhter Absatz von ihr.
Die Bildunterschrift lautete:
Captain S. Heffernan von der U-Tenn Campus Security gratuliert Tony Eddington, der dem berühmten Gast, dem Schriftsteller Scott Landon, nur Sekunden vor dieser Aufnahme das Leben gerettet hat. »Er ist ein wirklicher Held«, sagte Capt. Heffernan. »Außer ihm war niemand nahe genug, um eingreifen zu können.« (Weitere Berichte auf S. 4 und 9)
Am linken Rand befand sich eine ziemlich lange Mitteilung in einer Handschrift, die sie nicht erkannte. Auf der rechten Seite sah sie zwei Zeilen in Scotts ausladender Schrift, die erste Zeile etwas größer als die zweite … und bei Gott einen auf den Schuh zeigenden kleinen Pfeil! Sie wusste, was der Pfeil bedeutete; Scott hatte den Schuh erkannt. Zusammen mit der Erzählung seiner Frau – nennen wir sie »Lisey und der Verrückte, eine spannende wahre Abenteuergeschichte« – hatte das Bild dafür gesorgt, dass er alles verstand. Und war er wütend? Nein. Weil er gewusst hatte, dass seine Frau nicht wütend sein würde. Er hatte gewusst, dass sie es komisch finden würde, und es war komisch, sogar saukomisch, weshalb war sie also kurz davor, in Tränen auszubrechen? Niemals in ihrem Leben war sie dermaßen von ihren Emotionen überrascht, ausgetrickst und übertrumpft worden wie in diesen letzten paar Tagen.
Lisey ließ den Zeitungsausschnitt aufs Buch fallen, weil sie fürchtete, eine jähe Tränenflut könnte ihn tatsächlich auflösen, wie Speichel einen Mundvoll Zuckerwatte auflöst. Sie schlug die Hände vors Gesicht und wartete. Als sie sicher wusste, dass die Tränen keine Überschwemmung verursachen würden, griff sie wieder nach dem Zeitungsausschnitt und las, was Scott an den Rand geschrieben hatte:
Muss ich Lisey zeigen! Wie sie LACHEN wird Aber wird sie’s verstehen? (Unsere Umfrage sagt JA)
ENDE DER LESEPROBE
Die Originalausgabe LISEY’S STORY erschien bei Scribner, New York.
2. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 04/2008 Copyright © 2006 by Stephen King Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: © Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
eISBN: 978-3-89480-398-8
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