Lovecrafts Schriften des Grauens 25: Feuersignale -  - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 25: Feuersignale E-Book

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Beschreibung

Eisenbahnen, flammende Infernos und die Geister der Vergangenheit.Vier bislang nicht übersetzte Geschichten von Stefan Grabiński aus dem berühmten Dämon der Bewegung und dem Buch des Feuers sowie aktuelle Erzählungen, die dem großen polnischen Schriftsteller leidenschaftlichen Tribut zollen.Zusätzliche Geschichten verfassten für diese Anthologie Steve Rasnic Tem (USA) sowie exklusiv Jörg Kleudgen, Tobias Reckermann, Felix Woitkowski, Maciej Szymczak & Kazimierz Kyrcz Jr. (Polen), Silke Brandt u. a. Das Nachwort schrieb Nils Gampert (dLG).

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Silke Brandt (Hrsg.)Feuersignale

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen

2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 2

2118 Alfred Wallon Salzburger Albträume

2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges

2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens

2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 3

2122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang

2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg

2124 Andreas Zwengel Finsternacht

2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale

2126 Markus K. Korb Treibgut

Silke Brandt (Hrsg.)

Feuersignale

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerInnencover vorn: Tommi EkholmInnencover hinten: Nalle ElmgrenUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-935-5

Inhaltsverzeichnis

Der eiserne Zyklop – Ein Prosavorwort
Der verlassene Ort – Eine Eisenbahnballade
Szateras Engramme
Die Parabel vom Tunnelmaulwurf – Epilog zu Dämon der Bewegung
Pyrotechnik Ein astrales Märchen
Die Zwischenstation
Daemonion gravitatis
Der Nachtzug
Feuerblume
Unsere Gebirge
Die Gabe
Violett
Die stählerne Grimasse
Stefan Grabiński und H. P. Lovecraft – Zwei Phantasten konstruieren das Andere
Kolportage und Komparatistik
Maulwürfe und Fischmenschen
Das andere Gleis
Biografien und Quellen
Fußnoten

Silke Brandt

Der eiserne Zyklop – Ein Prosavorwort

Nässe rinnt die Tunnelwände herab, tropft von der Decke auf rußgeschwärztes Eisen. Die Zugmaschine ist von öligen Verbrennungsrückständen überzogen wie von einem stacheligen Pelz, zwei Scheinwerfer ihres Dreilichtes sind zersplittert. Hinter ihr ragen Metallstreben der ausgebrannten Waggons wie zerborstene Rippen in die Dunkelheit. Ein Tunneleinsturz hat ihr das Rückgrat gebrochen und die hintersten Wagen zerschmettert unter Tonnen von Gestein begraben. Pt 47-65 steht direkt hinter dem Tunnelausgang, vor ihr überwuchern Gräser und Flechten die Gleise, neigt sich ein Birkenwäldchen im Wind. Die Lokomotive wartet. Im Dämmerlicht glimmt ihre rechte Lampe auf wie ein verirrter Glühkäfer.

Als Janek Żagań ins Büro des Bahnhofsvorstehers gerufen wurde, schlug sein Herz vor Freude schneller: Er wird eine Prämie bekommen, eine Auszeichnung für fünfundvierzig Jahre im Dienst der Eisenbahn. Vielleicht den Vorruhestand, worauf er sich in seinem Geburtsort am Fuße des Tatra-Gebirges eine kleine Hütte suchen und den Lebensabend in der Nähe seiner ersten Dienststelle verbringen würde. Er riss die Tür auf, ohne anzuklopfen, und stürzte ins Büro.

Der Vorsteher jedoch sah ihn ernst an. „Janek, alter Kollege“, seufzte er. „Die Stelleneinsparungen, Redun­danzen ... Nun, um es kurz zu machen: In Wolsztyn benötigt man einen Gleiswächter, aber hier ... Es tut mir leid.“

Den Namen des kleinen Bahnhofs hatte Żagań nie zuvor gehört und der Gedanke daran, die letzten vierzehn Monate seines Dienstes an einem solch entlegenen Ort zu verrichten, erfüllte ihn mit Hoffnungslosigkeit. Er löste seinen bescheidenen Hausstand auf, ließ ein paar Möbel und Gebrauchsgegenstände verladen und bestieg den Zug. Wolsztyn – Stara Kopernia stand als Ziel auf dem Laufschild.

Entgegen seiner Befürchtungen erwies sich nicht nur der Bahnhof, sondern auch sein abseits gelegenes Wärterhäuschen als heimelige Einöde, die Kollegen nahmen ihn überaus freundlich auf. Die Halbtagsstelle erlaubte es, seine Behausung zu renovieren, und er fand sogar die Zeit, ein ungenutztes Nebengleis, das davor entlangführte, von Grasbewuchs und Rost zu befreien. Mit seinem geschlossenen Stellwerk und dem eingleisigen Schienenstrang, auf dem alle paar Tage ein Zug durchfuhr, hatte der neue Gleiswächter nicht viel zu überwachen – und dennoch hielten er und seine Kollegen mit viel Liebe alles so in Schuss, wie es einem Hauptbahnhof zur Ehre gereicht hätte.

Als die ersten diesigen Herbsttage anbrachen, Nebel ins Tal kroch, entfachte Żagań Feuer in einer ausgedienten Öltonne, setzte sich mit einem Starka oder Dunkelbier zu den alten Bahnwärtern, Lokführern und Heizern, lauschte ihren Heldentaten und Schauermärchen, nickte gelegentlich dabei ein und wurde so – ohne es zu merken – ein stummer Teil ihrer Legenden.

„Nicht mehr lange“, pflegten sie zu sagen. „Nicht mehr lange und auch diese Station wird geschlossen, die Strecke dem Vergessen anheimfallen. Nur noch die dunklen Hänge der Schlucht werden über die verlassenen Gleise wachen.“

An diesem Abend erwähnte der alte Lokführer beinahe flüsternd eine katastrophale Kollision, die sich auf dem Streckenabschnitt unweit von Żagańs Wärterhäuschen ereignet hatte: Vor zehn Jahren war ein voll besetzter Passagier­zug in einen Güterwagen gerast – ein falsch gesetztes Signal hatte das Nebengleis freigegeben, auf dem der Passagierzug rangierte. Beide Lokomotiven wurden vom Aufprall von den Schienen geschleudert, dann ließ die Gasbeleuchtung alles in Flammen aufgehen. Es gab fast einhundert Tote, die Aufräumarbeiten dauerten Wochen an und nur eine der beiden Loks konnte wieder eingesetzt werden. Die andere – schwarz verrußt und vom Inferno gleichsam skelettiert – wurde in einem aufgegebenen Tunnel untergestellt. Die Bahnleitung hatte verlauten lassen, man wolle die Lok restaurieren, zumindest ihr Eisen einschmelzen, doch die Arbeiten wurden nie begonnen. Schließlich brach ein Tunnelabschnitt ein und die Stadtverwaltung hielt es für das Beste, den Zug der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Nachdem der Lokführer geendet hatte, wurde nicht wie üblich der Starka herumgereicht, die Männer saßen in tiefem Schweigen da, jeder seinen Erinnerungen nachhängend. Żagań wurde angesteckt von dieser Trauer und den lebendigen Bildern der Katastrophe, die der Bericht in ihm heraufbeschwor. Er bedankte sich schließlich leise beim Erzähler, legte ihm die Hand auf die Schulter und verabschiedete sich zur Nacht.

Żagań hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in der Dämmerung an den Schienen entlang nach Hause zu laufen und dort – in einen Wintermantel gewickelt – auf einem Streckenstein eine Pfeife zu rauchen. Die Geschichten der alten Eisenbahner setzten sich immer stärker in seinem Gemüt fest. Als er seinen Blick über die Hänge schweifen ließ, meinte er, weit über sich einen Feuerschein auszumachen, der den Dunst rötlich färbte und den Wald als Silhouette hervortreten ließ. Als er ins Häuschen eilte, um sein Fernglas zu holen, erlosch das seltsame Licht.

Żagań verließ die Kollegen am folgenden Nachmittag unter einem Vorwand und legte sich auf die Lauer. Er wurde belohnt: Wieder glühte der Abenddunst wie von einer Lohe und der alte Streckenwärter meinte, hinter dem Feuerschein eine Höhle ausmachen zu können. Lange fand er keinen Schlaf und plante, am nächsten freien Tag eine Wanderung den Hang hinauf zu unternehmen – dort oben musste einfach die verunglückte Zugmaschine stehen! Es gab keine natürliche Erklärung für dieses Phänomen, so spät im Herbst, mit Feuchtigkeit und Nebel. Was, wenn die Vergangenheit ihn heimsuchte wie ein Gespenst? Er mochte sich schelten, dass die Legenden der Eisenbahner seine Phantasie beflügelten, wie Seemannsgarn die Schiffer ängstigen mag. Und doch konnte er es kaum erwarten, den Berg nach verlassenen Schienensträngen und dem aufgegebenen Tunnel abzusuchen. Seinen Kollegen gegenüber verschwieg er seine Gedanken.

Am Samstagmorgen rüstet sich Żagań mit Rucksack, Lampe und Fernglas aus, immer den Hügel im Blick, mögliche Spuren einer ehemaligen Strecke, die sich durch ihre menschgemachten Linien offenbaren müssten. Er rechnet den Vormittag für den Aufstieg ein, doch schreitet er so zügig aus – getrieben von der Hoffnung, die geheimnisvollen Überbleibsel der Katastrophe zu finden –, dass er bereits nach zwei Stunden auf einen überwucherten Schienenstrang stößt. Das verrostete Metall führt den Hang hinauf, und in den Lücken, wo Schrotthändler die Gleise abmontiert haben mussten, weist ihm eine Schneise die Richtung. Er ist sicher, der Unglückszug riefe ihn – nur ihn, denn die Kollegen, die die Kolli­sion selbst gesehen hatten, erwähnten keinen ­verdächtigen Feuerschein oben am Berg. Żagań flüstert zu sich selbst: „Sie alle eint dieses Unglück, nur ich, der nun zu ihrem Kreis gehört, habe es nicht gesehen ... Dies ist nicht irgendeine Strecke, die bald aufgegeben, demontiert und verlassen sein wird, und die Stara Kopernia nicht irgendein Tal, das verödet daliegen wird, nur noch vom Wind und dem Regen besucht. Der Platz und der Zug sind eins, und sie wollen in den Köpfen der Menschen fortleben. Oder ... sie suchen sich die alten Eisenbahner, mit denen sie endlich sterben können.“ Er ist so versunken in seine phantastischen Theorien, dass er beinahe über einen Birkenast gestolpert wäre, der über den Schienen liegt.

Hinter schlanken Baumstämmen und Wildgras klafft dunkel der Tunnel. Und schwarz vor dem Schwarz kann Żagań die Umrisse einer Zugmaschine erkennen.

Er stürzt vorwärts, wirft Rucksack und Kompass ins Gras, reißt im Laufen die Lampe aus der Manteltasche – und hält inne. Vor ihm ragt das eiserne Ungeheuer auf: ein kurzer Schlot, Rauchkammer, Schneeräumer, zwei massive Pufferteller, und über allem liegt – wie eingebrannt – eine dicke Schicht Ruß. Żagań hebt die Hand und legt sie ehrfürchtig an das Metall. Erst nach einer Weile meint er, Erlaubnis zu erhalten, den Tunnel zu betreten und seine Laterne anzuschalten. Er wagt es kaum, hörbar aufzutreten, als er sich am Kessel vorbeischiebt. Im Führerstand sind alle Fenster zerborsten, die Kabine gähnt dunkel wie ein verlassener Bunker, ebenso lichtlos wie der eingestürzte Tunnel dahinter. Żagań entzündet seine Laterne, klettert den steilen Tritt hinauf und leuchtet den engen Raum ab. Durch die Fensterhöhlen streicht feuchtkalter Wind, trägt den Duft des Birkenwaldes mit sich, den von regennasser Erde und etwas, das ihn an verzweigte Höhlensysteme erinnert: Mineralien und kalkiges ­Kondenswasser. Über allem aber liegt der Geruch öligen Rußes, verbrannten Holzes, verschmorter Leitungen. Rußpartikel tanzen im Lichtkegel, möglicherweise von seinen Schritten hochgewirbelt, denn er hat weder Rahmen noch Wände berührt. Żagań hustet, schmeckt Asche. Er hebt die Laterne höher, für einen Moment überzeugt, etwas außer ihm müsste die winzigen Metallplättchen abgestreift haben.

Alles, was im Führerstand noch zu erkennen ist, sind die Rahmen eines Sitzes, Schraubventile und Schalthebel. Auf dem Boden liegt undefinierbares Gerät, zerbrochen, geschmolzen, zu bizarren Formen verdreht. Er wendet sich dem Kohlenkasten zu, von dessen Klappe nichts zu sehen ist. Beugt sich vor, als etwas Helles im Lampenschein aufleuchtet. Er hängt die Laterne an ein abgebrochenes Scharnier und kniet sich vor die Öffnung: Inmitten von kalzinierten Briketts liegen lose Papiere – fast alle sind verbrannt, doch einige nur verfärbt. Er hält kurz inne, bevor er eines davon mit den Fingerspitzen aufnimmt und herauszieht. Es wird doch niemand den Aufstieg zum Tunnel unternommen haben, um ein Tagebuch oder Briefe zu verbrennen, fragt er sich selbst und schilt sich gleichzeitig einen Narren. Andererseits: Kein Papier hätte eine ­Feuersbrunst ­überstanden, die ganze Holzwaggons auffraß. Behutsam hebt er das aschfarbene Blatt zum Licht, erkennt eine alte Handschrift, ihre Tinte so schwarz, dass er einige Worte sogar an den verkohlten Stellen entziffern kann: der Antrieb ... sonderbar ... ­Violett ... topasfarbener Stern ... Kraft reißt alles mit sich ...

Das Papier zerbröselt unter seinen Fingern und driftet zu Boden. Żagań befreit vorsichtig ein weiteres. Vaters Beerdigung ...nd die Soldaten ... so viel Blut ... wie ein Kugelblitz durchschlä... Mehr ist nicht zu erkennen. Er legt das gekräuselte Blatt sorgfältig zur Seite, hebt ein drittes hoch. ... das Mädchen darf ... Herberge ... ­Steinhaven ... die Brücke über dem Tal soll nicht ... ­Florek und das Ande...

Die Laterne flackert. Erlischt.

Der alte Bahnwächter zieht sich an einem Ventil hoch, wischt sich schartige Metallsplitter am Mantel ab und klettert die Stufen hinunter aufs Gleis. Das Herz hämmert ihm gegen die Rippen, er bekommt kaum Luft und fühlt doch einen Zwang, keine Furcht zu zeigen. Nicht aus dem Tunnel ins Freie zu stürzen und hinunter ins Tal. Draußen erwartet ihn kein Tageslicht, sondern das Indigo der Abenddämmerung. Wind peitscht die Äste, trägt ein leises Heulen und Pfeifen aus dem Tunnel. Żagań stolpert, fällt auf die Knie. Als er sich wieder aufrichten will, sieht er eine Reflexion von den Schienensträngen aufblitzen. Er schaut auf – die rechte Lampe der Lokomotive glüht aus der Dunkelheit hervor. Der schwache, gelbe Schein wird gleich darauf verdunkelt von dichten Schwaden, die an der Zugmaschine vorbei aus dem Tunnel rollen. Żagań hustet, kriecht auf Händen und Knien rückwärts, gebannt von der geisterhaften Erscheinung und beinahe überzeugt, einer Halluzination zu erliegen.

Aus der Tiefe des Tunnels glüht orangener Feuerschein und hebt die Umrisse der Lok als Schattenriss hervor, das Fauchen und Tosen eines Infernos schluckt alle anderen Geräusche, eine Hitzewelle kräuselt das hohe Gras. Bevor Żagań aufstehen, weglaufen kann, schießt eine Flammenzunge über die Zugmaschine hinweg, leckt am Tunnelbogen und den Bäumen darüber. Im Innern birst Stein, Eisen knirscht und knackt, Hitze entzündet das Rauchgas, lässt die Rußwolken schwarz und rot-orange aufglühen. Der alte Eisenbahner sieht noch, wie eine Dampfwolke aus dem Schlot der Lok schießt, sich vor der Lohe in die Höhe schraubt, dann wirft er sich flach aufs Gleis, die Arme über den Kopf gelegt. Er meint, über dem Grollen des Feuers Metall auf Metall schlagen zu hören – wie Stangen an Kolben, dann erbeben die Schienen unter ihm.

Stefan Grabiński

Der verlassene Ort – Eine Eisenbahnballade

Die Region zwischen Orszawa und Bylicz wurde erschlossen. Ermöglicht wurde dies durch die ­Aufschüttung der Sümpfe an der Wiersza und die Nivellierung unter den grasbewachsenen Hängen des Uplazik. Es verkürzte die Strecke erheblich, da der Zug das Sumpfgebiet nicht mehr in einer weiten Kurve nach Norden umfahren musste, sondern den Schienen folgend pfeilgerade auf sein Ziel zusteuerte. Dank der Abkürzung gewann der Eisenbahnverkehr an Bedeutung und die Umgebung, die bis dahin wegen der Sumpfgase malariaverseucht war, nahm bald den Charakter einer trockenen, grasbewachsenen Ebene an.

Die ehemalige Strecke, die nun als Der verlassene Ort1 bekannt ist, wurde gesperrt und verödete. Die Verkehrsleitung beabsichtigte, erst später die Gleise abzubauen und die Bahnanlagen zu entfernen. Es bestand keine Eile, da der Abriss keine Probleme verursachen würde. Ein Jahr nach der offiziellen Stilllegung aber geschah etwas Seltsames und Unerwartetes.

Eines Tages wandte sich ein gewisser Szymon Wawera, langjähriger Eisenbahninvalide und pensionierter Lokführer, an den Direktor der zuständigen Abteilung in Orszawa und bat darum, die Aufsicht über den vom Verkehr abgeschnittenen Verlassenen Ort zu erhalten. Als der Direktor ihm mitteilte, dass dies völlig unnötig, wenn nicht sogar lächerlich sei, da die Gleise in den kommenden Monaten abgebaut würden, erklärte Wawera, dass er die alte Strecke ohne jedes Entgelt bewachen werde. „Denn, verehrter Herr“, erklärte er enthusiastisch, „in diesen harten Zeiten gieren die Leute sogar nach dem Metall der Schienen. Und das wäre ein Verlust für die Eisenbahn, mein Herr, ein großer Verlust. Rechnen Sie selbst: so viel gutes Schmiedeeisen! Die Strecke dort ist mehr als zwölf Kilometer lang! Eine Menge, sich die Taschen zu füllen. Und ich werde wie ein Hund darauf aufpassen, mein Herr. Ich werde niemandem auch nur einen Meter überlassen! Das Wort des alten Lokführers Wawera darauf! Ich will keinen Pfennig dafür, keinen einzigen Pfennig. Selbst, wenn der Direktor persönlich ihn mir in die Hand drücken würde. Nur aus Liebe zu meinem Beruf und um der Ehre willen möchte ich Strecken­wächter des Verlassenen Ortes sein.“

Der Direktor lenkte ein. „Na, wenn Sie so pflicht­bewusst sind und es zudem unentgeltlich anbieten, dürfen Sie diese Strecke betreuen, bis ihre Zeit gekommen ist. Und so“, fügte er mit einem leicht ironischen Lächeln hinzu und klopfte ihm auf die Schulter, „ernenne ich Sie ab heute zum Streckenwächter des Verlassenen Ortes.“

Mit Tränen in den Augen schüttelte Wawera seinem Vorgesetzten die Hand und verließ das Büro so glücklich wie nie zuvor.

Am nächsten Tag trat er seinen Dienst an. Aus Orszawa nahm er ein paar Dinge mit – Möbel, Bettwäsche, einige Bücher und Küchenutensilien, und nachdem er den spärlichen Hausstand auf einen Handwagen gepackt hatte, zog er in sein neues Zuhause, das von nun an ein ausgedientes Wachhäuschen in diesem Sperrgebiet sein sollte. Es war ein kleines Gebäude, das durch jahrelange Vernachlässigung bereits baufällig war, aber in einer seltsam schönen Umgebung lag.

In den Tiefpunkt der Schlucht geduckt, einige Meter über dem Niveau des Gleisbetts, sah es mit seinem roten Schieferdach aus der Ferne aus wie ein ­verwunschenes Märchenhäuschen. Ein Tannenwäldchen, das oben am Steilhang wuchs, umgab es und schützte es vor den Nordwinden. Sonnenblumenköpfe lugten durch zerbrochene Fenster, breitblättrige Kletten eroberten die Holzwände, Schwalben nisteten in phantastisch ­verbogenen ­Dachrinnen. In dem von Unkraut überwucherten Vorgarten neigte sich eine einsame Pappel mit dem Wind. Wawera nahm das kleine Anwesen liebevoll in Augenschein und machte sich daran, alles in Ordnung zu bringen und zu reparieren. Und das war auch bitter nötig, denn sein Vorgänger hatte den Posten vor einem Jahr aufgegeben und die Hütte ihrem Schicksal überlassen – der Witterung und den Plünderern. Doch Wawera ließ sich nicht beirren und stürzte sich mit Feuereifer auf die Arbeit. Er ersetzte zerbrochene oder gestohlene Fenster, flickte ein Loch im Dach, reparierte eine Tür, die aus den Angeln hing. Nach diesen notwendigsten Reparaturen war es an der Zeit für mehr: die Restauration des Fußbodens, der fast vollständig aufgebrochen war, und das Einsetzen fehlender Zaunlatten. Es dauerte ein paar Tage, weil er alles selbst machen musste, aber das tat seiner guten Laune keinen Abbruch. Tatsächlich pfiff er bei der Arbeit fröhlich wie ein Stieglitz im Frühling. Gegen Ende der Woche, als die Arbeit bereits beendet war, kam ein streunender Hund zur Hütte und ließ sich in einem Zwinger nahe dem Schuppen nieder. Wawera nahm ihn gerne auf, denn er betrachtete die Ankunft des Tieres als gutes Omen.

Wawera verbrachte den ersten Sonntag in seinem neuen Amt in Kontemplation. Am Nachmittag streckte er sich im Gras am Abhang nahe dem Haus aus, blickte in den blauen Maihimmel und verfiel in Träumerei, bis ihn die Abendglocken aus Orszawa weckten.

Am nächsten Morgen begann er seinen Dienst mit der Inspektion der ihm anvertrauten Strecke. Sie war über zwölf Kilometer lang und führte durch eine tiefe, enge Schlucht, zwischen deren Wände nur ein doppelter Schienenstrang passte. Das Wärterhäuschen lag im Zentrum des Verlassenen Ortes, an der Stelle, an der der Schienenstrang am stärksten nach Norden abbog. Für die Inspektion benötigte Wawera mehr als fünf Stunden, denn sein rechtes Bein war unterhalb des Knies verkrüppelt, was ihn beim Gehen erheblich behinderte. Schließlich beging er die Strecke jedoch sorgfältig in beide Richtungen und kehrte, zufrieden mit dem Ergebnis, zum Essen in seine Hütte zurück. Am Ende sah das Gelände gar nicht so schlecht aus. Nur an einer Stelle fehlten ein paar Meter Schiene, die aber irgendwie überbrückt werden konnten. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, dachte er, schnitt Brot und löffelte seine gestreckte Borschtsch-Suppe. Warum sollte ich nicht in der Lage sein, ein paar Meter Schienen einzubauen?

Und er baute sie ein. Irgendwo an einem Bahndamm, unter einer Steinbrücke, förderte er ein paar verrostete Eisenstangen zutage, säuberte sie, schmiedete einige Nieten, und nachdem er sie an den Schienenstrang ­angepasst hatte, besserte er die Lücke so aus, dass niemand einen Unterschied hätte bemerken können. Ebenso reibungslos verlief die Reparatur der alten Weiche und der herausgebrochenen Augen der beiden Bahnhofslaternen in der Nähe der Hütte. Bald funktionierte der Schaltkasten wie in guten alten Zeiten, und abends ab sieben Uhr blinkten die Signale mit einem angenehmen, wenn auch etwas schummerigem Licht.

Wawera war stolz auf sein Werk und blickte mit Bewunderung auf seinen Wachturm, auf das gepflegte Gleisbett und die glänzenden Schienen. Er hatte nichts zu beanstanden. Hier war alles wie anderswo auf aktiven Strecken. Es gab ein Doppelgleis, einen kurzen Tunnel oberhalb des Schuppens und sogar eine Weiche, ein echtes Stellwerk, mit Hebeln zur Umleitung. Das Vorhanden­sein dieser Weiche, die nur wenige Meter vom Stellwerk entfernt war, machte seine Station zu einer richtigen Haltestelle. Tatsächlich hatte es hier vor Jahren einen kleinen Bahnhof gegeben, auf dem ein Vorsteher seinen Dienst versehen hatte. Noch ein Jahr vor der Schließung der Strecke sollen hier gelegentlich Güterzüge gehalten haben. In Waweras Augen steigerte diese Nachricht die Bedeutung seines Postens und die Wichtigkeit seiner Aufgaben enorm. Von nun an betrachtete er sein Häuschen als Zughaltestelle und hütete alle Gegenstände in seiner Station wie seinen Augapfel. Um sich selbst und anderen gegenüber zu rechtfertigen und die frühere Daseins­berechtigung des Gebäudes ­wiederherzustellen, ­duplizierte er den Schienenstrang vor seinem Häuschen, um eine Weiche mit Nebengleis wiederherzustellen, die hier zweifellos einmal vorhanden waren, dann aber als unnötig entfernt wurden. Da diese letzte Aufgabe seine Kräfte und technischen Fähigkeiten überstieg, holte er sich die Hilfe eines gewissen Luśnia – einem Eisenbahnschmied aus dem Kesselhaus in Bylicz – und überredete ihn mit einem Päckchen feinen Tabaks dazu, seiner ­Station ihr altes Aussehen zurückzugeben. Der Schmied führte die Restaurierung des Nebengleises nach den Vorgaben des Streckenwärters durch und wurde von da an sein engster Freund. Abends nach der Arbeit besuchte Luśnia den Wächter. Sie saßen zusammen am Weichen­block oder vor der Station, unterhielten sich beim Abendbrot und rauchten ihre Pfeifen. Während eines freundschaftlichen Gesprächs, begleitet vom Zirpen der Heuschrecken und dem Quaken der Sumpffrösche, vertrauten sie sich einander an.

Dabei kam ans Licht, dass Szymon Wawera nicht immer einsam gewesen war, einst eine junge, schöne Frau und Kinder hatte, deren Haar seidig und hell wie Flachs war. Aber verloren ist das Glück, unwiederbringlich! Die Frau wurde von einem widerwärtigen Neureichen verführt, die Kinder hatte ihm der Tod geraubt. Seitdem wartete niemand mehr in dem leeren, kalten Haus auf ihn, wenn er von der Arbeit zurückkehrte. Dann geschah die Zugkarambolage bei Wola. Durch die er ein Bein und seine Arbeit einbüsste; lediglich eine Frührente bekam. Und er hatte immer noch Lust zu arbeiten, oh, und was für eine Lust! Aber es war schwer – aussichtslos. Diese verfluchte Invalidität!

Und irgendetwas hatte ihn immer zur Eisenbahn hingezogen. Er konnte sich auf keinen Fall von ihr trennen. Einige Jahre nach seiner Pensionierung arbeitete er als Bediensteter in den Lagerhallen des Güterbahnhofs, rollte Fässer und Ballen auf die Bahnsteige, dann, als sein Bein zu versagen begann, verdiente er seinen Lebens­unterhalt als Schlossergehilfe im Heizwerk des Bahnhofs in Zbąszyń. Aber immer noch in der Nähe seiner geliebten Züge, Waggons und Gleise. Vom Lokführerdasein war er so weit entfernt wie der Himmel von der Erde, aber immerhin – er hatte die Möglichkeit, bei der Eisenbahn beschäftigt zu sein. Es geht nichts über den Beruf des Lokführers! Er fliegt durch die Sphären, weit, weit voraus, er fliegt meilenweit über Schienenstränge ... Die Welt dreht sich, Städte blinken in der Ferne, Felder und Bahnhöfe ziehen vorbei. So fährt der Lokführer, meine Herren, der Lokführer – ein Mann mit ewiger Wanderlust.

Und so vergingen die Jahre, die Zeit verfloss in einer unwiederbringlichen Welle. Bis er vor einem halben Jahr, nachdem er etwas über einen aufgegebenen Gleisstrang zwischen Orszawa und Bylicz gehört hatte, im Heizwerk kündigte und in diese Gegend zog, um die verlassene Strecke zu beaufsichtigen. Und jetzt ist er ein Streckenwächter geworden, mehr noch: ein Bahnhofsvorsteher. Angeblich lachten die Leute über ihn, sagten, er ­bewache die Leere und verteidige sie gegen den Wind. Sollten sie lachen. Er wusste es besser. Und wird nicht zulassen, dass die Schienen wieder herausgerissen werden, wird für Ordnung sorgen. Und so diente er wieder der Eisenbahn, ist zu ihr zurückgekehrt wie der verlorene Sohn ins Elternhaus. Ein Dach über dem Kopf, einen Bahnhof und Gleise, um die er sich kümmerte – was brauchte er mehr?

Luśnia hörte sich alles mit einem Lächeln an, nickte gelegentlich mit dem Kopf. Als sein Freund für einen Moment verstummte und nachdenklich in Richtung der Gleise blickte, zog er eine Pfeife aus dem Mund und fragte: „Du, Wawera, bist also als Wächter hierher­gekommen, sozusagen aus deiner großen Sehnsucht nach der Eisenbahn?“

Wawera wandte seinen Blick von den Schienen ab. „Ich nehme es an, lieber Schmied, ich nehme es an.“

„Aber siehst du, Szymon, du machst dir doch nur etwas vor. Du wirst hier eigentlich nicht gebraucht. Es ist ein trostloser Ort, an dem seit einem Jahr keine Züge mehr vorbeigefahren sind. Es gibt nichts zu bewachen. Das bisschen Eisen der Schienen dort? Wen interessiert das? Ob es gestohlen wird oder nicht – für die Eisenbahn wäre es kein Verlust. Es ist nur ein Spielzeug, das ist alles.“

Wawera war, als hätte ihm jemand ein Messer ins Herz gestoßen. Seine Miene verfinsterte sich, er presste die Lippen zusammen und sprang auf: „Wenn du so denkst, verschwinde von hier! Hast du mich verstanden? Wenn du so klug bist wie die anderen, dann geh zu ihnen und lach mit ihnen. Nun, das geschieht mir recht. Ich bin ein alter Narr! Was hat es genützt, dass ich dem Erstbesten mein Herz öffnete? Dies ist die Belohnung. Das Vieh hat mir ins Gesicht gespuckt und meine Seele besudelt. Raus hier, sage ich, oder es wird dir leidtun!“

Luśnia war verwirrt und erschrocken. Mit gebrochener Stimme, voller Reue und Bedauern, begann er sich zu rechtfertigen und zu entschuldigen. „Na, na, alter Mann, werd nicht gleich böse. Ich, weißt du, ich wollte etwas anderes sagen. Ich wusste nur nicht, wie. Ich bin nur ein einfacher Mann, ein Schmied. Du – etwas anderes: ein Lokführer. Du hast die Welt bereist, du liest Bücher. Ich konnte mir nur nicht erklären, warum du dich auf deine alten Tage hier niedergelassen hast. Aber jetzt spüre ich es in meinem Herzen und erkenne, warum: Du bist ein ganz besonderer Mensch.“

Wawera blickte etwas ungläubig zu ihm hinüber, war aber beschwichtigt: „Nun, das ist etwas anderes. Wenn du selbst zugibst, dass du es nicht verstehst, dann kann ich dir verzeihen. Denn, hör zu, Luśnia“, fügte er hinzu und senkte geheimnisvoll die Stimme, „es gibt noch etwas anderes, das mich hier festhält, an diesen Ort bindet. Es ist ein Gefühl, tief in meiner Brust – aber ich kann es noch nicht benennen, nicht mit der Zange der Worte greifen. Aber sie ist da, diese seltsame Ursache – sie ist ganz sicher da.“

Luśnia sah seinen Freund mit vor Neugierde geweiteten Augen an: „Du meinst also nicht nur diese Sehnsucht nach der Eisenbahn?“

„Nein, nein. Es ist etwas anderes. Etwas, das in mir mit dieser Sehnsucht verbunden ist, aber auch ohne mich für sich selbst existiert.“

„Was ist es, Wawera?“

„Psst! Es ist ein Geheimnis! Das Geheimnis des ­Verlassenen Ortes.“

Beide verstummten, plötzlich von einer undefinierbaren Angst überwältigt, und schauten in Richtung der bereits im Dämmerlicht liegenden Schlucht. Inmitten der Stille des Augustabends ertönte ein leises, aber deutliches Summen und Knistern von den Gleisen her. Ein gedämpftes, zaghaftes Flüstern ...

„Hast du das gehört, Luśnia?“, durchbrach der Wächter das Schweigen. „Die Schienen sprechen.“

„Es ist normal, dass sie an Sommerabenden in der Kälte schrumpfen und deshalb knistern.“

„Die Schienen sprechen“, wiederholte Wawera, als hätte er die Erklärung des Schmieds überhört. „Sie unterhalten sich am Abend, nach der Mühsal des Tages.“

„Die Schienen sprechen“, wiederholte Luśnia wie ein Echo.

„Ja, ja“, sagte der Streckenwächter seltsam verträumt. „Glaubst du denn, sie lebten nicht wie wir, Menschen, Tiere oder Bäume?“

Der Schmied wirkte von dieser Frage überrascht.

„Sie leben, Luśnia, sie leben, aber mit einem eigenen Leben, das sich von dem der anderen Lebewesen unterscheidet.“

Das überstieg eindeutig das Verständnis des Schmieds. Er schaute seinen Freund an, als wäre der ein Verrückter, schüttelte den Kopf und rückte ein Stück zur Seite.

„Und du glaubst, dass die Schienenstrecke tot ist, oder?“, drängte Wawera weiter, aufgeheizt durch den stillen Widerspruch. „Und was ist mit diesem Gleis­abschnitt, dieser Station mit dem Weichenstellwerk und allem hier?“

„Ein trostloser Ort“, warf Luśnia halblaut ein.

„Trostlos, sagst du? Verlassen und taub! Ihr seid es, die taub sind, ihr dummen, stumpfen Menschen, die die Stimme Gottes nicht hören wollen!“

Der Schmied erschauderte. „Ich weiß gar nichts mehr“, murmelte er und sah seinen Freund an. „Ich verstehe davon nichts. Aber ich glaube an einen Gott.“

Der Wächter wies mit einem Lächeln und leuchtenden Augen auf die Schlucht, die bereits in der Abend­dämmerung versank: „All dies lebt und erinnert sich.“

„Erinnert sich?“, fragte Luśnia aufgebracht. „Und woran erinnert es sich?“

„Was vergangen ist. Was vor Jahren hier war. So, wie wir Menschen uns an die Vergangenheit erinnern“, fügte er nach einer Weile mit tiefer Traurigkeit in der Stimme hinzu.

„Dieser Ort erinnert sich also an seine Vergangenheit?“

„Ja, Luśnia, ja. Endlich verstehst du mich.“

„Wie an die guten alten Zeiten ...“

„Genau – als hier noch Verkehr herrschte, als Züge wie Blitze vorbeiflogen, die Räder der Waggons ohren­betäubend rumpelten, die Pfiffe der Lokomotiven durch die Schlucht gellten.“

„Das ist es, woran sich dein Ort erinnert.“

„Davon träumt er, träumt unaufhörlich am Tag unter der Sonne und in den langen, schwarzen, blinden Nächten ...“

„Und du, Wawera, was ist mit dir?“

„Ich tue es ebenso, als wäre er mein Seelen­verwandter.“

„Ihr träumt beide, schwelgt in Erinnerungen?“

„Wir träumen in großer Sehnsucht und warten.“

„Worauf könnt ihr denn hier warten?“

„Die Erfüllung dessen, wovon wir träumen.“

„Ein vergebliches Warten! Die Vergangenheit kehrt nicht zurück.“

„Wer weiß, alter Freund? Deshalb bin ich hier – um sie zurückzubringen.“ Er stand auf, reichte dem Schmied zum Abschied die Hand und fügte nach einem Moment des Schweigens hinzu: „Glaubst du, dass die Erinnerung nichts ist, nur ein leeres Wort?“

Er ließ den Blick schweifen über die Schlucht, das Gleisbett mit seinen Schienen. „Hier leben diese Erinnerungen überall; sie wandern für das menschliche Auge unsichtbar zwischen den Wänden dieser Schlucht, auf diesen Schienen, streifen weithin über diesen Ort. Man muss nur in der Lage sein, hinzusehen und zuzuhören.“

„Reminiszenzen an alte Zeiten?“

„Erinnerungen – unauslöschliche Spuren. Denk nach, Luśnia. Meinst du, es ist möglich, dass von alldem, das hier geschehen ist, nichts übrig bleibt?“

„Was ist denn geschehen?“

„Denk nur! Jahrzehntelang fuhren Züge durch diese Senke, erfüllten sie mit dem Rattern der Räder, dem Klackern der Schienen, so viele Jahre lang prallten ihre Echos von den Wänden dieser Schlucht aufeinander wie Billardkugeln. Tag für Tag, Nacht für Nacht wurden in diesem Tal Luftwirbel geboren und verpufften, hefteten sich an den scharlachroten Schornsteinqualm, schmiegten ihre Nebelfetzen ans Gleisbett, versteckten sich im Gewölbe des Tunnels ...“

„Was meinst du damit, Wawera?“

„Ich wollte nur sagen, dass Erinnerungen nie verblassen. Gute Nacht, Luśnia, gute Nacht!“ Und so trennten sie sich an diesem Abend.

Der Sommer verging und der Herbst begann. Der Stationswärter bewachte immer noch treu seine Strecke. Wachsam wie ein Habicht übersah er nicht den kleinsten Makel. Wenn irgendwo das Gleisbett wegrutschte, schüttete er sofort neuen Kies auf und ebnete es ein. Als in einer Oktobernacht ein heftiger Regenschauer die Gleise überschwemmte und ein großes Loch in die Böschung riss, arbeitete er den ganzen nächsten Tag unermüdlich, bis der Schaden behoben war. Wawera verstärkte lose Schwellen, woanders ersetzte er von Holzwürmern zerfressene. Er hasste Unkraut oder Gras auf den Gleisen: Wo immer es sich zwischen die Schienen drängte, hackte er gnadenlos zu.

Nach sieben Monaten seiner Amtszeit sahen die Gleise und die Station vorbildlich aus. In der Ferne funkelten Schienenbänder auf dem mit feinem Kies bedeckten Gleisbett, sorgfältig geölte Blockhebel ließen sich leicht umlegen, die Weiche vollführte ihre Drehungen geschmeidig und effizient wie ein Zirkuspferd. Zweimal am Tag und einmal in der Nacht hielt Wawera sogenannte Übungen und Manöver ab, bestehend aus Handlungs­abfolgen, die üblicherweise von Stellwerkern ausgeführt wurden, wenn Züge ihre Station passierten. Mit federndem Schritt, dem eines alten Veteranen, ging der Wärter vor seine Station, nahm ein Signal in die Hand – ein rotes oder grünes Schild auf weißem Grund – und stellte sich aufrecht zwischen die Weiche und das Häuschen. Zu anderen Zeiten setzte er den Knopf der Weiche oder die Eisenhebel am Block in Bewegung und drehte die Schienen auf dem Gleis. Abends entzündete er ein grünes Signal hinter dem Weichenglas und ein weiteres oder ein weißes auf dem Semaphor weiter entfernt in der Nähe des Tunnels. Manchmal wechselte er für einen ­Nachtalarm die Signallichter, die dann schon aus der Ferne durch ihre rubinrote Farbe warnten.

Trotz des Anscheins von Bewegung und der Effizienz des Wächters strahlte der Ort eine Art Leere und Leblosigkeit aus. Wawera musste dies gespürt haben: Wenn er für einen Moment rastete und seinen Blick über die Schienen schweifen ließ, zeigten sich in seinen Augen eine Sehnsucht und eine tiefe Träumerei. Und dann machte er sich umso eifriger an die Arbeit.

Im Laufe der Monate entwickelte sich eine ungreifbare, aber sehr intensive Beziehung zwischen ihm und dem Ort. Mit der Zeit wurde Wawera zu ihrem Bewusstsein in Menschengestalt. In ständiger Kommunikation mit seiner Zone nahm er alle Spuren der Vergangenheit auf, die dort heimlich schlummerten, und gab sie, nachdem er sie aufgesogen hatte, gestärkt durch die Sehnsucht, pulsierend mit dem lebendigen, heißen Blut eines liebenden Herzens, zurück.

„Warte, Schwesterchen“, flüsterte er manchmal und versenkte seine Augen träumerisch in der blauen Ferne, „warte noch ein wenig, Täubchen! Wir werden es schaffen, wir werden es noch erleben.“ Er stieg hinunter zum Gleis, legte sein Ohr auf den Boden und lauschte, lauschte mit angehaltenem Atem. Nach einer Weile zeigte sich ein Ausdruck von Enttäuschung und Trauer auf seinem faltigen Gesicht, und seine welken Lippen formten Worte der Ermutigung: „Noch nicht, es ist noch zu früh ...“ Manchmal starrte er abends, im Nachglühen des ­Sonnenuntergangs, stundenlang in die dunklen Tiefen des Tals und wartete auf etwas, wartete endlos.

Dann kamen schlechte Nachrichten aus der Stadt. Eines Tages überbrachte Luśnia die furchtbare Meldung, dass die Verkehrsbehörde von Orszawa spätestens im Frühjahr mit dem Abriss der Gleisanlagen beginnen würde. Der schwer getroffene Wawera erkrankte. Nach einer Woche konnte er das Bett verlassen, aber hatte sich schrecklich verändert. Von Natur aus wortkarg, verschloss er sich nun völlig und weigerte sich, mit jemandem zu sprechen. Er verbot selbst Luśnia, sein Haus zu betreten, und wenn er ihn von Weitem kommen sah, wies er ihn mit einer Handbewegung ab. Er wurde mürrisch, deprimiert und hatte ein wildes, bösartiges Leuchten in den Augen.

Eines Tages, in der Abenddämmerung eines stürmischen Novemberabends, zuckte er beim Manövrieren an der Weiche plötzlich zusammen.

„Habe ich es gehört oder nicht?“, murmelte er und ließ den Hebel los.

Plötzlich leuchteten seine Augen auf. Eine übermenschliche Freude durchströmte sein Herz und erschütterte ihn bis in die Grundfesten. Inmitten des heulenden Herbststurms, inmitten des pfeifenden Windes, hörte er zum ersten Mal ...

Es war keine Illusion mehr, oh nein! Von dort kam es, von dort, aus dem Tunnel! Das war es, dieses Mal zweifellos! Oh, noch mal! Noch ein bisschen näher ... Süßes, ersehntes Grollen! Ein liebliches Klackern, ein wunderbares, rhythmisches Klackern!

Ra ta tam! Ra ta tam!

Ja, ja! Das ist es! Das ist es! Kein Zweifel mehr! Und er rannte hinaus, dem Geräusch entgegen. Der Wind fegte ihm die Mütze vom Kopf, riss ihm den Mantel von den Schultern, zerrte an ihm, erbarmungslos. Es war ihm gleichgültig. Mit zerzaustem, schneeweißem Haar, die Arme enthusiastisch vor sich ausgestreckt, lauschte er dem seltsamen Klang wie der wunderbarsten Musik.

Ra ta tam ... ra ta tam ... ra ta tam ...

Doch nach einer Weile verstummte es; und wieder pfiff nur der Wind wütend über die Ebene, schrien Krähen unter dem bleiernen Himmel. Mit hängendem Kopf kehrte der Streckenwärter in sein Häuschen zurück.

Aber seit jenem denkwürdigen Abend war eine leuchtende Hoffnung in ihm erblüht. Denn jeden Tag hörte er es deutlicher, näher und näher, lauter und lauter. Manchmal verstummten die Geräusche zwar, verflüchtigten sich, in der folgenden Dämmerung aber, jener seltsamen Stunde, in der die Nacht zum Tag wird, ertönten sie wieder, lauter, fast greifbar.

Bis die Stunde der Vollendung kam.

In einer schneebedeckten Dezembernacht, als er müde von der Wache sein graues Haupt auf die Brust gelehnt hatte, ertönte das Signal ... Wawera schrak auf und zitterte. „Was ist das?“

Bimbim ertönte es erneut. Bimbim. Das Signal des Stellwerks ertönte. Zum ersten Mal, seit er im Dienst war, hörte er das Hämmern der Weichenschaltung ... Mit zitternden Händen setzte er sich die Mütze auf, warf sich den Mantel über und eilte mit einer Laterne hinaus.

Bimbim ... Wie das Schlagen einer Stange.

„Ich komme, ich komme“, flüsterte er und wurde vor Rührung schwach. Mit aller Willenskraft riss er sich zusammen, spannte sich an, richtete sich in offizieller Haltung auf und wartete, indem er seine Laterne wie ein Signal hochhob.

Ra ta tam! Ra ta tam!, dröhnte es durch die Schlucht.

Klack! Klack! Die Schienen vibrierten.

Der Wächter versenkte seinen hungrigen Blick in den Schlund des Tunnels.

Ra ta tam ... Ra ta tam ...

Endlich sah er es. Am Eingang des Tunnels leuchtete ein Augenpaar, ein Paar riesiger, goldgelber Lichter wuchsen, kamen näher. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Wird sie vorüberfahren oder anhalten?

In diesem Moment ertönte das Kreischen heftig gebremster Räder und der Zug hielt vor dem ­Stationshäuschen. Wawera zuckte nicht zusammen, rührte sich nicht von seinem Platz. Er starrte auf die Lokomotive. Der Verkehrsleiter stieg herunter und ging auf den ­Streckenwächter zu. Mehrere Lokführer und ein ­diensthabender Inspektor sprangen von den Wagen­treppen herunter und kamen auf ihn zu.