Lucien und Mathilde - eine Liebesgeschichte - Virginie Carton - E-Book

Lucien und Mathilde - eine Liebesgeschichte E-Book

Virginie Carton

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Beschreibung

"Dieses Buch zu lesen ist wie eine Tafel Schokolade zu naschen." ELLE Lucien, Kinderarzt und großer Fan von Jean-Louis Trintignant, hätte gern eine Freundin. Aber er geht selten aus und hat eine tiefe Abneigung gegen SMS –  doch genau das wollen offenbar alle Frauen. Mathilde, Chocolatière mit Uniabschluss und großer Fan von Romy Schneider, sehnt sich nach dem Märchenprinzen, aber sie verbringt ihre Abende am liebsten gemütlich vor dem Fernseher. Was beide nicht wissen: Sie leben im selben Haus und sind wie füreinander geschaffen. Eines Tages jedoch lädt der neue Nachbar alle Hausbewohner zu einer Einweihungsparty ein. Es könnte der Film ihres Lebens werden …

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Das Buch

Lucien, Kinderarzt und großer Fan von Jean-Louis Trintignant, hätte gern eine Freundin. Aber er geht selten aus und hat eine tiefe Abneigung gegen SMS – doch genau das wollen offenbar alle Frauen. Mathilde, Chocolatière mit Uniabschluss und großer Fan von Romy Schneider, sehnt sich nach dem Märchenprinzen, aber sie verbringt ihre Abende am liebsten gemütlich vor dem Fernseher. Was beide nicht wissen: Sie leben im selben Haus und sind wie füreinander geschaffen. Eines Tages jedoch lädt der neue Nachbar alle Hausbewohner zu einer Einweihungsparty ein. Es könnte der Film ihres Lebens werden …

Die Autorin

Virginie Carton wurde 1972 in Lille geboren und arbeitet seit 1996 für die Zeitung La Voix du Nord, bei der sie seit 2002 das Musikressort betreut. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Lille. Lucien und Mathilde – Eine Liebesgeschichte ist ihr zweiter Roman.

Virginie Carton

Lucien und Mathilde

Eine Liebesgeschichte

Roman

Aus dem Französischenvon Corinna Rodewald

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1193-7

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016© Editions Stock, 2014Titel der französischen Originalausgabe: La blancheur qu’on croyait éternelle (Edition Stock, Paris)Umschlaggestaltung: Geviert / Conny HeptingTitelabbildung: © Shutterstock

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Robinson, Simon und Archibald

Als sie aus dem Klassenzimmer kam, gab es eine Überraschung.Weiße federleichte Flocken wirbelten in der Dämmerung vom Himmel herab.

Henri Troyat, Viou

Winter 2009

1

Lucien hatte eine Autovermietung für Oldtimer herausgesucht und sich für einen Tag einen Ford Mustang, Baujahr 1966 gemietet. Der Verleiher hatte ihm gesagt, es sei ihm schon lange nicht mehr passiert, dass jemand einfach so hereinkam und nach einem Mustang 66 verlangte. Eine Zeitlang sei das schon eine Manie gewesen, da sei keine Woche vergangen, ohne dass irgendein Verrückter im Trenchcoat à la Jean-Louis Trintignant bei ihm aufgekreuzt war und mit einem Ford Mustang nach Deauville fahren wollte. Das Lustigste daran war, so der Autovermieter, dass sie allesamt davon überzeugt gewesen waren, als Einziger auf diese Idee gekommen zu sein.

Lucien hätte gern etwas dagegen erwidert, aber dazu war er viel zu zurückhaltend. Also hatte er einfach nur wortlos die Schlüssel entgegengenommen und war Richtung Deauville losgefahren.

Schon seit dem Vormittag schneite es unaufhörlich. Lucien fuhr auf die Autobahn, Musik von Francis Lai erfüllte das Wageninnere, und ließ die flache Landschaft in vollem Tempo an sich vorüberziehen. Irgendwann wich sie kleinen weißen Tälern. Er fühlte sich wie ein Kind, wie ein Durchgeknallter, wie er so einem Traum entgegenfuhr, ja sich schon mitten in einem Traum befand. Auch der ohrenbetäubende Motorenlärm störte ihn nicht. Er konzentrierte sich auf die Straße, wie es auch sein Held getan hätte, und stellte sich vor, wie die Kamera sein ernstes Profil filmte. Das machte ihn unbeschreiblich glücklich. Anouk Aimées im Wind wehenden, braunen weichen Haare, Trintignants angedeutetes Lächeln und unvergleichlicher Charme. »Dazu gehört wirklich Mut. Schickt mir einfach ein Telegramm: Ich liebe dich. Das ist ungewöhnlich, dass eine schöne Frau einem Mann so ein Telegramm schickt. Aber es ist wunderbar.« Er hatte den Film hundertmal gesehen. Vielleicht auch zweihundertmal. Er kannte jeden Satz auswendig.

Eigentlich hatte er sich geschworen, niemals an die Drehorte zu fahren, es nie zu riskieren, den Zauber der Bilder der harten Realität auszuliefern. So lange hatte er der Versuchung widerstanden, sich wie ein ganz gewöhnlicher Fan zu benehmen, nur um sich dann an diesem Tag im Dezember doch wie ein zwanghafter Imitator von Jean-Louis Trintignant aufzuführen.

Lucien redete sich ein, er unterscheide sich von den anderen. Anders als die meisten Touristen hatte er sich für die Nebensaison entschieden. Vor keiner einzigen Strandkabine saß mehr ein Mädchen mit einem Buch in der Hand, das dabei sehnsüchtig aufs Meer blickte. Die Cafés sahen trist und grau aus, und es war keine Menschenseele hinter den dunklen, mittlerweile reklamelosen Scheiben auszumachen. Die Fensterläden, die im Sommer in der Normandie immer weit aufstanden, waren für den Winter verschlossen worden, und ein ekelhafter Sprühregen wehte über den einsam daliegenden Strand und ließ die Spuren im Schnee verwischen.

Lucien hatte seinen grauen Ford auf dem Parkplatz neben den verlassenen Tennisplätzen in der Nähe des Strandes abgestellt und lief jetzt auf der hölzernen Promenade von Deauville an den Kabinen von Lauren Bacall, Clint Eastwood und Al Pacino entlang, den eisigen Wind im Gesicht. Insgeheim lauerte er darauf, die Schemen zweier Kinder auf dem Strand zu entdecken, und vielleicht auch die Silhouette einer braunhaarigen Frau mit unheimlicher Klasse. Aber es hatte sich nur ein Hund an den Strand verirrt, dem er sich augenblicklich verbunden fühlte.

Hier konnte er sich nun ganz ungestört in seine Phantasiewelt zurückziehen, und da er all die Jahre abgewartet hatte, bis die Pseudo-Fans es hingeschmissen hatten, fühlte er sich auch sonderbar dazu berechtigt, ja sogar dazu berufen, am Schauplatz seines Kultfilms zu wandeln. So ließ er es auch zu, ganz offensichtlich wie Trintignant zu lächeln. Er stand zu seinem Wunsch, diese Poesie intensiv auszuleben, sie nachzuspielen, als wäre er der Schauspieler, gerade so, wie man sich genüsslich in ein heißes Bad gleiten lässt und untertaucht. An diesem späten Vormittag im Wind auf der Promenade von Deauville war er Jean-Louis Trintignant. Er war dieser berühmte, anmutige Held, und er erlebte diese Eleganz der Gefühle, die Feinsinnigkeit, die überholte Poesie aus dem Jahre 1966.

Ungeniert versetzte sich Lucien in die Zeit der Telegramme zurück, auch wenn heutzutage kaum noch jemand wusste, dass es sie je gegeben hatte. Und er freute sich wie ein kleines Kind über diesen aus der Zeit gefallenen Moment.

»Sie haben nicht zufällig meinen Hund gesehen? Meinen Hund? Haben Sie den gesehen?«

In seinem äußerst intimen Zustand der Verzückung kam Lucien diese Frage wie ein Coitus interruptus vor. Er war zutiefst verlegen und wagte es nicht, dem Blick der zierlichen dunkelhaarigen Frau zu begegnen, also kniff er die Augen stattdessen zusammen und schaute auf den endlosen Strand, über den der Wind hinwegfegte. Er hielt sich eine Hand an die Stirn, als wollte er sich vor der Sonne schützen, ließ sie dann aber wieder sinken: Es gab keine Sonne.

»Da hinten habe ich vorhin einen Hund gesehen … Er ist den Strand entlanggelaufen.«

»Und Sie haben nicht versucht, ihn einzufangen?«

»Äh, nein.«

»Er ist ausgebüxt, und wir können ihn nicht wiederfinden. Wir hängen sehr an ihm, müssen Sie wissen. Unsere Tochter hat ihn uns geschenkt. Sie ist im Krankenhaus.«

»Ah. Das tut mir wirklich leid. Hätte ich das gewusst.«

»Würden Sie uns wohl helfen, nach ihm zu suchen?«

Lucien war ein hilfsbereiter Mensch, doch mit Fremden zu reden, fiel ihm schwer. Sich einem Familienhund-Suchtrupp anzuschließen, gehörte also in die Kategorie »unmöglich«.

Eine Flutwelle der Angst überkam ihn. Er blickte auf die Promenade von Deauville, als sähe er sie zum letzten Mal. Der nicht enden wollende, opalartig schimmernde Strand. Die Wellen, die niemals den Mond erreichen würden, so viel war sicher.

Die Dame sah ihn jetzt vorwurfsvoll an, und Lucien dachte nur: Warum ich? Er holte tief Luft. Vielleicht musste er sich zusammennehmen, die Augen schließen und diesen bedeutungslosen Augenblick vorbeigehen lassen, das Eindringen in seinen Traum ignorieren.

Und wenn er die Augen dann wieder öffnete, wäre die Poesie wieder da.

2

»Ich hätte gern ein Blond wie Romy Schneider.«

»Versteh ich nicht.«

»Dunkelblond, aschblond, schick. Auf keinen Fall goldblond, verstehen Sie?«

»Nein, versteh ich nicht.«

»Erinnern Sie sich an Romy Schneider in Swimmingpool?«

»Was für ein Swimmingpool?«

»Der Film Swimmingpool.«

»Nein, hab ich nie gesehen.«

»Die Spaziergängerin von Sans-Souci?Die Bankiersfrau?

»Nein, kenn ich nicht.«

»Kennen Sie denn Romy Schneider? Sissi zumindest?«

»Ah, ja! Sissi! Das ist aber goldbraun!«

»Nein, ich sag ja nur Sissi, damit Sie verstehen, wen ich mit Romy Schneider meine. Aber ich möchte das Blond, das sie später getragen hat, nicht die Haarfarbe aus Sissi! Das Blond aus César und Rosalie, Eine einfache Geschichte, Die Dinge des Lebens …«

»Aber Romy Schneider lebt doch nicht mehr, oder?«

»Nein, wieso?«

»Nur so.«

Mathilde stieß die Tür zum Salon de thé auf. Der Gedanke an Feingebäck tröstete sie etwas. Sie setzte sich an einen Tisch, bestellte eine heiße Schokolade und sah sich um. Die guterhaltenen Überreste der Vergangenheit in dem Salon hatten eine beruhigende Wirkung auf sie. Als ihre Mutter hereinkam, fragte sie sich gerade, ob sie nun zuerst die heiße Milch oder die zerlassene Schokolade in ihre Tasse geben sollte.

»Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?«, war das Erste, was ihre Mutter sagte, als sie ihren roten Wollmantel auszog und lässig der Kellnerin übergab. Es war Mathilde jedes Mal furchtbar peinlich, wenn ihre Mutter irgendwo auftauchte. Alles an ihr nahm zu viel Platz ein. Ihre großen Schritte, ihre laute Stimme, ihre ausladende, auffällige, parfümierte Kleidung. Sie setzte sich Mathilde gegenüber und strich sich ihre zu roten und zu gewollt zerzausten Haare zurecht.

»Haben sie es bei Richard vermasselt, mein Schatz? Was hast du ihnen denn gesagt, dass sie dir so etwas antun? Ich sag dir doch immer wieder, du weißt nicht, wie du um etwas bitten sollst. Sei selbstbewusster, meine Große! Trau dich!«

Mathilde hatte sich entschieden, zuerst die zerlassene Schokolade und dann die heiße Milch einzuschenken, und ließ die Szene beim Friseur noch einmal Revue passieren. Hatte ihre Mutter vielleicht recht? Woran genau war sie gescheitert? Hätte sie Romy Schneider lieber nicht erwähnen sollen? Sie war davon ausgegangen, dass jeder genau wusste, welche Haarfarbe Romy Schneider gehabt hatte … Nein, schuld war Sissi. Sie hätte niemals Sissi erwähnen sollen. Sissi war es, die die Friseurin auf goldblond gebracht hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, der Friseurin von Sissi zu erzählen?

»Ich war etwas einkaufen. Ich habe dir deine Seife mitgebracht, und Orangen und Kiwis, weil ich finde, dass du nicht genug Vitamine zu dir nimmst, meine Liebe …«

»Aber Maman, du weißt doch, dass ich schon vierunddreißig bin.«

»… und deine Lieblingskekse.«

Ihre Mutter reichte ihr eine laut raschelnde Plastiktüte. Wo sollte sie die nun wieder hinstellen? Es war unglaublich, wie flink und geschickt ihre Mutter sie mit Dingen überhäufte, um die Mathilde sie nicht gebeten hatte und die dann immer im Weg waren. Aus Angst, ihre Mutter zu verletzen, oder noch schlimmer, eine lautstarke Auseinandersetzung hervorzurufen, die unweigerlich die Aufmerksamkeit ihrer Tischnachbarn und der anderen bourgeoisen Gäste dieses edlen Etablissements auf sie ziehen würde, sagte Mathilde nichts und setzte die Tüte unauffällig neben ihrem Stuhl auf dem Boden ab.

»Wie läuft es bei der Arbeit?«

»Gut …«

»Alles beim Alten, hab ich recht? Du musst dich besser behaupten, mein Mädchen! Bei deinem Studium verstehe ich wirklich nicht, warum du dich so ausbeuten lässt! Sieh mich an. Sieh mir in die Augen. Sei selbst-be-wusst!«

Es hatte angefangen zu regnen, und Mathilde fürchtete, sie würde auf den Pflastersteinen ausrutschen. Warum hatte sie auch die Schuhe mit der glatten Sohle angezogen? Es brachte gar nichts, dass sie diesen grauen Herbsthimmel kannte und stets das Wetter für den kommenden Tag sicher voraussagen konnte, sobald sie morgens ihre Jalousie hochzog, wenn sie doch immer wieder in die Falle tappte und sich nie für die Jahreszeit angemessen anzog, geschweige denn dem jeweiligen Anlass entsprechend. Sie brauchte nur einen Rock anzuziehen, und schon musste sie ein Mäuerchen erklimmen oder auf einen Stuhl steigen, sie brauchte sich nur für die bequemen Turnschuhe und Jogginghosen zu entscheiden, und schon begegnete sie auf der Straße einem jungen Mann, dem sie schon immer hatte gefallen wollen. Sie brauchte nur Schuhe mit glatten Sohlen zu tragen, und schon fing es an zu regnen.

Mittlerweile war sie vollkommen durchnässt. Mit ihrer zu schweren Tasche in der einen und der Plastiktüte in der anderen Hand versuchte sie, ihren Regenschirm aufzuspannen. Als eine hinterhältige Bö ihn umklappte, gab sie den Kampf auf.

Zu Hause angekommen, entledigte sie sich erschöpft ihrer nassen Sachen. Sie ließ ihre Tasche im Flur auf den Boden plumpsen, hängte ihren Regenmantel über die Heizung – ihre Garderobe war seit über einem Jahr kaputt, und sie wusste nicht, wie sie sie reparieren sollte –, schlüpfte ohne jegliche Anmut aus ihren Schuhen und warf schnaufend die Einkäufe ihrer Mutter auf den Küchentisch.

Sie hatte Lust, ein heißes Bad zu nehmen, um sich wieder aufzuwärmen. Im Badezimmer musste sie sich dann ihrem Spiegelbild stellen.

Es bestand kein Zweifel, sie sah aus wie Sissi.

Nachdem sie ausgiebig in den Badeschaum geweint und ihr chronisches Singledasein beklagt hatte, das ganz bestimmt mindestens noch so lange anhalten würde wie die Farbe in ihrem Haar, entschied sich Mathilde für einen Jogginganzug aus weicher Baumwolle. Das mag unerheblich erscheinen, weist aber darauf hin, dass Mathilde sich in einen ganz bestimmten Zustand versetzen wollte, den sie sich nur äußerst selten zugestand: Sie wollte versuchen, sich zu entspannen.

Heute Abend galt es, an nichts zu denken. Sie würde eine DVD einlegen und dazu Obst und in ein Glas Milch getunkte Kekse essen. Als sie schließlich in die Plastiktüte aus dem Carrefour sah, die ihre Mutter mitgebracht hatte, entdeckte sie ihre Lieblingskekse, Palets Bretons, und das war dann trotz allem ein wenig Balsam für ihre Seele.

3

Jeder befindet sich irgendwann mal in einer Situation, die so absurd ist, dass er alles dafür tun würde, damit sie vorübergeht. Den ganzen Nachmittag über suchte Lucien mit Annie und ihrem Ehemann Jean-Pierre den Ort nach dem Hund ab, ohne dass Lucien sich traute, sich in irgendeiner Form dagegen zu wehren. Und je folgsamer und williger er sich zeigte, umso mehr forderten Annie und Jean-Pierre, mittlerweile schon an seine Gegenwart und Gratisunterstützung gewöhnt, ihn heraus.

»Waren Sie schon bei den Tennisplätzen?«

»Äh, nein.«

»Es wäre wirklich nett von Ihnen, wenn Sie dort nachsehen könnten …«

»Schon unterwegs.«

Bei den Tennisplätzen gab es weder Hund noch irgendeine Menschenseele, nur den Wind und die bereits einsetzende Dämmerung. Der feine Regen peitschte Lucien ins Gesicht und verstärkte nur noch das Unbehagen, das er seit dieser unglückseligen Begegnung verspürte. Er war seit beinahe drei Stunden in Deauville, und er hatte noch keine Minute davon genießen können. Er hatte ja kaum Zeit gehabt, einen Blick auf den legendären Strand und die Fassade des Hôtel Casino Barrière zu erhaschen.

Der Anblick seines Ford Mustang in der Ferne erschien ihm da wie eine Erlösung. Er warf einen Blick nach links und nach rechts, als würde man ihn verfolgen, vergaß Trintignant, Annie, Jean-Pierre und den Hund, und rannte los. Wie auf der Flucht sprang er in seinen Wagen, drehte den Schlüssel im Zündschloss, genoss einen Augenblick lang, wie der Motor aufheulte, lächelte erleichtert, legte den rechten Arm auf die Lehne des Beifahrersitzes, setzte zurück und fuhr dann los.

Es war ihm plötzlich ein dringendes Bedürfnis, Deauville zu verlassen.

So reizvoll alte Autos auch sein mögen, ihre Motoren sind eben genau das: alt. Kurz bevor Lucien die Straße erreichte, die ihn zur Autobahn bringen würde, soff der Ford ab. Lucien atmete tief durch. Ruhig bleiben. Er wollte den Motor gerade ganz sanft wieder anlassen, denn er war überzeugt davon, dass auch nur die Ahnung einer Verärgerung die Dinge noch schlimmer machte (er glaubte an eine Art Telepathie zwischen Mensch und Maschine, eine Form der Psychologie der Mechanik), da sah er sie: Annie und Jean-Pierre, die umgekehrt waren, um nachzusehen, ob Lucien nicht zufällig ihren Hund bei den Tennisplätzen gefunden hatte, und die wie magisch von seinem hübschen Rennwagen angezogen direkt auf ihn zusteuerten. Sie hatten zunächst nicht gesehen, dass Lucien am Steuer saß, erkannten ihn aber bald, und das nicht ohne Verblüffung.

Annies Gesicht war vom Nieselregen gerötet, und sie lächelte selig, als sie sich zu dem beschlagenen Autofenster herunterbeugte. Lucien wurde blass. Mittlerweile war er sicher: Er war unfreiwilliger Darsteller in einem Horrorfilm. Er sah sich schon in Stücke gehackt und alle seine Körperteile in Mülltüten gewickelt, die dann des Nachts von einem Fischerboot aus über Bord in die eisigen Tiefen des Ärmelkanals geworfen wurden.

Annie bedeutete ihm, das Fenster herunterzukurbeln. Widerwillig kam er ihrer Aufforderung nach. Er bemühte sich, seine Gruselphantasien zu verscheuchen, und musste sich eingestehen, dass diese Leute doch einen anständigen Eindruck machten.

»Wollen Sie ihn mit dem Auto suchen? Das ist aber nett! Da lassen wir Sie aber nicht alleine losziehen. Wir kommen mit!«

Und schon hatte sich das Paar selbst in sein Auto eingeladen, wo er doch hier drin vor ihnen hätte sicher sein sollen. Er fühlte sich vor so viel Pech wie betäubt, und gleichzeitig machte er sich Vorwürfe, dass er so gemein war, doch er sah in seiner Autopanne eine Art glückliche Fügung.

»Ach, wissen Sie, mein Auto fährt nicht mehr. Wir fahren also nirgendwohin.«

Diese Worte, die er zuletzt als Abschied in ähnlicher Form zu einem aus Rouen stammenden Mädchen gesagt hatte, weil er doch nicht in sie verliebt gewesen war, schienen ihm treffender denn je.

»Man muss immer erst noch einmal probieren, bevor man aufgibt!«, riet Annie ihm. Sie hatte es sich schon auf der Rückbank bequem gemacht.

Vor ihnen auf dem Bürgersteig tänzelte eine junge Frau vorbei. Braune Haare und ein leichtfüßiger Gang, dazu ein weißer Mantel mit pelzbesetzten Ärmeln, das Gesicht von der Meeresbrise erfrischt. Eine Anouk Aimée. Als sie vor ihnen die Straße überquerte, fiel ihr Blick fasziniert auf den Ford Mustang, bevor sie dann den Fahrer ansah und schließlich seine Begleiter entdeckte. Sie ging weiter, und in diesem Augenblick begriff Lucien, was ihm in Deauville entgangen war. Und er konnte nichts dagegen tun.

Notgedrungen drehte er nochmals den Zündschlüssel, und natürlich sprang der Wagen an.

Den restlichen Nachmittag über kurvte er durch Deauville und ertrug Jean-Pierres Kommentare und Annies Hochschrecken, wenn sie wieder mal fand, dass Lucien zu spät oder an der falschen Stelle abgebogen war und ihren Hund an jeder Straßenecke zu entdecken glaubte.

Gefunden haben sie den Hund nicht.

Wie hatte sich dieser so vielversprechende Tag nur in diesen unbeschreiblichen Alptraum verwandeln können? Was war geschehen?

Bitter enttäuscht machte Lucien sich auf den Rückweg.

Auf der Autobahn konzentrierte er sich auf die weißen Streifen in der kalten Finsternis. Er war verzweifelt. Nicht ein Mal hatte er einen Fuß auf den Strand gesetzt!

Er fragte sich, ob dieser Tag ihm Deauville nicht endgültig madig gemacht hatte.

Entmutigt kam er in Paris an, doch es beruhigte ihn sehr, die Stadt hellerleuchtet und bunt zu sehen, lebendig und schön, riesig und vertraut. Er parkte vor seinem Wohnhaus. Der Autovermieter würde bis morgen auf seinen Ford warten müssen, Lucien war zu müde, zu traurig, zu enttäuscht, um an diesem Abend noch irgendwo anders hinzufahren.

Er stieß seine Wohnungstür auf, ließ träge seine Tasche im Flur fallen und machte sich nicht die Mühe, seinen Mantel auszuziehen, sondern ließ sich, so wie er war, aufs Sofa sinken, ohne überhaupt das Licht anzuschalten. Im Schein der Straßenlaternen vor seinen Fenstern und des blinkenden Leuchtschilds vom Chinesen konnte er die Hülle der DVD ausmachen, die er am Abend zuvor angesehen hatte. Ein Mann und eine Frau im Profil, die sich anlächelten. Er strich ihr über die Wange, sie hielt sich die Haare im Wind. Sie wirkten glücklich.

Was blieb noch von Deauville ohne Trintignant?

4

Mathilde wurde im selben Jahr wie Charlize Theron geboren, acht Tage nach der Gründung von Microsoft und wenige Monate vor dem Zusammenschluss der G7. Valéry Giscard d’Estaing war Präsident von Frankreich, und seit vier Monaten hatte man Zugang zu drei Fernsehsendern. Was aber vermutlich Mathildes Kindheit am meisten prägte, war Romy Schneiders Tod am 29. Mai 1982. Mathilde war sieben, und ihre Lehrerin weinte den ganzen Tag.

In den 13-Uhr-Nachrichten hatte sie Bilder von der Schauspielerin gesehen, und sie fand sie wunderschön. Außerdem fand sie, dass sie ihrer Maman ähnlich sah.

Später dann, als Mathilde vierzehn war, tauchte ein Foto von Romy Schneider auf der Titelseite von Paris Match auf, und das brachte dieses alte Gefühl wieder hoch. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag wünschte sie sich eine Videokassette mit einem Film von Romy Schneider von ihren Eltern. Die rieten ihr, bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag damit zu warten.

So wurde Romy Schneider in Mathildes Vorstellung zu einem absoluten Ideal.

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