Luise Rinser - José Sánchez de Murillo - E-Book

Luise Rinser E-Book

José Sánchez de Murillo

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Beschreibung

Zum 100. Geburtstag von Luise Rinser am 30. April: Die große Biographie Mit Romanen wie ›Mitte des Lebens‹, ›Mirjam‹, ›Abaelards Liebe‹ gehörte Luise Rinser zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Romanhaft sind, wie sich zeigt, auch ihre Autobiographien ›Den Wolf umarmen‹ und ›Saturn auf der Sonne‹. Die streitbare Autorin, die die deutsche Kultur der Nachkriegszeit entscheidend mitprägte, sah sich gern als Gegnerin und Opfer des Nazi-Regimes. Aber sie schrieb Huldigungsgedichte an Hitler, leitete BDM-Schulungslager, entwarf Propagandafilme. Manches nie Ausgesprochene konnte Luise Rinser erst in ihren späten Jahren dem Freund José Sánchez de Murillo anvertrauen. Anderes hat sie literarisch verarbeitet: die Spannung zwischen Lebensentwurf und Wirklichkeit als schriftstellerische Inspiration.

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Jose Sánchez de Murillo

Luise Rinser

Ein Leben in Widersprüchen

Fischer e-books

Vorwort

Über ein halbes Jahrhundert spielte die Schriftstellerin Luise Rinser als Integrationsfigur und moralische Instanz eine wichtige Rolle in der deutschen Gesellschaft. Weit über die nationalen Grenzen hinaus wurden ihre literarische Begabung, ihre demokratische Gesinnung und ihre menschliche Ausstrahlung anerkannt.

Der jungen Frau gelang 1941 mit ihrer ersten ErzählungRinser, Luise|Die gläsernen RingeDie gläsernen Ringe ein dichterisches Werk, das während der Nazi-Herrschaft das öffentliche Bewusstsein eindringlich – um mit Hermann HesseHesse, Hermann zu sprechen – an den Geist erinnerte. 1950 folgte Mitte des LebensRinser, Luise|Mitte des Lebens, eine Liebesgeschichte und zugleich eine tiefe Reflexion über ihre eigenen Lebens- und Kunsterfahrungen. Dieser Roman, der das Lebensgefühl der Zeit traf, verschaffte ihr den literarischen Durchbruch.

Man bewunderte die treue Gattin, die nach dem Tod ihres Ehemannes im Russland-Feldzug mit ihren zwei Kindern auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten durch Kriegsdeutschland gezogen war, die wegen ihrer Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie 1944 verhaftet und ins Gefängnis gebracht wurde. Man staunte über die Kraft der zierlichen Frau, die zum kulturellen Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands beitrug und sich, stets auf der Seite der Schwachen, für Frieden und Demokratie, für die Rechte der Frauen weltweit einsetzte. Sie wurde von Frauen und Männern unterschiedlichster Herkunft verehrt.

Das ist der Mythos. Er wurde 1981 mit der Veröffentlichung von Den Wolf umarmenRinser, Luise|Den Wolf umarmen, dem ersten Teil dessen, was sie als ihre Autobiographie vorstellte, gefestigt und gewann gesellschaftliche Bedeutung. Mit diesem glänzenden Epos aus dem Deutschland der Nachkriegszeit hatte Luise Rinser sich selbst gleichsam in die Nähe von Gestalten epochalen Ranges wie etwa Jeanne d’ArcJeanne d’Arc in Frankreich oder Agustina de AragónAgustina de Aragón in Spanien gestellt.

Prompt kam politische Anerkennung. Die GrünenDie Grünen schlugen sie 1984 für das Amt des Bundespräsidenten vor. Eine damals kleine, elitäre Partei, die als Erneuerungskraft für Mensch und Natur entstanden war, wollte die sozialistisch gesinnte Schriftstellerin zum Symbol des neuen Deutschlands erheben. Dass sie nicht gewählt wurde, bestätigte die Richtigkeit der Symbolik. Die Politik war noch nicht so weit.

Wie wichtig der Rinser’sche Mythos für die deutsche Gesellschaft war, zeigt der Erfolg des Buches. Den Wolf umarmen erreichte schon im Erscheinungsjahr eine Auflage von 50 000 Exemplaren.

Freilich meldeten sich auch Zweifel. Gedichte, in denen sie Hitler verherrlichte, wurden entdeckt. Ihre Beziehungen zu dem Benediktinerabt HoeckHoeck, Johannes M. und dem Theologen Karl RahnerRahner, Karl überzeugten viele nicht. Ihre Freundschaft mit dem koreanischen Diktator Kim Il-sungKim Il-sung empfand man als befremdend. Der Ruf der Schriftstellerin überstand jedoch alle Angriffe der Kritik.

Während meiner Freundschaft mit Luise Rinser in ihren späten Jahren erfuhr ich zwar viel Persönliches von ihr, das die Öffentlichkeit nicht kannte. Über ihre Vergangenheit im Dritten Reich schwieg sie sich aber aus. So sah auch ich sie stets im Licht ihrer eigenen Darstellung. Erst durch die wissenschaftliche Erforschung ihres Lebens und durch das Studium ihres Werkes nach ihrem Tod kam ich zu der Einsicht, dass die angedeuteten Widersprüche nur die Spitze des Eisbergs waren. Luise Rinser war in der Nazizeit ebenso verstrickt wie viele andere. Und nicht nur dies. Aber die mutige Frau, die sich in der von Männern dominierten Welt durchsetzte, war vor allem ein Mensch, der es verstand, in schwierigen Zeiten unter widrigen Umständen zu leben und zu überleben.

Luise Rinser war eine bedeutende Frau und eine begabte Schriftstellerin. Das hat man immer gewusst. Nicht erkannt hatte man, wie ungewöhnlich sie war und wie zukunftsweisend ihr Werk ist.

I.Kindheit und Jugend in Zeiten des Umbruchs 1910–1929

Josef Rinser und Aloisia Sailer

Über die ersten Jahre seiner Ehe führt Josef Rinser kein Tagebuch. Doch die wichtigsten Augenblicke hält er in einer illustrierten Ausgabe von Adelbert von Chamissos Frauen-Liebe und Leben fest. Neben dem Bild einer jungen Frau, die ihrem Mann etwas ins Ohr flüstert, steht: August 1910.[1]

Geheiratet haben der Oberlehrer Josef RinserRinser, Josef und die Hausfrau Aloisia, geborene SailerRinser, geb. Sailer, Aloisia, am 10. Juli 1910 in Pitzling bei Landsberg in OberbayernPitzling, heute Stadt Landsberg am Lech. Getraut wurden sie von Georg RinserRinser, Georg (Bruder von Josef), einem Bruder des Bräutigams.[2] Das Kind, das sich im August ankündigt, soll, wenn es ein Bub ist, Georg heißen wie Josefs Vater; ein Mädchen soll wie die Mutter genannt werden, aber mit »y«: Aloysia.

Josef Rinser, am 28. Februar 1883 in Rosenheim geboren, ist das jüngste von sechs Kindern des Salinenzimmerers Georg RinserRinser, Georg (Vater von Joseph) (1846–1935) und seiner Ehefrau Maria, geborene PaukerRinser, geb. Pauker, Maria (1847–1923). Von den Geschwistern, die hier noch eine Rolle spielen, wären zu nennen: der schon erwähnte Georg (1876–1938), Pfarrer in Aschau am Inn, und MarieWallner, geb. Rinser, Marie (1887–1967), Besitzerin einer Limonadenfabrik in Kirchanschöring. Während Josefs ältere Brüder Georg und Vitus[3]Rinser, Vitus groß wie ihr Vater und gut gewachsen sind, ist er missgebildet. Zwar kann man ihm den Buckel kaum ansehen. Doch als er sich 1916, dreiunddreißigjährig, als Kriegsfreiwilliger meldet und gemustert wird, stellt der Militärarzt eine Verkrümmung der Wirbelsäule fest. Er wird als kriegsuntauglich abgelehnt. Warum habt ihr mich zum Krüppel werden lassen?, warf das Kind einmal seinen Eltern vor. Eine Tante habe ihn als Säugling zu Boden fallen lassen, erklärte die Mutter. Sie schämte sich, die Wahrheit zu sagen: Ihr Sohn hatte das, was damals als Arme-Leute-Krankheit galt: Rachitis, eine auf Vitamin-D-Mangel beruhende Missbildung der Wirbelsäule. Lebenslang leidet Josef unter Minderwertigkeitskomplexen. Ob er sich deswegen gelegentlich den Tod wünscht? Jedenfalls entwickeln sich bei ihm nekrophile Grundzüge. Und er hat eine Neigung zu tiefem Nachdenken, liebt das Alleinsein.

Sein Lieblingsfach Musik kann er aus finanziellen Gründen nicht studieren. Er wird Volksschullehrer. Diese Entscheidung, aus der Not getroffen, erweist sich freilich als richtig. Josef RinserRinser, Josef liebt Kinder, kann gut mit ihnen umgehen. 1936 lässt er sich vorzeitig pensionieren – unter dem Vorwand seiner Wirbelsäulenverkrümmung, in Wirklichkeit jedoch, weil er es ablehnt, unter Hitler Lehrer zu sein. Vom Schuldienst entpflichtet, wird er Organist an der Stadtpfarrkirche Rosenheim. Unbezahlt, da er eine Rente bezieht.

Doch die Schatten werden ihn sein Leben lang nicht verlassen. Die Sehnsucht nach dem unerreichbaren Traumberuf, die immer deutlicher werdende Verkrüppelung machen aus dem in sich gekehrten Jungen einen schwermütigen Mann, der in eine übertriebene Ordnungswelt mit streng katholischen Werten flüchtet. Auf diese Weise versucht er, sein Harmoniebedürfnis zu befriedigen. Und auch seinen Drang, überall der Beste zu sein.

Die Frau, die Josef Rinser heiratet, ist wahrhaftig in jeder Hinsicht sein Gegenstück. Aloisia SailerRinser, geb. Sailer, Aloisia wurde am 29. Juni 1883 in BalzhausenBalzhausen (Landkreis Günzburg, Bayerisch-Schwaben) als zweites Kind des Josef SailerSailer, Josef und seiner Ehefrau Anna, geb. EggerSailer, geb. Egger, Anna, geboren. Zu der wohlhabenden Großbauernfamilie zählen noch fünf weitere Töchter und zwei Söhne. Unter diesen vielen Geschwistern ist Franziska (»Tante Fanny«)Sailer, Franziska (Tante Fanny) hervorzuheben, von der hier noch oft die Rede sein wird.

Aloisia ist nicht so attraktiv wie Fanny, dafür aber höchst intelligent, vital und wortgewandt. Nach der Mittelschule kommt sie zum Erlernen der höheren Kochkunst auf das Schloss Seyfriedsberg in Ziemetshausen zwischen Augsburg und Krumbach, wo die Fürstin WallersteinWallerstein, Fürstin residiert. Die junge Prinzessin ist derart angetan von dem gescheiten Landmädchen, dass sie es zu ihrer Gesellschafterin macht. Überall, ob auf dem Land oder in der Großstadt, sind sie zusammen. Überwintert wird teils im Stadtpalais in der Münchner Brienner Straße, teils im Wiener Palais.

Die flotte junge Frau genießt das Leben der aristokratischen Gesellschaft, ist allseits beliebt, bekommt sogar verlockende Heiratsanträge. Für eine Ehe fühlt sie sich jedoch noch zu jung. Stattdessen lernt sie ungewöhnliche Kochkünste, vornehmen Kleidungsstil, feine Umgangsformen bei Ballabenden und Empfängen.

Es überrascht nicht, dass die wohlhabenden Sailers einen Sohn aus der eher bescheidenen Rinser-Familie als Ehepartner für ihre Tochter ablehnen. Die Sailer-Mutter »aus dem Schwäbischen« – wie Schwiegersohn JosefRinser, Josef sie später nennen wird – kann Armut nicht leiden. So ist für sie die bloße Vorstellung einer Heirat ihrer Tochter mit einem Volksschullehrer entsetzlich, zumal ein Brauereibesitzer beharrlich um sie anhält. Doch die Tochter wählt den Volksschullehrer und setzt sich bei ihren Eltern mit ihrem Wunsch durch.

Aloisia SailerRinser, geb. Sailer, Aloisia ist eine taktisch begabte Willensfrau, die ihr Herz beiseitezulassen weiß, wenn das Ziel es erfordert. Sie sei nicht gefühllos, allein das Gefühl sitze in ihrem Gehirn, wird ihre Tochter später schreiben. Entdeckt sie Not, hilft sie. Keine Theorien, nur Taten gelten ihr als Beweise von Mitmenschlichkeit. Energisch, intelligent und lebenslustig, überaus erzählfreudig, pragmatisch orientiert und durchsetzungsfähig: das ist Aloisia Rinser, geborene Sailer.

Recht bald lernt die Mutter Sailer ihren musikalischen Schwiegersohn zu schätzen und betont überzeugt, sie hätte sich für ihre Tochter keinen besseren Mann vorstellen können. Also kauft sie ihm gleich ein Klavier. Und da sie von materieller Enge nichts hören will, schickt sie dem jungen Paar regelmäßig Mehl, Schweineschmalz, Geräuchertes und gelegentlich, wenn nötig, auch Geld. In finanzielle Not gerät das junge Paar dennoch ziemlich oft, weil die an großzügiges Wirtschaften gewöhnte Ehefrau mit dem knappen Gehalt des angehenden Volksschullehrers nicht auskommt – vor allem wenn sie sich Kleidungsstücke leistet wie einen modischen Panamahut, der fast ein Monatseinkommen kostet. Sie hatte es nie nötig gehabt, auf den Preis zu schauen. Findet sie etwas schön, greift sie zu. Und die Rechnung wird pünktlich von der Mutter oder der Prinzessin Wallerstein bezahlt.

Die vitale FrauRinser, geb. Sailer, Aloisia braucht den stillen Mann. Und der depressive Mann braucht eine Frau, die ihm Lebenslust und Unternehmungsgeist bringt. Im Laufe der Jahre lernen sie sich immer besser verstehen und derart innig lieben, dass sie nicht mehr ohne einander leben können. Wie hat sich dieses ungleiche Paar gefunden?

In der Erzählung Die gläsernen Ringe, die 1941 erscheint und sie als Schriftstellerin bekannt machte, schilderte die junge Luise Rinser einen Onkel »Felix«, der im oberbayerischen Kloster WessobrunnWessobrunn wohnt und als Dorfpfarrer und Seelsorger der Missionsbenediktinerinnen fungiert. Der Mann, der ihr dafür Modell stand, Franz HörtensteinerHörtensteiner, Franz, war ein entfernter Verwandter der Sailer-Familie, geboren im schwäbischen Dorf Fischach, das Ende des 19. Jahrhunderts zum größten Teil aus einer jüdischen Gemeinde bestand. Er selbst entstammte einer schon lange zum Christentum konvertierten jüdischen Familie. Trotzdem nennt ihn Josef Rinser, wenn er auf ihn zornig wird, »den alten Juden«. Doch er ist kein Antisemit. Er bedauert es sogleich und schwächt ab in »der alte Hörtensteiner« oder einfach »der Alte«. Die anderen dagegen nennen ihn, wie damals für Geistliche üblich, ehrerbietig »der Herr«. Der Ortspfarrer, Klosterseelsorger, Dekan und geistliche Rat der Region ist also für seine Umgebung »der Herr« schlechthin.

Wenn Luise Rinser im späten Alter gelegentlich noch auf Onkel Franz zu sprechen kam, sagte sie, er sei ein skeptischer Atheist gewesen, den man in die Rolle des Geistlichen gedrängt habe. Durch die vielen Reisen habe er einen Ausgleich gesucht für die Entbehrungen, welche ihm sein Berufsstand als katholischer Kleriker auferlegte.

Josef Rinser und Franz Hörtensteiner leben in ständiger Spannung, die sich gelegentlich in heftigen Wortausbrüchen entlädt. Sie können einander nicht ausstehen. Gewiss gibt es zwischen den beiden politische Differenzen. Hörtensteiner ist eher nach rechts orientiert, Rinser dagegen, obwohl streng katholischen Glaubens, sozialistisch und antiklerikal. Die Ursache für diese Haltung lag darin, dass Anfang des 20. Jahrhunderts die Schulaufsichtsbehörde ausschließlich aus Klerikern bestand, denen mangelnde Kompetenz in Sachen Pädagogik und Didaktik nachgesagt wurde. Dies ist oft der Anlass zu Streit zwischen Franz und Josef.

Doch die beiden mögen sich nicht. Der Grund für diese gegenseitige Abneigung ist sehr menschlich: eine Frau, die beide wollen. Vor seiner Versetzung nach Wessobrunn war Franz Hörtensteiner in einem Dorf – vielleicht Pitzling – bei Landsberg am Lech tätig. Dort hatte Josef Rinser seine erste Anstellung als Lehrer. In Hörtensteiners Pfarrhof arbeitete als Haushälterin eine junge Verwandte, eine »Nenn-Nichte«, die mit ihm aus dem Schwäbischen gekommen war. Die auffallend schöne Frau mit schwarzen Augen, dunklen Locken und einer betont weiblichen Figur hieß Fanny SailerSailer, Franziska (Tante Fanny). Sie war das »Primizbräutchen« des Neugeweihten gewesen.[4]

Franz Hörtensteiner liebt die junge Frau innig. Ein Verstoß gegen den Zölibat konnte ihm aber nie nachgewiesen werden. Doch das Mädchen hat sich in den ruhigen, sensiblen Volksschullehrer Josef Rinser verliebt. Und der erwidert ihre Liebe. Als Franz Hörtensteiner die Beziehung entdeckt, bewacht er seine Haushälterin sorgfältig. Fanny und Josef müssen sich im Geheimen treffen. Vielleicht denken sie an Heirat. Doch da taucht Fannys Schwester Aloisia auf, etwas jünger und nicht so hübsch, aber klug genug, um in kurzer Zeit den blondgelockten Lehrer für sich zu gewinnen. Bald beschließen Aloisia SailerRinser, geb. Sailer, Aloisia und Josef Rinser zu heiraten, Pfarrer Franz HörtensteinerHörtensteiner, Franz und seine Primizbraut bleiben zusammen. Bis zum Tode.

Fanny muss sich Tag für Tag ansehen, wie ihre Schwester Aloisia mit ihrem geliebten Josef zusammenlebt, schwanger wird und eine süße Tochter bekommt, die ihre eigene hätte sein können. Und Aloisia leidet darunter, dass ihr Josef zuerst die Fanny geliebt und nur deshalb nicht geheiratet hat, weil sie, Aloisia, dies schlau zu vereiteln wusste und der Pfarrer es ohnehin nie zugelassen hätte.

Auf diese spannungsreiche Weise bleiben beide Paare aneinander gebunden, ein Leben lang. Wenn die Schriftstellerin Jahrzehnte später über diese Beziehung berichtet, stellt sie lapidar fest: »Die Bindung zwischen den Vieren […] war schicksalhaft. Nie kamen sie voneinander los.«[5] Sogar ein Haus bauen sie zusammen in Rosenheim; dabei übernimmt Pfarrer Hörtensteiner den größeren Anteil der Kosten. Josef und Aloisia Rinser werden Mitbesitzer und Erben, unter einer Bedingung allerdings: dass sie ständig dort wohnen bleiben – was sie auch tun, trotz aller Probleme und Spannungen. In diesem verwickelten Beziehungszusammenhang, der natürlich auch viele schöne Tage kennt, werden die vier alt.

Als Erste stirbt Fanny SailerSailer, Franziska (Tante Fanny), Luises Lieblingstante. Sie wird mürrisch, launisch, manchmal gemein und böse, aber Schwester und Schwager pflegen sie liebevoll, bis sie in Frieden scheidet. Dem alten HörtensteinerHörtensteiner, Franz fällt der »Heimgang« nicht leicht, er hat gerne gelebt. Auf einer seiner Reisen nach Italien erkrankt er schwer. Er wird in eine Münchner Klinik gebracht, lehnt sich lange gegen den Tod auf. In seinem Heimatort Fischach wird er begraben.

Jeder stirbt, wie er gelebt hat, sagt die Volksweisheit. Zumindest auf die Rinsers und Sailers trifft dies zu. Josef scheidet friedlich und überlegt. Ohne eigentlich krank zu sein, fühlt er sich eines Tages lebenssatt. Er verabschiedet sich am Morgen des 1. Oktober 1951 von seiner Frau mit den Worten: »Du bist mir immer eine gute Frau gewesen.« Spricht, schweigt und geht.

Aloisia überlebt alle drei um zwanzig Jahre, die sie als Alleinerbin des Rosenheimer Hauses genießt. Sie stirbt neunundachtzigjährig, am 22. August 1972, in einem Altersheim, ohne dass die Frage geklärt wäre, wer schwieriger war: ihre berühmte Tochter oder sie selbst, die energische, in der Erzählkunst so talentierte Mutter. Oder bestanden die Schwierigkeiten zwischen Mutter und Tochter darin, dass sie sich so ähnlich waren?

Auf dem Friedhof in RosenheimRosenheim liegen nun drei der vier im selben Grab: ganz unten Tante Fanny, oben Mutter Aloisia, dazwischen Josef, der Mann, den beide liebten.

Geboren in einer wirren Zeit 30. April 1911

Anfang des 20. Jahrhunderts war PitzlingPitzling, heute Stadt Landsberg am Lech noch ein selbständiges Dorf, fünf Kilometer von der Stadt Landsberg am Lech entfernt. Während der Zeit der Völkerwanderung und im frühen Mittelalter bildete der Fluss die Grenze zwischen dem alemannischen Stammesgebiet im Westen und dem bayerischen im Osten und markiert heute noch ungefähr die Grenze zwischen Altbayern und Schwaben sowie zwischen den bayerischen und den schwäbischen Dialekten.

In dieser Umgebung leben Josef und Aloisia Rinser. Die junge Frau kennt die Stimmungswechsel ihres Mannes, seine Tiefpunkte. Sie versucht ihn mit witzigen Erzählungen abzulenken, lädt Freunde ein. Dann spielt Josef Rinser ihnen auf dem Klavier vor.

Weihnachten 1910 verbringt das junge Paar wohl bei der Sailer-Familie im schwäbischen BalzhausenBalzhausen, wo das Fest besonders großzügig gefeiert wird. Von dort geht es zu den Rinsers nach RosenheimRosenheim. Was hier an Wohlstand fehlt, ersetzt die Liebe im Überfluss. Die Rinser-Mutter ist warmherzig, stets um ihren depressiven Sohn besorgt. Die gemütliche Art seines Vaters Georg wirkt wohltuend auf ihn. Trotz großen Fleißes ist dieser als Zimmermann finanziell nicht sehr weit gekommen. Doch Georg RinserRinser, Georg (Vater von Joseph) lebt gerne mit seiner Familie, zufrieden mit dem, was das Schicksal und die eigene Arbeit gebracht haben. Ihr Haus ist bescheiden. Aber es ist ihr Haus, das Rinserhaus in der Kufsteiner Straße 26 mit einem schönen Garten am Stadtbach.

Wir können annehmen, dass die Silvesternacht beim Baron von der TannTann, Friedrich, von der auf dem Gut LindenGut Linden gefeiert wird. Seit Jahren ist das Fest ein Mittelpunkt des regionalen Adels. Die junge Frau Rinser bewegt sich gewandt in der aristokratischen Gesellschaft. Noch wenige Jahre zuvor hatten bei Unterhaltungen von Damen – in Bayern wie in Preußen – die drei »Ks« (Kinder, Kirche, Küche) den Stoff geliefert. Die Belle Époque, die Jugendbewegungen, besonders die Wandervogelbewegung, haben ein neues Selbstbewusstsein hervorgebracht. Meist benehmen sich die Frauen noch zurückhaltend. Einige beginnen aber, sich von der konventionellen Enge in Auftreten und Kleidung zu befreien. Aloisia Rinser hält die gute Mitte. Als Ehefrau eines Lehrers muss sie Rücksicht auf »rechte« Formen nehmen, als Tochter reicher Landbesitzer mit Erfahrung bei Hofe den Blick nach vorn richten.

1914

 

Schon vor ihrer Geburt sei sie ungeduldig gewesen, hat Luise Rinser oft erzählt. Seit Wochen auffällig unruhig, meldet das Kind seinen Lebensanspruch eine Woche vor dem Termin an. Das Mädchen bekommt wie beschlossen den Namen Aloysia, wird aber Luise genannt. Es ist im Vergleich zum Durchschnitt eher klein, aber gesund, lebendig und laut. Lebenshungrig zeigt es gleich seinen starken Drang zum Mittelpunkt.

Ihren Namen, wird die Schriftstellerin später sagen, habe sie nie gemocht, bis sie ihn auf Italienisch hörte. Luisa wurde sie genannt in Rom, in Rocca di Papa. Es trifft aber nicht zu, dass sie »diesen Namen nie leiden« konnte.[6] Die Abneigung entstand langsam und wuchs im Laufe der turbulenten Mutter-Tochter-Beziehung, die für den Lebensweg Luise Rinsers wesentlich ist.

Doch jetzt ist sie noch klein. Für Vater Josef ist sie »das Mädi«, sein Mädi. Leider hat er kein Tagebuch über die ersten Jahre seiner Tochter geführt. Aber seine Notizen im Buch Frauen-Liebe und Leben hat die Schriftstellerin, die Jahre später durch Zufall das Büchlein entdeckte, in ihrer Autobiographie wiedergegeben: »Mädi ist lieb und schläft schon durch … Mädi hat schon zwei Zähne … Mädi ist mit neun Monaten zur Impfung gelaufen … Mädi bleibt vor jedem Feldkreuz stehen und faltet die Händchen … Mädi kann schon beten: Liebes Schutzengele mein, hüpf zu mir ins Bettchen rein …« Und einmal notiert er stolz, wie sein Mädi Sätze von sich gibt, die ihm als Zeichen für eine literarische Begabung gegolten zu haben scheinen: Pipale, papale, popale, sagt sie plötzlich mit einem Jahr zum erstaunten Papa. Und mit eineinhalb Jahren noch deutlicher: Auweh auweh ’s Katzele hat Bauweh …[7]

Ihr Leben lang litt Luise Rinser unter der Vorstellung, sie habe nie wirklich Kind sein dürfen. Als sie in ihrer Münchner Ausbildungszeit Goethes Hermann und DorotheaGoethe, Johann Wolfgang|Hermann und Dorothea las, sah sie ihre eigene Einstellung bestätigt. Nach Goethe als Vater sehnte sich die junge Studentin. Auch er hatte nur ein Kind, einen Sohn, und sie glaubte, der Dichter habe ihn gewähren lassen. Ihre Eltern dagegen hätten das nicht gekonnt. Ob Rinsers Bild von Goethe historisch zutrifft, sei dahingestellt.

Die Spannungen mit ihren Eltern führte Luise Rinser vor allem auf den Ehrgeiz ihres Vaters zurück. Seine Tochter musste die in seinen Augen ideale Frau verkörpern und sollte wie er den Lehrerberuf ergreifen. Sie hatte tugendhaft zu sein, um sich eines Tages zur Schulrätin emporarbeiten zu können. Von allen geehrt, streng religiös, fein und nobel, »moralisch« untadelig, also ohne Liebesgeschichten – so schwebte dem Vater die Zukunft seiner Tochter vor. Doch sehr früh zeichnete sich ab, dass für Luise Rinser die Freiheit den Gipfel der Existenz darstellte. Und sie warf ihren Eltern vor, dies nicht erkannt zu haben, obwohl es sich in ihrem Leben immer wieder gezeigt habe, und zwar früh genug, spätestens seit ihrem ersten Geburtstag. Als Beweis führt sie in ihrer Autobiographie Den Wolf umarmenRinser, Luise|Den Wolf umarmen folgende Begebenheit an:

Die einjährige Luise sieht im großen Spiegel des Kleiderschranks einen Mann mit ausgebreiteten Armen auf sich zukommen. Es ist ihr Rosenheimer Großvater. Das Kind läuft ihm entgegen, rennt in den Spiegel und bleibt ohnmächtig liegen. Du wolltest seit deinem Eintritt in diese Welt immer mit dem Kopf durch die Wand, interpretierte später der Vater. Und die Schriftstellerin konterte:

»Falsch: ich sah ja gar keine Wand, im Gegenteil, ich sah eine offene Tür, durch die ich gehen konnte, ich sah die Spiegel-Wirklichkeit, die mir ebensoviel galt wie die andre. […] Meine Spiegelwirklichkeit ist jene der Ideen und jene meiner Arbeit. Ich lebe in der Doppelwirklichkeit.«[8]

Sie meint: In jedem Menschen schlummert eine Ur-Idee, die ihn, oft verborgen, sein Leben lang begleitet: die Ahnung von sich selbst, von dem, was er eigentlich ist. Diese Wahrheit wird von den Erziehern in Familie und Schule oft übersehen. Doch selbst wenn der Mensch das Bild annimmt, das man ihm aufzwingt, bildet die ursprüngliche Selbsterfahrung seinen eigentlichen Lebensgrund. Zuweilen ist die Umgebung stärker. Dann verkennt der Mensch sich selbst und sucht Zuflucht in Scheinbildern. In einigen Fällen allerdings setzt sich die Ur-Idee durch. Den »Weg« nennt Luise Rinser diese Idee. Denn sie stellt jenes Selbstziel dar, das, zunächst nur geahnt, sich im Laufe des Lebensprozesses verdeutlicht.

Im Kampf um die Selbstverwirklichung wird Luise Rinser gegen starke Feinde zu Felde ziehen müssen. Doch ihr gefährlichster Gegner wird stets sie selbst sein.

Aufgewachsen im Krieg 1914–1918

Am 28. Juni 1914 wurden der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie in SarajevoSarajevo (damals österreichisch-ungarisches Gebiet) ermordet. Dieses Attentat war Auslöser eines Krieges, der sich wohl seit Jahren angebahnt hatte.

In Europa hatten sich zwei Blöcke gebildet. Auf der einen Seite die Mittelmächte: Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich (Türkei). Auf der anderen Seite der russisch-französische Zweiverband, der sich mit Großbritannien zur Triple-Entente gestaltete. Hauptgrund für den Konflikt dieser drei Staaten mit dem Deutschen Reich und für das Anwachsen der Spannungen waren die imperialistischen Bestrebungen der Mittelmächte.

Als der Krieg ausbrach, überwog im Deutschen Reich zunächst die Ansicht, er diene der Verteidigung. Doch bald entstanden, ausgelöst durch die raschen Erfolge der Armee im Westfeldzug, euphorische Eroberungsprojekte, die weite Teile Europas und Vorderasiens einschlossen. Die Kriegsbegeisterung war auch in der Bevölkerung nicht mehr zu bremsen. Im Deutschen Reich wurde ein Notabitur eingeführt, damit die Oberprimaner als Freiwillige vorzeitig ins Heer eintreten konnten.

Deutschland war aufgewühlt. Nach den »Balkonreden« Kaiser Wilhelms II.Wilhelm II., deutscher Kaiser (Juli/August 1914) begeisterte der Dankerlass nach der Schlacht von Tannenberg die deutsche Öffentlichkeit. Von den Massen angefeuert, trieben Politik und Militär in eine der größten Katastrophen der europäischen Geschichte hinein.

*

Diese verhängnisvollen Tage bleiben Luise Rinser ihr Leben lang im Gedächtnis. Aus »genauester Erinnerung« beschreibt sie die Situation in ihrer Autobiographie:[9]

Das Kind geht auf einem Feldweg. Da kommt ein Radfahrer, der außer sich vor Aufregung schreit: Geh heim, du, Krieg ist! Das Mädchen rennt voller Angst nach Hause. »Alle Leute liefen, alles war laut und rot.«

Was ist das: Krieg?

Krieg ist, wird die Schriftstellerin erläutern, wenn ein Volk ein anderes angreift, weil es sich selbst für »das auserwählte« hält, für besser als die anderen. Man müsse auf sein Vaterland stolz sein, hieß es, und, wenn es bedroht sei, auch töten, je mehr, desto besser. Auf der anderen Seite lernt man: Du darfst nicht töten. Sie habe nie verstanden, warum der Gruppe erlaubt, ja befohlen sei, was beim Einzelnen als Sünde und Verbrechen gelte, schreibt sie später. »Wer kann das verstehen? Es geht nicht um Gewinn, wurde uns gesagt, es geht um die Ehre. […] Wenn zwei Buben raufen, so ist einer der Sieger. Es ist schmählich, Unterlieger zu sein.«[10] Dem Mädchen prägt sich ein, dass Krieg ist, wenn sich Erwachsene wie kleine Buben benehmen.

Vom Krieg nimmt das Kind das Unsinnige wahr, die Zerstörung des schönen Alltags im friedlichen Dorf im Voralpenland. Die Verantwortlichen nehmen die Katastrophe in Kauf. Der Krieg kostet viel Geld, das Vaterland ist arm geworden, erläutert der Lehrer, man muss alles sammeln, was man noch verwerten kann. Die Kinder bekommen schulfrei zum Queckenausreißen. Sie müssen auf die Äcker gehen und die zähen weißen Wurzeln sammeln. Man macht Stoff daraus, Mantelstoff, Uniformstoff. Die kleine Luise hat ihr kupfernes Puppengeschirr hergeben müssen, damit man daraus Waffen machen konnte, und die Eltern haben bereits ihre Gold- und Silbertaler, Mutters Mitgift, geopfert. Nun zeichnen sie wie Millionen Deutsche auch noch Kriegsanleihen, damit die Zerstörungsmaschinerie weiterlaufen kann. Und wie die anderen unzähligen deutschen Familien verlieren auch die Rinsers ihr Geld.

Aus allen Teilen des Reichs müssen immer jüngere, später ältere Männer eingezogen werden. Dazu gehört auch der junge Baron von der TannTann, Friedrich, von der. Die Schriftstellerin erinnert sich: Es ist noch dunkel an einem Herbsttag. Die kleine Luise liegt in ihrem Gitterbett. Eine Gestalt kommt leise in ihr Zimmer, setzt sich neben das Kinderbettchen. Luise weiß, wer es ist. Aber sie stellt sich schlafend. Sie spürt, dass das ein wichtiger Augenblick ist im Schicksal des Mannes. Der Baron schweigt, betrachtet nur das Mädchen. Dann steht er auf und geht. Einige Tage später zieht er in den Krieg. Luise Rinser vergisst den jungen Baron nie, den sie »meine allererste Liebe« nannte – allerdings bis ins hohe Alter durch ein vorsichtiges »ich glaube« eingeschränkt.

Vorsicht ist bei Luise Rinser stets geboten, wenn es um Verliebtheiten geht. Denn sosehr das dreijährige Mädchen von dem vornehmen jungen Offizier angetan ist, so gibt es doch kurz nach dessen Tod wieder eine andere »erste große Liebe«, und zwar erneut auf Gut Linden.

Sechs Jahre alt dürfte Luise sein, da sich die Begebenheit gleich nach der russischen Revolution 1917 abspielt.

»Es war irgendein Fest, etwas Besonderes, ich wurde ganz in Weiß gekleidet, alles war wunderbar, und auf Gut Linden sah ich ihn: er war zwei Jahre älter als ich, er hatte kohlschwarze Augen, und die Haare in Fransen in die Stirn gekämmt. Er war ebenfalls in Weiß, er trug einen Russenkittel und Stiefelchen […] Der schöne Junge neben mir konnte nur Rumänisch und Französisch, aber wir unterhielten uns, Kinder können das. Und nach dem Essen verschwanden wir in geheimer Verabredung. Man fand uns Stunden später, völlig verdreckt, schwarz nämlich, denn wir hatten uns ein Spiel daraus gemacht, die oberste Dachbodentreppe herunterzurutschen. Die aber war rußig. Als man uns fand, waren wir schon verlobt. Wir liebten uns sehr. Leider mußten wir uns trennen: er ging mit seinen Eltern nach Paris ins Exil. Eines Tages kam von dort eine Ansichtskarte. Ich sehe sie noch vor mir: ›Chère demoiselle …‹. Und die Unterschrift, fast unleserlich, darum nur halbwegs in meinem Gedächtnis geblieben. Der Vorname war Constantin, das war klar, der Nachname, der fürstliche, hieß so ähnlich wie Wardiati. Ich habe dann nie mehr von ihm gehört. Aber vergessen habe ich ihn nicht. Er war so schön, und er war ein Fürst! Er war mehr: er war der Prinz aus dem Märchen. […] das war die archetypische Erfahrung vom Hohen Paar. Ich habe seither immer nach dem Prinzen gesucht.«[11]

Durch diese frühen Erfahrungen werden Liebe und Größe, Trennung und Tod für ihre Entwicklung bestimmend. Das Kindheitstrauma der Angst vor dem Verlassenwerden wird zu einem Urquell ihrer Inspiration.

 

Von Pitzling zieht die Familie nach EttingEtting, wo der Vater, vermutlich zum Schuljahr 1914, eine feste Anstellung als Oberlehrer erhalten hat. Sie bewohnt ein gemütliches Haus mit großem Obstgarten.

In dieser ruhigen Atmosphäre lernt Luise Rinser von ihrer Mutter lesen und schreiben. Dann aber, mit vier Jahren, geht sie zu ihrem Vater in die Schule. Es ist keine nachträgliche Interpretation, dass das Kind gerne mit Geschriebenem wie mit einem Spielzeug umgeht. Als es nämlich, drei Jahre alt, zum ersten Mal nach WessobrunnWessobrunn zum Onkel Franz HörtensteinerHörtensteiner, Franz gebracht wird, beschäftigt es sich mit alten Büchern wie andere Kinder mit Puppen. Die mag sie nicht. »Puppen sind dumm!«, sagt sie zu Spielfreundinnen.[12] Dagegen ist sie neugierig auf schwer zugängliche Ecken im Wald, auf Pflanzen und Tiere, auf Kreuze am Straßenrand, auf Statuen und Altäre in der Kirche und eben auf alte Bücher mit Ledereinband. Darunter findet sich eines, an dem sie, wie sie in Die gläsernen Ringe erzählt, das Lesen gelernt habe: Anweisungen für Beichtväter.[13] Möglich ist es wohl. Dies war eines der wenigen auf Deutsch geschriebenen Bücher in der Klosterbibliothek.

Der schulische Alltag in Etting wird für den Oberlehrer Josef Rinser bereichert durch die sonntäglichen Gottesdienste. Da sitzt er an der Orgel; darauf freut er sich die ganze Woche. Für die Mutter, und in dieser Zeit auch für das Kind, sind dagegen die Besuche bei Friedrich von der TannTann, Friedrich, von der das wöchentliche Ereignis.

Jeden Donnerstag wird Familie Rinser gleich nach Schulschluss vom Kutscher mit dem »Landauer« des Barons abgeholt und zum Gut LindenGut Linden in Weilheim gefahren. Oft sind weitere Freunde miteingeladen. Eine erlesene Gesellschaft trifft sich. Es wird über Politik und die Unruhe in Europa, über Kirche und Schule geplaudert. Es wird auch gesungen, meistens klassische Lieder, die der Baron vorträgt, von Josef Rinser am Klavier begleitet. Zum Beschluss aber wird stets das Lied »Näher, mein Gott, zu Dir« angestimmt, mit dem die Passagiere der Titanic nach deren Kollision mit einem Eisberg am 12. April 1912 Abschied vom Leben genommen hatten. Alle beteiligen sich tief bewegt. Denn das tragische Unglück des Riesendampfers blieb lange in Erinnerung.

Die Katastrophe stellt für die Menschen eine Lehre dar. Wir können annehmen, dass Josef Rinser sie der Tochter nach und nach erläutert. Größe und Kleinheit des Menschen. Ohnmacht der Wissenschaft angesichts der Grundfragen des Daseins, Grenzen der Vernunft. In Etting wird der Boden für Luise Rinsers spätere Beschäftigung mit der Mystik bereitet – für die mystische Selbsterfahrung in den dunklen Zeiten des Lebens, wo kein Licht zu sehen ist und trotzdem der urmenschliche Instinkt, die Kraft der Hoffnung, unbeirrt nach vorne drängt.

Der Krieg vergiftet Europa und zerstört den Geist in Deutschland für die nächsten drei Jahrzehnte. Doch oft sind Verletzungen, die sich Menschen innerhalb der Familie gegenseitig zufügen, schmerzhafter als die Eindrücke, welche die großen Katastrophen hinterlassen. Luise Rinsers Verhältnis zu ihren Eltern ist von Anfang an schwierig. Das Problem hat immer zwei Seiten. Da die Dichterin – trotz guten Willens, ihren Eltern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – nur ihre eigene Sicht darzustellen vermag, ist hier besondere Aufmerksamkeit vonnöten.

Ihre Beziehung zum Vater ändert sich immer wieder; aus Begeisterung wird manchmal Ablehnung. Aber sie wird von einer Grundliebe getragen, die durch alle Enttäuschungen hindurch bestehen bleibt. Mit ihrer Mutter dagegen trägt die Schriftstellerin lebenslang einen erbitterten Kampf aus. Alles ist spannungsgeladen zwischen den beiden. Die Mutter mag die Tochter von früh an nicht, sucht ständig nach Fehlern bei ihr – und findet sie natürlich auch. Sie gönnt ihr weder Freude noch Erfolg. Und später, als sie das erzählerische Talent ihrer berühmt gewordenen Tochter anerkennen muss, tut sie es stets in deren Abwesenheit. »Eben sagt mir mein Vetter, daß meine Mutter später mit mir und meinen Büchern schier geprahlt hat: Später, ja später, als ichs nicht mehr brauchte.«[14] Die Tochter ihrerseits geht hart mit der Mutter ins Gericht, wobei sie ihr nicht bloß diese oder jene punktuelle Schwäche, sondern Grundsätzliches vorwirft:

»Meiner Mutter fehlte die Gabe des Trauerns, sie war kalt, oder sie verdrängte alles, was ihr nicht paßte. Vielleicht mußte sie das tun, und anders hätte sie, wer weiß, das Leben mit meinem depressiven Vater nicht ertragen.«[15]

Zwar hat Luise Rinser die guten Eigenschaften ihrer Mutter – Sachlichkeit, Menschenkenntnis, Großzügigkeit – wohl erkannt und dies auch zum Ausdruck gebracht, doch stets gleichsam mit einer Fußnote:

»Sie besaß offenbar das, was man in der älteren Theologie das Charisma des guten Rates nannte. (Nur mir hat sie nie raten und helfen können und wollen.)«

Die Einschränkung beim Lob verrät hier Abneigung. Die ganze Tragik dieser Beziehung offenbart sich in dem Satz:

»Aber: wenn diese Frau nicht meine Mutter gewesen wäre, so wäre das für beide ein Segen gewesen.«[16]

Wenn eine Tochter noch in hohem Alter so von ihrer Mutter spricht, kann man die Wurzel des Hasses sehr tief vermuten. Um den Verstimmungsprozess, der zu diesem schrecklichen Urteil führt, nachvollziehen zu können, müssen wir früh ansetzen.

Die Eifersucht der Mutter auf die Tochter, die dem strebsamen Vater viel ähnlicher sieht, als es Aloisia Sailer lieb wäre, ist offenkundig. Sie missbilligt Luises Intelligenz, ihre Religiosität, ihre dichterische Begabung. Dazu bemerken mehrere Verwandte, Aloisia verstehe das Kind nicht, es sei ganz anders als die anderen Kinder. Doch gerade das ist es, was die Mutter nicht erträgt: dass ihr Mädchen so anders ist. Ist Neid also der Hauptgrund des Problems? Nein, es ist komplizierter.

Eine scheinbar harmlose Begebenheit setzt uns auf eine Spur. Im Dorf Etting lebt das fünfjährige Zwillingspärchen Hilla und Peter, mit dem Luise, ein Jahr jünger, gern spielt. Einmal zeigt der kleine Peter den beiden Mädchen seinen Penis und wie schön er Pipi machen kann. Die Vorführung ist sicher eine Stunde des Männerstolzes, doch zugleich eine sachliche Demonstration. Luise Rinser erzählt Jahrzehnte später, zunächst an der Vorstellung nicht besonders interessiert gewesen zu sein. Doch sie schaut trotzdem zu und gestaltet das Spiel mit. Freuds Lehre des Penisneides bei Mädchen – den viele Frauen, z.B. Simone de Beauvoir, bestreiten – ist nur eine wissenschaftliche Hypothese. Das Natürliche wäre, dass jedes Geschlecht mit seiner Ausstattung zufrieden ist. Tatsache bleibt dennoch, dass die Normalität, die in der Kinderwelt meist noch waltet, leider allzu oft durch die Einmischung der Erwachsenen zerstört wird. Und so erfährt der Unterricht des kleinen Pinkeldozenten durch das ungelegene Auftauchen der Mutter eine unerwartete Wendung.

»Aber während der Peter sein Pipi machte in eine kleine Schüssel aus meiner Puppenküche, trommelte eine Hand auf das Fenster, vor dem wir, in einigem Abstand, im Gartenhäuschen uns informierten. Dann sprang das Fenster auf, eine Hand drohte, und wir wußten jetzt, daß man derlei nicht zeigen, nicht anschauen, nicht wissen dürfe. Verstanden haben wir es nicht, aber das Tabu war geschaffen.«[17]

Im Gesamtzusammenhang dieser Mutter-Tochter-Beziehung gewinnt die Episode eine Bedeutung, die über die puritanisch-katholische Erziehung in Bayern zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinausgeht. Eifersucht wegen der liebevollen Beziehung Vater–Tochter, Neid auf die Begabung des Kindes. Ist das alles? Nein. Es bildet vielmehr die Maske, hinter der sich eine tiefere Abneigung verbirgt.

»Die Mutter wollte, daß ich nie heirate. Warum? Wollte sie, daß ich meine unversehrte Jungfräulichkeit durchs Leben trage? Wieso, wozu aber? Mißgönnte sie mir das, was sie offenbar besaß: die erotische Liebe eines Mannes?«[18]

In der Tat: später wird es um die grundsätzliche Ablehnung der Männer gehen, die sich ihrer Tochter nähern. Kein Mann wird der Mutter recht sein. Luise Rinsers Selbstinterpretation trifft zu. Aber sie erreicht noch nicht den Grund. Der scheint zu sein: Die Mutter will die Tochter nur für sich haben, sie nie verlieren. Und da das Tor, durch das die Tochter der Herrschaft der Mutter entkommen kann, die Hingabe an einen Mann, also die Sexualität ist, hasst Aloisia Sailer das Frausein ihrer Tochter.

Luise Rinser ist ebenso selbstfixiert wie die Mutter, nur anders – und vielleicht radikaler. Die Mutter – und in anderer Weise auch der Vater – stört sie schon als Kind, weil sie ihre Freiheit über alles liebt: »Ich durfte kein eigenes Leben haben, ich war an meine Eltern gekettet wie ein Galeerensklave mit Kette und Kugel an die Beine der Mitsträflinge.«

Gehen wir einen Schritt weiter. Ihrem Vater ist Luise Rinser an der Oberfläche ähnlich. Es sind Ähnlichkeiten im Charakter: Ehrgeiz, Nachdenklichkeit, Religiosität, künstlerische Begabung. Mit der Mutter verbindet sie – außer dem erzählerischen Talent – die eigene Seinsweise, die Art, das Frausein zu erfahren. Zum Weiblichen gehören Hingabe, Bewahren, Leben schenken. Wird das Bewahren überbetont, so verkehrt es sich ins Gegenteil, in den Anspruch rücksichtslosen Besitzenwollens.

Das eigentliche Problem liegt jedoch weder bei der Mutter oder beim Vater noch bei Luise Rinser selbst. Problematisch ist, dass ausgerechnet diese drei Personen zusammengekommen sind. Damit kokettierte sie übrigens gern. So drängt sich die Frage auf, ob der immer wieder zur Sprache gebrachte Morddrang nicht bloß eine literarische Figur ist.

»Der perfekte Elternmord ist mir nicht gelungen. Mein Leben lang bedrückte mich ihre Existenz. Nun sind sie beide tot, und ich denke in großem Mitleid an sie: auch ihnen gelang es nie, ihr unbequemes, ihr ehestörendes einziges Kind zu verstoßen.«

Warum vermag Luise Rinser das Verhältnis Eltern–Kind nur als Konkurrenzkampf aufzufassen, nicht auch als bereicherndes Liebesverhältnis? Die Eltern können zu Lebensbegleitern werden, die Mutter zur Freundin, der Vater zum Freund. Warum gelingt das in dieser Familie nicht?

Die Antwort auf diese Frage ist Luise Rinsers ganzes Leben, an dessen Anfang wir uns befinden.

Wessobrunn »Ort meiner Kindheit«

Auf einer Anhöhe an der Straße, die Landsberg und Weilheim verbindet, zwischen Lech und Ammer inmitten des Pfaffenwinkels, liegt das Dorf Wessobrunn mit seinem Kloster. Der Ort ist von sagenhaften Geschichten umwoben.[19] Um das Jahr 700 war die Gegend noch wüst. Der düstere Urwald wechselte ab mit Sumpf und Moor. Wenige Menschen wagten da zu leben. Dafür hausten dort Bär und Wolf, Wildkatze, Luchs und Wildschwein. An einem Hang entsprangen drei Quellen. Man sah in ihnen die Nornen, die drei Göttinnen, die das Schicksal der Menschen weben:

Urd – die »Gewordene«, die alte Frau, die über ihre Schulter in die vergangene Zeit zurückblickt. Verdandi – die »Seiende«, die junge Dame mit ihrem stets nach vorne gerichteten Blick. Skuld – die »Werdende«, die geheimnisvolle Gestalt, die, mit einem geschlossenen Buch in jeder Hand, von Urd wegschaut.

In den drei Göttinnen war bewahrt, was war und was ist, und vorbestimmt, was sein wird. Die Menschen kamen zu den Quellen, tranken von dem Wasser und beteten, damit ihnen die Göttinnen gnädig seien. Gelegentlich jedoch vergnügten sich dort auch die Herrschenden bei ihren Kampf- und Liebesspielen.

So auch der Bayern-Herzog Tassilo III.Tassilo III., Herzog von Bayern Er hatte gejagt, dann üppig gegessen und schlief ein. Da sah er, so die Legende, im Traum die Quelle, wo die Wasser aus dem Schoß der Erde sprangen durch Vermählung von Göttinnen und Göttern. Aus dem Schlaf erwacht, rief Tassilo den Diener WezzoWezzo und sprach: Ich möchte den Brunnen sehen, der mir im Traum erschienen ist. Und Wezzo wurde fündig. Er eilte zu seinem Herrn: Die Wasser springen!

Zum Andenken an das Ereignis ließ der Herzog im Jahre 753 die Mönche des heiligen Benedikt ein Kloster bauen, das nach dem Brunnen Wezzo-Brunn genannt wurde.

Lange Zeit herrschte Unheil in Dorf und Kloster. Zuerst kamen die Hunnen, danach zogen im Dreißigjährigen Krieg Schweden und später Franzosen durch, zerstörten die Bauten und drangsalierten das Volk. In der Säkularisation 1803 wurde das Kloster aufgehoben, 1810 das Gebäude als Materialreservoir zur Ausschlachtung freigegeben, bis der Münchner Professor Johann Nepomuk SeppSepp, Johann Nepomuk durch Kauf der Anlage die noch vorhandenen Gebäude rettete.

Es entstand die berühmte Wessobrunner SchuleWessobrunner Schule. Der Begriff, von Gustav von BezoldBezold, Gustav von und Georg HagerHager, Georg1888 geprägt, bezeichnet eine Gruppe von Stuckateuren, Künstlern, Baumeistern und Handwerkern, die sich ab Ende des 17. Jahrhunderts rund um das Kloster entwickelte und im 18. Jahrhundert die Stuckkunst in Süddeutschland maßgeblich beeinflusste. Von den über 600 Künstlern seien hier die Brüder Johann BaptistZimmermann, Johann Baptist und Dominikus ZimmermannZimmermann, Dominikus hervorgehoben, ferner die über mehrere Generationen tätigen Familien SchmuzerSchmuzer (Stuckateure) und FeichtmayerFeichtmayer (Stuckateure). Seit 1913 betreuen Missionsbenediktinerinnen aus Tutzing das Kloster.

Der Urgeist des Ortes stellt sich gleichsam zeitlos in einer der ältesten Dichtungen deutscher Sprache dar: im Wessobrunner Gebet.Wessobrunner Gebet

Als die junge Familie – Josef, Aloisia und Luise Rinser – zum ersten Mal zu Besuch kommt, holt Dekan Franz HörtensteinerHörtensteiner, Franz sie selbst mit der Kutsche ab. In der scharfen Kurve, unmittelbar vor dem Kloster, erhebt sich die große Linde. Lautlos weist sie seit Jahrhunderten darauf hin, dass man nun heiligen Boden betritt. Manchen Gast überkommt das Gefühl, die Zeit schlage hier in Ewigkeit um.

Gefragt, wann sie zum ersten Mal in Wessobrunn war, pflegte Luise Rinser zu antworten, es sei ein Tag vor Weihnachten und sie bereits drei Jahre alt gewesen. Es könnte also der 23. Dezember 1914 gewesen sein.[20] Franz Hörtensteiner führt die Gäste vor den Lindenbaum, um ihnen die dort in Stein gemeißelte Inschrift vorzulesen.

Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista,

dat ero ni uuas noh ûfhimil,

noh paum … noh pereg ni uuas, ni … nohheinîig

noh sunna ni scein,

no mâno ni liuhta,

noh der mâreo sêo.

Dô dâr niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo,

enti dô uuas der eino almahtîco cot, manno miltisto,

enti dâr uuârun auh manake mit inan cootlîhhe geistâ.

enti cot heilac …

Cot almahtico,

du himil enti erda gaworachtos,

enti du mannun so manac coot

forgapi,

forgip mir in dino ganada

rehta galaupa

enti cotan willeon,

wistom enti spachida enti craft,

tiuflun za widarstantanne,

enti arc za piwisanne

enti dinan willeon za gauurchanne.

Aus dem nervösen und eher profan wirkenden Mann scheint plötzlich etwas auf, eine Ausstrahlung, die erklärt, warum er Priester geworden ist und warum er ein Vierteljahrhundert später das Modell für »Onkel Felix« in Die gläsernen RingeRinser, Luise|Die gläsernen Ringe sein wird.

Die Worte ihres Onkels klingen für die Kleine wie die Melodie einer magischen Welt. Auch die Eltern hören ehrfürchtig zu. Den Text kennen sie freilich schon lange, doch niemals haben sie Onkel Franz ihn in der Ursprache vortragen hören. Bevor das Kind fragen kann, was die Worte bedeuten, erklärt der Geistliche: Wir sprechen dieses Gebet oft in unserer Kirche, aber in der heutigen Sprache.

Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes,

dass Erde nicht war, noch oben der Himmel,

nicht Baum …, noch Berg nicht war,

noch … irgend etwas,

noch die Sonne nicht schien,

noch der Mond nicht leuchtete,

noch das herrliche Meer.

Als da nichts war an Enden und Wenden,

da war der eine allmächtige Gott, der Wesen gnädigstes,

und da waren mit ihm auch viele herrliche Geister.

Und Gott der heilige …

Gott allmächtiger, der du Himmel und Erde wirktest

und der du den Menschen so mannigfach

Gutes gegeben,

gib mir in deiner Gnade

rechten Glauben

und guten Willen,

Weisheit und Klugheit und Kraft,

den Teufeln zu widerstehen,

und das Böse (Arge) zurückzuweisen

und deinen Willen zu tun (wirken).

Das Gebet klingt wie ein Urgedicht, das Geheimnisse der Vorzeit bewahrt. Sonne und Sterne, Erde und Meere, Pflanzen, Tiere und Menschen scheinen, durch die Urworte aufgerufen, aus dem Nichts hervorzugehen.

*

Dieses älteste überlieferte althochdeutsche Gedicht ist vermutlich schon um 790 entstanden. Die Fassung hier geht auf das Jahr 814 zurück. Man unterscheidet darin zwei Teile: einen Lobpreis auf die Schöpfung in neun stabreimenden Langzeilen und ein Gebet in freien Prosabildern. Beide zusammen – Lobpreis und Oration – bilden ein Gebet um Weisheit und Kraft und die Bitte um Versöhnung. Mit ähnlichen Zauberformeln haben die frühen Menschen dessen gedacht, was geschah, bevor das irdische Leben war.

Die Worte üben auf das Kind eine magische Wirkung aus. Später allerdings wird die Schriftstellerin beklagen, dass die Übersetzung eine Umdeutung darstellt, die dem Text seine ursprüngliche Kraft nimmt. Mit dieser Entstellung wird sie sich intensiv beschäftigen. Im Urtext heißt es zum Beispiel manno miltisto, der Menschen Mildester, und cootlihhe geista, göttliche Geister, in der Übersetzung (des Wesens Gnädigste, herrliche bzw. – vom Ursinn noch weiter entfernt – gottähnliche Geister) wird offensichtlich darauf geachtet, dass die christliche Dogmatik nicht in Frage gestellt wird.[21]

Die Berührung mit diesem Urtext und mit anderen Dokumenten in der frühen Kindheit bewirkt, dass sich Luise Rinser später mit aller Selbstverständlichkeit in der Welt mystisch-philosophischer Gedankengänge wird bewegen können. In Wessobrunn, sagte sie immer wieder, habe sie Ur-Schauder erfahren, Ur-Wissen gelernt.

Da andere Quellen fehlen, folgt die Beschreibung des Onkels Hörtensteiner Luise Rinsers Erinnerungen in Die gläsernen RingeRinser, Luise|Die gläsernen Ringe und Den Wolf umarmenRinser, Luise|Den Wolf umarmen. »Der Herr« lebt vornehm. Er bewohnt den Ostflügel des Klosters, das aus großen Sälen und einem langen Gang mit klickernden grüngrauen Pflastersteinen besteht. In der gewölbten Decke sind verblasste Fresken-Medaillons in Stuck-Kränze gefasst. Die Bilder sind beschriftet mit tiefsinnigen Sprüchen. Luise betrachtet sie fasziniert. Der Onkel liest sie ihr vor. »Der Schatten allein schon tödlich kann seyn«, steht bei einem Baum, unter dem sich Schlangen ringeln. Damals stand dort »seyn«, berichtet Luise Rinser, später habe man das »y« korrigiert und damit ein Stück Magie verschenkt. »Durch eigne Gestalt der Geist entfallt«, ist unter einem anderen Bild zu lesen. Da schaut ein Drache ins Wasser – oder in »ein« Wasser, wie es die Dichterin ausdrückt. Ein Feuersalamander steht in Flammen: »Kein Feuer und Glut mir Schaden tut.« Man denkt dabei an die mythischen Geschichten von Jünglingen, die unversehrt durchs Feuer gehen konnten. Eine Hand hält einen Zirkel und misst die Erde aus: »Aus allen keins, es gibt nur eins.« Man kann interpretieren: Öffne die Fenster deines Herzens, geh fort, betrachte, doch bleib nirgends hängen. Ein ursprünglicher Geist schwebt durch die Gänge des Klosters. Luise horcht auf seine Worte in zeitloser Stille und wächst heran in dieser Hochschule der Weisheit.

 

Franz Hörtensteiner entspricht nicht dem gängigen Bild des Gottesmannes. Er ist eine sinnliche Frohnatur. Doch genau aus diesem Grund wird er für die kleine Luise wichtig. Umgeben von strengen Erwachsenen, die mit ihrem engen Horizont das Kind zu erdrücken drohen, atmet es frische Luft beim geistlichen Onkel, der das Leben liebt und den katholischen Glauben locker und mit viel Humor nimmt.

Der Pfarrer zeigt seine Liebe zu seiner Nichte auf eine Weise, die manchem vielleicht derb erscheinen mag. In Wirklichkeit ist die scheinbare Grobheit ein Ausdruck seiner Güte. Und die wenigen leiblichen Genüsse – wie etwa ein gutes Essen –, die ihm in seinem Stand offiziell erlaubt sind, haben gerade an diesem magischen Ort, wo alles auf die höheren Wirklichkeiten hindeutet, eine ausgleichende Wirkung. »Mich liebte er«, schreibt Luise Rinser. »Wenn er auf dem Sofa lag, sagte er: Komm her, Mädi, Chinesenküsse! Wir rieben unsere Nasen aneinander. Mein Vater missbilligte das. Mir gefiel es. Die Tante schüttelte den Kopf. Meine Mutter sagte nichts.«[22]

Die frommen Erwachsenen ahnen nicht, was der Pfarrer und das Mädchen sonst noch spielerisch vollziehen: Onkel Franz, ich möchte meine Puppe taufen lassen. Aber selbstverständlich, Mädi, das hätte schon längst geschehen müssen. Er steckt die violette Stola in die Tasche, nimmt Weihwasser, Salz und ein Fläschchen Öl, schleicht mit dem Mädchen an der Hand in den Magdalenensaal und tauft dort, in einer Ecke, die Puppe auf den Namen Margarethe.

Und als »Nauti«, ein Salz- und Pfeffer-Schnauzer, der am Wessobrunner Berg den Radfahrern auflauert und die Hosen zerreißt, stirbt, wird er auf die Bitte Luises ohne weiteres – doch hinter dem Rücken von Klosterschwestern, Eltern und Tante – christlich begraben: Lux aeterna luceat ei domine … betet der Onkel und sprengt Wasser auf die Hundeleiche.

Auch Tante FannySailer, Franziska (Tante Fanny) spielt eine wichtige Rolle. Luise fühlt sich durch viele Eigenschaften von ihr angezogen. Doch eine hat es ihr, dem Stiermenschen, besonders angetan: ihr unvergleichlicher Geruch, der das Paradies von Gerüchen bereichert, die Luise in Wessobrunn entdeckt.

Findet man den Geruch eines Menschen angenehm, so ist der Zugang zu dessen Innenwelt erleichtert. Volkstümlich heißt es: »die oder den kann ich nicht riechen«, wenn man eine Person nicht mag. Gefühle, aber auch der Verstand und sogar die Vernunft können sich täuschen. Die Nase aber führt sicher auf die Spur.

»Die Tante roch sehr gut. Sie roch nach etwas, das nichts anderem glich. Später hörte ich, es sei Moschus gewesen. Ihr Schrank roch stark danach. Diesen Schrank liebte ich. Ich drückte mein Gesicht in die Kleider der Tante und fühlte mich getröstet.«[23]

Nichte und Tante freuen sich, wenn die Eltern verreisen und sie allein bleiben. Mutter Aloisia warnt ihre Schwester, das Kind sei böse, sie solle es gegebenenfalls schlagen. Doch die Tante überhört das. Sobald die Eltern verschwunden sind, beginnen für beide zauberhafte Tage. Fanny weckt Luise für die Frühmesse. Jeden Morgen knien sie in der ersten Bank der rechten Seite der Wessobrunner Kirche. Der Platz, noch heute mit einem Blechschild »Pfarrhof« bezeichnet, ist für die Pfarrhaushälterin vorgesehen.

Nach dem Frühgottesdienst gehen sie über den großen Platz (zu jener Zeit teilweise Gemüsegarten) zum Prälatentrakt. Da ist der Frühstückstisch schon gedeckt. Man kann annehmen, dass Onkel Franz, der in der Sakristei das Messgewand ablegen und aufräumen muss, etwas später dazukommt und mit seiner Heiterkeit den Tagesbeginn belebt.

Die Klosteranlagen sind heute noch imposant. Man geht am Römerturm vorbei bis zum Teich. Auf den Tafeln an der Mauer kann man die Entstehungsgeschichte des Klosters, die Namen der Äbte, der Stuckateure lesen.

Vor allem aus Die gläsernen RingeRinser, Luise|Die gläsernen Ringe und aus Den Wolf umarmenRinser, Luise|Den Wolf umarmen, aber auch aus mündlichen Erzählungen wissen wir, welche Bedeutung der Teich für das Mädchen hatte. Der Besucher kann ihre Gefühle gut nachvollziehen. Man bleibt spontan an dem Wasser stehen, horcht auf die Stille. Luise Rinser verbindet ihre Erinnerungen mit dem Frühling. Der Garten duftet wunderbar. Nach Leben, das erwacht. Das Kind beugt sich über das Wasser, wirft ein Steinchen hinein und sieht, wie sich sein Spiegelbild, umkreist von Wellenringen, leise bewegt.

Der Teich fesselt das Mädchen – und die reife Frau, wie ich zweimal, als ich mit ihr dort war, feststellen konnte. Sie hat der Nachwelt das Erleben des Kindes hinterlassen. Es nimmt nur Geräusche wahr, die die Stille nicht verletzen. Kein Geruch: »Auch dieses Wasser, diese Steine rochen nicht.« Wasser ohne Bewegung: »Es stand und bewegte sich nicht.« Schweigen, das beglückt.

Onkel Franz beobachtet, wie das Kind am Teich Zuflucht sucht, doch das viele Alleinsein hält er nicht für gut. So erlaubt er gelegentlich, dass Luise mit anderen Kindern in den Klosteranlagen spielt, bisweilen sogar gefährliche Spiele. Einmal kann sie sich einen Traum erfüllen. Mit Hilfe der Spielkameraden klettert sie bis zu einer vier Meter hohen Öffnung des Römerturmes und dann bis hinauf zum Glockenstuhl. Dorf, Kloster, Kirche, Wiese, Teich und die großen Bäume liegen nun zu ihren Füßen. Was für ein Gefühl! Oben, unter den Glocken, kommt sie sich vor wie in himmlischer Höhe geborgen – unerreichbar für die Grobheiten der Erwachsenenwelt.

 

»Meine Kindheit war schön, weil es die Tante FannySailer, Franziska (Tante Fanny) gab«, bemerkt Luise Rinser. Doch auch Onkel FranzHörtensteiner, Franz war wichtig. Und die Spielkinder. Und das Kloster, die Kirche, die Glocken, die Bibliothek mit den vielen ledergebundenen Büchern, die Spielecken, der Teich und die Bäume. Und ganz nah die Berge!

Wessobrunn ist die Wiege und Schule ihrer Dichtung. Hier lernt Luise Rinser die Stille vernehmen – die Reinheit des Wassers, die Botschaft der Lüfte, das Reich der Gerüche. Träume als Wirklichkeit, Wunder als Tatsachen. Das Göttliche und das Böse. Die Erhabenheit des Schönen. Die Gemeinheit der Menschen. Die Macht des Todes. Und die Kraft des Lebens.

Die Wirklichkeit der Märchen 1919–1923

Der Krieg näherte sich seinem Ende. Am 14. August 1918 stufte die Oberste Heeresleitung die Lage als aussichtslos ein. Die deutschen Truppen mussten sich zurückziehen. Damit man mit den Alliierten verhandeln konnte, wurde durch Erlass des Kaisers am 30. September ein parlamentarisches System in Deutschland eingeführt. Reichskanzler Prinz Maximilian von BadenBaden, Maximilian von, Reichskanzler, im Amt bestätigt, unterbreitete am 4. Oktober Woodrow WilsonWilson, Woodrow ein Friedensangebot. Ungeachtet dieser Friedensbemühungen befahl die deutsche Admiralität für den 29. Oktober das Auslaufen der Flotte gegen die überlegene Royal Navy. In WilhelmshavenWilhelmshaven kam es zu Meutereien. Man verlegte die Flotte zum Teil nach Kiel. Ein Matrosenaufstand brach aus. In vielen deutschen Städten wurden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet. In München rief Kurt EisnerEisner, Kurt den Freistaat Bayern aus. Im Frühjahr 1919 folgte die Münchner Räterepublik.

Die Revolution erfasste am 9. November 1918 auch Berlin. Doch Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von PreußenWilhelm II., deutscher Kaiser, wollte nicht auf den Thron verzichten. So gab der Reichskanzler Prinz von Baden eigenmächtig die Abdankung des Kaisers bekannt und übertrug die Reichskanzlerschaft auf den Vorsitzenden der SPD, Friedrich EbertEbert, Friedrich. Am folgenden Tag dankte der Kaiser ab und floh ins niederländische Exil.

Inzwischen verhandelten Vertreter der Alliierten und des Deutschen Reiches in einem Salonwagen im Wald von Compiègne nordöstlich von Paris über den Frieden. Am 11. November um fünf Uhr früh wurde ein Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet. Ab diesem Tag um 11 Uhr schwiegen in Europa die Waffen.

Die Folgen des vierjährigen »Großen Krieges« waren verheerend. Die ganze Welt wurde in Mitleidenschaft gezogen. Fast 15 Millionen Tote gab es, davon etwa zwei Millionen Deutsche. Über 20 Millionen Menschen wurden verwundet. Hinzu kamen zahlreiche Opfer von Seuchen. Die Kosten waren immens: insgesamt über eine Billion Goldmark. Für Deutschland mündete der Krieg in eine sich rapide beschleunigende Inflation.

Am 28. Juni 1919 wurde dem Deutschen Reich mit dem Vertrag von Versailles die alleinige Schuld am Krieg zugewiesen. Damit wurden die Reparationsforderungen der Alliierten in Höhe von 269 Milliarden Goldmark begründet. Außerdem musste es etliche Gebiete abtreten: Elsass-Lothringen, das Saarland, Westpreußen und Danzig. Die deutsche Wehrmacht wurde auf maximal 100 000 Mann begrenzt. Zahlreiche weitere Bestimmungen schränkten Deutschlands Souveränität ein. Die Härte dieser von vielen Deutschen als ungerecht empfundenen Bedingungen verhalf in den folgenden Jahren nationalistischen Kreisen im Reich zu starkem Zulauf.

Die Übernahme der Macht durch revolutionäre Räte vollzog sich in ganz Deutschland relativ friedlich. Der Parlamentarismus setzte sich durch. Am 10. November bildeten SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und USPD[24] den Rat der Volksbeauftragten unter Vorsitz von Friedrich Ebert (SPD)Ebert, Friedrich und Hugo Haase (USPD)Haase, Hugo. Diesem Rat, der die tatsächliche Staatsspitze darstellte, erklärte die Oberste Heeresleitung noch am selben Tag ihre Loyalität. Im Gegenzug garantierte Ebert die Autonomie der militärischen Führung.

Nach dem Spartakus-Aufstand wurden (am 15. Januar 1919) Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa, die Mitbegründerin der KPD, und Karl LiebknechtLiebknecht, Karl ermordet. Trotz der Wirren kann sich die Weimarer Republik durchsetzen. Doch der Schmerz der Niederlage sitzt tief. Die Politiker empfinden den Friedensvertrag von Versailles als Schmach, die Bevölkerung leidet unter Armut und Elend.

*

Über diese Zeit im Leben Luise Rinsers haben wir keine anderen Informationen als diejenigen, die sie selbst in ihrer Autobiographie hinterlassen hat. Historisch ist diese nicht zuverlässig; so müssen wir uns hier auf eine Skizze beschränken, die aufgrund anderer Quellen, wie mündliche Erzählungen der Schriftstellerin und Familienunterlagen, als plausibel gelten kann.

Josef Rinser wird im Jahr 1918 als Oberlehrer nach ÜberseeÜbersee am Chiemsee versetzt, eine Gemeinde im Landkreis Traunstein im Tal der Ache. Durch das Dorf fließt ein Bach, der wie die Tiroler Ache in den Chiemsee mündet. Im April 1918 wird Luise sieben. Noch gut ein halbes Jahr wird der Krieg andauern. Die Niederlage zeichnet sich ab. Das Volk erlebt die Endphase, ohne viel zu verstehen. Der Hass auf die Feinde – Franzosen, Russen, Engländer – beherrscht die öffentliche Meinung.

Josef Rinser, meint die Schriftstellerin später, ist Bayer und zugleich ein deutscher Patriot. Ihm bedeutet das Vaterland einen absoluten Wert, dem der Einzelne verpflichtet sei auf Gedeih und Verderb. Im Versuch, die Gefühle ihres Vaters, aber auch die menschliche Borniertheit darzustellen, aus der die Kriege ihrer Meinung nach hervorgehen, lässt sie sich auf Gedankengänge ein, die das komplizierte Phänomen gewiss vereinfachen. Doch sie zeigen, wie wichtig ihr dieses Thema ist.[25]

Krieg ist ein entscheidendes Phänomen im Leben Luise Rinsers. Am Vorabend der Katastrophe geboren, ist sie zwischen den zwei größten Kriegen des 20. Jahrhunderts aufgewachsen, ihr Leben und ihr Werk sind davon durchdrungen – und »die deutsche Seele«, wie sie die heimatliche Mitte bald nennen wird, ist für lange Zeit verwundet.

Es ist Dezember 1918, der Krieg seit einem Monat zu Ende. Noch geht die Angst um im Lande. In den bayerischen Dörfern ist keine Friedensstimmung zu spüren, denn es herrscht nur Waffenstillstand. In ganz Deutschland ist die Atmosphäre gespannt. Viele Bayern wollen die allgemeine Unruhe dazu nutzen, endlich unabhängig zu werden. Eine bayerische Räterepublik? Einen neuen bayerischen König, nachdem Ludwig III.Ludwig III., König von Bayern hat gehen müssen? Sie wissen es nicht so genau. Eines gilt allerdings den Bauern von Übersee als sicher: Echte Bayern sind zuerst gegen die Preußen, welche die Bayern in den schrecklichen Krieg hineingezogen haben. Und so sind viele Bayern auch gegen jene Bayern, die für die Preußen sind. Wie viel historische Wahrheit solche rückblickenden Gedankenspiele der Schriftstellerin vermitteln, ist schwer auszumachen. Offensichtlich ist jedoch die Unsicherheit, in der das Kind aufwächst.

Auch in Bayern fasst die Revolution Fuß. Neue Namen werden genannt. Die kleine Luise kann sich alle gut merken:[26] Ernst TollerToller, Ernst, Erich MühsamMühsam, Erich, Ernst NiekischNiekisch, Ernst, Gustav LandauerLandauer, Gustav. Sie regieren kurz. Den kommunistischen bayerischen Ministerpräsidenten Kurt EisnerEisner, Kurt erschießt Graf Arco auf Valley. Und die Leute freuen sich darüber. Die SPD schlägt zusammen mit der »Reichswehr« die linke Revolution nieder. Ist Bayern also wieder gerettet?

All das lernt sie, behauptet Luise Rinser, nicht im Schulunterricht. Vater und Mutter sprechen zu Hause darüber. Manchmal erfährt sie Einzelheiten der Gegenwartspolitik von weißgrauen Wahlzetteln, die der Vater zum Aufschreiben für den Einkauf benutzt hat. Da steht auf der einen Seite handschriftlich: Streichleberwurst, Kaffee, Schweizerkäs, und auf der anderen gedruckt: USPD und darunter die Namen der Kandidaten. Solche übriggebliebenen Wahlzettel aus den Jahren 1918/19 hat Luise Rinser bis zu ihrem Lebensende behalten.

Das Kind schnappt auch einiges über die politischen Ereignisse auf. Der Kaiser sitze in Holland gefangen und ein Herr Ebert habe seine Stelle eingenommen, hört Luise. Oft reden die Männer über den Versailles-Vertrag. Manchmal sind sie traurig und wütend. Schuld am Unglück seien die Franzosen und die Engländer und die Russen und überhaupt all die Völker, die das deutsche Volk nicht leiden könnten, weil es so tüchtig sei.

Das große, reiche Deutschland ist klein gemacht und so arm geworden, dass es für das Volk kaum Arbeit und meistens nur schlechtes Essen gibt. Zur Armut kommt das Elend der Menschen hinzu, die aus ihren Heimatländern vertrieben worden sind. Die kleine Luise kann dies unmittelbar beobachten, weil im Schulhaus Fremde untergebracht werden. Auch Kinder aus anderen deutschen Ländern, aus der Rheinpfalz oder dem Saarland, kommen in das bayerische Dorf. In der Schule wird den Kindern erklärt: Der Krieg hat für das Vaterland böse Folgen gehabt. Das Rheinufer wird geräumt, die Kolonien werden uns genommen, unser Geld ist weg und so viele junge Männer sind gefallen. Ein Trümmerhaufen sind die deutsche Heimat und ganz Europa geworden nach diesem großen Krieg.

Dem Kind wird klar: Krieg bedeutet, dass Menschen vertrieben werden, dass sie ihre Angehörigen verlieren, keine Heimat mehr haben und von den Mitmenschen, die sie aus Mitleid oder notgedrungen aufnehmen, von oben herab behandelt werden. Der Krieg schadet allen – und hilft niemandem.

Von biographischer Bedeutung ist auch folgende Erfahrung:

Am 24. Dezember 1918 bringt die Lehrerin Maria FeigelFeigel, Maria dem Kind ein Geschenk: das berühmte Buch von Ludwig GanghoferGanghofer, Ludwig|Das Märchen vom Karfunkelstein mit dem Titel »Das Märchen vom Karfunkelstein. Eine wunderliche Geschichte für kleine und große Kinder«. Der damals erfolgreiche Autor erzählt in seinen Büchern Schicksale und Erlebnisse aus der bayerischen Alpenwelt. Diesem Märchenbuch, erschienen 1905, hat er eine gedruckte Widmung vorangestellt: »Ich widme dieses Buch dem lieben Kleeblatt Doddy, Hedda und Hilde Kaulbach in München.« Darunter hat Fräulein Feigel geschrieben: »Und ich dem Lehrertöchterlein Luise Rinser, 1918.« Das liebe Kleeblatt sind die drei Töchter des Malers Kaulbach, dessen Frau zwei Jahrzehnte später im Leben der Schriftstellerin Luise Rinser eine besondere Rolle spielen wird.

Luise habe in dem Buch eifrig gelesen und ihrem Vater erzählt, »warum der Zwergenkönig Grawigrüweling so traurig wurde, und wie er den ewig leuchtenden Karfunkelstein gewinnen wollte«. Bis zum Ende der Weihnachtsferien habe sie das ganze Buch durchgelesen. Und es ist verständlich, dass das Kind vor Lust brennt, in der Schule daraus zu erzählen.

Nun, berichtet die Schriftstellerin, bekommt sie eine neue Klassenlehrerin, Fräulein Pöllmann. Sie lässt die Kinder Vorlesen üben. Jede Schülerin muss einige Sätze aus dem Lesebuch vorlesen. Als Erste kommt die Schweiger ReslSchweiger, Resl dran, die in Die gläsernen RingeRinser, Luise|Die gläsernen Ringe Thereslein heißen wird. Sie liest, so gut sie kann, »mit dem Finger den Wörtern folgend«. Danach sei sie selbst, Luise Rinser, an der Reihe gewesen, sie habe fließend »ohne nachhelfende Finger« gelesen und dabei erkennen lassen, dass sie alles verstehe, was sie liest. Du da, soll das Fräulein PöllmannPöllmann (Lehrerin)