M. Rainer Lepsius -  - E-Book

M. Rainer Lepsius E-Book

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Beschreibung

Der Doyen der deutschen Soziologie blickt zurück auf sein Leben, seine Erfahrungen im Nationalsozialismus und deren Verarbeitung in der Bundesrepublik sowie auf die Entwicklung und die gegenwärtige Lage der Soziologie. Er äußert sich überdies zu Fragen der Religion, der Ökonomisierung und der Geschlechterbeziehungen.

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Hepp, Adalbert; Löw, Martina

M. Rainer Lepsius

Soziologie als Profession

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40343-4

|7|Vorwort

Wer sich mit der Soziologie beschäftigt, ob beruflich oder aus privatem Interesse, dem ist M. Rainer Lepsius ein Begriff. Wer ihn einmal bei einem seiner geschliffenen Vorträge erlebt und dann vielleicht neugierig den einen oder anderen seiner vielen Aufsätze gelesen hat, dem bleiben die Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit und seine präzise Argumentationsweise nachhaltig in Erinnerung. So jedenfalls ging es uns. Wir kamen mit M. Rainer Lepsius in ein persönliches Gespräch das erste Mal im April 2006 nach einer akademischen Veranstaltung in Halle, wo er für Reinhard Kreckel die Abschiedslaudatio hielt. Wir beide, die wir uns selbst auch erst flüchtig kannten, begeisterten uns schnell für den Menschen Lepsius. Er muss nicht erst auftauen, er ist sofort präsent. Welches Thema auch angeschnitten wird, er lässt sich ohne jede Ermüdungserscheinung bis spät in die Nacht darauf ein: die Hochschulreform, den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte oder das Verhältnis von Mann und Frau. Als der Abend fortgeschritten war, stellten wir fest, dass wir noch Vieles von ihm wissen wollten und fragten ihn spontan, ob er nicht Lust hätte, das Gespräch in naher Zukunft fortzusetzen. Erst später kam uns der Gedanke, ein Aufnahmegerät mitzunehmen, noch ohne klare Vorstellung, was wir damit anfangen könnten.

Charmant lud uns M. Rainer Lepsius in seinen Bungalow nach Weinheim ein, den er Anfang der 60er Jahre bezog und in dem er heute allein, in Gesellschaft von Bildern und Skulpturen, lebt. Er holte uns in seinem roten Golf im rosa Hemd vom Bahnhof ab, empfing uns mit Kaffee uns Kuchen und später gab es noch zu |8|einem guten Wein von der Unstrut eine kalte Platte. Mehrere Stunden dauerte unser »Interview«, doch wir hatten immer noch nicht genug, und er war so freundlich, uns ein zweites Mal mit der gleichen Gastfreundschaft zu empfangen. Aus dem über hundertseitigem Transkript haben wir gemeinsam mit ihm das nachfolgende Gespräch herausdestilliert. Es enthält bei weitem nicht alle besprochenen Fragen und vermittelt auch nur eine leise Ahnung von dem Witz, der Selbstkritik und Ironie, die Lepsius in der Unterhaltung versprüht. Wer ihn kennt, wird ihn im Hintergrund oft lachen und manchmal schimpfen hören.

Als wir dann gewahr wurden, dass ein runder Geburtstag bevorsteht, war der Plan zu diesem Büchlein schnell gefasst. Aus bereits publizierten Texten fügten wir eine autobiographische Skizze zusammen, baten ihn, einen seiner Aufsätze auszusuchen, der das Bedürfnis wecken könnte, ihn als Soziologen genauer kennen zu lernen. Das vollständige Schriftenverzeichnis soll die Befriedigung dieses Bedürfnisses erleichtern.

Möge das Buch jüngeren und nachfolgenden Generationen von Soziologen und Soziologinnen einen lebendigen Eindruck von der Geschichte dieser Disziplin in der Bundesrepublik und der Persönlichkeit eines ihrer eindrucksvollsten Vertreters vermitteln.

Adalbert Hepp/Martina Löw Januar 2008

|9|Vita Mario Rainer Lepsius

In Rio de Janeiro am 8. Mai 1928 geboren und seit 1936 in München aufgewachsen. 1947–1952 Studium der Volkswirtschaftslehre, Geschichte und Soziologie an den Universitäten München und Köln sowie als Gasthörer an der London School of Economics. Diplom-Volkswirt in München 1950, Assistent am Seminar für Wirtschaftsgeschichte der Universität München, 1955 Promotion zum Dr. oec. publ. 1955/56 Fulbright Stipendium an der Columbia University, New York, und an der University of Michigan, Ann Arbor. 1957–1963 Assistent am Institut für Soziologie der Universität München, 1963 Habilitation für Soziologie. 1963–1981 Ordentlicher Professor an der Universität Mannheim und von 1981 bis 1993 in Heidelberg, seit 1993 emeritierter Professor.

Mehrfach Gastprofessor in den USA sowie Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York (1988), am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (1988/89), an den Universitäten Halle-Wittenberg und Leipzig (1992). Georg-Simmel-Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin (1994/95), Gastwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin (1995–1998). Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton (1973/74) und am Wissenschaftskolleg zu Berlin (1983/ 84).

1965–2006 Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 1967 Mitglied und von 1977–1998 stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte e.V. 1968–1975 Fachgutachter für Soziologie der Deutschen Forschungsgemeinschaft.  |10|1971–1974 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (seit 1965 Mitglied des Vorstandes). 1972–1974 Mitglied der wissenschaftlichen Kommission zur Erstellung der »Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974« des Bundesministeriums für Innerdeutsche Beziehungen. 1973– 1983 Mitglied des Direktoriums des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen e.V. (ZUMA), Mannheim. Seit 1975 Mitherausgeber der historisch-kritischen Max Weber-Gesamtausgabe bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1981– 1996 Mitherausgeber der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 1990–1991 Mitglied der Arbeitsgruppe Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Wissenschaftsrates. 1991– 1993 Vorsitzender der Gründungskommission für die Errichtung eines Instituts für Soziologie an der Universität Halle sowie Mitglied der Gründungskommission für Soziologie an der Universität Leipzig und der Berufungskommission Soziologie des Landes Thüringen.

Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Korrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Außerordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Socio Staniero Academia delle Scienze di Torino, Mitglied der Academia Europaea.

Dr. phil. h.c. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

|11|Blicke zurück und nach vorne

M. Rainer Lepsius im Gespräch mit Adalbert Hepp (AH) und Martina Löw (ML)

ML: Was mich an unserem Gespräch wirklich interessiert, sind unsere unterschiedlichen Perspektiven als Soziologen auf die Welt. Somit ist dieses Gespräch die Dokumentation eines Stücks Geschichte, Soziologiegeschichte, Geschichte der Institutionalisierung und Professionalisierung. Ich erlebe heute die Soziologie in einem ganz anderen Zustand, als Sie sie vermutlich erfahren haben, als Sie angefangen haben. Diese Geschichte kann man hier und da nachlesen, aber sie vermittelt sich ganz anders in Gesprächen, in der Auseinandersetzung darüber, was Soziologie heute eigentlich noch leisten kann. Für mich stellt sich die Frage: Wie sehen Sie mit Ihrer Lebenserfahrung aktuelle soziale Phänomene? Ganz anders als ich, obwohl wir beide durch die soziologische Brille blicken? Ich finde diese Gesprächsrunde sehr interessant, weil hier historisch spezifisch reformierte Sichtweisen von drei »Generationen« deutlich werden können. Ich um die vierzig, Herr Hepp um die sechzig, Sie um die achtzig. Ich könnte mir vorstellen, dass es zumindest für mich, als Jüngere, sehr interessant ist, diese Perspektivenvielfalt kennen zu lernen.

AH: Dieses Gespräch haben wir spontan nach einem gemeinsamen Kneipenbesuch vereinbart, ohne dass bei einem von uns damit schon ein Hintergedanke verbunden war, was dabei herauskommen könnte. Doch wenn man im Verlagsgeschäft ist, spinnt man so seine Gedanken. Wenn wir ein interessantes Gespräch führen, dachte ich, dann ließe sich daraus ein Büchlein machen. Und Lepsius wird ja in einem Jahr achtzig. Das wäre ein schöner |12|Anlass, es ihm zu überreichen, nicht im Sinne von Schülern, die ihm eine Festschrift machen, sondern als Ausdruck der Wertschätzung und Anerkennung, die er weit über diesen Kreis hinaus genießt.

RL: Festschriften sind zumeist artifizielle Sammelsurien, die ich nicht schätze.

AH: Ja, ja, das sagt jeder, aber die Verlage sind ohnmächtig dagegen. Doch ich denke an eine kleine Publikation, die späteren Soziologinnen und Soziologen, die in zwanzig Jahren alle nicht mehr wissen, wer Lepsius war, sozusagen die Person und das, wofür sie steht, vergegenwärtigt. Dass man dann ein Interview und Texte von Ihnen zusammenstellt, also eben keine Festschrift, sondern alles original Lepsius, das war so eine vage Idee.

RL: Das ist eine schöne Idee. Und wenn es gelingt, hier irgendeinen Inhalt zu formulieren, den Sie für halbwegs erheblich halten, dann soll es mir recht sein.

ML: Sie haben zu Herrn Hepp am Telefon gesagt, Sie wollten keine Altherrengespräche führen. Ich kann qua Geschlecht nicht einschätzen, was ein Altherrengespräch ist. Was für eine Art von Gespräch wollen Sie nicht führen?

RL: Na ja. Also wie es früher war, und wie es doch so schön war, und wie es jetzt alles schlecht und traurig ist und so weiter. Wobei der eigene Jammer sich dann verlängert in den Weltjammer. Fürchterlich!

ML: Ich kann das systematisch nicht furchtbar finden. Ich muss das die nächsten fünfundzwanzig, dreißig Jahre gestalten.

|13|RL: Natürlich. Wir hatten ja auch einmal eine optimistische Perspektive, als wir angefangen haben, oh ja. In den fünfziger und sechziger Jahren war es aufregend.

ML: Damals, als die Nachfrage der Gesellschaft nach soziologischem Wissen anstieg?

RL: Die Lehrstühle nahmen zu, die Studenten waren interessiert.

AH: Interessante Kongressdebatten?

RL: Nein. Kongresse sind immer fade.

AH: Ich meine Debatten wie die zwischen Popper und Adorno oder Albert und Habermas.

RL: Ja, der Positivismusstreit, gewiss. Es hatte alles noch etwas Frisches, weil Neues. Jetzt sind es zumeist Reprisen.

ML: Im Hinblick auf die Theorie würde ich das auch sagen. Es gibt im Moment keinen wirklich inspirierenden Streit oder einen Punkt, an dem die Soziologie als Ganzes über die Disziplin hinaus wirkt. Intern werden wenige Konflikte ausgetragen, die einem das Gefühl vermitteln, dass sich was bewegt. Aber trotzdem ereignet sich vieles. So gab es doch ungeheure Spannungen in der Debatte um Globalisierung und Lokalisierung. Es gab eine hohe Dynamik in der Geschlechterfrage. Bei vielen Themenkomplexen scheint es mir nach wie vor nicht unbedeutend zu sein, welche Erkenntnisse die Soziologie produziert.

RL: Das will ich gar nicht bestreiten. Ich habe die heutige Situation der Hochschulen und der Soziologie in den Hochschulen im Blick. Und da erkenne ich keinen animierenden Horizont. Die so genannten jungen Leute, so mein Eindruck, haben keine großen Erwartungen mehr. Sie wollen eine Stelle, eine ökonomische Basis   |14|haben und eine Reputation. Aber einen » Glauben an die Mission der Soziologie« haben sie nicht.

ML: Was wäre denn die »Mission der Soziologie« für Sie?

RL: Na, für uns war diese »Mission der Soziologie« doch die Überwindung der nationalsozialistischen Kategorien. Soziologie war die kognitive Befreiung vom Nationalsozialismus. Das war eine Mission, denn wir waren umgeben von Leuten, die immer noch die alten Positionen vertreten haben. Dieser ganze Historismus, diese Unsensibilität gegenüber sozialen Struktureffekten, die Ontologisierung von Kollektivbegriffen, das ist ja alles weg. Es gibt keinen Feind mehr, es sei denn, die alten Gespenster regen sich wieder.

AH: Obwohl er heute größer erscheint denn je.

RL: Ja? Der Feind ist die Ökonomisierung. Aber sonst?

AH: Na ja, der heutzutage propagierte Vorrang des Marktes gegenüber der Politik als Regelungsinstanz müsste von den Soziologen etwas heftiger analysiert und problematisiert werden.

RL: Eben. Ökonomisierung. Die Ökonomisierung der Wahrnehmungs- und Analysekategorien, gewiss. Sag ich ja.

AH: Das impliziert doch die Abdankung vieler Institutionen.

RL: Ja. Aber dafür ist die Soziologie zu schwach. Nein, sie ist ja mit dem Rational-Choice-Ansatz eigentlich in ein Paradigma der Marktanalogie gewechselt. Infolgedessen bietet sie kein Gegengewicht zur Ökonomisierung.

AH: Würden Sie Rational Choice heute als das hierzulande dominante Paradigma der Soziologie betrachten?

|15|RL: Es ist ein explizit ausgearbeitetes Paradigma und implizit ein Hintergrundsparadigma. Auch wenn ich kein expliziter »Rational Choicer« bin, so scheint mir die Grundannahme – hier sind isolierte Individuen, die sich eine Meinung in Abwägung von Opportunitätsbedingungen bilden, doch eingängig und weit verbreitet. Und diese Hintergrundideologie der Nutzenkalkulation wird vom Zeitgeist ununterbrochen gespeist und gefördert.

AH: Können wir es nicht einfach als ein heuristisches Programm nehmen und nicht als Ideologie?

RL: Ein heuristisches Programm mit Ideologieaffinität, wie in der Regel alle. Eine Ideologieaffinität hat alles, auch wenn es keinen expliziten ideologischen Appellcharakter hat. Und insofern sehe ich in der Soziologie kein Widerlager gegen den Glauben an die Allokationseffizienz des Marktes und der Handlungsmotivation durch Wettbewerb. Dabei bleibt die Frage Max Webers nach dem »Menschentyp, den wir züchten wollen«, auf der Strecke.

ML: War der Antifaschismus denn wirklich etwas, was eine Generation von Soziologen und Soziologinnen zusammengebunden hat?

RL: Denken Sie nur an die Biografien von Ralf Dahrendorf, Heinrich Popitz, Ludwig von Friedeburg, Dietrich Goldschmidt, Hans Paul Bahrdt, Theo Pirker und vielen anderen. Dazu kommen die Emigranten als unsere Lehrer: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, René König, Helmuth Plessner, auch Otto Stammer und, in der Politischen Wissenschaft, Ernst Fraenkel, Franz Neumann und andere. Es bestand ein die Generationen übergreifender, die Schulen überwölbender Antifaschimus, der unterstellt werden konnte auch bei den Generationsgenossen, die man nicht genauer kannte.

|16|AH: In einem autobiografischen Text stellen Sie sich selbst als jemanden dar, der vor fünfundvierzig BBC hörte und, als dann die Amerikaner endlich kamen, das Gefühl hatte, befreit worden zu sein.

RL: So ist es.

AH: Das war ja damals gewiss nicht das Mehrheitsgefühl. Günter Grass wurde gerade geprügelt weniger für das, was er 1945 gemacht hat, als dafür, es über 60 Jahre für sich behalten zu haben. Sie sind der gleiche Jahrgang wie er, doch Sie schreiben überhaupt nichts über Ihre Erfahrungen, Ihre Erlebnisse und Ihr Elternhaus vor dem Ende des Krieges. Waren Sie ganz klar immer gegen all das gefeit, was Günter Grass damals noch dermaßen in seinen Bann schlug?

RL: Na ja, Grass ist 7 Monate älter und kam noch zum Militär, ich nicht. Grass ist in Danzig aufgewachsen, in einer ethnisch heterogenen Umwelt, da spielte der Glaube an das Völkische eine große Rolle. Ich bin in München, in einer ethnisch homogenen Welt aufgewachsen. München war immer latent antifaschistisch. Es war zwar die »Hauptstadt der Bewegung«, aber in seiner Mentalität nicht dominant nationalsozialistisch. Da gibt es die schöne Geschichte: Als die Deutschen Paris besetzt hatten, hieß es in München: »Jetzt versuchen sie, in Paris ›Heil Hitler‹ einzuführen. Und mit den Erfahrungen, die sie dabei machen, wollen sie es auch in München versuchen.« Das ist zeitgenössisch. Und in einer zweiten Hinsicht hatte ich Glück: Ich bin in einer nichtfaschistischen Familie groß geworden; meine Mutter war eine entschiedene Anti-Nationalsozialistin.

AH: War sie Deutsche?

RL: Ja. Und sie hatte dafür ein Kriterium, über das sie keine Kompromisse schließen wollte, und das war die Verfolgung der |17|Juden, und zwar schon in den dreißiger Jahren, als von Deportation und Vernichtung noch keine Rede war. Sie hatte jüdische Freunde, die sie sehr schätzte. Und sie sagte immer: »Ein Regime, das diese Menschen diskriminiert, außer Landes treibt und verfolgt, ist für mich ein nicht tolerables Regime.« Mein Großvater lebte auch in München. Er war Richter, oberfränkischer Herkunft und gläubiger Protestant. Er war in einem Zivilsenat des Oberlandesgerichts München tätig, in dem keine großen politischen Prozesse geführt wurden. Sein Senatsvorsitzender war der spätere bayerische Ministerpräsident Hans Ehard. Trotzdem sagte er: »Nein, das Rechtssystem wird aufgelöst. Ich will nicht mehr Richter sein.« Er war heilfroh, als er 1936 pensioniert wurde. Seine Kriterien waren der Verlust der Rechtsstaatlichkeit und die Repression gegen die Kirche. Auch für ihn war der Nationalsozialismus nicht tolerierbar. Mein Vater war auch kein Nazi, aber er konnte abwägen und sagte: »Ja, das ist schlecht, aber man muss doch bedenken, dieses ist anerkennenswert.« Also der hatte immer ein Sowohl-als-auch, aber er war kein Parteimitglied, er war vielmehr ein preußischer Nationaler und Weltkriegsoffizier. Das Kriterium der Nation war sein oberster Wertbezug, über den er die Ambivalenzen aus den Abrechnungs- und Aufrechnungsprozessen nicht durchbrechen konnte. Er verstarb 1942, hat also die sich verschärfende Kriegslage und das Kriegsende nicht mehr erlebt.

AH: Was war Ihr Vater beruflich?

RL: Er war als Jurist in der chemischen Industrie tätig. Später habe ich mir gedacht: Eine entschiedene Resistenz gegen den Nationalsozialismus kann man nur erwarten bei Personen, die einen Wertbezug aktivieren, über den man keine Kompromisse schließen kann. Denn sonst ging es ja immer so: »Ja, aber die Arbeitslosigkeit ist doch weg, und die Autobahnen sind da. Gewiss, es gibt die Parteiherrschaft und die Bonzen, aber Deutschland ist doch wieder was. Und jetzt haben wir Österreich. Ist das nicht alles |18|wunderbar? Großdeutschland! Das sind doch objektive Leistungen, die muss man anerkennen.« Und dann konnte man immer abwägen: das Negative, das Positive. Im Ergebnis musste man nicht mal einen Saldo ziehen. Der bloße Umstand, dass abgewogen werden konnte, zeigt, dass man in einer Ambivalenz gefangen war. Darin bestand die notorische Situation derjenigen Deutschen, die nicht gläubige Faschisten waren. Man muss zwischen zwei Gruppen unterscheiden. Einerseits gab es die Gläubigen, die haben wirklich alles geglaubt und fanden das wunderbar. Andererseits diejenigen, die das nicht geglaubt haben. Sie waren in einer tiefen Ambivalenz gefangen, aus der sie sich nicht befreien konnten. Und nur diejenigen, die über einen Wertbezug für ihre Urteilsbildung verfügten, über den sie nicht abwägen konnten, nur die waren nicht faschistisch. Ich rede jetzt nicht von Antifaschismus, also von aktiver Bekämpfung. Ich rede nur von Nicht-Faschisten.

AH: Und ein solcher Wertbezug ging Ihrem Vater völlig ab? Die Judenverfolgung hat er nicht so grundsätzlich verurteilt wie Ihre Mutter?

RL: Doch. Mein Vater hatte einen jüdischen Schulfreund aus Frankfurt, wo er in die Schule gegangen war. Der lebte in der Nähe von München, und wir haben ihn oft besucht. Meine Eltern sind nach langen Auslandsaufenthalten erst 1936 nach Deutschland zurückgekommen. 1937, 1938 wurden mit ihm intensive Gespräche geführt: Soll er auswandern, soll er nicht auswandern? Was passiert mit der Familie? Kann er sie mitnehmen? Was soll er tun? Mein Vater hat ihn bekräftigt, auszuwandern. Er gab den Juden keine Chance im nationalsozialistischen Deutschland, was er zutiefst bedauerte.

AH: Und Sie als Zehnjähriger haben das alles so mitverfolgt?

RL: Ja, natürlich. Wurde ja alles am Kaffeetisch verhandelt.

|19|AH: Wollten Sie damals auch der Hitlerjugend beitreten?

RL: Doch, doch, natürlich. Ein Jugendlicher will dazugehören, nicht ausgeschlossen sein.

AH: Das haben die Eltern aber verhindert?

RL: Nein. Ich wollte nur sagen, ich bin in einer privilegierten Situation aufgewachsen, nämlich in einer, in der unter den verschiedenen Orientierungssendern der Zeit die Familie keine pronationalsozialistische Orientierung vermittelt hat. Und das ist sehr wichtig. Übrigens ist auch meine spätere Frau in Berlin in einem vergleichbaren familiären Kontext, mit noch schärferer antifaschistischer Orientierung aufgewachsen. Ihr Vater wurde als Parteimitglied der Deutschen Demokratischen Partei 1933 als Oberstudiendirektor entlassen, und ihre Mutter beteiligte sich an den Unterstützungsnetzwerken für untergetauchte Juden. Der Zerfall der Bürgerrechte war für beide die Wertbeziehung für die Resistenz. Natürlich habe auch ich nationalsozialistische Orientierung empfangen. Aus der Propaganda, aus der Ereignisstruktur. Aus der Schule weniger, die Schule war im engeren Sinne nicht nationalsozialistisch. Und die Hitlerjugend, ja, war sie eigentlich geschlossen nationalsozialistisch oder eher jugendbündlerisch? Im Krieg war sie eine Hilfsorganisation mit Einsätzen im Luftschutz und zur Beseitigung von Bombenschäden, rekrutierte Hilfsschaffner für die Straßenbahn und vieles andere. Sie hatte »objektive« Aufgaben mit einem unmittelbaren, nicht ideologischen Sinnbezug.

AH: Na, für die Jungen erst mal abenteuerlich.

RL: Die Hitlerjugend war eigentlich eine willkommene Alternativstruktur zur Schuldisziplin. Was heißt das? Das heißt, Hausaufgaben von Mittwoch auf Donnerstag, die brauchte man nicht zu machen, da hat man gesagt: »Mittwoch haben wir Dienst |20|gehabt.« Also auf einer solchen Trivialebene war die Hitlerjugend ganz willkommen. Sie war ein Raum, der weder von den Lehrern noch von der Familie kontrolliert wurde. Sie bot einen Verhaltensraum, in dem man sich selbst irgendwie in einer neuen Struktur behaupten musste. Und die Führer, mit denen man es zu tun hatte, die Fähnleinführer und so weiter, das waren in der Regel Schüler von derselben Schule, die drei Jahre älter waren. Die Hitlerjugend war territorial organisiert und klassenindifferent. Da waren Jugendliche aus der Arbeiterklasse, dem kleinen Mittelstand und aus Akademikerfamilien, und das war schon eine ganz interessante Erfahrung. Sonst hockt man ja in seiner Mittelstandsfamilie und kennt nur diese. In München gab es immer große Aufmärsche und Paraden, auch standen wir Spalier am Karolinenplatz und sahen Hitler und Mussolini, Chamberlain und Daladier vorbeifahren, zur Münchener Konferenz über die Tschechoslowakei 1938. Das war für einen Zehnjährigen sehr eindrucksvoll.

AH: Aber es gab doch noch die Schule?

RL: Ja, meine Schule rekrutierte Kinder von Bahnbeamten, Postinspektoren, Handwerkern, also aus den Mittelschichten. Arbeiter war da kaum einer der Väter. Im Klassenverband spielte der NS nach meiner Erinnerung keine Rolle. Auch unter den Lehrern erinnere ich keine expliziten Nationalsozialisten.

ML: Und wie ist Ihre eigene Entwicklung, also der eigene Meinungsbildungsprozess, in Bezug auf den Nationalsozialismus verlaufen? Das war doch bestimmt eine Geschichte von Ambivalenzen, oder?

RL: Ja und nein. Zum Nationalsozialismus gab es keine Ambivalenz, er war negativ besetzt. Die Ambivalenz lag zwischen dem Nationalsozialismus und dem Glauben an Deutschland.

|21|ML: Können Sie das etwas genauer erläutern?

RL: Im Krieg vermischt sich das nationalsozialistische Regime mit der deutschen Nationalidentifikation. »Deutschland muss siegen, auch wenn wir sterben müssen.« Nicht: »Hitler muss siegen.« Nicht der Nationalsozialismus soll herrschen, sondern Deutschland soll bestehen bleiben. »Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen.« Das war sozusagen die Kurzformel. Das kann man auch bei den Generälen sehen, bei denen vermischten sich beide in ein unentwirrbares Syndrom. »Wir kämpfen für Deutschland.« Aber gleichzeitig natürlich für Hitler. »Hitler ist die einzige Chance, mit der wir aus dem Krieg rauskommen« oder, trivialisiert im Glauben: »Das Genie des Führers wird uns retten.« Noch 1945. Das Identifikationsobjekt war Deutschland, dessen handlungsmächtiges Subjekt Adolf Hitler war. Treskow, Stauffenberg und andere hatten klar erkannt, nur ein erfolgreiches Attentat auf den »Führer« konnte diese verhängnisvolle Symbiose auflösen.

AH: Soldat zu werden, kam Ihnen nie in den Sinn, so wie das Günter Grass beschreibt, der sich freiwillig gemeldet hat?

RL: Nein, nein! Da ist natürlich der Jahrgang ein entscheidender Punkt. Er hat eben seinen Einberufungsbefehl vielleicht im Herbst ’44, ich meinen im März ’45 bekommen. Ich hab’ meinen weggeworfen, er hat seinen befolgt.

AH: War der Akt des Wegwerfens schon eine Art von Widerstand?

RL: Nein. Im März ’45 geht man doch nicht mehr in diesen Krieg, und bei der Unzuverlässigkeit der Postzustellung konnte man das wagen. Da war doch das Ende schon abzusehen. Da geh ich doch nicht mehr zum Militär und lass mich erschießen. Goebbels’ Appelle nach dem Motto: »Wo ein Wille ist, ist auch |22|ein Weg« hatten bei mir keine Resonanz. Seit der erfolgreichen Invasion in der Normandie hatte ich keinen Zweifel an der deutschen Niederlage.

AH: Und wie haben Sie damals die Geschwister-Scholl-Aktionen wahrgenommen?

RL: Davon habe ich nur über die Medien etwas erfahren. Ich hielt das für eine von vornherein aussichtslose Aktion. Flugblätter sind doch kein Mittel. Ich war Schüler, kein Student, mir fehlte die Universitätswahrnehmung. Insofern habe ich sie als tapfere, mutige Leute anerkannt, als Opfer einer idealistischen Mutigkeit, aber nicht als Hoch- und Landesverräter. Das war meine Wahrnehmung.

AH: Und als die Amerikaner kamen, war das in Ihren Augen die Rettung Deutschlands?

RL: Natürlich. Denn wo die Amerikaner sind, sind keine Russen.

AH: Bei den Russen hätten Sie es anders gesehen?

RL: Bei den Russen hätte ich es anders gesehen, wie die deutschen Generäle, die 1944 meinten: »Jetzt muss man im Westen die Front öffnen, im Osten aber muss man weiterkämpfen.« Das war eine verbreitete Wahrnehmung. Der Feind waren die Russen, nicht die Amerikaner und die Engländer. Nach der gelungenen Invasion gab es die Hoffnung auf eine einseitige Waffenniederlegung. Im Westen die Front öffnen. Was sollten die Alliierten machen, wenn die Deutschen nicht mehr kämpfen? Dann werden sie weitermarschieren. Und diese Chance ist nicht genutzt worden. Stattdessen wurde die Ardennen-Offensive unternommen. Damit sind die letzten verfügbaren Reserven im Westen verbraucht worden, statt im Osten die deutsche Zivilbevölkerung zu schützen. Und im |23|Übrigen haben wir natürlich den ganzen Krieg über BBC gehört, jeden Tag.

AH: Verbotenerweise.

RL: Ja. Aber wir wohnten in einem Einfamilienhaus, das war kontrollierbar. Am Anfang des Krieges haben wir den wunderbaren Schweizer Radiosender Beromünster abgehört, mit dem weltpolitischen Wochenkommentar von J. R. von Salis. Der sprach natürlich in vorsichtiger Sprache. Aber das Entscheidende war doch: Wenn Sie ihr Informationsuniversum nur aus den nationalsozialistischen Medien bezogen, hörten Sie immer nur die Propagandaversion. Wenn Sie das ein paar Jahre hörten, besaßen Sie keinerlei alternative kognitive Kriterien mehr, um zu einer anderen Bewertung zu kommen als zu der, die Ihnen vorgeführt wurde. Ich halte das für eines der ganz wesentlichen Elemente der vollkommenen Lethargisierung und, wenn man so will, Hilflosigkeit der deutschen Bevölkerung. Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt sind nicht nur schön, weil es nett ist, wenn man A und B hört, sondern ein konstitutives Mittel für die Selbstrealisierung und Selbsturteilsfähigkeit, auch in einem Regime, von dem man vollkommen abhängig ist. Wir sind heute auch abhängig von den Medien, aber wir haben Alternativen. Und schon kleine Differenzen ermöglichen eine Urteilsbildung, die nicht ein bloßes Abbild der Propaganda ist. Deshalb war es für mich als Jugendlicher von großer Bedeutung, die Kommentare von Radio Beromünster zu hören. So gab es immerhin noch etwas anderes auf der Welt. Seither war die Schweiz für mich der Bezugspunkt für die Hoffnung auf die Fortexistenz einer liberalen, bürgerlichen Gesellschaft in Europa. Und später hörten wir BBC und gegen Kriegsende AFN, den amerikanischen Soldatensender, mit präzisen Angaben über die Kriegslage im Westen.

|24|ML: Gab es eigentlich Spuren von nationalsozialistischer Propaganda, die Ihr Denken geprägt haben, ein Stück weit vielleicht sogar wider Willen?

RL: Na ja, Deutschland war ein unbestrittener Oberwert, was es heute so nicht mehr ist.

AH: Ist das ein Fortschritt?

RL: Gewiss, aber damals bildete Deutschland den obersten Wertbezug. Der wurde enorm propagiert und den habe ich natürlich auch aufgenommen. Ich war z.B. tief bestürzt, als ich nach dem Krieg realisierte, dass Breslau und Königsberg definitiv verloren waren. Ich war nie in diesen Städten gewesen, hatte dort auch weder Verwandte noch Bekannte, aber sie gehörten doch untrennbar zu meinem Bild von der territorialen und kulturellen Einheit Deutschlands.

AH: In einem Ihrer autobiografischen Texte schreiben Sie, Franz Schnabel hätte Ihr borussisches Geschichtsbild ins Wanken gebracht. Was verstehen Sie unter einem borussischen Geschichtsbild?

RL: Dass gewissermaßen Preußen die Agentur ist, die die Einheit Deutschlands zustande brachte, die deutsche Geschichte zu ihrem Ziel führte.

AH: Also Preußen gleich Deutschland?

RL: Ja. Die deutsche Geschichtsschreibung war fixiert auf eine borussische Geschichte: Friedrich der Große, Bismarck und das Kaiserreich. Da spielten die süddeutschen Staaten keine Rolle. Österreich war nach 1848 ausgeschieden, galt nicht mehr als Bezugspunkt. Und insofern habe ich ein borussisches Geschichtsbild gelernt. Die preußische Geschichte ist gleich die deutsche. |25|Und die deutsche Geschichte repräsentiert mit Hilfe des Römischen Reichs Deutscher Nation auch noch die Geschichte Mitteleuropas. Unter der Fiktionalisierung, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation eine deutsche Formation gewesen sei, wurde in einer kontinuierlichen Abfolge von Glanzzeiten und Niederlagen die deutsche Geschichte erzählt und zugleich als europäische Geschichte dargeboten. Daneben gab es Frankreich, die Oppositionsmacht zum Reichsgedanken und zur deutschen Einheit. Aber sonst blieb Europa peripher. Das war das Geschichtsbild.

AH: Dieses Geschichtsbild wurde auch an einer bayrischen Schule vermittelt?

RL: Sogar auf dem Wittelsbacher Gymnasium in München. Das war das Reichsgeschichtsbild.

ML: Sie haben in einem Text geschrieben, dass Sie Ihrem Vater verdanken, dass er Ihnen die Berliner Tradition vermittelt hat. Was meinen Sie mit Berliner Tradition?