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Auf dem Mars hat man in den vergangenen zwei Jahrzehnten endlich die Sprache der Hydree entziffern können. Nun wird durch alte Aufzeichnungen eine unterirdische Anlage entdeckt, die vor Milliarden Jahren dazu diente, das Wachstum von Pflanzen explosiv zu beschleunigen. Das könnte den Mars zu einer grünen Oase machen! Der einzige Haken: Die Anlage kann nur von einem Hydree gestartet werden. Auf dem Mars sind die längst ausgestorben - doch auf der Erde leben ihre Nachkommen!
Ein Linguist wird darauf trainiert, dort nach einem Hydriten zu suchen, während man ein Raumschiff für seine Rückreise losschickt. Was wird ihn auf dem barbarischen, todgeweihten Planeten erwarten?
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Seitenzahl: 156
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Was bisher geschah …
Im Auftrag des Mars
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BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Lektorat: Michael Schönenbröcher
Titelbild: Koveck und Néstor Taylor, Agentur Ortega
Autor: Jana Paradigi
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4137-9
www.bastei-entertainment.de
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Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« – in Wahrheit eine Arche Außerirdischer – die Erde. Ihre Achse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich für Jahrhunderte um den Planeten. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel durch ein Zeitphänomen ins Jahr 2516 versetzt wird. Nach dem Absturz retten ihn Barbaren, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula erkundet er diese für ihn fremde Erde. Bis sie durch ein Wurmloch, das sich im Forschungszentrum CERN auftut, auf einen von zwanzig Monden um einen Ringplaneten versetzt werden.
Auf dem Mond Terminus lässt sie ein Psi-Feld ihr früheres Leben vergessen. Unterwegs zum Turm der Initiatoren, den Herren des Systems, geraten Matt und Aruula in einem unterirdischen Kerker an das mächtige Volk der Saven und befreien sie unfreiwillig, bevor sie zum Wassermond Aquus geschickt, wo sie zusammen mit dem Dreen Mi-Ruut auf die Hydree treffen. Diese Fischwesen geben Matt und Aruula ihre Erinnerungen zurück. Sie reisen zum Mond Binaar weiter, einem Ort, an dem nur künstliche Wesen leben. Die Renegaten wollen von hier fliehen und lösen einen ganzen Stadtteil – Exxus – aus Binaar. Matt und Aruula reisen mit, aber auch ihr Erzfeind Jacob Smythe und ein Initiator in einem Avatar. Smythe erlangt die Kontrolle über den Zentralrechner der Exxus und ändert den Kurs auf den Ringplaneten. Dann aber wird er von einem verbündeten Roboter betrogen, der die Kontrolle des Schiffs auf sich selbst überträgt – bevor Aruula ihn vernichtet. Nun lässt sich der Kurs nicht mehr ändern. Smythe stürzt in einen Schacht und der Initiator zwingt die Menschen in ein Fluchtshuttle, löst aber seinen Geist aus dem Avatar, als sie ins Schwerefeld des Mondes Botan geraten.
Nach dem Absturz treffen Matt und Aruula auf die Polatai; Molchwesen, die hier für die Initiatoren tätig sind. Die Natur ist krank, Faulzonen breiten sich aus! Der Geist Botans versucht Matt und Aruula zu assimilieren, was Mi-Ruut, der wieder zu ihnen stößt, verhindern kann. Sie finden Xaana in einem Kokon. Ein kranker Proband ist verantwortlich für die Fäulnis. Als sie seine Leiche verbrennen, verbreiten sie mit der Asche den Virus über ganz Botan. In ihrer Not setzen die Initiatoren die auf Terminus festsitzenden Saven ein. Plagmal und Kurzmüh heilen zwar die Seuche, versuchen aber den Geist zu übernehmen – was letztlich misslingt. Botan vereinnahmt die Saven und erlaubt den Gefährten die Rückkehr nach Aquus. Xaana erhält dort ihre Erinnerung zurück. Sie suchen erfolgreich ein legendäres Beiboot der ersten Hydree, mit dem Matt, Aruula und Xaana Aquus verlassen. Kurz nach dem Start melden sich die Initiatoren über Funk und schlagen ein Treffen auf dem Mond Messis vor. Dort erwartet sie eine Delegation aus drei Avataren – die aber von den Kontras von der Leitstelle getrennt werden, bevor der Kontakt zustande kommt. Dafür haben unsere Freunde jetzt ein Problem, denn die Einheimischen glauben, sie hätten die drei ermordet …
Im Auftrag des Mars
von Jana Paradigi
Genau hier wollte sie es versuchen. Dies war die Stelle, an der die Ultraschallmessung deutliche Unregelmäßigkeiten angezeigt hatte. Vielleicht war es nur eine Erdverwerfung, aber Stina Frey folgte bei der Arbeit als Archäologin gern ihrem Bauchgefühl. Und das sagte ihr, dass es etwas zu entdecken gab. Vielleicht eine weitere Wandtafel, möglicherweise ein verschütteter Belüftungsschacht oder gar eine kleine Kammer.
Der Erdpulsator saugte sich an der Wand fest. Die Laderinge begannen zu leuchten. Als sie ein sattes Indigoblau erreicht hatten, drückte Stina den Fernauslöser. Eine dumpfe Vibration erfolgte. Dann brach die Wand auf und offenbarte das Unfassbare …
Die Sonne stand glühend über dem Horizont und tauchte Elysium in orangefarbenes Licht. Chandra Tsuyoshi schloss ihren gefütterten Morgenmantel fester um die Hüften und trat hinaus auf den Balkon. Die Aussicht hoch droben im Spindelturm des Präsidentenpalastes war selbst nach achtzehn Jahren Amtszeit immer noch atemberaubend.
Zu Füßen des Turms breitete sich Elysium aus. Eine Stadt, die immer noch deutliche Spuren der Zerstörung in ihrem einst so strahlend schönen Antlitz trug, egal wie sehr Chandra sich dafür einsetzte, diese zu beseitigen. Erst das Erdbeben und dann der Auftritt dieses kosmischen Monstrums, das in den Bewohnern die dunkle Seite ihrer Seele hervorgebracht hatte. Durch das Intrigenspiel Windtänzers – einst ein Freund, ein Vertrauter, bevor seine Augen die Schwärze seines Geistes annahmen – hatte dieses Land seine Führung verloren und zwei ganz besonderen Kindern ihre Eltern entrissen.1)
Das Überleben in jener Zeit hatte Städtern wie Waldmenschen für immer ihre Unschuld gekostet. Denn unter der Herrschaft des Diktators hatte sich kaum jemand so etwas wie Ethik, Moral oder Selbstachtung leisten können.
Auch Chandra war damals zuweilen gezwungen gewesen, Dinge zu tun, Entscheidungen zu fällen, die noch heute auf ihr lasteten. Niemand war am Ende unbeschadet aus dieser Prüfung hervorgegangen. Nicht einmal die Kinder.
Londo und Nomi waren noch so jung gewesen. Keinem war in den Sinn gekommen, dass sie über mehr als ihr eigenes kleines Leben nachdachten. Dass sie überhaupt fähig sein könnten, ganz alleine solch einen Plan zu fassen und auszuführen. Chandra hatte es sogar verstanden, dass Londo seinen Erzeuger kennenlernen wollte, als der sich offenbart hatte. Doch insgeheim hatte es ihr das Herz zerrissen, Londo ausgerechnet an Windtänzers Seite zu sehen.
Dass dies alles nur dazu gedient hatte, den einen ungeschützten Moment abzupassen, um seinen Vater – den Mörder seiner Eltern und Terrorherrscher über den Mars – zu töten, hatte niemand kommen sehen. Vor allem Windtänzer nicht.
Der Sieg hatte alles verändert. Auch Chandra. Von der Rebellin zur offiziellen Präsidentin aufgestiegen, hatte sie den Plan gehabt, die Welt auf schnellstem Wege zu heilen. Aber manche Wunden gingen einfach zu tief, um sie innerhalb eines Lebens vergessen zu machen. Sowohl die seelischen als auch jene, die das Land selbst davongetragen hatte.
In der Zeit im Untergrund war es gefährlich gewesen, aber andererseits um ganz einfache Dinge gegangen: genug zu essen, ein sicherer, warmer Schlafplatz und den nächsten Kampf überleben, den nächsten Schritt zum Sieg vorwärtskommen. In der Politik war alles komplizierter. Die Schlachten wurden an Konferenztischen oder in den Medien geschlagen, mit Worten statt mit Waffen.
Aber Worte konnten so vieles sein. Wahrhaftige Argumente, Lügen, Schmeicheleien und offene, wie auch versteckte Drohungen. Um weise zu regieren, musste Chandra zwischen den Zeilen lesen können. Sie musste vorausschauend sein, wo andere zu kurzsichtig waren, und Kompromisse eingehen, die am Ende keine Seite befriedigten, aber den Weg für die Zukunft bereiteten.
Sie war es so leid, dass die Marsianer nie zu schätzen wussten, was man für sie tat. So kam es ihr zumindest vor. Erst umjubelt als Heldin und Retterin, maß man sie jetzt nur noch daran, wie schnell sie Bäuche füllen und die Ruinen wiederaufbauen konnte.
Eine Mammutaufgabe – immer noch. Denn bevor Windtänzers Bomben und die marodierenden Banden dem Land zugesetzt hatten, hatte das große Erdbeben von 25222) in allen Städten gewütet. Utopia war immer noch unbewohnbar. Elysium dagegen hatte in den letzten achtzehn Jahren wieder an Glanz gewonnen.
Doch egal, welche Erfolge Chandra erzielte, es gab immer jemanden, dem es zu langsam ging oder der die Prioritäten anprangerte, wenn sie nicht den seinen entsprachen. Erst vereinzelte Stimmen, hatten sie sich mittlerweile zusammengerottet und organisiert. Die Jungen Starken nannten sie sich. Eine Partei, die hoch hinauswollte. Hervorgegangen war sie aus der verbotenen Partei ProMars, was man aber bei jeder Gelegenheit vehement leugnete.
Unverfroren forderten die Rädelsführer in ihren Ansprachen mehr Rechte für die Bürger und zu allererst das Recht, frei wählen zu dürfen. Ein Unding, denn der Präsidentschaftsposten wurde seit jeher von Chandra Tsuyoshis Familie gestellt – eine Tradition, die vom Rat der fünf Häuser schon immer als gegeben hingenommen und ganz offiziell anerkannt wurde.
Chandra hatte darauf gebaut, dass die Leute aus der Vergangenheit lernen würden und den wiedergewonnenen Frieden besser zu schätzen wüssten. Doch eine neue Generation an Städtern und Waldmenschen war herangewachsen. Eine Generation, die all das Leid nur mehr aus Erzählungen kannte. Der Rest der Bevölkerung schien des Kämpfens genauso müde zu sein wie sie selbst. Vielleicht brauchte es tatsächlich einen Führungswechsel. Aber einen, den Chandra bestimmen und kontrollieren konnte. Nur wie? Wer?
Fragen, die ihr den Schlaf geraubt hatten, bis ihr die offensichtliche Lösung eingefallen war: Nomi. Sie war die perfekte Nachfolgerin. Denn sie war nicht nur ihre Ziehtochter, sondern auch ihre Nichte zweiten Grades. Nomi Marlyn Tsuyoshi würde die Ahnenreihe in diesem Amt fortführen können, obwohl Chandra selbst keine Kinder hervorgebracht hatte. Mit wem auch? Die Präsidentin des Mars verzog zynisch den Mund und ging zurück in ihre Privaträume.
Noch in der Nacht hatte sie veranlasst, dass Nomi am Morgen von einem Regierungsgleiter für ein gemeinsames Frühstück abgeholt werden würde. Als Frühaufsteherin blieb ihr noch knapp einer Stunde. Genug Zeit, um sich angemessen herzurichten und ein paar weiter Puzzlestücke für ihren großen Plan auf dem politischen Spielbrett in Position zu bringen.
Pünktlich um neun Uhr klopfte es. Die Tür glitt auf und Nomi kam herein. Aus dem kleinen Mädchen von einst war eine geradezu überirdisch schöne Frau geworden. Ihre blasse, zart pigmentierte Haut ließ ihre großen dunklen Augen nur noch hypnotischer wirken. Die tiefschwarzen Haare trug sie streng zurückgenommen und zu einem Odango – einem runden Knoten – gesteckt. Nur der Mund zeichnete sich als vergleichsweise unscheinbarer Strich ab.
Chandra hatte ihr schon mehrfach geraten, sich die Lippen zu schminken und sich etwas verspielter zu kleiden, doch Nomi war mit dem Älterwerden nicht nur immer hübscher, sondern leider auch immer verschlossener geworden. Die Fröhlichkeit und das kindliche Ungestüm mochten sich noch irgendwo hinter der Fassade aus Intelligenz und Tüchtigkeit verstecken. Doch selbst in privater Runde vermisste Chandra ihr unbeschwertes Lachen.
„Ich hoffe, es waren gute Träume, die dich in der Nacht geweckt haben und dich an mich denken ließen“, sagte Nomi, während sie Chandra sacht umarmte und ihre Wange zum Gruß gegen die ihrer Ziehmutter drückte.
„Dann hat Herold also gepetzt, dass mein Auftrag mitten in der Nacht kam“, gab Chandra mit einem Schmunzeln zurück und lud sie mit einer Handbewegung ein, am Tisch vor der Balkontür Platz zu nehmen. „Seit nunmehr zwei Dekaden ignoriert mein treuer Assistent geflissentlich jedwede Protokollvorschrift, wenn es um dich und Londo geht. Er hätte einen Fahrer schicken sollen. So klingt es, als hätte ich ihn mal wieder für meine Privatangelegenheiten zu meinem persönlichen Laufburschen und Chauffeur herabgestuft.“
„Es geht um etwas Privates?“, hakte Nomi nach, während sie den Stoff ihres Hakama-Hosenrocks zurechtstrich und sich setzte. Hakama und hüftlanger Kimono waren sehr traditionelle Kleidungsstücke, auch wenn sie heutzutage aus moderner, anschmiegsamer Spinnenseide gefertigt wurden. Nicht gerade das, was man üblicherweise für ein lockeres Familientreffen wählte. Ahnte Nomi, welche Chandra hatte? Es wäre nicht das erste Mal, dass sie und ihr Bruder mit mentalen Fähigkeiten überraschten, die man sonst nur aus Erzählungen über die Waldmenschen kannte.
Chandra reichte ihr die Schale mit Brot. „Es geht um dich und deine Zukunft, Nomi.“
„Ich sehne mich nicht nach einer eigenen Familie, wenn es das ist, was du mir sagen willst“, entgegnete die junge Frau, während sie sich eine Brotscheibe nahm.
„Als deine Ziehmutter wünsche ich mir zwar, dass du das Glück der Liebe findest, statt mir in diesen Dingen nachzueifern, aber ruhelose Nächste verschafft es mir dann doch nicht.“ Chandra lächelte. „Deine Arbeit im Integrationszentrum ist löblich, aber sie bringt dich beruflich aufs Abstellgleis.“
„Ich brauche keine Karriere.“
„Du bist schon durch deinen Namen für mehr auserkoren als das. Du bist eine Tsuyoshi. Wir sind nicht nur Marsianer, wir führen sie an. Wir tragen die Verantwortung dafür, die Geschicke zum Guten zu wenden.“
Nomi stierte auf ihren Teller. Das gab Chandra die Gelegenheit, in Ruhe vorzutragen, was sie bereits beschlossen hatte.
„Es war eine kluge Entscheidung, dich so volksnah zu geben. Du hast zusammen mit Londo viel erreicht, um das Verhältnis zwischen Städtern und Waldmenschen zu verbessern und mehr Verständnis füreinander zu schaffen. Aber jetzt ist es Zeit, den nächsten Schritt zu gehen, Nomi. Du wirst Präsidentin sein.“
Chandra redete nicht gerne um den heißen Brei herum. Sie brachte die Dinge lieber gleich auf den Tisch. Die Reaktionen, die sie auf diese Weise provozierte, waren authentischer, ehrlicher und weniger kontrollierbar.
Nomi hätte aufbegehren können, stattdessen zuckte sie zusammen, als hätte Chandra ihr eine Peitschenschnur über den Rücken gezogen. Chandra schluckte, aber so leicht gab sie nicht auf. Sie hatte mit ihrer Redekunst dem Rat bereits viele schier unmögliche Entscheidungen nach ihrem Willen abgerungen.
„Die Menschen hören dir zu“, fuhr sie fort. „Viele vertrauen dir und deinem Wort. Du stehst für die neue Generation. Ich dagegen erinnere die Leute an das Alte, an alles, was kaputt und zerstört ist und mühsam wiederaufgebaut werden muss.“ Chandra goss Nomi Tee ein und stellte den Sirup-Spender in Griffweite. „Du weißt wahrscheinlich besser als ich, wie es um die Stimmung in der Stadt und in den Wäldern bestellt ist. Die Bevölkerung begehrt auf. Sie wollen Veränderung. Und ich will mich da auch gar nicht sträuben. Aber man kann die Führung des Landes doch nicht in die Hände von irgendwelchen dahergelaufenen Parolen-Klopfern legen!“
Nomi hob den Kopf und sah Chandra ernst entgegen. „Jeder hat das Recht, seine Meinung öffentlich auszusprechen.“
So gefällst du mir schon besser, dachte Chandra und nickte. „Ich sage ja auch nicht, dass alles falsch ist, was diese Jungen Starken fordern. Aber um die Geschicke einer ganzen Welt zu lenken, bedarf es mehr als dem. Dinge, die dir von Anfang an mit in die Wiege gelegt wurden.“
„Ich kann mich in dieser Rolle nicht sehen“, erwiderte Nomi. „Ich bin keine Präsidentin.“ Sie war verschlossen, aber kein ängstliches Küken. Wenn es drauf ankam, konnte sie ihre Meinung durchaus vertreten. Etwas, das für so ein Amt dringend erforderlich war.
„Du kannst dich darin nicht sehen, weil du noch gar nicht weißt, was an Aufgaben und Herausforderungen dazugehört.“ Chandra nippte einmal mehr vorsichtig an ihrem Tee und sammelte sich, um den nächsten Satz bestimmt, aber nicht zu herrisch klingen zu lassen. „Damit sich das ändert, habe ich beschlossen, dass du mich von nun an zu allen wichtigen Terminen begleitest.“
Nomi wollte aufbegehren, doch Chandra hob die Hand. „Ah, ich weiß. Das Integrationszentrum braucht dich. Das mag sein. Und dafür wird es auch weiterhin Zeit genug geben. Aber hier geht es um die Nöte und Bedürfnisse aller Marsianer, Städter wie Waldmenschen. Das ist deine Chance, Einfluss zu nehmen auf die Geschicke dieser Welt! Londo wird vorerst alleine klarkommen. Du dagegen begleitest mich heute zur Tunnelfeldanlage, um die aktuellen Fortschritte des Ausgrabungsprojekts zu sichten.“ Sie hatte es ganz bewusst nicht als Bitte formuliert, aber auch nicht als Befehl. Vielmehr als eine zwingende Tatsache.
Nomi strich den Sirup auf dem Brot sorgsam glatt, gerade so, als wäre es ein Meditationsritual. Chandra dagegen hatte das Gefühl, auf glühendem Vulkanstein zu hocken. Würde ihre Ziehtochter sich fügen? Oder würde sie ihr das Brot gleich voller Trotz ins Gesicht werfen?
„Ein Ausflug kann ja nichts schaden, wenn es dir so wichtig ist“, sagte Nomi schließlich und begann zu essen.
Die Präsidentin atmete auf und lächelte erleichtert. „Ich wusste, dass du zu einer wirklich klugen Frau herangewachsen bist. Ich bin so stolz auf dich.“
„Du verkünstelt dich zu sehr bei der Übersetzung. Nicht jedes Symbol oder Zeichen hat eine zweite verborgene Bedeutung. Wir sind hier schließlich nicht auf Schatzsuche!“ Kendoro Frey schüttelte missbilligend den Kopf, während er die Textzeilen auf dem Tableau mit der Inschrift auf der Wandtafel verglich.
Nachtstimme schien die Arbeit als Linguist immer wieder mit der eines Poeten zu verwechseln. Aber im archäologischen Bereich musste man sich auf die reinen Fakten beschränken, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, um aus Wahrheit nicht durch Beimengung eigener Interpretation fantastische Geschichten zu machen.
Diese Disziplin konnte man von einem Waldmenschen, wie Nachtstimme einer war, offenbar nicht erwarten – Marsianer, die sich einbildeten, mit Bäumen oder Tieren sprechen zu können. Und jetzt offenbar auch noch mit alten Steinen.
Kendoro seufzte und gab Nachtstimme die Abschrift zurück. „Mach es noch einmal. Und diesmal wirst du einfach nur Wort für Wort übersetzen. Verstanden?“
Der hochgewachsene Mann ergriff das Aufzeichnungsgerät und nickte auf eine Art, die eher Hohn als demütige Einsicht ausdrückte. Eigensinnig war er. Von Anfang an einer, der aneckte allein durch seine Präsenz. Aber es lag nicht in Kendoros Hand, die Anstellung zu beenden. Seine Frau Stina Frey war die Leiterin des Projekts. Sie empfand die Arbeit des Zweiten Linguisten, wie sie gerne betonte, als außerordentlich hilfreich. Vielleicht auch nur, um Kendoro selbst zu Höchstleistungen anzuspornen oder weil sie der Präsidentin einen Gefallen tun wollte, indem sie einen Waldmenschen beschäftigte.
Von diesen Prestigedingen abgesehen war es wichtig, dass sie bei ihren archäologischen Ausgrabungen Ergebnisse erzielten. Das schärfte ihnen Chandra Tsuyoshi bei jedem ihrer Besuche ein. Die Arbeit in der Tunnelfeldanlage stand in der aktuellen politischen Diskussion ganz vorne mit am Pranger – so wie alles, was mit dem Erbe der Hydree zu tun hatte.
Kendoro verstand nicht, warum man etwas verteufelte, das so viele großartige Möglichkeiten bot. Theoretisch. Denn auch wenn die Technik des Alten Volkes so unglaublich viel fortschrittlicher war als alles, was die Marsianer selbst hervorbrachten, hatten die neueren Funde – so unglaublich sie auch waren – bisher leider keinen wirklichen Nutzen erbracht.
Natürlich war der Mars und alles, was darauf lebte, im Grunde abhängig von der kristallinen Fusionsmodulationsplattform im Herzstück der Anlage. Die bionetischen Maschinenblöcke produzierten lebenswichtigen Sauerstoff. Dazu kam die überreiche Energieversorgung, die vom Marskern selbst gespeist wurde. Doch solche Dinge wurden in den medialen Politshows einfach als nichtig vom Tisch gewischt.
Iwao – das strahlende Werbegesicht der Jungen Starken – redete lieber über den Zeitstrahl und seine Zerstörungskraft. Bloße Angstmacherei! Die Probleme von einst waren Vergangenheit. Dank der Förderung durch Chandra Tsuyoshi konnten sie die Hydree-Sprache mittlerweile beinahe fließend lesen.
Es war ihnen möglich, die Justierung des Strahls über die Tastfelder genauer denn je vorzunehmen. Sowohl die zeitliche Differenz bis zur Ankunft konnte damit auf ein Minimum von wenigen Stunden reduziert, als auch der Ort der Landung deutlich genauer positioniert werden. Ein gewaltiger Fortschritt und Erfolg in marsianischen Linguistenkreisen. Allerdings eben ohne Nutzen. Denn so etwas wie Reiseverkehr zwischen den Welten gab es nicht und würde es wohl auch nicht mehr geben.
Die Lebensumstände auf dem Blauen Planeten waren laut Medienberichten mehr als feindselig, schon weil die Bevölkerung durch kosmische Einflüsse auf eine barbarische Entwicklungsstufe zurückgefallen war.