Mademoiselle Oppenheim – Sie liebte das Leben und erfand die moderne Kunst - Mina König - E-Book
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Mademoiselle Oppenheim – Sie liebte das Leben und erfand die moderne Kunst E-Book

Mina König

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Beschreibung

Das schillernde Leben von Meret Oppenheim: Künstlerin, Freigeist, Liebende

Paris, 1933: Die junge deutsch-schweizer Künstlerin Meret Oppenheim genießt das unbeschwerte Leben inmitten der Pariser Bohème. Zu ihren engsten Freunden zählen die Surrealisten Pablo Picasso, Joan Miró, Alberto Giacometti und André Breton. Als sie sich in den Maler Max Ernst verliebt, nimmt eine stürmische Affäre ihren Lauf. Doch Meret möchte nicht nur seine Muse sein. Sie will ihren eigenen Weg gehen und träumt vom großen Durchbruch. Sie experimentiert mit Alltagsgegenständen, mit denen sie erste Erfolge feiert, entwirft Mode und Schmuck. Immer wieder muss sie gegen die strengen Regeln der Gesellschaft ankämpfen. Und während in Europa dunkle Schatten aufziehen, die auch Merets Familie bedrohen, sucht die freiheitsliebende Künstlerin nach einem Weg, die Liebe und die Kunst in Einklang zu bringen.

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Seitenzahl: 582

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Das Buch

Auf Konventionen hat Meret Oppenheim noch nie viel gegeben. Mit achtzehn zog die Deutsch-Schweizerin nach Paris, um ihrer großen Leidenschaft, der Kunst, nachzugehen. Die Inspiration für ihre ungewöhnlichen Werke findet sie wenige Jahre später allerdings nicht mehr an der Kunsthochschule. In den Straßen der pulsierenden Metropole kommen ihr die besten Ideen. Bewundert und umschwärmt von den aufstrebenden Surrealisten um Pablo Picasso, Joan Miró und André Breton, mangelt es der androgynen Schönheit nicht an Verehrern. Doch erst als Meret dem gefeierten Max Ernst gegenübersteht, spürt sie in sich ein Feuer, das sie bisher nicht kannte. Aber sieht der Maler in ihr auch die Künstlerin, oder nur die Geliebte? Muss sie erst aus seinem Schatten hervortreten, um ihr wahres Glück zu finden?

Die Autorin

Mina König ist das Pseudonym der österreichischen Autorin und Journalistin Emily Walton, die sich intensiv mit den Biografien bedeutender Frauen in der Geschichte beschäftigt. Als sie bei Recherchen auf Fotoaufnahmen von Meret Oppenheim aus den Dreißigerjahren und persönliche Briefe aus dem Nachlass der Künstlerin stieß, ließ sie das faszinierende Leben dieser außergewöhnlichen Frau nicht mehr los, und die Idee zu ihrem Roman war geboren. Mit ihrer Familie lebt sie im Süden von Wien.

MINA KÖNIG

Mademoiselle Oppenheim

SIE LIEBTE DAS LEBEN UND ERFAND DIE MODERNE KUNST

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Entstehung dieses Werks wurde unterstützt durch ein Stipendium der Abteilung Kunst und Kultur Niederösterreich.

Originalausgabe 08/2022 

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Katja Bendels

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung von Shutterstock.com (Maksim Shirkov, Sofya Goncharuk, surajet.I, Prostock-studio, Viktoriia Hnatiuk, nikolay_artjuhoff, axeeali 47)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27529-7V001

www.heyne.de

Für Benjamin

Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen.

MERET OPPENHEIM

1

1933

Die Ledertasche an der Schulter baumelnd, die Samtpumps in der Hand und die Strümpfe ums Handgelenk gebunden, schlenderte Meret den Quai neben der Seine entlang. Es war ein freundlicher Nachmittag im Spätfrühling, und die Pflastersteine unter ihren Füßen waren schon warm. Meret liebte es, den rauen Boden unter den Fußsohlen zu spüren und alle paar Schritte auch die kitzelnden Blätter eines Löwenzahns. Die missbilligenden Blicke anderer Passanten, weil sie hier mitten in Paris ohne Schuhe und Strümpfe spazieren ging, konnten ihre Freude nicht trüben. Die anderen waren selbst schuld, wenn sie sich dieses sinnliche Erlebnis entgehen ließen.

Meret lehnte sich an die Schatten spendende Mauer, um den Ausblick aufzusaugen.

Breit und majestätisch bahnte sich die grüngraue Seine, die Lebensader von Paris, ihren Weg durch die Stadt. Der Fluss faszinierte Meret jeden Tag wieder aufs Neue, auch wenn sie nun schon seit einem Jahr in der Stadt war. Sie wünschte, sie könnte hineinspringen und sich auf dem Rücken liegend bis zum Ärmelkanal treiben lassen.

Drei Schiffe, beladen mit Fässern und prall gefüllten Jutesäcken, zogen vorbei, gefolgt von einem Fahrgastschiff. Einige Passagiere in schicker Sonntagskleidung hoben ihren Hut zum Gruß, bevor sie hinter dem Pont Neuf verschwanden.

Meret atmete tief ein. Sie hatte schlecht geschlafen und fühlte sich müde, doch ein Spaziergang durch Paris wirkte besser als der stärkste Kaffee. Sie streckte sich genüsslich und ließ die Arme in einem großen Kreis nach unten wandern, als könnte sie so ganz Paris ergreifen. Ihr Magen knurrte. Meret blickte auf ihre schmale Armbanduhr. Es war bereits kurz vor zwei, und sie hatte noch nichts zu Mittag gegessen. Eine gute Zeit, um ins Café de Flore zu gehen. Vielleicht waren ein paar ihrer Freunde ja auch schon dort.

Sie schlüpfte in ihre Pumps und schlenderte durch die engen Gassen des Quartier Latin, die ihr schon längst nicht mehr wie ein Labyrinth erschienen. Sie wusste, wo verwinkelte Pfade plötzlich in einem Innenhof endeten und durch welche Hausdurchgänge man hindurchschlüpfen konnte, um den Weg abzukürzen. Je näher sie dem Boulevard Saint Germain kam, desto lauter wurde die Umgebung. Automobile mit brummenden Motoren rasten vorbei, Busfahrer hupten ungeduldig, Polizisten auf Pferden ritten am Straßenrand entlang. Und in all dem Wirbel sang an der Straßenecke ein stoischer Leierkastenspieler ein melancholisches Chanson.

Vor dem Café de Flore waren die Tische mit ihren Flechtstühlen in Reih und Glied aufgestellt. Ein paar wenige Gäste tranken draußen Kaffee, lasen Zeitung oder nippten einen frühen Pastis. Jemand hatte eine Zeitung auf einem der Tische zurückgelassen. Meret schlug sie auf, um kurz nach den Tagesgeschehnissen zu sehen. Vielleicht stand dort auch etwas über ihre Heimat Deutschland. Doch bevor sie zu lesen beginnen konnte, landete ein großer Tropfen mitten auf dem Papier. Gleich darauf fielen weitere auf den polierten Marmortisch und in den Aschenbecher. Rätselnd blickte Meret nach oben. Der Himmel war wolkenlos und klar. Da vernahm sie lautes Männerlachen. Sie wandte sich um und blickte an der Hausfassade hinauf, vorbei am geschwungenen Schriftzug Café de Flore und an den dicht bepflanzten Blumentrögen. Kam das Lachen von den Kastenfenstern darüber? Ehe sie genauer hinsehen konnte, platschte ein weiterer Tropfen hinab – mitten auf ihre Stirn.

Sie wischte ihn mit dem Handrücken weg und schüttelte verärgert die Hand aus.

»Pardon, Sie da oben! Passen Sie gefälligst auf beim Blumengießen!«, rief sie. Aus dem Augenwinkel bemerkte Meret, wie eine Dame ein paar Tische weiter den Kopf schüttelte und verärgert etwas vor sich hin murmelte. Doch Meret war es egal, dass es sich nicht für eine junge Frau gehörte, auf offener Straße zu rufen. In ihrer Welt gehörte es sich, für das Rechte zu sorgen.

»Spiegelei auf der Stirn!«, hörte sie nun eine Stimme von oben und erkannte sie sofort. Es war ihr Freund Alberto Giacometti.

»Alberto? Was machst du dort oben?«

»Wasserkopfnuss!«, kam als Antwort zurück, diesmal war es ihr Kumpel Hans Arp.

Die beiden Männer lehnten sich nun ein Stück nach vorne. Mit dem Kinn in den Pelargonien sahen sie aus wie zwei Schelme mit falsch aufgesetzten Blumenkränzen. Meret würde sich dieses Bild merken müssen, vielleicht konnte sie eine Zeichnung daraus machen.

»Wir experimentieren mit Wasser, Meret! Welche Figuren siehst du in den aufprallenden Tropfen?«, rief Hans.

»Ich sehe eine durstige Frau, die mit ihren Freunden eine kühle Karaffe Weißwein teilen will.« Meret machte mit dem Arm eine prostende Geste, was die nörgelnde Dame nur noch mehr zu verärgern schien.

»Kommt ihr runter, Jungs?«

Obwohl ihre Freunde um die vierzig Jahre alt und somit gute fünfzehn bis zwanzig Jahre älter waren als sie, konnte Meret nicht anders, als sie ihre »Jungs« zu nennen.

»Un instant. Einen Moment, dann kommen wir!«, rief Alberto, bevor die beiden Männer mit ihren Gabeln und Wassergläsern ein letztes Mal so kräftig aus dem Fenster spritzten, dass ein Passant tatsächlich nach seinem Regenschirm griff.

Während Meret wartete, prüfte sie ihre Erscheinung in der Fensterscheibe des Cafés. Ihr dunkelgrünes Kleid mit dem breiten, beige-schwarzen V-Kragen und den Volants am Rocksaum lag eng an ihrer Taille an. Sie liebte dieses Kleid, das sie in ihren ersten Tagen in Paris erstanden hatte. Es gefiel ihr, wie die schmalen langen Ärmel sich an ihre Haut schmiegten. Sie posierte kurz mit dem einen Arm um die Taille und dem anderen über dem Kopf. Eine Idee für ein Bild einer Serpentinenfrau kam ihr in den Sinn.

Meret zog einen Taschenspiegel aus ihrer Handtasche und lockerte mit den Fingerspitzen ihr kurzes Haar am Hinterkopf auf. Die vordersten Strähnen schob sie hinter das Ohr zurück. Manche waren zu kurz und rutschten wieder hervor. Ihr neuer Lippenstift, den ihre Freundin Georgette ihr unlängst geschenkt hatte, hielt gut; die Lippen waren matt und dunkelrot und grenzten sich scharf von ihrer blassen Haut ab, so wie es Meret gefiel. Sie strich sich gerade mit dem Ringfinger über ihre Augenbraue, als Alberto sie aus ihren Gedanken riss.

»Hinein mit dir, Meretlein, wir wollen doch nicht, dass du hier verdurstest!« Alberto legte ihr zur Begrüßung den Arm um die Schulter.

Meretlein. Hier in Paris durfte nur Alberto sie so nennen. Bei allen anderen stellten sich ihr schon die Haare im Nacken auf, wenn sie nur ihren Namen aussprachen. Mürét. Mährett. Alberto aber gelang mit seinem Schweizer Dialekt die exakte Balance aus stimmhaften und stimmlosen Lauten. Er rollte das R so, wie es nur die Schweizer konnten, und schaffte es, die Verniedlichung am Schluss ganz selbstverständlich klingen zu lassen. Bei ihm wirkte es nicht so, als riefe er nach einem fünfjährigen Kind, sondern tatsächlich nach einer erwachsenen Frau Anfang zwanzig.

»Husch, husch.« Alberto hielt ihr die Tür auf. Im Herzen war er eben ein wahrer Gentleman, wenngleich sein struppiges Aussehen – der dichte Haarschopf, die buschigen Augenbrauen und die dunklen Augen – das nicht vermuten ließ.

»Merci.« Meret bedankte sich mit einem Knicks und sah sich nach Hans Arp um, der allerdings verschwunden zu sein schien.

»Musste noch Tabak besorgen«, erklärte Alberto. »Mir soll’s recht sein, dann hab ich dich ganz für mich.«

»Alberto, du alter Charmeur.« Meret boxte ihn leicht in die Rippen und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihr das Herz brach, dass sie ihrem Freund nie würde geben können, was er wirklich wollte. Denn obwohl er es ihr gegenüber noch nie offen gestanden hatte, spürte sie, dass er in sie verliebt war.

Im Café de Flore war es stickig, und Zigarettendunst lag über den grünen Marmortischchen mit ihren golden eingefassten Rändern. Unter den Fenstern und weiter hinten im Raum hatten die Tische gepolsterte Sitzbänke, dazwischen reihten sich Bugholzstühle und mit Mänteln und Zeitungen behangene Kleiderständer. Es roch nach Kaffee und Bouillon. In Meret löste dieses wohlig warme Umfeld jedes Mal ein Gefühl von Geborgenheit aus. Sie war froh, dass ihre Freunde sich neuerdings hier im Café de Flore trafen und nicht mehr im Café Cyrano am Montmartre. Nicht nur, dass das Flore näher an ihrem neuen Atelier hier am linken Seineufer lag, es war auch keine ganz so wilde Kneipe wie das Cyrano, in dem sie sich um klebrige Tische gedrängt hatten, während im Hintergrund Prostituierte mit ihren Zuhältern stritten. Aber André hatte das Café damals gemocht – und André Breton gab unter ihren Freunden nun mal den Ton an.

Das Café de Flore war wärmer und sauberer, und der dickbäuchige Kellner Pierre und sein Kollege Jean waren Meret schon richtig ans Herz gewachsen. Anfangs hatte Pierre noch jedem von ihnen die Tür aufgehalten, um sie mit einem höflichen »Bonjour, mesdames et messieurs« zu begrüßen. Inzwischen hatte er es aufgegeben. Die Künstler waren ein sprunghaftes, aufgeregtes Völkchen, sie kamen und gingen und konnten keine zwei Tassen Kaffee lang sitzen bleiben. »Als hättet ihr Flöhe in eurer Unterwäsche«, brummte Pierre, wenn das Treiben zu rege wurde. Und natürlich hatten die Jungs die Sache mit den Flöhen sofort aufgegriffen. Yves Tanguy hatte eine vollbusige Frau in einem verschnörkelten Dessous auf eine Serviette skizziert, aus deren Schambehaarung die Insekten krochen, und André hatte versucht, die Wörter »Als hättet ihr Flöhe in eurer Unterwäsche« so anzuordnen, dass sie auf dem Papier wie ein Insekt aussahen.

»Bonjour, Monsieur Giacometti etbienvenue, Mademoiselle Oppenheim! Zu lange nicht mehr gesehen«, begrüßte Pierre sie wie eine verschollene Freundin, obwohl sie dem Café nur fünf Tage ferngeblieben war. Kopfschmerzen hatten sie geplagt und ein Bild, das ihr nicht hatte gelingen wollen.

»Salut, Pierre. Schön, Sie zu sehen«, erwiderte sie und lächelte ihm zu.

»Allez-y, nur zu! Der Tisch ist frei!« Pierre deutete nach hinten ins Café.

Alberto und Meret gingen an ein paar Gästen vorbei, die über dem Mittagsgericht von pochiertem Ei mit Spargel saßen. Meret nickte einer älteren Dame zu, die ihr vor einiger Zeit einen Café crème und ein Croissant ausgegeben hatte, als sie ihr Portemonnaie verloren hatte. Es war kurz nach Irènes Abreise gewesen, und sie hatte sich einen Moment lang seltsam allein in dieser großen Metropole gefühlt. Ihre Freundin war vor ein paar Monaten in die Schweiz zurückgekehrt, um sich um ihre erkrankte Mutter zu kümmern. Sie hatte vor dortzubleiben.

Ein paar Tische weiter erkannte Meret Marcel Duchamp. Seine hagere Statur und sein definiertes Profil mit der kerzengeraden Nase waren unverkennbar.

»Mund zu, Meret, sonst kommen die Fliegen«, sagte Alberto und stieß sie sanft voran.

Erst jetzt bemerkte Meret, dass sie stehen geblieben war.

»Was ist los? Plötzliche Eingebung? Geistesblitz?«, zischte Alberto.

»In manchen Momenten kann ich es immer noch nicht fassen, dass Marcel Duchamp hier ist«, flüsterte sie. »Weißt du eigentlich, wie sehr seine Arbeit mich in meiner Jugend inspiriert hat?«

»Weil er ein simples Pissoir zu einem Kunststück erklärt hat?« Alberto presste ein herablassendes Zischen zwischen den Zähnen hervor.

»Alberto, jeder Künstler weiß, dass es mehr ist als nur ein Urinal auf einem Sockel. Monsieur Duchamp hat es als Erster gewagt zu sagen: ›Leute, seht her, Kunst liegt nicht in den Pinselstrichen! Sie liegt allein schon in der Idee, in der Auswahl eines Gegenstands durch den Künstler!‹ Ist das nicht genial?«

»Ansichtssache«, grummelte Alberto. »Dieser Tage scheint ihn ohnehin nur noch das Schachspiel zu interessieren.«

Meret biss sich auf die Lippen, um ihren Freund nicht weiter zu verärgern. Und er hatte recht, wie so oft saß Marcel Duchamp auch heute wieder über ein Schachbrett gebeugt, völlig vertieft mit einer nachdenklichen Furche auf der Stirn. Meret gefielen Lebensfalten wie diese ungemein, doch sie versuchte, nicht hinzustarren. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich Marcel Duchamp persönlich vorzustellen, und wollte nicht, dass er ausgerechnet durch ihr Starren auf sie aufmerksam wurde. Es wunderte sie, dass Duchamp immer allein saß. Noch nie hatte sie ihn mit ihren Künstlerfreunden an einem Tisch gesehen. Alberto nickte kurz zu ihm hinüber, schenkte ihm ansonsten aber keine weitere Beachtung. Es schien ihm nicht einmal aufzufallen, dass der Franzose, anders als sonst, heute in Begleitung war. Meret blickte auf den breiten Rücken in einem schneeweißen Hemd, der ihm gegenübersaß. Darüber wellte sich ein schwarzer Haarschopf. Beide Männer waren in ihr Spiel vertieft.

»Mit wem ist Duchamp hier?«, flüsterte sie Alberto zu. Aber der wollte sie nicht hören und steuerte weiter auf ihren Tisch zu.

Der Tisch der Surrealisten bot Platz für sechs Personen, doch an den meisten Abenden drängten sich allein sechs Leute auf die Lederbank, und weitere Stühle wurden unter lautem Gepolter herangezogen. Heute Nachmittag allerdings waren Meret und Alberto die Ersten.

»Ist ja quasi noch mitten in der Nacht«, stöhnte Alberto, als er sich auf die Lederbank fallen ließ. Meret blickte auf die holzeingefasste Uhr mit den römischen Ziffern über dem Tresen. Es war kurz vor drei. Obwohl sie schon seit einem Jahr in Paris und seit fast acht Monaten mit diesen Künstlern befreundet war, musste sie sich erst daran gewöhnen, dass die meisten ihrer Kumpels die Nacht zum Tag machten – und selten vor der Mittagszeit aufstanden. Ihr selbst fiel es schwer, sich diesem Rhythmus anzupassen. Wenn sie frühmorgens das frühlingshafte Zwitschern der Vögel vor ihrem Fenster und das Knattern von Milch- und Müllwagen unten auf der Avenue de Châtillon hörte, konnte sie sich nicht länger im Bett halten.

Kaum hatten Alberto und Meret sich hingesetzt, wedelte Pierre schon mit einem kleinen Tischbesen über den Tisch, obwohl dieser ohnehin poliert und krümelfrei war.

»Draußen regnet es wie eine pissende Kuh!«, schnaubte er. »Haben Sie Hunger? Ich kann in der Küche fragen, ob es noch das Tagesgericht gibt. Aber Sie wollen Ihr knappes Geld bestimmt nicht für das bisschen Ei und Spargel ausgeben, oder? Es sind noch Croissants vom Vortag da, die können Sie für lau haben. Café crème dazu?«

Sie konnten gerade noch nicken, bevor Pierre hastig davoneilte.

»Dann trinken wir den Wein eben später«, erklärte Meret. Alberto krempelte die von den Wasserspielereien feucht gewordenen Ärmel seines Hemds auf.

»Willst du mir zeigen, was du im Moment so machst?«, fragte er und klopfte auf Merets Schultertasche, die zwischen ihnen lag.

»Ach, bloß Spielereien. Nichts Besonderes dabei«, antwortete sie und zog Großhüssis Tasche beschützend auf ihren Schoß. Nach wie vor fiel es ihr schwer, ihre Skizzen vor einem anderen Künstler auszubreiten, obwohl Alberto längst zu ihren besten Freunden zählte. Er war ein fairer Kritiker ohne jegliche Allüren. Manches Mal war er mit seinen Urteilen sogar ein wenig zu mild.

»Sag bloß, du gehst noch immer zu den Kursen an der Grande Chaumière?«, fragte Alberto und runzelte die Stirn, als sie pflichtbewusst nickte.

Meret hatte sich im Herbst an den offenen Kursen der Kunstakademie in Montparnasse eingeschrieben. Als sie am Tag der Immatrikulation die schwarze Eisenpforte durchschritten und die Treppen hinauf ins Sekretariat erklommen hatte, ahnte sie bereits, dass diese schulische Herangehensweise an der Akademie ihr die Lust an der Kunst nehmen könnte. Und dennoch hatte sie den Anmeldebogen unterschrieben, ihren Eltern zuliebe.

»Bitte, Meret, gib Pipsli das Gefühl, dass du es ernst mit der Kunst meinst«, hatte ihre Mutter flehend geschrieben und im nächsten Absatz von der Migräne und den Stimmungsschwankungen des Vaters berichtet, die ihn seit Merets Abreise plagten.

Doch Meret langweilte sich im Unterricht. Wenigstens hatte sie an der Grande Chaumière ihre Freundin Georgette kennengelernt.

»Diese Schule ist Zeitverschwendung, Meretlein.« Alberto tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Die wahre Kunst kommt von hier drinnen. Nicht aus einem Lehrbuch oder von einem Lehrmeister. Wir müssen einfach die Rationalität ausschalten und der Kunst freien Lauf lassen.«

Die Vernunft ausschalten und das Unterbewusstsein walten lassen. Meret wusste, dass das das Motto ihrer Surrealisten-Freunde war. Und ganz genau daran glaubte sie auch. Deswegen fühlte sie sich hier unter ihren Freunden im Café de Flore so gut aufgehoben. Aber ihre Eltern brauchten etwas, woran sie sich klammern konnten, wenn es um die Zukunft ihrer ältesten Tochter ging – und wenn es nur die Rechnung einer Pariser Kunstakademie war.

Unter lautem Scheppern stellte Pierre Kaffees und Croissants auf dem Tisch ab. Alberto nahm einen gierigen Bissen vom Hörnchen. Blätterteig bröselte auf die Tischplatte. Er tunkte nachdenklich seinen Löffel in die Creme auf seinem Kaffee und tupfte dann die beigefarbene Substanz auf ein Blatt Papier. Meret wusste, dass es eine Aufforderung war, auch ihr Besteck einzutauchen und ein gemeinsames Spontankunstwerk zu schaffen.

Gerade als sie ihren Löffel in den Schaum steckte, um die Spielerei zu ergänzen, ging die Tür auf. André Breton stand im Eingang. Schon von der Ferne erkannte sie, dass er noch ganz verschlafen war. Sein schmales Gesicht war fahl, und die braunen Augen waren von dunklen Ringen umrahmt. Mit einer selbstbewussten Lässigkeit schlenderte er durch das Lokal, hob die Hand in Richtung der Kellner und rief: »Comme toujours! Wie jeden Tag!« Er ließ sich wie immer auf den Stuhl am Kopfende ihres Tisches fallen, die Beine übereinandergeschlagen und von sich gestreckt. Dieser Platz war allein für ihn bestimmt. Selbst wenn André nicht in der Stadt war, traute sich niemand, sich exakt an die Spitze des Tisches zu setzen, sondern immer nur in einem leicht abweichenden Winkel, als wagte keiner, dem Anführer der Gruppe – dem Begründer des Surrealismus – seinen Rang streitig zu machen. Meret fand dieses Benehmen ein wenig unsinnig. Ja, André hatte den Begriff des Surrealismus geprägt und zwei wunderbare Bücher darüber geschrieben, aber letzten Endes waren sie doch alle nur Künstler, die mit ihren Werken für sich selbst standen und ums eigene Überleben kämpften.

»Salut, Kumpanen.« André hob kurz die Hand zur Begrüßung, bevor er sich einen Zahnstocher schnappte und unaufgefordert bei ihrem Zeichenspiel mitmachte. »Na, ihr Strebsamen, so früh schon auf? Wie geht’s uns denn heute?«, nuschelte er, mittlerweile mit einem zweiten Zahnstocher im Mund. Er zog eine runde Brille mit Goldrand aus der Brusttasche und blickte sie über die Brillengläser hinweg an. Meret spürte, wie sie rot wurde, weil André sie so als Musterschülerin abtat. Sie wollte in seinen Augen auf keinen Fall als Opportunistin gelten.

Als Irène sie im vergangenen Sommer Alberto vorgestellt hatte und dieser sie gleich tags darauf zu den Surrealisten ins Café mitgenommen hatte, hatte Meret sich aus Platzmangel neben zwei bildhübsche junge Frauen auf die Sitzbank gequetscht. Die beiden hatten sich als Sisi und Belle vorgestellt, aber Meret war sich ziemlich sicher, dass in ihren Geburtsurkunden weniger lieblich klingende Namen eingetragen waren.

»Setz dich zu uns«, hatte Sisi gesäuselt. Sie trug ihr schwarzes Haar in perfekt gelegten Wellen bis zum Kinn und hatte ein kleines Hütchen am Kopf, das zwar reizend aussah, aber hier im Café ein wenig lächerlich wirkte.

»Wir Mädchen sind die wichtigsten Personen an diesem Tisch«, hatte Belle stolz erklärte und dabei den Kopf in den Nacken geworfen. »Ohne uns Musen gäbe es keine Kunst.«

Sisi und Belle hatten schallend gelacht, und Meret musste sich auf die Lippen beißen, um nichts Herablassendes zu antworten. Nicht einen Moment lang glaubte sie, dass ein paar Frauen, die Rauch aus perfekt nachgezogenen Lippen bliesen, mit Haarsträhnen spielten und wieder und wieder an ihrem Dekolleté herumzupften, auch nur einen Pinselstrich fördern konnten. Und schon gar nicht wollte sie zu sehr mit diesen Frauen in Verbindung gebracht werden.

Also hatte sie nach einem kurzen Wortwechsel Sisi und Belle den Rücken zugedreht und sich direkt an André Breton gewandt.

»Monsieur Breton, ich habe Ihre Theorien zu Wachsein und Traumwelt gelesen. Ein faszinierendes Gebiet, mit dem ich mich ebenfalls intensiv auseinandersetze.«

Aus dem Augenwinkel hatte sie beobachtet, wie Sisi und Belle staunend die Köpfe schüttelten.

»En effet? Tatsächlich?« André Breton hatte interessiert die Augenbrauen gehoben und nachdenklich Rauch aus seiner Lunge entlassen. »Haben Sie auch meine neueste Schrift dazu gelesen?«

Spätestens als Meret mit einem Nicken bejaht hatte, war das Eis zwischen ihr und dem Begründer des Surrealismus gebrochen gewesen. Nach einem langen Abend fruchtbarer Gespräche hatte André sie gebeten, ihm ihre Arbeiten zu zeigen. Tags darauf hatte Yves Tanguy sie um ihre Meinung zu einem seiner Bilder gebeten, und Hans Arp hatte sie in sein Atelier eingeladen, um ihr seine Skulpturen zu präsentieren – ganz ohne sexuelle Absichten. Die Männer hatten sie in ihren Künstlerkreis aufgenommen.

»Na, wie geht’s euch heute?«, wiederholte André seine Frage und riss Meret aus ihren Erinnerungen. Sie räusperte sich kurz und drapierte den Arm lässig über die Rückenlehne.

»Wie es einem so geht, wenn man mit einer Regenrinne im Ohr aufwacht«, sagte sie keck.

Sie hatte in der vergangenen Nacht einen absurden Traum gehabt: Die Regenrinne an ihrem Haus war plötzlich durch das Fenster gewachsen und hatte an einer schwarzen Konstruktion an ihrer Zimmerdecke gehangen. Sie reichte bis über ihr Bett. Schwallweise waren zuerst Wasser, dann Milch, dann kleine Briefchen in der Handschrift ihrer Großmutter heruntergekommen.

»Heimweh nach deinem Alpendorf? Verlust des mütterlichen Busens?«, versuchte André ihren Traum zu interpretieren. Traumdeutung zählte, wie bei den anderen Surrealisten auch, zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Aber André trieb es manchmal eine Spur zu weit, fand Meret.

»Ich hab’s: Du hast Sehnsucht nach einer Geliebten! Einer reifen Frau«, setzte er nach.

»Ach, André! Du und deine Interpretationen!« Meret wedelte mit ihrer Hand, um ihm eine imaginäre Ohrfeige zu verpassen.

Er beschäftigte sich eindeutig zu viel mit dem Werk seines Idols Sigmund Freud. Sie selbst hatte sich auch mit der Traumwelt beschäftigt, fühlte sich aber Carl Gustav Jung näher als Freud – schließlich war er ein Freund ihres Vaters und wohnte im Kanton Zürich, nur eine kurze Zugfahrt von ihrem Elternhaus entfernt.

»Ich sehe in deinem Traum das Potenzial für eine tolle Skulptur«, sagte Alberto nachdenklich. »Aus Ton vielleicht. Oder doch lieber aus Metall? Dazu Pappmascheeblüten mit Schreibschrift.« Er knüllte einen Zettel seines Notizblocks zu einem blumenartigen Gebilde zusammen.

»So in etwa!«, rief er und hielt die Blumen hoch.

Wie aus dem Nichts erschien eine Hand über seiner Schulter und entriss ihm das Knäuel.

»Oh, ein Liebesbrief! Für mich? Von dir, Alberto? Du weißt doch, dass ich glücklich vergeben bin«, witzelte Hans Arp. Er kaute an einem Käsebrot. Wieder einmal bemerkte Meret, wie exakt gerade sein Haar war. Es wirkte so, als hätte er es gerade eben mithilfe eines Lineals zurückgeschnitten. Meret wandte sich um, um zu sehen, ob Sophie auch mitgekommen war. Hans’ Frau war neben ihr eine der wenigen anderen Künstlerinnen dieser Runde, doch sie gesellte sich selten zu ihnen ins Café.

Hans griff nach Albertos Wasserglas und leerte es in einem Zug.

»Desolé, mein Freund. Tut mir leid, der Käs’ hat mich durstig gemacht.«

»Besser, als einen Wasserhahn abzulecken«, sagte André und notierte hastig den Gedanken. »Gute Idee, gute Idee«, murmelte er.

Hans schob sich zwischen Meret und Alberto. Unter den missbilligenden Augen des Kellners packte er nun noch eine weitere Stulle aus, bevor er schmatzend von der Plastik berichtete, an der er gerade arbeitete.

»Wo ist Rumpf, wo ist Kopf? Das soll der Betrachter für sich selbst entscheiden. Was meint ihr?«, fragte er. Und obwohl er zu ihnen allen sprach, wurde Meret das Gefühl nicht los, dass er den Oberkörper ein klein wenig mehr in Richtung der Männer drehte.

»Man! Man Ray! Komm doch kurz zu uns!«, rief André plötzlich quer durch das Café und unterbrach damit Hans’ Ausführungen. »Man, Emmanuel, mein Lieber, komm doch mal kurz zu uns herüber!«

»J’arrive, my friend«, hörte Meret einen starken amerikanischen Akzent hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass die Stimme zu Marcel Duchamps Begleiter gehörte. Der Mann mit dem dichten schwarzen Haar und dem schneeweißen Hemd erhob sich. Marcel Duchamp selbst nahm von den Rufen wenig Notiz, er saß noch immer über den Tisch gebeugt, die eine Hand auf seiner Dame ruhend, die andere auf einem Turm. Sein Unterkiefer bewegte sich leicht, als spräche er mit sich selbst.

Der Amerikaner schlenderte zu ihrem Tisch herüber. Er war groß gewachsen und breitschultrig. Die Art, wie er sein Hemd trug – die Ärmel ordentlich aufgekrempelt, das Hemd selbst in die Hose gesteckt, ohne dass es dabei eine einzige Falte warf – erinnerte Meret an diese aalglatten Vertreter, die manchmal in ihr Elternhaus gekommen waren, um Waffeleisen oder elektrische Rasierer zu verkaufen. Dann aber bemerkte sie die Nase des Mannes, eine Charakternase geradezu, die ihn seiner Saubermann-Erscheinung beraubte und, wie sie fand, sympathisch und zugleich interessant machte.

»Was gibt’s, André?« Der Amerikaner sprach Andrés Namen typisch amerikanisch aus, ein lang gezogenes »Andray«, ohne jegliche französische Betonung.

»Man! Man Ray! Verdammt! Jetzt habe ich ganz vergessen, was ich von dir wollte!« André schlug sich kurz auf die Stirn. »Aber komm, wenn du schon hier bist, setz dich zu uns!«

Meret richtete sich auf. War dieser Mann tatsächlich Man Ray? Der amerikanische Fotograf, von dem so viele in Paris und New York schwärmten?

Der Amerikaner zog einen Stuhl heran, während André dem Kellner Pierre mit einer kreisenden Bewegung bedeutete, eine Runde Vermouth zu bringen.

»Bei uns ist es wahrscheinlich unterhaltsamer als dort drüben bei Monsieur Solitude«, sagte André und nickte hinüber zu Marcel Duchamp.

»Kurz, Leute, aber wirklich nur kurz.« Man Ray sah prüfend zu seinem Freund hinüber. Meret folgte seinem Blick. Monsieur Duchamp hatte einfach eine Partie gegen sich selbst begonnen. Sie musste schmunzeln.

»Unsere Gruppe kennst du ja, Man. Also, die Anwesenden. Die anderen schlafen noch«, sagte André. »Aber hier sind Alberto Giacometti, Hans Arp und Meret Oppenheim. Ihr kennt Man Ray schon, oder?«

Meret schüttelte den Kopf. Doch bevor sie etwas sagen konnte, streckte Man Ray schon seine Hand aus.

»Meredith war der Name?«, fragte er.

»Meret. Meret Oppenheim«, sagte sie und erhob sich kurz, bevor sie ihre Hand hinhielt. »Guten Tag, Mr. Ray.«

»Meret ist quasi meine Landsmännin«, warf Alberto ein. »Sie kommt aus dem Deutsch-Schweizer Grenzgebiet.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Hat schon ein paar tolle Sachen gemacht.«

Der gute Alberto, dachte Meret, immer ein treuer Beschützer. Sie schenkte ihm ein Lächeln. Auch Man Ray zog nun ein Päckchen Zigaretten heraus und hielt es ihr – und nur ihr – hin.

»Meret – ist das die deutsche Version von Mary? Oder die Schweizer Version von Marie?«, fragte Man Ray.

»Keine von beiden, nur eine Spielerei meiner Eltern.« Sie zuckte mit den Schultern. Es schien ihr zu mühevoll, dem Amerikaner zu erklären, dass ihre Eltern sie nach einer Figur in einem Roman Gottfried Kellers benannt hatten. Man Ray wirkte auch nicht so, als hätte er wirkliches Interesse an der Herkunft ihres Namens, denn er fixierte sie nun mit seinem Blick. Die Art, wie er sie ansah, hatte jedoch nichts Verführerisches oder Anzügliches an sich. Viel eher kam es Meret so vor, als vermesse er sie.

»Meret, Sie haben etwas«, sagte er schließlich und hielt kurz inne. »Ich könnte mir gut vorstellen … Also Ihre Ausstrahlung, Ihre Körperproportionen …«, murmelte er vor sich hin.

Meret ließ die Hände an ihrem schmalen Oberkörper entlanggleiten. Ihr Körper war knabenhaft. In der Oberstufe hatten die Klassenkameradinnen sie deswegen immer wieder gehänselt. Ihre Freundin Irène hatte ihr einmal einen größeren Büstenhalter geschenkt, damit sie ihn mit Watte ausstopfen konnte. Doch bereits als Meret ihn am Rücken verschließen wollte, hatte es sich falsch angefühlt. Warum sollte sie sich verstellen? Warum den eigenen Körper verleugnen? Stattdessen hatte sie den BH über Bauch und Hüften geschoben, war hinausgestiegen und hatte sich tags darauf aus dem Büstenhalter ein kleines Täschchen gebastelt. Sie hatte sich damit abgefunden, androgyn zu sein.

Hier, in Paris, der Hauptstadt der Mode, erwachte allerdings ihre Fraulichkeit. Die Schaufenster lockten mit wunderschönen Kollektionen: Kleider, Blusen und Röcke, wie Meret sie nie zuvor in Steinen, ja nicht einmal in Basel gesehen hatte.

Unter Man Rays Blicken zupfte sie sich das dunkelgrüne Kleid zurecht und bemerkte, wie er auf ihre Schlüsselbeine stierte, die sich knöchern unter der Haut hervordrückten.

»Also, Mr. Ray«, hörte sie sich sagen. »Führen Sie Ihren Gedanken doch bitte weiter aus.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und stieß eine Rauchfahne aus.

»Sie sind wirklich außergewöhnlich, Miss Oppenheim. Wie eine mutige, geheimnisvolle Spinne im Kostüm eines zahmen Rehs. Kühle Unschuld.«

Sie nahm einen Schluck Vermouth und wusste nicht, ob sie diesen Kommentar wirklich als Kompliment sehen konnte. Eine Spinne?

Doch noch während sie darüber nachdachte, fuhr Man Ray fort: »Haben Sie Interesse, mir für eine Aktfotografie Modell zu stehen, Meret?«

Sie verschluckte sich beinahe an ihrem Getränk und unterdrückte das Husten. Als Man Ray begonnen hatte, sie so zu taxieren, hatte sie natürlich ein wenig damit gerechnet, dass er sie fragen könnte, ob er sie fotografieren dürfe. Sie mochte seine abstrakten, kunstvollen Porträtaufnahmen, deren Sujets so mystisch und geheimnisvoll wirkten. Aber Nacktaufnahmen? Keine Sekunde war ihr so was in den Sinn gekommen. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.

Natürlich kannte sie Man Rays fabelhafte Aufnahmen von der wunderschönen Kiki. Sie hatte sie Hunderte Male in Kunstmagazinen bestaunt: ein nackter Frauenrücken mit der Andeutung einer Violine darauf. Aber das war nur ein Rücken gewesen! Und Kiki seine Geliebte!

Am Tisch war es plötzlich still geworden. André hatte das Pissoir aufgesucht, Hans skizzierte unbekümmert auf seinem Block herum. Rat suchend blickte Meret zu Alberto. Der kaute kurz auf seiner Unterlippe, bevor er mit den Schultern zuckte.

»Meret. Du bist jung. Jeune et belle«, flüsterte er ohne weitere Erklärung.

»Mr. Ray. Ich … Wissen Sie … Ich schätze Ihren Vorschlag sehr, aber …«

Ihre Gedanken rasten. Sie war nicht prüde, keineswegs. Sie schämte sich nicht für ihre Figur. Schließlich war der Körper letzten Endes nur eine Hülle, die der Seele – dem wahren Ich – ein Zuhause gab. Aber sich deswegen gleich vor der Kamera zeigen? Der ganzen Welt präsentieren? Man Ray würde die Bilder schließlich nicht machen, um sie in einer verstaubten Arbeitsmappe zu verstecken.

»Miss Oppenheim, Sie sind bestimmt mit meiner Arbeit vertraut und wissen, dass ich bloß meiner künstlerischen Intuition folge. Es war ein spontaner Gedanke. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin.« Man Ray hob entschuldigend die Hand.

»Das verdammte Unterbewusstsein, es lenkt uns alle!«, rief André, der gerade mit einer Karaffe Wein in der Hand zurückkehrte. »Die Vernunft darf nicht im Weg stehen. Schon gar nicht uns Künstlern!«

Meret wünschte, sie könnte die Vernunft beiseitelassen. Einfach entscheiden und alle Fragen ausblenden. Aber nun sah sie ihre Eltern vor sich, wie sie an einem sonnigen Morgen vor dem schmucken Haus in Steinen stünden, der Vater im Anzug, alles korrekt gebügelt und zugeknöpft, die Mutter daneben, in einem hübschen Kleidchen, bereit, dem Tag als Arztgattin entgegenzutreten. Sie sah, wie sie das Kuvert öffnen würden, den neuen Modekatalog aus Basel erwartend, oder das medizinische Journal, das ihr Vater seit Jahren bezog, und wie ihnen der Atem stocken würde, wenn sie den Inhalt wahrnähmen und die nackte junge Frau auf dem Fotopapier als ihre Tochter identifizierten. Wie der Vater die Abzüge vor Scham zusammenfalten und unter sein Wams pressen würde, bevor er fluchend und vor Wut zitternd ins Haus marschierte, mit dem Vorsatz, den Schund – und damit alle Gefühle der Enttäuschung – zu verbrennen.

Sie würden ihr sofort den Geldhahn zudrehen oder, schlimmer noch, sie gleich nach Hause zitieren. Vielleicht würde Vater sie dazu zwingen, ihren Unterhalt als seine Empfangsdame zu verdienen. Schon der Gedanke daran war unerträglich.

Und trotzdem platzte es plötzlich aus ihr heraus:

»Mr. Ray, sehr gerne. Ich bin dabei. Ich bin gespannt auf Ihre Umsetzung.«

2

Drei Tage später stand Meret im Bademantel und mit einer Zigarette im Mundwinkel am Fenster ihres kleinen Ateliers und sah zu, wie die Regentropfen auf der Scheibe tanzten. Wasserperlen schlängelten sich über das Glas. Unten auf der anderen Straßenseite zog der Straßenkehrer sich den Regenmantel zu den Ohren hinauf, bevor er seelenruhig weiterkehrte. Meret liebte ihr Atelier in der Avenue de Châtillon hier im 14. Arrondissement. Mit Grauen dachte sie an die ersten Wochen in Paris zurück und an das Zimmer, das sie mit Irène im Hotel Odessa direkt hinter dem Friedhof von Montparnasse geteilt hatte. Zwei karge, knarrende Betten mit löchrigen Wolldecken, unter denen sie selbst bei warmem Maiwetter gefroren hatte. Wenn es regnete – und das tat es in Paris viel zu oft –, war das Fensterbrett von innen nass gewesen. Eines ihrer ersten Aquarellbilder hier in Paris war zerronnen, weil sie es dort abgelegt hatte. Das Zimmer war dunkel gewesen und viel zu klein, um darin zu arbeiten. Selbst wenn Irène draußen gearbeitet hatte, um Licht und Natur einzufangen – sie malte noch immer in der Tradition des vorangegangenen Jahrhunderts –, hatte Meret zu wenig Platz gehabt.

Zum Glück hatte Alberto ihr bald nach Irènes Heimkehr von der freien Wohnung im Wohnhaus seines Freundes Mayo erzählt, eines ägyptischen Künstlers, dessen vollständiger Name für die meisten zu umständlich auszusprechen war. Meret hatte sofort zugesagt, ohne den Raum überhaupt gesehen zu haben. Was Alberto allerdings nicht erwähnt hatte, war Mayos extreme Kontaktfreudigkeit. Die Kassiererin im Lebensmittelgeschäft, die Katze im Fenster des Nachbarn, das Hühnerauge seiner Mutter, die schreckliche neue Freundin seines Freundes – die Themen gingen ihm scheinbar nie aus, und er hatte die Angewohnheit, in den unpassendsten Momenten anzuklopfen.

Wie auch an diesem Freitagnachmittag.

Meret drückte ihre Zigarette in einem gläsernen Aschenbecher aus, den sie aus dem Café Cyrano hatte mitgehen lassen. Sie hatte sich gerade einen Badebottich eingelassen. Als sie den großen Zeh ins Wasser streckte, um die Wassertemperatur zu prüfen, klopfte es an der Tür. Drei feste Faustschläge, die sie sofort als Mayos erkannte. Einen Moment lang überlegte sie, schnell ins Wasser zu steigen und unterzutauchen. Sie hatte heute wirklich keine Zeit für ihren Nachbarn! In einer guten Stunde sollten die Fotoaufnahmen mit Man Ray stattfinden.

Das Trommeln an der Tür wurde kräftiger. Meret ahnte, dass Mayo nicht aufgeben würde. Er hatte sie vorhin im Treppenhaus gesehen. Seufzend schnürte sie den Baumwollbademantel zu und machte die Tür einen Spalt weit auf. Von Mayo war im ersten Moment wenig zu sehen, denn Meret blickte direkt auf etwas, das aussah wie ein Brathuhn auf einem Bett aus Erbsenpüree.

»Na, chérie« – Mayo grinste breit –, »was meinst du?« Er streckte die Arme noch ein wenig weiter aus und das Silbertablett somit näher zu ihr hin. Meret wich zurück.

»Mayo, sei mir nicht böse, aber ich habe jetzt wirklich keine Nerven für deine Späßchen«, hätte sie am liebsten gesagt. Aber Mayo blickte sie nun mit seinen dunklen Augen wie ein treuer Hund über sein Kunstwerk hinweg an, und sie konnte nicht anders, als ihrem Freund wenigstens ein paar Minuten Zeit zu schenken. Vielleicht war ein wenig Ablenkung ja genau das, was sie gerade brauchte, um sich vor ihrem Termin mit Man Ray ein wenig zu entspannen.

»Echt oder unecht?«, fragte Mayo und schob sich nun an ihr vorbei ins Zimmer, um das Huhn abzustellen.

»Bekommst du Besuch? Hast du das für einen Freund gekocht?«, fragte Meret vorsichtig.

Noch während sie ihre Frage stellte, tauchte Mayo seinen Zeigefinger in die grüne Masse und wedelte damit vor ihrem Mund herum.

»Hier, probier mal.«

»Mayo, ich …«

Bei dem Gedanken an kaltes Erbsenmus wurde ihr übel, und ihr Magen war wegen des bevorstehenden Termins bei Man Ray ohnehin schon ein wenig flau.

»Put, put, put …«, gluckste Mayo, als versuchte er, ein Tier anzulocken. »Einmal nur, Meret. Bitte! Ich will dein Gesicht dabei sehen!« Mayo ging ein wenig in die Knie. »Ist nicht eklig. Versprochen.«

Sie seufzte laut.

»Na gut, von mir aus.«

Es war ihre einzige Chance, diesen Spinner wieder loszuwerden. Sie schloss die Augen, streckte die Zunge aus und leckte vorsichtig seinen Finger ab. Ihre Geschmacksknospen brauchten einen Moment, um sich zu orientieren. Anstatt lauwarmer, salziger Erbsen schmeckte sie kühle Zuckermasse. Sie verzog kurz das Gesicht, und Mayo sprang vor Freude ein paarmal in die Luft.

»Haha! Reingefallen. Wusste ich’s doch. Gut, was?«

»Du hast ein Huhn aus Zucker gemacht?«

Er nickte aufgeregt und erzählte ihr von dem Puderzucker, den er mit Stärkemehl und einigen anderen Zutaten gemischt hatte, um dann dieses Kunstwerk zu formen. Genauer betrachtet, war es wirklich beeindruckend, dachte Meret. Sie wollte ihn loben für die Maserung der Hühnerhaut, die Körnung der Erbsen … aber Mayo war schon wieder halb zur Tür hinaus.

»Ich muss es jetzt noch an René ausprobieren«, kicherte er aufgeregt und wies mit dem Kinn ein Stockwerk höher. »Ich lass dich jetzt in Ruhe, Schätzchen. Adieu, Liebes!« Und noch bevor Meret überhaupt nach der Türklinke greifen konnte, war er mit seinem Zuckerhuhn schon wieder davongeeilt.

Sie schmunzelte über ihren Freund und überprüfte rasch vor dem Spiegel, dass ihre Zunge nicht grün war.

Sie hatte noch eine halbe Stunde, bis sie losmusste. Meret ließ sich ins Wasser gleiten und lauschte ein paar Minuten lang den Geräuschen, die von draußen durch das zugige Fenster hereindrangen. Auf das Hupen eines Automobils folgte das laute Rumpeln eines Marktkarrens, und aus der Ferne drangen Töne, die nach einer Straßenorgel klangen.

Während sie sich abtrocknete und das Frotteehandtuch über ihren Körper gleiten ließ, holten die Gedanken, die sie seit Tagen begleiteten, wieder ein. Wie würde Man Ray sie wohl ablichten? In welcher Position? Aus welchem Winkel? Sie hatten sich für die Aufnahmen im Atelier seines Freundes Louis Marcoussis verabredet.

»Dort ist eine Druckerpresse. Wir werden etwas Spannendes daraus machen«, hatte Man Ray zum Abschluss ihres Gesprächs im Café de Flore gesagt.

Meret hatte – noch überwältigt von ihrer eigenen Zusage – einfach genickt und die Adresse notiert. Erst später war ihr die Absurdität seiner Sätze klar geworden.

Was hatte er mit einer Druckerpresse vor? Sie wusste, dass die Aufnahmen kunstvoll werden würden. Man Ray hatte von einem surrealistischen Bildband gesprochen und von einer Veröffentlichung in einem Kunstmagazin.

Und wie würde Man Ray auf ihren Körper reagieren? Nacktheit war ein Teil der Kunst. Wenn man sich lange genug mit ihr beschäftigte, konnte sie jeden sexuellen Reiz verlieren. Das hatte Meret selbst im Aktmalkurs an der Grande Chaumière erlebt. Egal ob ein Mann oder eine Frau vor ihr saß, letzten Endes war es ein menschliches Objekt, das sie zu Papier zu bringen versuchte. Und dennoch, was würde Man Ray durch den Kopf gehen, wenn er durch die Linse blickte, während sie entblößt vor ihm stand?

Keine halbe Stunde später nahm Meret die Metro nach Montmartre. Als sie ein paar Münzen aus ihrer Tasche kramte, um die Fahrkarte zu lösen, spürte sie ein leichtes Unbehagen in sich aufsteigen. Es war bereits die zweite Hälfte des Monats, und das Geld wurde knapp. Sie würde die nächsten Tage wieder Cornflakes essen, um zu sparen, dann würde das Geld für diesen Monat schon irgendwie ausreichen, versuchte sie sich zu beruhigen. Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, dass ihre Eltern ihr jeden Monat einen kleinen Geldbetrag schickten. Ohne diese Unterstützung gab es für sie keine Möglichkeit, ihren Weg als Künstlerin zu gehen. Zwar könnte sie zur Not von geschenktem Baguette vom Vortag und metallisch schmeckendem Leitungswasser leben, und wenn es sein musste, all ihre Kleider flicken und ihre Bilder übermalen, wenn ihr Papier und Leinwände ausgingen, aber das Dach über dem Kopf, das Atelier, dafür würde sie niemals selbst aufkommen können. Sie musste die Unterstützung ihrer Eltern annehmen – aber sie wollte keinen Centime mehr als notwendig.

Die Metro war voll mit Geschäftsmännern in Regenmänteln, die trotz des Ruckelns versuchten, die Zeitung zu lesen. Meret fand einen Platz nahe der Tür und drehte sich zum Fenster. Der Geruch der Metro versetzte sie jedes Mal wieder an den Tag ihrer Ankunft in Paris zurück, als sie mit einer schlaftrunkenen Irène aus dem Zug gestiegen und zum ersten Mal hinunter zur U-Bahn gegangen war. Die Menschenmenge, der Geruch von Crêpes und Kaffee vermischt mit einem Hauch von Latrine, das Pfeifen und Hupen der riesigen Lokomotiven – es war ihr geradezu vorgekommen wie ein Traum, ein wunderschöner Traum. Dann aber, als sie ihre Karten gelöst und in den U-Bahn-Schacht hinabgestiegen waren, hatte sie Schwindel überkommen – schwarze Punkte vor den Augen und Schweiß auf der Oberlippe. Irène hatte Meret förmlich hinter sich hergezogen zur Linie 4, und als die ratternde Metro eingefahren und ein Windstoß über den Bahnsteig geströmt war, hatte Meret wirklich kurz geglaubt, sie würde in Ohnmacht fallen. Panik war in ihr aufgestiegen, und sie hatte es bereut, dass sie auf der Zugfahrt den Großteil des Pernods getrunken hatte. Jedes Bremsen und jedes Anfahren der Untergrundbahn hatten ihr Herz zum Rasen gebracht, während Irène beruhigend ihre Hand gedrückt und beim Aussteigen in letzter Sekunde noch Merets Koffer geschnappt hatte, der sonst mit der Metro durch den endlos scheinenden Tunnel fortgefahren wäre.

Beim Gedanken an jenen Tag wurde Meret mulmig zumute, während die Bahn in ihrem finsteren Tunnel um eine Kurve fuhr. Nach zweimaligem Umsteigen erreichte sie schließlich die Place de Clichy. Sie umklammerte fest ihren Lederbeutel und folgte den anderen Passagieren durch den zugigen Gang und die Treppen hinauf zurück ans Tageslicht.

Vor dem Haus in der Rue Caulaincourt blieb sie stehen und schaute noch einmal prüfend auf ihren Zettel. Die Adresse stimmte, und so stemmte sie sich gegen das schwere braune Tor, um es aufzudrücken. Im Gebäude selbst war es kühl. Eine Wendeltreppe aus Stein führte nach oben. Aus einer Wohnung im Mezzanin drangen schräge Geigentöne, ein Stockwerk darüber vernahm sie einen Streit. Im dritten Stock war die Tür angelehnt. Man erwartete sie also bereits.

Meret klopfte kurz und trat ins Vorzimmer. Der Parkettboden knarrte. Es gab keine Garderobe. Auf dem Boden lag ein verbeulter Regenschirm neben zwei Paar Herrenschuhen. Meret wusste nicht, ob Monsieur Marcoussis hier bloß arbeitete oder auch wohnte. Ob er seine Räume wohl regelmäßig seinen Künstlerkollegen überließ?

»Meret, Sie sind hier! Haben Sie gut hergefunden?«, begrüßte Man Ray sie und trat näher. Wieder hatte er die Ärmel hochgekrempelt, diesmal trug er Hosenträger dazu. Er sah leicht abwesend aus, als hätte er gerade noch hinter der Kamera gestanden, und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Wir haben soeben alles aufgebaut«, sagte er.

»Wir?«, fragte Meret.

»Mr. Marcoussis, also Louis, ist natürlich auch hier«, erklärte Mr. Ray und stockte dann. »Oh, das tut mir leid. Ich dachte, Sie … also du … ist ›du‹ in Ordnung?«

Sie nickte.

»Ich dachte, du bist davon ausgegangen, dass Louis auch hier sein würde.« Er nahm ihr den Mantel ab. »Weißt du, die Druckerpresse ist ein kostbares Ding. Man sollte sie nicht mit einem Tölpel wie mir alleine lassen.« Er grinste.

»Alles gut«, sagte Meret trotz der Beklemmung, die sie plötzlich empfand, und ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Sie hatte sich doch entschieden, die Aufnahmen zu machen. Was änderte es denn nun, wenn noch ein Künstler im Raum war?

»Wunderbar!« Man Ray winkte Louis heran. Meret schüttelte dem kleinen, untersetzten Mann die Hand und versuchte, nicht auf seine Glatze zu starren, die so stark glänzte, als sei sie mit Politur geölt worden.

»Bitte, kommen Sie weiter, Mademoiselle Meret«, bat Louis. Das Vorzimmer führte in einen großen Raum mit schwarz-weiß gefliestem Boden. Die Fenster waren geöffnet und ließen die Frühlingssonne herein. Unter ihnen stapelten sich Bücher, Holzkisten voller Malutensilien, Weinflaschen und eine Sammlung bunt bemalter Matroschka-Puppen. Am hinteren Ende, zwischen Fenster und Wand, stand eine wuchtige Maschine: die Druckerpresse mit ihren schweren, schwarzen Platten, einem riesigen Eisenrad mit geschwungenen Streben, einer Walze und einem Tintenbett.

Merets Schritte hallten im Raum. Sie öffnete die Riemchen ihrer Pumps und streifte die Schuhe ab. Der Kachelboden unter ihren Füßen war staubig und kühl. Sie bemerkte einen Paravent auf der gegenüberliegenden Seite des Ateliers.

»Wenn wir so weit sind, kannst du deine Sachen gerne dort ablegen«, erklärte Man Ray.

Der Raum kam ihr plötzlich unheimlich groß vor. Er musste mindestens viermal so groß sein wie ihr Atelier. Und gleich würde sie hier in dieser Halle splitternackt vor diesen zwei beinah fremden Männern stehen. Die beiden würden alles an ihr sehen. Jene Körperteile, die sie gerne an sich mochte: den flachen Bauch, die spitzen Hüftknochen, die krausen Haare auf ihrem Schambereich. Und jene Körperteile, die sie erst über Jahre anzunehmen gelernt hatte: die knubbeligen Knie und den zu flachen Po etwa.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Man Ray.

»Doch, doch«, antwortete Meret. Reiß dich zusammen!, befahl ihr eine Stimme in ihrem Kopf. Du bist schließlich kein prüdes Hausfräulein! Du willst diese Erfahrung machen. Du willst an deine Grenzen gehen. Du willst Kunst machen, willst Kunst erleben. Also los!

»Könnte ich vielleicht etwas zu trinken haben?«, fragte sie.

»Aber natürlich.« Man Ray blickte ein wenig verlegen, weil er seine Gastgeberpflichten vernachlässigt hatte, während Louis hastig drei Schnapsgläser und eine Glasflasche mit klarer Flüssigkeit aus einer Holzkiste zog. Meret hatte Wasser gemeint. Nun aber gab es Wodka. Louis schenkte die Gläschen randvoll ein, und die drei stießen an. Meret spürte, wie die klare Flüssigkeit in ihrer Kehle brannte, und war dankbar, dass der Alkohol das Eis zwischen ihnen brach.

Nach einem zweiten Wodka stellte Louis sein Glas auf dem Boden ab und ging hinüber zur Druckerpresse, um sie vorzubereiten. Meret beobachtete, wie er gedankenverloren eine kleine Walze durch die Tinte gleiten ließ.

Anders als erwartet, gab Man Ray ihr keine Anweisungen, sondern begann schweigend seine Kamera einzurichten. Und sie? Was sollte sie nun tun? Sich ausziehen? Die Umkleidekabine hinter dem Paravent kam ihr albern vor. Die beiden Männer würden sie ohnehin gleich nackt sehen. Also schob sie, noch am Fenster stehend, ihren Rock mit dem blassgelben Blumenmotiv hoch, löste ihre Strumpfhalter und zog die Seidenstrümpfe aus. Weder Louis noch Man Ray schienen besondere Notiz davon zu nehmen. Meret öffnete ihren Rock und ließ ihn nach unten gleiten, danach folgten Bluse, Büstenhalter und Unterhose. Jetzt tauschten die Männer kurz einen Blick.

»Los, beweg dich!«, befahl ihr die Stimme in ihrem Kopf. Meret wandte sich der Kamera zu, die Unterarme und Hände leicht von sich gestreckt, um dem Drang zu widerstehen, ihren Körper zu bedecken.

»Wenn du so weit bist, Meret, kannst du dir gerne die Druckerpresse ansehen«, sagte Man Ray.