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Das Vergangene ist vorbei. Wir sollten es loslassen
June hat ein Geheimnis. Eines, das sie mit aller Macht bewahren will. Deshalb hält sie jeden Mann, der an mehr als einem One-Night-Stand interessiert ist, auf Abstand. Beziehungen machen verwundbar, genauso wie die Liebe. Doch June hat nicht mit Mason gerechnet. Er ist witzig, reich und absolut planlos, was seine Zukunft angeht - aber vor allem kann er nicht genug von der temperamentvollen Studentin bekommen. Mason will weitaus mehr als nur eine Nacht mit ihr. Und June fragt sich das erste Mal, was passieren würde, wenn sie ihre Mauern einreißt ...
"Madly fesselt durch willensstarke Charaktere und eine mitreißende Geschichte. Es geht um große Gefühle, tiefe Freundschaft und die Schwierigkeit, sich selbst zu akzeptieren." ANNA VON INK_OF_BOOKS
Band 2 der IN-LOVE-Trilogie von Erfolgsautorin und Leser-Liebling Ava Reed
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Seitenzahl: 522
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Vorwort
Soundtrack June & Mason
Prolog
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Ava Reed bei LYX
Impressum
Ava Reed
Madly
Roman
June hat ein Geheimnis, das nur ihre Familie und ihre beste Freundin kennen. Eines, das sie um jeden Preis bewahren will. Aus diesem Grund hält sie alle Menschen auf Abstand, verschließt sich vor ihnen und meidet romantische oder körperliche Beziehungen, die über einen One-Night-Stand hinausgehen. Zwar wirkt June nach außen stark, laut und temperamentvoll – doch kämpft sie nur für die Menschen, die ihr wichtig sind, nie für sich selbst. Bis sie Mason begegnet. Er ist attraktiv, reich, charmant und absolut planlos. Auch er verbirgt eine Seite von sich vor der Welt und zeigt allen nur den Unternehmer, nicht aber den jungen Mann, der nicht weiß, wo sein Platz im Leben ist und was er sich von der Zukunft wünscht. Mason findet June nicht nur faszinierend und anziehend, sondern will sie richtig kennenlernen. Doch seine Versuche, sie zu einem Date auszuführen, wehrt sie hartnäckig ab. Was Mason nicht weiß: Mit jedem Blick und jeder Begegnung geht er June tiefer unter die Haut. Dabei fragt sie sich das erste Mal seit langer Zeit, was passieren würde, wenn sie ihre Mauern einreißt …
Für jeden, der sich für seinen Körper schämt und nicht oft genug gesagt bekommen hat: Du bist schön. Und zwar genau so, wie du bist. Nicht perfekt, sondern schön.
Umarme dich, statt gegen dich selbst in den Krieg zu ziehen. Hör damit auf, dich zu verbiegen, zu brechen, zu verletzen. Verändere dich, wenn und weil du es möchtest, nicht weil die Gesellschaft es verlangt oder dich dazu drängt. Selbstliebe ist wertvoll. Du verdienst sie.
In dieser Geschichte werden Themen wie Selbstzweifel und Bodyshaming behandelt. Darauf möchte ich hiermit aufmerksam machen.
Oft sind wir selbst unsere stärksten Kritiker und größten Feinde. Dabei vergessen wir, dass unsere Empfindungen nicht weniger wert sind, nur weil andere sie nicht verstehen oder teilen können. Und wir vergessen, dass ein grausames Bild von uns meist viel stärker ist und schwerer abzulegen als ein gutes.
Es ist ein Gefühl. Dieser Selbstzweifel. Die Scham. Die Wut. Die Angst. Und egal, ob wir es bei denen, die es fühlen, oder uns ebenso erkennen können oder nicht, sollten wir es ernst nehmen. Wir sollten zu verstehen versuchen, dass ein Mensch, der für uns wunderschön ist, sich für sein Aussehen schämen kann. Dass ihm Dinge schwerer fallen, in denen wir kein Problem sehen.
Kein Mensch wurde geboren und sagte sich: Ich bin hässlich, voller Zweifel, ich bin nicht genug oder zu anders, ich muss mich ändern. Egal, ob zwischen Buchseiten oder im echten Leben: Lasst euch auf euer Gegenüber ein, auch wenn es anders denkt und handelt, als ihr es tun würdet. Ändert euren Blickwinkel.
Denkt daran: Die kleinen Probleme, die wir mit uns tragen, können ganze Berge sein auf den Rücken anderer.
Für den einen ist es nichts, für den anderen ist es die Welt.
Emika – Wicked Game
Bishop Briggs – River
Freya Ridings – You Mean The World To Me (1 Mic 1 Take)
Fynn Kliemann – Zuhause
Jarryd James – Do You Remember
A Great Big World, Christina Aguilera – Say Something
Jonathan Roy – Keeping Me Alive (Live Acoustic)
Kodaline – Wherever You Are
Kygo, Justin Jesso – Stargazing (Orchestral Version) ft. Bergen Philharmonic Orchestra
Rhys Lewis – Reason To Hate You
Bill Withers – Ain’t No Sunshine
Sam Smith – Lay Me Down
OneRepublic – Let’s Hurt Tonight
Jacob Banks – Unknown (To You)
The Chainsmokers – Closer ft. Halsey
Jessie J – Not My Ex
Billie Eilish – everything i wanted
Rihanna – Stay ft. Mikky Ekko
Demi Lovato – Skyscraper
Go West – The King of Wishful Thinking
Nina Simone – I put a spell on you
Keala Settle – This Is Me
Noah Kahan – False Confidence
Billie Eilish – bad guy
The world was on fire and no one could save me but you.
It’s strange what desire will make foolish people do.
I never dreamed that I’d meet somebody like you.
And I never dreamed that I’d lose somebody like you.
Wicked Game – Chris Isaak, covered by Emika
Die meisten Menschen lachen über Dinge, die sie nicht begreifen können, und glauben, was sie nicht kennen, gäbe es nicht. So lange, bis es sie selbst trifft … und sie es das erste Mal wirklich verstehen.
Ich habe mich in June verliebt, als sie mir mit ihrem frechen und störrischen Blick eine Ananas in die Tasche meines Designerhemdes gesteckt hat.
Mit Sicherheit hat sie mich zuerst für jemand anderen gehalten und nicht gewusst, wer ich bin. Wenn ich daran zurückdenke, muss ich immer grinsend den Kopf schütteln. Sogar jetzt. Über das Feuer in ihren Augen, ihre genervte Stimme, mit der sie mir sagte, ich solle verschwinden und sie würde auf keinen Fall für mich stöhnen – und bei Gott, ich hatte mir geschworen, dass sie es irgendwann tun würde.
Als ich das erste Mal vor ihr stand, wollte ich sie in meinem Bett. Doch als sie mich offen ansah, mit gerecktem Kinn und mir nach dem Cocktail auch noch die Ananas aufdrückte? Da wollte ich sie in meinem Leben. Ich wollte sie kennenlernen. Das war vermutlich am Ende der ausschlaggebende Grund, warum ich ihrer besten Freundin Andie den Job als Barkeeperin in meinem Club gegeben habe, ohne sie zu kennen. Ich wollte June wiedersehen. Um jeden Preis.
Und, das gebe ich zu, ich brauchte wirklich dringend jemanden hinter der Bar.
Alles hat so vielversprechend angefangen.
Bei diesem Gedanken lache ich trocken auf und schenke mir das nächste Glas Whiskey ein – vielleicht das vierte, ich habe nicht aufgepasst.
Heute hat der Club geschlossen. Niemand ist hier, nur ich, der vergeblich versucht, seine Sorgen in dem Alkohol vor sich zu ertränken. Dabei trinke ich sonst eher selten. Aber jeder hat seine schwachen Momente. Jetzt ist meiner. Heute. Und an jedem verfluchten Tag, den ich June schon kenne.
Ich nehme einen kräftigen Schluck. Mein Mund brennt, mein Rachen ebenso, und es tut gut. Richtig gut.
Frustriert und ein wenig neben mir stehend, wegen des ganzen Drecks, der die letzten Tage und besonders vorhin passiert ist, setze ich mich aufrechter hin, lockere das Hemd am Kragen und … Ach, scheiß drauf! Ich öffne alle Knöpfe der Weste, ziehe sie ganz aus und lege sie achtlos über den Tresen, bevor ich mir ein paarmal schnell durch die Haare fahre. Ist mir egal, wie ich aussehe. Ist mir egal, was heute noch passiert. Ich muss mich erst damit abfinden, dass ich es nicht geschafft habe. Ich habe June verloren. Und ich weiß noch nicht, wie ich das überleben soll …
»Ich kann nicht. Es tut mir leid. Hör auf, es zu versuchen … bitte, versuch es nie wieder. Ich kann das einfach nicht.«
Jedes ihrer gewisperten Worte glich einer atomaren Katastrophe in meiner Welt. War wie ein Kometeneinschlag. Wie der Moment kurz vor dem Aufprall, in dem alles stillsteht, bevor es donnert und explodiert und alles in Stücke gerissen wird.
Ich kann es nicht begreifen, weil ich das mit June so sehr will, dass es mich zu zerbrechen droht. Ich will neben ihr aufwachen, will sie lachen sehen, wegen mir oder von mir aus über mich, will ihr die Welt zu Füßen legen und sie in den Arm nehmen, und ich …
Schwer schluckend presse ich die Augen zusammen, lasse den Kopf auf meinen Arm sinken und wünsche mir, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Ich will schreien, fluchen und diesen Club in seine Einzelteile zerlegen. Er ist mir nicht mehr wichtig. Er ist mir gerade so egal wie die Firma oder die Wünsche meines Vaters, das viele Geld auf meinem Konto oder meine Zukunft – denn June kommt darin nicht vor. In dieser Sekunde spielt nichts mehr eine Rolle.
Ich Idiot. Ich sitze hier und suhle mich in alldem wie die anderen blinden und verzweifelten Kerle, die sich verliebt und vollkommen darin verloren haben. Jetzt bin ich endgültig einer von ihnen.
Einer, der ich nie wieder sein wollte …
Ein leichtes Pochen drückt hinter meiner Stirn, der Whiskey wirkt, lullt und hüllt mich ein wie eine schwere Decke. June taucht erneut in meinen Gedanken auf, ich kriege sie einfach nicht aus meinem Kopf.
»Verfluchter Dreck!« Ruckartig springe ich auf, schnappe mir das Glas und pfeffere es samt Inhalt gegen die Wand hinter dem Tresen, gegen einen der größeren Spiegel und gegen das Regal mit den Spirituosen.
Risse bilden sich.
Es kracht, es bricht, es fällt.
Scherben. Überall sind Scherben.
»Scheiße!«, fluche ich erneut, presse die Handballen auf die Augen und lasse mich keuchend zurück auf den Barhocker fallen.
Ich habe so lange gekämpft, wie ich konnte. So lange, wie ich glaubte, sie würde es insgeheim wollen. Jetzt weiß ich: Anziehung ist nicht alles, denn June möchte nicht mit mir zusammen sein – und das werde ich respektieren. Irgendwann wird es besser sein. In Ordnung. Aber in diesem Moment kann ich nur eines wieder und wieder denken: Ich habe sie verloren.
Jeder würde gerne daran glauben, dass es einen Grund dafür gibt, warum er ist, wie er ist …
Manche Dinge kann man nicht ändern, sosehr man es sich wünscht und sosehr man es auch versucht. Man kann nur damit leben. Damit leben und versuchen, sie zu verdrängen oder zu vergessen. Diese Erkenntnis trifft mich an jedem einzelnen Tag aufs Neue, sobald ich mein Spiegelbild betrachte. Und ich hasse es.
Nein, um es zu hassen, fehlt mir mittlerweile die Kraft. Ich bin es einfach leid. Unendlich leid. Das ist ein Unterschied.
Seufzend greife ich nach der Bürste und lasse sie durch mein Haar gleiten. Es ist wieder etwas länger geworden, aber immer noch viel kürzer, als ich es jahrelang gewohnt war. Ich habe meine Mähne aus einem Impuls heraus abschneiden lassen, bevor Andie nach Seattle kam. Mein langes Haar war jahrelang wie ein Schild oder ein Mantel für mich. Wie ein treuer und schützender Begleiter, den ich mir selbst genommen habe, ohne groß darüber nachzudenken.
Es hat ein paar Wochen gedauert, mich daran zu gewöhnen, aber seitdem mag ich es und lasse es regelmäßig nachschneiden.
Ich betrachte mich von allen Seiten in dem mittelgroßen Spiegel, der auf meinem Tisch steht. Einem Schreibtisch, der den Namen nicht verdient. Ich nutze ihn hauptsächlich als Schminktisch, da ich mich nur in meinem Zimmer richtig sicher fühle. Nur hier habe ich genug Ruhe, mich abzuschminken oder mein Make-up aufzutragen. So wie jetzt.
Die Bürste landet in einem der kleinen Körbe, in denen sich auch diverse Mascaras, Lippenstifte, etwas Rouge und anderes Zeug von mir befinden. Auf meine Handinnenflächen gebe ich etwas von der Creme und reibe mein Gesicht sorgfältig ein. Damit bereite ich meine Haut auf das vor, was sie schon seit Ewigkeiten aushalten muss: mit teurem Camouflage-Make-up zugekleistert zu werden. Selbstverständlich nicht ohne den Anspruch, dabei weiterhin vollkommen natürlich und unbeschwert zu wirken.
Eine Tube mit kaum nennenswertem Inhalt kostet um die sechzig Dollar. Manchmal reicht sie für eine Woche, aber nur, wenn ich sparsam bin, nicht auffrische oder mich gar neu schminke, was ich jedoch gerade vorhabe. Weit über zweihundert Dollar im Monat nur dafür. Wäre es mein Geld, würde es nicht mehr schmerzen, nur auf eine andere Art. Ich müsste mir den Nebenjob besorgen, den ich schon seit Wochen suchen möchte, bei dem aber immer etwas dazwischenkam, und der Großteil meines Verdienstes würde für mein Make-up draufgehen. Das würde wehtun, aber dafür wäre die Verbindung zu meinen Eltern endgültig gekappt und alles, was mich noch an sie, besonders an meine Mom, bindet, fort. Traurig, dass uns nicht mehr zusammenbringt als das – und wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum ich es noch nicht tun konnte. So, als gäbe es Hoffnung für uns …
Ich schnaube kurz und kräftig, bevor ich die Lippen fest aufeinanderpresse und tief durch die Nase ein- und ausatme.
Meine Hand bewegt sich wie von selbst, meine Fingerspitzen berühren meine linke Wange, fahren über sie und meinen Wangenknochen, hinunter zu meinem Kiefer und Kinn, über meinen Hals, ziehen das linke Schlüsselbein nach und stoppen knapp über meinem Brustansatz. Würde ich die Augen schließen, könnte ich vielleicht vergessen, dass dieser Teil meines Körpers existiert. Dann würde es möglicherweise keinen Unterschied machen. Doch er ist da. Leuchtend rot, lodernd wie Flammen in der Dunkelheit oder verschütteter Wein auf einem hellen Teppich.
Daher hat er seinen Namen. Naevus flammeus. Auch Feuermal oder Portweinfleck genannt. Im ersten Moment mag das aufregend klingen, nach etwas Besonderem, es weckt unter Umständen sogar Neugierde, letztlich ist es aber nichts weiter als eine Fehlbildung. Eine, die mich verfolgt, seit ich denken kann. Und es für immer tun wird.
Ich weiß, dass das Mal nicht größer geworden ist, das geht ja auch gar nicht. Trotzdem bilde ich es mir manchmal ein. Ab und an habe ich Albträume, in denen der Fleck, der mindestens so groß ist wie drei meiner Handabdrücke untereinander, wächst und wächst und mich irgendwann verschlingt, bis nichts mehr von mir bleibt.
Dabei macht mich mehr aus als das … Oder?
Hastig trage ich die Foundation auf, arbeite sie mit einem Schwamm in die Haut ein. Ich gehe sauber, routiniert und konzentriert vor, während Stück um Stück meiner dunkelroten Haut darunter verschwindet. Mein teures Camouflage-Make-up deckt alles ab, was man nicht sehen soll – und leider auch den Rest. Wie meine Sommersprossen auf der Nase oder die kleine Narbe am Haaransatz. Es lässt sich gut verteilen, wird nicht fleckig, und die Übergänge sind quasi unsichtbar.
Es hat seine Zeit gedauert, bis ich die richtige Foundation für mich gefunden habe. Eine, die meine Haut nicht vollkommen austrocknet, mich nicht in eine zweite Pubertät führt, wasserfest ist und nach einem langen Tag noch frisch aussieht. Eine, die auch nach zwölf Stunden alles überdeckt, ohne krümelig oder fleckig zu werden.
Die Suche nach einem Heilungsverfahren für meinen Makel und anschließend nach einer perfekten Methode, es zu kaschieren, hat für meine Mom bereits wenige Monate nach meiner Geburt begonnen, als mein Feuermal immer deutlicher sichtbar wurde. Schnell hat sich herausgestellt, dass es bleiben und nicht durch eine Lasertherapie verschwindet oder verkleinert werden kann. Die brachte über Jahre nicht mehr als Schmerzen. Meine eigene Suche nach einer Lösung schloss sich mit ungefähr neun Jahren an – das Alter, in dem Kinder richtig gemein werden können. Das Alter, in dem meine Mutter erkannt hat, dass sie wirklich nichts anderes mehr tun kann, als mich zu verstecken. Was würden die Leute sagen, die wenigen Nachbarn, die wir hatten, die Lehrer oder gar ihre nach Perfektion strebenden Klienten? Was würde die Welt sagen? Dabei ist meine Mutter selbst das größte Problem der Gleichung. Solange meine unperfekte Haut existiert, wird sie mich ansehen und immerzu daran erinnert werden, versagt zu haben. Sie hat etwas erschaffen, das fehlerhaft ist und sich nicht korrigieren lässt. Deshalb hat sie stets versucht, und das bis heute, diesen Fehler so gut wie möglich zu verbergen, um es wenigstens manchmal vergessen zu können – und ich habe es auch getan. Wenn ich ungeschminkt bin, schaue ich in den Spiegel und erkenne, was meine Mutter in mir sieht: etwas das man verstecken sollte.
Fertig. Nichts schimmert durch, kein Fleck, kein Makel, keine Unebenheit. Ein Trugbild, das ich über die Jahre zu perfektionieren gelernt habe.
Mit geübten Bewegungen ziehe ich meine Augenbrauen ein wenig nach und trage Mascara auf meine hellen Wimpern auf, damit man überhaupt erkennt, dass ich welche besitze. Etwas Balsam auf die Lippen – et voilà. Das Make-up sitzt. Puder drüber, Setting Spray. Das wars.
Ich drehe mich, schaue auf mein auf dem Bett liegendes Handy und bemerke, dass Andie versucht hat, mich anzurufen. Wir wollten uns vor ihrer Schicht im MASON’s treffen und ein wenig quatschen, bevor es im Club laut und stressig wird, aber ich hab die Zeit mal wieder nicht im Blick gehabt.
»Verdammt«, murmle ich und will ihr eine Nachricht schreiben, als ihre bereits aufploppt.
Du bist zu spät. Warte im Club auf dich. Wie wäre es heute zum Start in die Ferien auch mit dem Beginn des Vorhabens ›weniger Make-up‹?
Netter Versuch. Vielleicht das nächste Mal. Ziehe mich noch um, dann gehe ich los. Sorry, dass du gewartet hast.
Schon okay. Bis gleich!
Andie weiß es, und ich weiß es. Es wird kein nächstes Mal geben. Ein einziges Mal in der Highschool hat mir gereicht. Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens und das, obwohl ich Andie an meiner Seite hatte.
Es ist Juni, Ende des dritten Semesters und Summer Break, und zu meinem Glück hatte meine Mitbewohnerin es gar nicht erwarten können, abzuhauen und mich hier alleine zu lassen. Seit ich absolut ahnungslos mit dem einen Typen einen One-Night-Stand hatte, in den Sara sich verliebt hat, sind wir zerstritten. Quasi seit meiner ersten Woche hier in Seattle.
Hätte ich das gewusst, hätte ich nie mit ihm geschlafen, aber Sara ist immer noch sauer – auch wenn ich mich längst bei ihr entschuldigt habe. Ich gestehe, danach war ich vorsichtiger, was einmalige Geschichten anging.
Kurzum: Das war der schlechteste Start, den ich hätte haben können.
Ganz zu schweigen davon, dass ich ein Semester vor Andie an der Harbor Hill angefangen habe und somit eine ganze Weile allein war. Nach der Sache mit Sara bin ich es geblieben – und weil ich seit jeher Schwierigkeiten habe, Freundschaften zu schließen. Bei Cooper, Dylan und Mason war es irgendwie anders. Die Ausnahme. Andie war ja da und auf gewisse Art das Bindeglied zwischen uns. Trotzdem kennen die drei mich nicht so, wie ich wirklich bin. Sich den falschen Menschen zu öffnen oder zu vielen, macht verwundbar, und dieses Risiko gehe ich schon sehr lange nicht mehr ein.
Es klopft an der Tür, und ich ziehe verwundert die Augenbrauen zusammen.
Da die meisten Studenten des Wohnheims es Sara gleichgetan haben und fort sind und ich niemanden erwarte, bin ich darüber mehr als verwundert. Es klopft erneut, dieses Mal heftiger und lauter.
Ich stöhne genervt, vielleicht auch ein wenig verzweifelt auf, bin aber schon längst auf dem Weg. So schaffe ich es niemals in den Club, bevor er aufmacht.
»Ich komme ja schon!«, rufe ich, öffne die Tür und … starre einen Karton an. Einen Karton mit zwei Beinen?
»Stevens … Miss June Stevens?« Ein schlaksiger Kerl kommt zum Vorschein, als das Paket auf dem Boden abgesetzt wird.
»Ja«, antworte ich zögerlich.
Ich hab nichts bestellt. Oder doch? Krampfhaft überlege ich, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein. Wenn ich nichts geordert habe, dann … nein. Nicht schon wieder.
»Unterschreiben Sie bitte hier.« Lächelnd hält er mir ein kleines Gerät hin, mit dem er eben den Code auf der Außenseite des Pakets gescannt hat. Immer noch verwundert nehme ich es entgegen und während ich unterschreibe, frage ich beiläufig: »Sie wissen nicht zufällig, von wem das ist oder was drin ist?«
»Tut mir leid.« Er schüttelt den Kopf und sieht mich aus großen Dackelaugen bedauernd an.
»Okay. Danke – vermute ich mal.« War ja zugegeben auch eine selten dämliche Frage. Als ob Paketboten den Inhalt ihrer Lieferung kennen.
»Ihnen einen schönen Abend, Miss.« Wir tauschen Gerät gegen Post, und ich bin mir unsicher, was mich mehr verwirrt: dieser mysteriöse und trotz seiner Größe ziemlich leichte Karton in meinen Händen oder der junge Paketbote, der so unglaublich freundlich war. Mit so viel Glückseligkeit im Gesicht hat mir lange niemand die Post gebracht.
Nachdem der Bote verschwunden ist, schiebe ich die Tür mit dem Fuß zu und stelle das Ungetüm schließlich auf der Couch ab. Wenn ich das jetzt auspacke, komme ich noch später als ohnehin schon. Mit gekräuselten Lippen und vor der Brust verschränkten Armen denke ich einen Moment darüber nach …
»Ach, was solls.« Ich reiße das Paket auf, denn ich weiß genau, dass meine Neugierde mich sonst den ganzen Abend verfolgen wird. Vermutlich würde ich irgendwann einfach eine Stunde aus dem Club verschwinden, nur um hierherzufahren und das Ding zu öffnen. Das erspare ich Andie und mir lieber.
Es raschelt und knackt. Ich ziehe die Enden der Pappe auseinander und schaue hinein. Was zur Hölle ist das?
Äste. Jemand hat mir einen riesigen Strauß Äste geschickt. Mit offenem Mund starre ich die dünnen dunkelbraunen Zweige an, die mit einer pastellfarbenen und rosé glänzenden Schleife umwickelt sind.
Da sind Knubbel dran. Ganz viele. Sie sind hell und sehen recht schick aus. Vorsichtig fahre ich mit den Fingerspitzen darüber und kann kaum glauben, was ich erfühle. Diese kleinen runden und ovalen Puschel, die da in wundervollem Naturweiß aus den Zweigen wachsen, sind weich. Sie fühlen sich an wie Fell.
Behutsam hebe ich den Strauß hoch und im Augenwinkel erkenne ich, dass etwas an der Schleife baumelt. Ein schlichtes Schildchen. Ich fange es ein, klappe es auf – und das eine Wort, das mir entgegenspringt, lässt etwas in mir explodieren.
Kätzchen. Da steht Kätzchen.
Ich hatte recht mit meiner Vermutung.
»Dieser Idiot. Dieser nervige, dämliche, arrogante …« Ein kurzer Schrei entfährt mir. Ich lasse den Strauß auf die Couch sinken und stapfe in mein Zimmer, wo ich wütend nach meinem Handy greife.
Es tutet. Und ich höre deutlich, wie er abnimmt.
»Mason! Du … du …« Gott, ich bin so genervt, ich kann ihn nicht einmal mehr anständig beschimpfen.
Ich höre ihn leise lachen, tief und dunkel.
»Kannst du mir erklären, warum du mir einen Strauß Gehölz schickst? Noch besser wäre eine Erklärung, warum du mir überhaupt ständig irgendetwas schickst. Ich brauche das nicht, Mason. Weder die Blumen noch die Pralinen, die Einladungen ins Kino, Theater oder sonst wohin.« Okay, das mit den Pralinen ist gelogen, die waren bisher nämlich ziemlich fantastisch. Die Blumen auch, aber das muss er nicht wissen. Es geht ums Prinzip. Aber diese Art von Unterhaltung führe ich mit ihm bereits, seit Cooper und Andie zusammen sind. Ich glaube, er hat Probleme mit seinem Gedächtnis. Er kann sich meine Worte, verflucht noch mal, nicht merken.
»Ich dachte, sie würden dir gefallen. Das sind Kätzchen, eigentlich unter dem Namen Weidenkätzchen bekannt. Störrisch, hart und zugleich anschmiegsam und weich, wenn sie wollen. Sie haben mich an dich erinnert.«
»Du treibst mich in den Wahnsinn, weißt du das?«
»Geh mit mir aus, June.«
Ich verdrehe die Augen und wünschte, er würde es uns nicht so schwer machen. Das wird nie passieren. »Nein.«
»Ich werde wieder fragen.« Er lacht erneut, und ich muss mich bewusst ablenken, weil ich es mir dieses Mal genau vorstellen kann. Seinen verschmitzten Blick, seine Grübchen.
»Wenn es dich irgendwie glücklich macht, nur zu. Aber du wirst immer dieselbe Antwort bekommen.«
»Wir werden sehen, Kätzchen, wir werden sehen … Bis später!«
»Hör auf, mich so zu nennen, du Schwachkopf!« Er macht das mit Absicht. Ich bin kurz davor, ihn richtig anzubrüllen, doch er legt ohne ein weiteres Wort auf.
Wieso muss der beste Club der Stadt ausgerechnet ihm gehören?
Mason Greene. Ich wünschte, ich hätte ihn damals in meinem Cocktail ertränkt oder er wäre an der Ananas erstickt.
Ich lege das Handy zurück aufs Bett, kneife mir in die Nasenwurzel, dann gehe ich in den Gemeinschaftsraum, starre die Kätzchen nieder und verwerfe schließlich den Gedanken, sie zu entsorgen. Sie sind auf ihre Art wirklich schön, und ich mag sie. Auch wenn es beinahe körperlich schmerzt, das zuzugeben. Das würde ich Mason nur über meine Leiche verraten.
Was mache ich nur? Brauchen sie Wasser oder überleben sie so? Bei genauerem Betrachten fällt mir auf, dass sie getrocknet sind. Gut, ich habe ohnehin keine Vase, die groß genug ist für sie. Deshalb nehme ich mir den Bund, lehne ihn an die Wand neben dem Schreibtisch und hoffe, dass er stehen bleibt. Danach räume ich eilig die Pappe auf und lande endlich vor meinem Kleiderschrank, um mir ein Outfit für heute Abend rauszusuchen. Normalerweise kommen zuerst die Klamotten, danach das Make-up, heute muss es so funktionieren. Ich war zu gefangen in meinen Gedanken und bin im Bademantel vor dem Spiegel hängen geblieben.
Die Hände in die Hüften gestemmt, betrachte ich das Chaos, das sich vor mir ausbreitet. Seit unzähligen Tagen will ich mein Zeug sortieren, ausmisten und ordentlich einräumen – und genau so lange hab ich es nicht geschafft. Andie steht immer kurz vor einem Kollaps, wenn sie mein Zimmer betritt. Vielleicht sollte ich sie von der Leine lassen und ihrem inneren Zwang die Kontrolle übertragen, dann müsste ich mir keine Gedanken darum machen. Aber das tue ich nicht. Es ist meine Unordnung, nicht ihre. Außerdem hat Andie, was das angeht, in den letzten Monaten mehr Fortschritte gemacht als je zuvor. Das darf ich nicht gefährden. Mittlerweile schafft sie es ohne Probleme, ihre eigenen Sachen für ein paar Minuten irgendwo stehen zu lassen. Dreckig, schief oder sogar an einem Ort, wo sie nicht hingehören.
Ich stehe da, starre mein Zeug an und kann nicht verhindern, dass meine Gedanken abschweifen. Die Ferien haben begonnen, und im Gegensatz zu Andie, die im Club arbeitet, ihre Zeit mit Cooper, Socke oder sogar mit Dylan und Netflix oder mir verbringt und somit etwas zu tun hat, ist da bei mir … nichts. Einfach nichts – und dieses Praktikum. Das ist am schlimmsten, denn ich muss das Pflichtpraktikum im Bereich Marketing, Event- oder Büromanagement bis zum Beginn des vierten Semesters nachweisen. Eines von mindestens vier Wochen, wobei mein Dozent hat durchscheinen lassen, dass in diesem Fall gilt: mehr ist mehr. Ich schiebe also berechtigterweise Panik, denn zum einen habe ich mich viel zu spät darum gekümmert, aber zum anderen – und das wiegt schwerer – habe ich die Zusage, die ich in der Tasche hatte, verloren. Ich muss bald etwas Neues finden, wenn ich alle relevanten Seminare im kommenden Semester belegen will, sonst wirft mich das zurück, und das kostet mich mit viel Pech mein Stipendium. Weil es immer Menschen gibt, die besser, schneller, klüger und schöner sind und einen überholen können. Immer. Das hat mich das Leben auf die harte Tour gelehrt.
Mit dem verpassten Praktikum und dem möglichen Verlust des Stipendiums kämen außerdem noch ganz andere Probleme. Neben dem Geld würde es sich nicht gut machen, erklären zu müssen, warum man ein Stipendium nicht aufrechterhalten konnte. Ich werde alles tun, um mir meinen Traum zu erfüllen und mit Andie eine Agentur oder Firma aufzubauen. Wenn ich das nicht schaffe, dann …
Nein, daran darf ich jetzt nicht denken. Irgendjemand wird sich schon auf meine Bewerbungen melden, irgendjemand muss das einfach tun. Ich werde nicht aufgeben!
Mit gerecktem Kinn trete ich vor, suche ein paar Teile aus dem Kleiderhaufen aus und entscheide mich ausnahmsweise für eine Boyfriend-Jeans, die locker auf den Hüften sitzt, sowie ein süßes Top. Passende High Heels habe ich doch auch irgendwo, da bin ich sicher. Ha, da sind sie! Triumphierend ziehe ich sie aus dem Schrank.
Während ich versuche, mich mit einer Hand umzuziehen, hole ich mein Handy. Die Uhrzeit springt mir vorwurfsvoll ins Gesicht. Andie hasst es, dass ich andauernd zu spät bin. Mist. Ich mache das wirklich nicht absichtlich. Keine Ahnung, wie das immer passiert.
Fluchend wähle ich die Nummer eines Taxiunternehmens und hoffe, dass es fliegen kann, damit Andie mir nicht ganz den Kopf abreißt. Ich könnte den Klepper nehmen, aber mit dem Ding in der Stadt zu parken ist mehr als ein Abenteuer. Außerdem brauche ich einen Drink. Oder zwei … Nur keinen mit Ananas.
Welch Ironie, dass die Dinge, die man am wenigsten gebrauchen kann, immer den Weg zu einem finden …
»Du? Hier?«, fragt Andie mit allwissendem Blick und diesem fiesen Unterton, den sie mittlerweile nahezu perfekt beherrscht, während ich an den ersten Gästen vorbei auf die Bar zugehe. Seit ich sie im Club erwischt habe, weil sie keine Bleibe fand und das Lager als Übernachtungsmöglichkeit nutzte, ist sie mutiger geworden. Irgendwie befreiter. Cooper hat wohl seinen Teil dazu beigetragen. Die beiden ergänzen sich, ohne einander einzuengen – und sind richtige Plaudertaschen geworden, zumindest im Vergleich zu der Zeit vor ihrer Beziehung. Wer hätte das am Anfang gedacht?
Unwillkürlich grinse ich, wobei Andie mich beim Schrubben des Tresens nicht aus den Augen lässt.
»Klingt so, als seist du überrascht.« Ich lasse mich auf einen der Barhocker gleiten und beobachte sie, wie sie ihre Brille zurechtrückt. Jetzt lächelt sie erheitert.
»Mein Fehler«, gibt sie zu. »Hatte vergessen, dass ich dir erzählt habe, dass June heute herkommt.«
Ich beuge mich vor. »Und weil ich so ein toller Boss bin, hast du deshalb nur eine kurze Schicht, obwohl Freitag ist.«
»Oh, Mase, du gütigster aller Chefs!«, erwidert sie theatralisch, und dabei fliegt ihr der Putzlappen aus der Hand und verfehlt nur knapp Jacks Kopf. Der ist so vertieft in eine Bestellung, dass er es zum Glück nicht bemerkt.
Wir lachen beide auf, und sie schüttelt amüsiert den Kopf, bevor sie den Lappen einsammelt.
»Im Ernst«, beginnt sie wieder, lässt das Putzen sein und schiebt mir eine Flasche meines liebsten Root Beers rüber, »was ist los?«
»Du musst kündigen und ausziehen. Du kennst mich schon viel zu gut«, brumme ich, bevor ich einen Schluck nehme. June ist los, doch das weiß Andie längst. Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass es jeder weiß. Ich bin June und ihrem frechen Mundwerk, ihrem Temperament und ihrer Intelligenz verfallen. Obwohl erlegen es fast besser trifft.
Ich liebe es, dass sie mich neckt und nicht zurückweicht. Dass ihr mein Familienname und die Tatsache, dass ich der Besitzer dieses Clubs bin, so egal sind wie der Inhalt meines Portemonnaies oder der Stand meines Kontos. Ich will ihr imponieren, weil mein Besitz es eben nicht tut. Und weil ich sie wirklich mag. »Nur das Übliche.«
»Ach so. Na ja, das Übliche betritt gerade die Tanzfläche«, flüstert sie mir zu.
Shit. In mir zieht sich alles zusammen. Ich hatte bis vor wenigen Augenblicken die Hoffnung gehegt, es würde vorbeigehen, hatte darauf vertraut … keine Ahnung! Dass ich das in den Griff kriege? Dass ich mit der Zeit weniger an sie denke und nicht wie ein liebeskranker Teenie durchdrehe, wenn man ihren Namen sagt? Aber es wurde nur schlimmer.
Andie reckt das Kinn und zeigt mit dem Finger auf sie. »Du bist zu spät! Wie kann man fast zwei Stunden zu spät kommen? Zwing mich nicht, Protokoll darüber zu führen, June.« Andies Stimme übertönt dabei die eindringliche Tanzmusik, die gerade läuft und sogar mir zusagt.
Ein weiterer Schluck, noch einer. Ich stelle die Flasche ab und drehe mich endlich nach links, wo mein Blick sie sofort findet.
Scheiße, ich bin so am Arsch. Ich bin vollkommen verloren.
In sündhaft hohen Schuhen gleitet sie über den Boden. Heute trägt sie eine lässige Jeans, darin sieht man sie eher selten, aber mir gefällt es. Ebenso wie das enge Top, das all das betont, was die Jeans an anderer Stelle versteckt: ihre – für mich – fantastische Figur. Die kleine Tasche baumelt an Junes Seite, ihr wehleidiger Ausdruck aus großen wachen Augen gilt vollkommen Andie – mich ignoriert sie einfach –, ihre Haare umrahmen in hellblonden Wellen ihr Gesicht, und die Art, wie sie gerade auf ihre süßen Lippen beißt …
Ich räuspere mich, setze die Maske auf, die ich so perfekt beherrsche und die mich in gewisser Weise schützt.
Als June bei uns ankommt, erhebe ich mich aus Höflichkeit.
»Es tut mir so leid, das musst du mir glauben. Ich hatte ein paar Probleme beim Anziehen.« Flehend greift sie über den Tresen nach Andies Händen, die sich ein Lachen verkneift. Ich kann es ganz genau erkennen. Vorerst kräuselt sie jedoch die Lippen und lässt June zappeln.
»Eigentlich ist es seine Schuld!«
Amüsiert verschränke ich die Arme vor der Brust, als June plötzlich anklagend auf mich zeigt, weil sie Andies Schweigen keine Sekunde lang aushält. Danach lässt sie sich auf einem Barhocker nieder.
»Tatsächlich? Ich kann mich nicht erinnern, dich in irgendeiner Weise daran gehindert zu haben, dich anzukleiden … auch wenn ich absolut nichts dagegen hätte.«
Bedächtig beuge ich mich nach vorne und beobachte sie dabei genau. Ihren Blick, der gespielt abschätzig über mich gleitet, sich in den meinen brennt, die leichte, kaum wahrnehmbare Röte, die wie immer auf ihrem Dekolleté erscheint. Ihren Brustkorb, der sich hektisch hebt und senkt. Den Trotz, der sich dabei in ihr aufbaut, kann ich beinahe spüren. Er hängt wie ein Gewitter in der Luft. Und ich genieße es. Ich genieße es, June zu reizen, zu necken und zu locken.
»Du weißt verdammt genau, was ich meine«, zischt sie. »Du hast mich mit Stöcken abgelenkt!« Es dauert nicht lange, bis Andies verdutzter Blick zu einem belustigten wechselt und sie sich die Hand auf die Lippen presst, um nicht ganz die Kontrolle zu verlieren und ihre beste Freundin auszulachen.
»Bei Gott, ich wünschte, das hätte ich. Einer hätte schon gereicht. Vorzugsweise meiner.« Ich kann nichts dafür. June liefert die besten Vorlagen und denen zu widerstehen ist unmöglich. Sie macht es mir nicht leicht. In keiner Hinsicht.
»Mase! Mach mich nicht wütend. Sag mir lieber, was ich mit dem Unkraut anfangen soll.« Ihre Lippen zucken verräterisch und zeigen mir, dass ihr das Geschenk vielleicht mehr gefallen hat, als sie zugeben möchte.
In dem Moment kommt Cooper aus dem Lager und lenkt unsere Aufmerksamkeit von diesem äußerst spannenden Thema weg.
Wie schade.
»Hey«, sagt er nur und man könnte meinen, er würde uns alle begrüßen, aber wir anderen sind ihm scheißegal. Er steuert auf Andie zu, den Mittelpunkt seiner Welt, zieht sie mit einem Ruck an sich und küsst sie so, wie er sie seit dem Tag küsst, seit sie zusammen sind: liebevoll, sehnsüchtig und warnend. Jeder Kuss schreit: Sie gehört zu mir. Und verdammt, ich verstehe ihn. Ich beneide ihn.
Und ich hätte nicht gedacht, dass dieses Gefühl nach all den Jahren oder überhaupt je wieder in mir aufkommen würde. Bis June da war. Bis Cooper und Andie sich gefunden haben.
Ich leere mein Root Beer, schiebe die Flasche von mir und grinse dümmlich vor mich hin. Andie küsst meinen besten Freund ein letztes Mal, bevor sie sich die Flasche schnappt und meinem Blick ausweicht. Sie ist süß.
Cooper klopft kurz mit der Hand vor mir auf den Tresen, fragt, ob alles okay sei, schaut dabei aber Andie hinterher.
»Geht schon. Machst du nachher mit Andie zusammen Feierabend? Du weißt, du könntest das, weil Ian ab Mitternacht zusätzlich eingeplant ist. Wäre also okay.«
»Nein, ich ziehe die ganze Schicht durch. Andie und June bleiben hier und feiern den Ferienstart. Ich geh später mit ihr heim. Du?«
»Bleibe wohl auch.« Wir grinsen uns an.
»Muss ich mir Sorgen machen?«
»Das fragst du mich schon seit Monaten.«
»Allein das sollte dir zu denken geben.«
»Mach deinen Job, Coop. Der Chef hat gesprochen.«
Er lacht trocken auf, schimpft mich einen Blödmann und schlendert zu Andie, um mit ihr und Jack irgendwas zu besprechen. Bei der letzten Inventur sind ein paar Fehler aufgefallen, aber die kriegen das schon hin. Susie sitzt ohnehin dran.
Ich liebe den Club. Ich habe ihn aufgebaut, unzählige Stunden Arbeit, Energie und Herzblut reingesteckt, aber ich gestehe, dass ich in den letzten Wochen nicht ganz bei der Sache war. Nicht nur wegen June – leider. Sondern auch wegen all der Anrufe und Mails meines alten Herrn, der mich einfach nicht vom Haken lassen will. Wegen all der Gedanken über die Zukunft und der Frage, was ich eigentlich mit meinem Leben anstellen will.
Unabhängig von dem Geld frage ich mich: Sehe ich mich in zwanzig Jahren noch als Besitzer eines Clubs? Endet da meine Berufsbeschreibung? Das MASON’s ist mein Leben, es bedeutet mir mehr, als ich erklären kann, dennoch überlege ich eben, ob es das für immer sein wird. Ob es mich allein glücklich machen wird oder ob ich, beruflich gesehen, noch etwas anderes möchte.
Das beschäftigt mich mehr, als ich zugeben will.
Diesen Gedanken schiebe ich vorerst weg und drehe mich zurück zu der faszinierenden Frau zu meiner Linken, die mich in bester Manier ignoriert.
Deshalb trete ich näher an sie heran.
»Gib es zu, Kätzchen, mein Geschenk hat dir gefallen.«
Schnaubend mustert sie mich, legt den Kopf schief. Wann immer sie das tut, sieht sie ganz besonders bezaubernd aus.
»Kein Stück. Also hör auf, mir irgendwelchen Kram zu schicken. Egal, was es ist. Du verschwendest damit dein Geld und strapazierst meine Nerven.«
Ich ziehe den Hocker heran, setze mich direkt zu ihr. Nah genug, um sie in Verlegenheit zu bringen – was sie natürlich nie zugeben würde –, doch mit genug Abstand, um sie nicht zu bedrängen. Ihr Parfum weht zu mir, frisch und schwer zugleich, weil es sich mit dem Zitronen- und Olivenduft ihres Shampoos vermischt. Wären nicht noch ein Hauch Vernunft und Anstand sowie ein Stück Rückgrat übrig, würde ich meine Nase einfach in ihr Haar drücken.
»Hast du nichts zu tun, Mase?«
»Zu deinem Glück: nein.« Ich hab viel zu tun, aber eben nichts Besseres. Was soll es auch Besseres geben als June?
»Du könntest arbeiten oder einfach irgendeine Frau abschleppen und mich in Ruhe lassen. Du hast es ja nicht weit bis in dein provisorisches Liebeszimmer«, säuselt sie, und mir schlagen ein paar leichte Wellen von Abneigung und Ekel entgegen. Bestimmt hat Andie ihr davon erzählt, denn ich wüsste es, wäre June je dort oben gewesen. Liebeszimmer. Wenn sie wüsste …
»Eifersüchtig?«
»Davon träumst du wohl, was?«
»Oh, mein Kätzchen.« Mein Arm rutscht rechts auf dem Tresen direkt neben sie, während ich meinen Oberkörper mehr und mehr zu ihr beuge. Sie hält meinen Blick fest, ehe sie den Kopf in den Nacken legt, ohne zurückzuweichen, und ich grinsen muss. Dabei ist mir gar nicht zum Lachen zumute, weil sich mir die Brust zuschnürt und der Wunsch, mir June zu packen und sie zu küssen, in den Vordergrund tritt. Es wird immer schwerer, dieses Verlangen zu unterdrücken.
Unsere Nasen berühren sich fast, ich blicke in das helle, klare Grün ihrer Augen. »Wenn ich von dir träume, dann halte ich mich nicht mit solch banalen Dingen auf«, flüstere ich und merke selbst, dass meine Stimme rauer geworden ist. Tiefer. Ich verharre an Ort und Stelle, während der Club und die feiernde Meute immer weiter in den Hintergrund treten.
Das ist der Moment, in dem ich mich daran erinnere, wann und wie oft ich es bereits versucht habe. Wie nach dem Spieleabend, an dem June mich fast in den Wahnsinn getrieben hat. Denn sie konnte nicht verlieren – und noch schlechter erklären. Andie und Cooper waren noch kein Paar, und irgendwie habe ich June dazu gebracht, mit mir und Socke rauszugehen, um den beiden etwas Freiraum zu geben. Ich sehe sie noch deutlich vor mir, wie sie dastand, leicht beschwipst, während das Taxi vorfuhr. Wie sie nicht sofort einstieg, sondern … zögerte. Und ich den Versuch wagte. Ich trat auf sie zu, lehnte mich etwas vor, und mein Blick hielt ihren fest. Unser Atem hallte in der Nacht wider, und es war, als hätte jemand auf Pause gedrückt und die Welt angehalten. Noch ein Schritt, ich schluckte heftig. »Hör auf, Mason«, flüsterte sie, und ich blieb stehen. Und ich hörte auf, auch wenn ihre Stimme, ihre Körpersprache, ihr Blick – wenn alles an ihr mir signalisierte, dass sie das eigentlich nicht wollte. Ich wollte es lassen, bis sie sich plötzlich zu mir beugte und mir näherkam. Ich stockte, weitete die Augen, weil ihre Lippen so nah waren und der Wunsch, sie zu küssen, in mir brannte wie Feuer – aber ich blieb, wo ich war. Ihre Lider senkten sich, und ich hob meine rechte Hand. Ich wollte June berühren, ihr eine verirrte Strähne zur Seite streichen, weg von ihrer Wange und – dann knallte sie mir plötzlich eine. Laut, schnell, schwungvoll.
Heute ist es ähnlich.
Ich sollte mich zurückziehen, bevor ich es zu weit treibe.
Doch in dieser Sekunde macht June einen Fehler. Sie schaut auf meine Lippen. Zu lange und einmal zu oft. Deshalb lege ich meine Hand wagemutig auf ihre und keuche beinahe auf, weil sie ihre nicht wegzieht. Ich würde mich darüber freuen, aber es ist die Hölle. Meine ganz persönliche Hölle, in der man mich stets glauben lässt, ich hätte eine Chance. Nur um sie mir danach wieder zu nehmen.
»Mason Greene!« Mein Name ertönt neben meinen Ohren, ich zucke zusammen, genau wie June. In einer schnellen Bewegung entzieht sie sich mir, als hätte sie gerade einen Sprung in flüssige Lava verhindert. Anscheinend ist ihr bewusst geworden, was eben hätte passieren können. Was beinahe passiert wäre …
Weitaus gelassener, als ich mich fühle, drehe ich mich zu dem Mann neben mir, der mir diesen Moment versaut hat, bevor June es tun konnte.
Fuck. Es ist Griffin. Griffin Davis. Aktueller Berater und Protegé meines Vaters. Was zur Hölle tut ausgerechnet er hier?
June wendet sich ab, und ich würde Griffin am liebsten anschreien, dass er sich sofort aus dem Staub machen soll.
Währenddessen stellt Andie June im Vorbeigehen einen Cocktail hin.
»Ewig nicht gesehen. Wie geht es dir? Ich wollte nicht stören.« Natürlich wollte er das.
Griffin steht nun direkt neben mir und reicht mir die Hand, glotzt dabei jedoch unverhohlen June an, weshalb ich mich sofort erhebe. Ich schüttle seine Hand kurz, schweigsam und ziemlich angepisst, schiebe mich unauffällig zwischen ihn und June, so gut es eben geht. Jetzt bin ich so groß wie er und fühle mich keinesfalls unterlegen.
»Was treibt dich hierher, Griffin? Was möchtest du?« Ich stelle die Fragen höflich, aber ich habe keine Lust auf diesen ganzen formellen Quatsch. Er ist mit Sicherheit nicht ohne Grund hier.
Abschätzig mustert er mich. Er sieht noch genauso aalglatt aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Gegeltes blondes Haar, gebräunte Haut und ein Hemd, das sein Geld nicht wert war. Es kann nicht lange dauern, bis das angeberische und widerliche Verhalten folgt, das ich von ihm gewohnt bin.
»Ohne Umschweife zum Thema, wie ich sehe. Du hast dich nicht verändert.«
»Danke.« Wir wissen beide, dass es kein Kompliment war.
»Ich dachte, ich schaue mir mal an, was du dir aufgebaut hast und weshalb du nicht in der Firma einsteigen willst. Ich wollte sehen, was der Grund für meinen Gewinn ist.« Gott, sein Grinsen und seine radioaktiv strahlenden Zähne kotzen mich an.
»Fein. Dann kannst du ja wieder verschwinden.«
»Wusstest du, dass ich CEO werde, wenn du ablehnst? Ich denke, dafür sollte ich mich bei dir bedanken. Danke, dass du diese schäbige Bude und dein seltsames Leben dem noblen in der Firma vorziehst. Alan geht es übrigens bestens, falls du das noch fragen wolltest«, tönt seine Stimme über die Musik des Clubs.
Widerliches Arschloch. Wenn er so weitermacht, verschwindet er bald ganz im Hintern meines Vaters, Alan Greene. Dem Mann, der mich einfach nicht in Ruhe lassen kann und stattdessen mit allen Mitteln versucht, mir seine große Liebe schmackhaft zu machen: die Greene Company. Ein milliardenschweres Wirtschafts- und Immobilienunternehmen. Doch das will ich nicht. Es reicht mir, dass ich meinen Vater an Weihnachten sehen muss – und das auch nur, weil mein schlechtes Gewissen mich dazu zwingt. Weil er eben der letzte Rest an Familie ist, den ich habe.
Auf keinen Fall werde ich wie er, ziehe Geld allem und jedem vor, werde rücksichtlos und unnachgiebig. Und garantiert werde ich ein Unternehmen, ein seelenloses Ding, nie über die Menschen stellen, die mir etwas bedeuten.
Ich halte Griffins Blick stand. Es gibt nichts zu bereden, er ist keine einzige weitere Erwiderung wert. Wenn er nicht gleich verschwindet, lasse ich ihn rauswerfen. Hier habe ich das Sagen.
»War schön, dich zu sehen. Um der alten Zeiten willen.« Griffin macht einen Schritt und … schaut erneut zu June. Ohne es verhindern zu können, tue ich es ihm gleich. Sie hat sich uns zugewandt, mustert uns beide unverhohlen und reckt das Kinn. Dieses Mal gilt ihr angriffslustiger Blick nicht mir.
Griffin schürzt die Lippen.
»Versuchst du, wieder aufs Pferd zu steigen? Was für eine Verschwendung.« Sein Lachen gleicht einem Presslufthammer. Es dröhnt nicht nur in meinen Ohren, sondern sitzt plötzlich auf meiner Brust und drückt den Sauerstoff heraus. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, bis ich eine Berührung an meinem Arm spüre und Junes Lachen höre.
Sie ist aufgestanden, hat sich direkt neben mich gestellt. Ich glaube nicht, dass sie Griffins Worte gehört hat. Oder? Trotzdem ist sie jetzt hier …
Für einen Moment bin ich so erstaunt, dass ich den Mund öffne und schließe, als wäre er kaputt. Griffins Augenbrauen schießen in die Höhe.
»Sieh einer an.« Er steckt seine Hände lässig in die Hosentaschen.
»Hey, ich bin June.« Dieser zuckersüße Ton bedeutet nichts Gutes. Ich kenne ihn. Meistens setzt sie ihn ein, wenn ich ihr auf die Nerven gehe. Dieses Mal trifft er jedoch den Typen vor mir. Währenddessen bringe ich kaum einen vernünftigen Gedanken zustande. Junes Hand umfasst meinen rechten Arm, sie lehnt sich an mich, und ich spüre nur zu deutlich, wie die Finger ihrer linken Hand meinen Rücken entlangfahren. Was tut sie gerade? Was hat sie vor?
»Griffin. Ich bin ein … alter Freund der Familie.« Freund. Beinahe hätte ich aufgelacht oder die Augen verdreht vor Brechreiz. Er ist ein Parasit. Mehr nicht.
Sofort spanne ich mich an, aber June drückt mich leicht, als hätte sie es gespürt und wolle mich beruhigen.
»Griffin«, schnurrt sie, lässt ruckartig von mir ab und tritt so nah vor ihn, dass ich die in mir aufsteigende Welle der Eifersucht kaum unter Kontrolle halten kann.
June ist betörend – wie eine Venusfliegenfalle. Das spürt wohl auch Griffin in dieser Sekunde, denn unwillkürlich kommt er ihr entgegen, kann seine Augen nicht von ihr lassen, und sein Ausdruck zeigt seine Faszination für die Frau vor ihm. Zumindest, bis sie ihm erzählt, was sie von ihm hält … »Du benimmst dich wie ein Arschloch. Ich kann dich nicht leiden. Zeit ist kostbar und während du noch dabei bist, ein Chef zu werden, ist Mason längst einer. Also lass Mason und mich jetzt bitte allein.« Wow. Ich glaube, ich habe mich gerade noch ein Stückchen mehr in June verliebt.
»Mason weiß doch gar nicht, wie er mit einer Frau wie dir umgehen soll.«
Sie beißt sich nur einen Hauch von Griffins Lippen entfernt auf ihre, und ohne Vorwarnung dreht sie sich in einer fließenden Bewegung zu mir herum, schließt die Lücke zwischen uns. Und küsst mich. Alle verfügbaren Synapsen brennen bei mir durch.
Was … passiert … hier?
Junes warme und weiche Lippen liegen auf meinen, ihre Hände umfassen mein Gesicht, unsere Blicke treffen sich und mein Kopf ist wie leergefegt. Ich bin paralysiert. Darauf war und bin ich nicht vorbereitet. All die Monate schon wünsche ich mir nichts sehnlicher, träume von nichts anderem als diesem Augenblick, und jetzt? Jetzt bin ich nicht vorbereitet! Das ist doch ein Witz.
June schmiegt sich an mich, schmeckt nach Sahne und Kokosnuss, wahrscheinlich von dem Cocktail, den sie gerade getrunken hat.
Kann das wahr sein?
Immer dann, wenn man denkt, man hätte sein Leben auf jeden Fall vollkommen unter Kontrolle, passiert etwas Verrücktes, das einem zeigt, dass man absolut gar nichts unter Kontrolle hat.
Keine Panik. Ich darf jetzt nicht ausrasten. Es ist nur ein Kuss, nur ein Kuss, ein simpler Kuss … mit Mason.
Los, Mase. Tu doch was, flehe ich ihn stumm an, weil er wie versteinert dasteht. So glaubt der Vollarsch neben uns das nie. Doch im Moment schaut er mich aus seinen grünbraunen Augen nur so überrumpelt an, wie ich mich fühle.
Ich fahre mit den Lippen sanft über die seinen und rede mir ein, dass es kein großes Ding ist. Nur eine einfache Rettungsaktion. Was man eben so für seine Freunde tut, wenn sie einen brauchen. Dabei überzeuge ich mich davon, dass ich das nur aus dem Grund mache, weil dieser Griffin ihn von oben herab und wie den letzten Dreck behandelt hat. Nicht dass ich alles verstanden hätte von dem, was sie gesprochen haben, oder genau wüsste, worum es geht, aber selbst ein Blinder hätte eines sofort gemerkt: Sie hassen sich. Und vor allem hat er Mason das nur zu deutlich zu verstehen gegeben. Dass er das ausgerechnet hier tut, in Masons Club, macht das Ganze nur noch widerlicher.
Mason hat sich sichtlich unwohl gefühlt. Da konnte ich ihn unmöglich hängen lassen.
In der Sekunde, in der dieser Kerl mich gemustert und unterschwellig gefragt hat, ob ich zu Mason gehöre, als könne er es nicht glauben und als wäre das absolut abwegig, hat etwas in mir ausgesetzt. Mir ist klar, dass es besser gewesen wäre, einfach nur meinen Cocktail zu trinken und mich nicht einzumischen. Vermutlich hätte es noch andere Wege gegeben als diesen Kuss, aber eben keinen so effektiven. Keinen, der diesem Griffin wirklich deutlich gemacht hätte, dass er mit seiner Aussage falsch liegt.
Ja, Mase ist ein nerviger Idiot, der mich in den Wahnsinn treibt, aber er ist ein Freund. Irgendwie zumindest. Und wenn jemand wütend auf ihn sein und ihn anschreien darf, dann bin ich das. Ich! Nicht so ein glatt gebügelter Schnösel, dessen Ego größer ist, als ihm guttut.
Mein Magen zieht sich leicht zusammen. Ich bin so angespannt, dass ich glaube, gleich einen Ganzkörper-Muskelkrampf zu kriegen, wenn Mase nicht endlich anfängt, sich zu bewegen.
Mit den Daumen fahre ich auf beiden Seiten über seine Wangen, hoch und runter. Ein letzter Versuch, bevor ich aufgeben und mich lösen will, weil das hier Unsinn ist. Soll er doch allein mit dem Arsch zurechtkommen …
Da spüre ich es.
Masons Arme umfassen mich, seine Hand landet an meinem Hals, wandert zu meinem Nacken, zieht eine Linie aus Feuer über meine Haut, die andere kommt warm und fest auf meinem unteren Rücken zum Liegen. Hält mich, drückt mich enger an sich, sodass ich vor Überraschung fast den Halt auf den hohen Schuhen verliere.
Es ist, als würde Mase endlich aufwachen.
Automatisch lässt meine Anspannung nach, dabei gibt es dafür absolut keinen Grund. Es gibt keinen Grund, sich in Masons Armen gehen lassen zu wollen, verdammt.
Er schließt seine Augen, seine Lippen bewegen sich, nehmen meine mit auf die Reise und als er den Kuss seinerseits vertieft, schreit etwas in meinem Kopf mit schriller Stimme, dass ich schleunigst die Reißleine ziehen sollte. Stattdessen schließe auch ich endgültig meine Augen, komme ihm entgegen, und in dem Moment, in dem seine Zunge auf meine trifft, entfährt mir ein Seufzen, das mich zusammenzucken lässt. Mase entgeht nichts davon. Und meine Reaktion auf ihn bringt ihn nur dazu, mich noch fester zu halten, mich ganz zu umfassen und mich zu küssen, als wäre es das Letzte, was er in seinem Leben tun würde. Oder tun wollte.
Es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, dass ich es nicht genieße. Eine Lüge, zu behaupten, dass sich seine Nähe nicht angenehm anfühlt oder er nicht gut küsst. Denn das tut er. Wir sind wie zwei Zahnräder, die perfekt ineinandergreifen. Und das macht das hier zu einer absolut grottenschlechten Idee. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Ich kann Masons Muskelspiel deutlich spüren. Meine Finger sind mittlerweile auf seinen Oberarmen angekommen, verharren direkt unterhalb der breiten Schultern, und … ich spüre seine Erregung, die gegen meinen Bauch drückt.
Das ist der Moment, in dem sich meine Gedanken klaren und sich meine Lider heben.
Sofort beende ich den Kuss, drücke Mason von mir weg, auch wenn ich mich noch nicht vollständig von ihm lösen kann. Jedenfalls nicht, wenn sein Duft, sein Geschmack und seine Hitze noch an mir hängen und mich benebeln wie starke Opioide. Seine Hände liegen weiter auf mir, halten mich, und ich lasse es zu.
Ich atme zu schnell, zu laut, zu heftig, während wir uns in die Augen sehen und ich mich frage, was er wohl denkt. Oder was ich denke …
»Dann hoffe ich, du wirst mit dem Versager happy«, höre ich Griffin irgendwo am Rand sticheln, doch es ist mir egal. Weder Mason noch ich reagieren auf ihn.
Wir haben gerade andere Probleme.
In der Sekunde, in der Mason sich rührt, ganz von mir ablässt und zurücktritt, wird mir kalt. Mitten im Club, zwischen all den schwitzenden Menschen.
»Er ist gegangen«, platzt es aus mir heraus. Wow. Intelligent, eloquent, mit Timing … ganz ich.
»Ist er.« Masons Stimme klingt belegt. Sein fragender Blick liegt so eindringlich auf mir, dass ich am liebsten wegschauen oder ohne ein weiteres Wort abhauen würde.
»Gut.«
Ich muss hier weg, denn es wird nicht besser. Statt mich in Bewegung zu setzen, rutscht mir noch ein »Er war ein Arschloch« raus, was Mason ein Grinsen entlockt. Niemand sieht so anziehend aus, wenn er grinst, und sorgt dafür, dass ich … Stopp! Umgehend hindere ich meine Gedanken daran, in die falsche Richtung abzudriften.
»Das war er.«
Gott, er könnte ruhig mal mehr von sich geben. War das eben nur ein Witz für ihn? Denkt er, ich tue das für jeden?
Ich werde wütend. Auf ihn, auf mich und diese dumme Reaktion von eben. Jetzt glaubt Mase sicher, dass ich was von ihm will und dass seine Geschenke vielleicht doch irgendwas genutzt haben.
Mit in die Hüfte gestemmten Händen funkle ich ihn an. »Gern geschehen, Mase! Ich rette dich jederzeit wieder.«
Statt eines blöden Kommentars, einer Neckerei oder Albernheiten ernte ich ein ehrliches Lächeln, das mich aus der Bahn wirft. Und ein ebenso entwaffnendes »Danke, June«, bevor Mase mich stehen lässt und durch die Menge in Richtung seines Büros verschwindet. Damit habe ich meine Antwort. Ihm ist klar, dass ich das nicht für jeden tun würde … Ehrlich gesagt, wusste ich bis vor wenigen Sekunden nicht einmal, dass ich es für ihn tun würde.
Mason hat mich berührt. Am Hals. Auf der linken Seite. Ich bin zu ihm gekommen, ich habe es angefangen – und es machte mir nichts aus. In dem Moment des Kusses spielte es keine Rolle, ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Ich bin nicht erschrocken. Nicht zurückgewichen.
Das ist gefährlich. Es macht mir Angst.
Das hier fühlt sich an wie einer jener Jugend-Momente, in denen mein Make-up aufgebraucht war und ich keine Ahnung hatte, wo ich mitten auf dem Land in Montana auf die Schnelle neues herbekommen sollte. Oder wie der erste Tag meiner Periode in der Highschool, im Sommer, als ich einen weißen Rock trug. Eine Mischung aus Überforderung, Gelähmtsein und dem ultimativen Panikmodus.
Ich atme tief durch, reiße mich so weit wie möglich zusammen und werfe einen letzten Blick auf Mase, bevor er in der Menge verschwindet.
Die Gelegenheit, zu fragen, wer dieser widerliche Typ genau war, habe ich verpasst.
Irgendwie lande ich wieder auf meinem Barhocker, vor meinem Cocktail und merke, wie Andie mich mit offenem Mund betrachtet.
»Bin ich … Ist das …?«
»Jepp«, antworte ich. Anscheinend hat sie im Gegensatz zu mir gerade ein paar Probleme, sich zu artikulieren, aber ich wusste ganz genau, was sie mich fragen wollte. Und obwohl ich noch benebelt bin, funktioniert das mit den knappen Antworten ganz gut. Maximaler Effekt, minimale Gehirnkapazität.
Allerdings fängt Andie sich schnell wieder.
»Da passe ich einmal nicht auf, und du küsst Mason? Du?«
»Das ist keine große Sache.« Schnell trinke ich was von meinem Cocktail. Klasse, ich bin so gierig, dass ich mich fast verschlucke.
»Weiß er das auch?« Meine beste Freundin reinigt skeptisch ihre Brille und bewegt die Nase, als sie sie wieder aufsetzt.
»Er ist kein Idiot.« Nachdenklich stelle ich das Glas ab.
Sie lacht. »Nicht? Dabei sagst du ihm das immer und immer wieder.«
Stöhnend vergrabe ich mein Gesicht in den Händen, bis ich mich und meine Gedanken wieder etwas besser Griff habe. »Es bedeutet nichts. Keine Ahnung, wer der Typ war, aber er hat sich beschissen benommen und so getan, als sei Mason nicht gut genug für … irgendwas oder irgendjemanden. Mase ist unser Freund, Andie. Da hat was in mir ausgesetzt, und ich musste ihm einfach helfen.« Ich zucke mit den Schultern.
»Verstehe ich. Du bist die Erste, die für ihre Freunde in den Kampf zieht, ohne Wenn und Aber. Nur … warum musste es direkt ein Kuss sein? So ein Kuss, June. Das war nicht nichts, ganz und gar nicht. Ich bin mit Cooper zusammen. Mittlerweile kenne ich diese Art von Kuss.«
»Aussetzer. Kurzschluss. Anders kann ich es mir nicht erklären. Egal, der Typ ist weg, und mein ist die Genugtuung, ihn vergrault zu haben.« Grinsend proste ich Andie zu, die nur den Kopf schüttelt und zurück an die Arbeit geht, während ich mich bemühe, den Abend zu genießen und die Ferien willkommen zu heißen. Und absolut nichts in die Sache hineinzuinterpretieren, was da nicht hingehört.
Ein paar Stunden später hat Andie endlich Feierabend und gesellt sich zu mir auf die andere Seite des Tresens.
»Es war nur eine kurze Schicht, und trotzdem bin ich total gerädert.« Ächzend bindet sie sich einen neuen Zopf. Dabei mustere ich ihr Outfit. Sie trägt wieder dieses grausige Holzfällerhemd. Ich glaube, es ist verhext. Es wird nie kaputtgehen, wenn ich das nicht selbst in die Hand nehme. Das nehme ich mir schon so lange vor … Vermutlich wird das Ding auf ewig weiter existieren. Ich schüttle kaum merklich den Kopf und lächle. Wenigstens macht es Andie glücklich.
»Es war viel los heute, es ist klar, dass du erschöpft bist. Möchtest du trotzdem mit mir tanzen? Oder lieber ein wenig an der Bar bleiben und reden? So oder so, jemand sollte dir zuerst einen Drink bringen.« Pünktlich und direkt aufs Stichwort stellt Cooper meiner Freundin ein kühles Wasser mit Zitrone vor die Nase. Kaum auszuhalten, wie aufmerksam der Kerl ist. Ich lächle trotzdem, denn ich freue mich unendlich für die beiden. Ehrlich.
»Wie auf Kommando«, kommentiert Andie das Ganze, strahlt Cooper an und trinkt einen großen Schluck. »Hm, das tut gut. Was ist? Warum siehst du mich so an?«
»Ich musste gerade an unseren ersten Abend im MASON’s denken, an das erste Wasser, das du genau hier getrunken hast, die erste Begegnung mit Mase und Cooper. Deinen ersten Tag in Seattle und an alles, was seitdem passiert ist.«
»Und es ist verdammt viel passiert«, stimmt sie lachend zu. »Jetzt geht es uns fantastisch, das Studium läuft gut, und unsere Sorgen sind kleiner geworden. Das habe ich kaum zu hoffen gewagt.«
Ich nicke.
»Oder?«, hakt Andie nach, und ich weiß genau, dass es nichts nutzt, ihr auszuweichen.
»Ja, schon. Das mit dem Praktikum macht mir einfach etwas zu schaffen.«
»Was ist mit dem Platz in der großen Agentur nahe der Space Needle? Die hatten dir doch was in Aussicht gestellt. Ich dachte, alles wäre geregelt?«
»Sie haben jemand anderen genommen«, gebe ich kleinlaut zu. Ich gestehe, ich habe Andie nicht alles gesagt, was es zu sagen gab.
»Aber wie? Das können die nicht machen!«
»Doch, können sie.« Ich trinke den letzten Schluck meiner Limonade, auf die ich vor einer Stunde umgestiegen bin, und schiebe das Glas hin und her. Ein Seufzer entfährt mir. »Ich hatte am Ende drei weitere Konkurrenten.«
Der Gesichtsausdruck meiner besten Freundin wandelt sich zu Recht von empört zu verwirrt. »Hast du nicht gesagt, du hättest den Praktikumsplatz sicher? Ich verstehe nicht, ich dachte … Hab ich was nicht mitbekommen?«
»Nein.« Schnell schüttle ich den Kopf. »Ich dachte ja auch, ich hätte ihn. Das Gespräch lief perfekt, ich war so optimistisch und euphorisch. Vor drei Wochen kam eine Mail, in der stand, dass bisher alles gut aussähe und sie nicht glauben, dass meinem Praktikum bei ihnen etwas im Wege stehen würde. Dass sie alles vorbereiten. Dann kam die Absage. Anscheinend wollten sie mich nur bei Laune halten, falls ihr Favorit abspringt. Leider hat er das nicht getan.« Scheiße. Es laut auszusprechen, frustriert mich nur noch mehr. Ich beginne an dem einen großen Loch am Knie meiner Jeans herumzufummeln, während die Musik wechselt und mit ihr die Lichteffekte im Club.
Es riecht nach Zitrone, weil die Mädels neben uns gerade Tequila trinken, und dem Zeug aus der Nebelmaschine.
»Oh June. Wieso hast du mir das nicht gleich erzählt? Alle Möglichkeiten mit mir besprochen?« Andie legt ihre Hand auf meine. »Wir finden was anderes für dich. Das wird schon.«
»Hoffentlich. Jetzt wird es richtig knapp. Ich hab beinahe sämtliche Firmen und Optionen in Seattle abgeklappert. Entweder haben sie keine Kapazitäten mehr oder nehmen grundsätzlich keine Praktikanten.«