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Ailis Regin

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Beschreibung

Was tun mit einem magischen Efeu?
Julian, Tilo und Milo sind im Besitz dieser Pflanze. Eine Ranke davon in ihrem Arm lässt sie zaubern.
Klingt toll, ist es aber nicht immer. Denn weiß dies jemand, ist ein erbitterter Kampf vorprogrammiert. Das erkennt Cloe schnell, die zusammen mit ihren Freundinnen Anna und Lisa in der Kindheit schon ein Erlebnis mit der Pflanze hatte und jetzt, wo sie die Jungs wiedertreffen, erneut damit konfrontiert wird.
Ein Abenteuer jagt das nächste, während sich zwischen Cloe und Julian langsam etwas anbahnt, sie aber irgendwie nicht auf die gemeinsame Fährte gelangen.
Zumal da immer der Efeu im Weg zu sein scheint...

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Ailis Regin

magic ivy

Der Kampf ums Glück

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Der Kampf ums Glück beginnt

 

 

»Mädchen! Mädchen!«, feixte Julian.

Er und seine zwei Brüder Tilo und Milo lachten drei Mädchen aus, die bei einem sehr merkwürdigen Spiel einfach nicht mitspielen wollten. Sie standen an diesem warmen Frühlingstag alle zusammen auf der schmalen Straße. Links und rechts von ihnen waren Gartenzäune und Hecken. Der Eingang von Lisas Zuhause war nicht weit weg. Julian hatte versucht, sie so weit wie möglich wegzulocken, nicht weit genug für seinen Geschmack, aber die argwöhnische Lisa wollte einfach nicht weiter weggehen.

Als die Mädchen gefragt hatten, was sie spielen sollten, hatten sich die Jungs angeblickt und dann etwas ganz Mysteriöses vorgeschlagen. Was genau wollten sie jedoch nicht verraten.

Cloe war sofort dabei. Das achtjährige Mädchen war immer schon abenteuerfreudig gewesen. Sie liebte es, neue Dinge auszuprobieren. Aber ihre besten Freundinnen Anna und Lisa fanden das alles schon irgendwie komisch. Vor allem die schwarzhaarige Lisa traute den drei Fremden nicht.

Sie kannten sich noch nicht lange, da die Buben erst vor wenigen Wochen hierher in das oberösterreichische Dörfchen St. Pankraz gezogen waren. Diese plumpe Lästerei von den ähnlich dreinblickenden Jungen ließen sie sich aber auch nicht gefallen und die Kinder taten mit. So spielten sie, Cloe voller Freude, die anderen mit mulmigem Gefühl im Magen.

Cloes absoluter Favorit Julian - sie träumte davon, dass sie ihn eines Tages heiraten würde – holte eine Pflanze hinter dem Rücken hervor. Es war ein kleiner Stock Efeu.

Die Mädchen sahen sich skeptisch an, dann lachten sie. Was sollte das schon für ein Spiel sein? Mit Efeu?

Die Jungs lächelten auch, doch es war geheimnisvoll und verheißend.

»Reiß eine ab«, sagte Julian zu Cloe.

Nun wurde auch Cloe etwas mulmig zumute, trotzdem tat sie wie geheißen. Vorsichtig bog sie eine der Ranken am Ende hin und her, bis sie laut knackte. Erschrocken zog sie die Luft ein und schaute Julian erwartungsvoll an. Dieser Junge, dessen graue Augen zwar merkwürdig funkelten, im Moment aber sonst keinen Ausdruck verliehen, schwieg. Er schien auf etwas zu warten.

Aber auf was? Es passierte gar nichts. Was sollte denn auch passieren bei einem Stück Efeu? Sie blickte Julian immer noch an und wurde ungeduldig.

Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht. Was war denn los? Cloe hatte sich keinen Millimeter bewegt, wieso hatte sie jetzt das Gefühl zu fallen, obwohl sie über nichts gestürzt war? Krampfhaft zwickte sie die Augen zu und bereitete sich auf den kommenden Schmerz vor. Nur irgendwie kam er nicht. Ganz langsam lugte sie zwischen ihren Lidern hervor, ein Schrei entfuhr ihrer Kehle.

Sie schwebte. Ihre Füße, alles an ihr baumelte in der Luft, unter sich zwei verängstigte Mädchen und drei feixende Jungs. Die Efeuranke hatte sie nicht mehr in der Hand - sie war zu einem Tattoo mutiert, das nun ihren Unterarm zierte. Die Überraschung schockierte sie ungemein.

Sie konnte es überhaupt nicht glauben und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, geschweige denn, was sie denken sollte.

Sie wollte das Wort an einen Jungen unter ihr richten, doch dazu kam es nicht. Nicht mal ein Hauch von Belustigung war in deren Gesichtern zurückgeblieben. Stattdessen beherrschte sie die pure Angst.

Cloe wurde panisch, als sie wahrnahm, dass Julian und seine Brüder zwar gewusst hatten, dass man durch diesen Efeu fliegen konnte, aber nicht, wie man diese Gabe steuerte.

Die Gefühle des Mädchens schlugen schlagartig um. Cloe verspürte eine unglaubliche Wut. Was hatte er sich gedacht?

Unbeirrt starrte sie Julian an. Ihr ganzer Groll galt nur ihm. Nur, um ihm zu imponieren, hatte sie mitgemacht. Und was hatte sie jetzt davon? Wie hatte er das nur zulassen können?

Tränen kamen ihr, als die Verzweiflung wieder die Oberhand gewann. Sie wollte nichts als runter da und nie wieder mit diesen Buben reden.

»Macht doch was!«, schrie sie und fühlte sich, als redete sie gegen eine Wand. Keiner schien fähig zu sein, sich zu bewegen oder eine Lösung für das Desaster zu finden.

Nun baumelte sie da, verzagt schaute sie zu ihren Freunden runter, wobei sie vor lauter Tränen nur verschwommene Silhouetten erkennen konnte. Das angsterfüllte Mädchen begann leise zu wimmern. Sie wollte runter. Den Boden unter ihren Füßen spüren und so schnell wie möglich zu Mama.

Im nächsten Moment platschte es und sie tauchte in kaltes Nass ein. Prustend gelangte sie an die Wasseroberfläche. Ihre Zähne klapperten unaufhörlich. Schnell schwamm Cloe an den Rand und zog sich heraus. Dann kauerte sie sich zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Hemmungslos weinte sie und schien sich nicht beruhigen zu wollen.

Erst nachdem sie schon halb erfroren war - die Luft war an diesem Frühlingstag zwar schon einigermaßen warm, konnte sie aber durch die nassen Klamotten trotzdem nicht erwärmen - sah sie sich um. Ihre Freunde waren nicht mehr in Sicht, man hörte auch nichts von ihnen.

Grund dafür war, dass sie im Garten ihres Nachbarn gelandet war, wie sie feststellte. Am anderen Ende der Siedlung, die Kinder standen noch auf der Straße oder waren längst weggelaufen.

Schlotternd stand sie auf und durchquerte den Garten, vorbei an der kleinen Holzhütte, in die sie sich schon ab und an verkrochen hatte, hinaus auf die Straße. Wie ausgestorben.

Feiglinge, dachte Cloe verbittert, war aber irgendwie auch froh darüber. Sie wollte nichts mehr mit diesen Jungen zu tun haben. Egal wie niedlich Julian war, jetzt mochte sie ihn nicht mehr.

»Diese Blödmänner. Wieso sind die so doof?«, schimpfte Cloe vor sich hin, während sie die Haustüre zuschlug. Ihre Mutter lugte aus der Küche und machte ein fragendes Gesicht, und Cloe begann - wie immer - gleich zu erzählen.

Sie redete von der Pflanze, wobei sie auf den Unterarm sah. Dort war nichts mehr zu sehen von einer Tätowierung. Irritiert wandte sie sich ab und plauderte darüber, wie sie plötzlich geflogen war. Ihre Mama hörte geduldig zu, dann begann sie zu lachen.

»Ach Kindchen. Lass dich nicht ärgern. Die haben doch bestimmt nur Spaß gemacht«, beschwichtigte sie, während sie ihre Tochter aus den nassen Sachen schälte.

»Nein. Die sind gemein. Einfach nur gemein!«, brüllte Cloe beleidigt. Wie konnte Mama nur so etwas sagen?

Wütend rannte das Mädchen ins Bad, wo sie so lange unter der Dusche stand, bis ihr wieder wohlig warm war. Als sie sich um die trockene Kleidung bückte, die achtlos neben der nassen Wäsche am Boden lag, entdeckte sie die Efeuranke. Erneut begann sie zu zittern.

 

***

 

Julian hatte Angst, so richtig Angst. Mama hatte so geschimpft, dass er sich am liebsten in seinem Zimmer verkrochen hätte und tagelang nicht mehr aufgetaucht wäre. Aber Mama hatte ihm nun auch noch angeschafft, sich bei Cloe zu entschuldigen.

Seine Brüder waren nicht da, also ging Julian in den Dachboden. Dort hatte seine Mutter einen Platz für die Pflanze geschaffen. Sie war aufgebahrt auf einem alten Sekretär, der immer aufgeklappt war, sonst hätte der Efeu ja keine Luft bekommen. Die ganze Idylle wirkte für den elfjährigen Jungen gespenstisch, er kam sich immer vor, als stünde er in der Kirche.

Neben dem Stock lagen drei einzelne Ranken. Es waren die von den Brüdern kürzlich abgerissenen. Die Mama hatte es ihnen verboten, die Ranken dauerhaft zu tragen. Wäre es nach ihr gegangen, wären die Kinder noch kein einziges Mal mit der Magie in Berührung gekommen. Nur, wie es bei Kindern nun mal üblich ist, waren sie neugierig, was da im Dachboden war, den zu betreten als strikt verboten galt. Julian war fünf, als er mit seinen Brüdern hinaufgeschlichen war, als die Mutter einkaufen gefahren war und die Jungs ausnahmsweise zuhause bleiben durften.

Es war ein Schock, als sie, ohne sich etwas dabei zu denken, je eine Ranke abrissen und plötzlich Dinge tun konnten, die sonst keiner konnte. Julian beamte sich von einem Ort zum anderen, Milo schwebte an der Decke und Tilo konnte mit bloßer Gedankenkraft Dinge bewegen.

Als ihnen auffiel, dass die Ranken als Tattoo ihre Arme zierten, wurden sie panisch. Das würde ihrer Mutter bestimmt auffallen, was dann auch so war. Solch einen Ärger hatten sie noch nie bekommen. Mama hatte ihnen die Pflanze wieder aus dem Arm gerissen, was ein unangenehmes Kribbeln verursacht hatte, und ihnen verboten, die Ranken je wieder zu benutzen.

Trotzdem gingen sie immer wieder in den Dachboden. Ihre Mutter hatte dann das Verbot gelockert, da sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Sie erlaubte ihnen nun, mit der Magie zu spielen, wenn sie die Ranke nur wieder ablegten und nie nach draußen tragen würden.

Zu diesem Zeitpunkt erfuhren sie, dass ihr Urgroßvater dieses Ding entdeckt hatte, in einer Höhle. Und seitdem befand er sich im Familienbesitz. Die Pflanze wuchs stetig weiter und in jeder Ranke war derselbe Zauber enthalten. Deshalb war absolute Diskretion erforderlich, denn würde jemand davon erfahren, wäre ihrer aller Leben nicht mehr sicher. In den falschen Händen wäre die Magie ein großes Problem.

Die abgerissenen Ranken konnten eine Woche überleben, ohne an den Körper gebunden zu sein, danach verdorrten sie und man musste eine Neue abreißen. Dies verstanden die kleinen Jungen und befolgten die Anweisungen. Julians Vater trug seinen Efeu dauerhaft und die Jungs konnten es nicht erwarten, bis sie das auch endlich durften.

Mit der Aktion, die sie vor den Mädchen abgeliefert hatten, wollte Julian seine Nachbarin Cloe beeindrucken. Er hatte sie am Tag ihres Einzugs in diesem Haus gesehen und seitdem wollte er, dass auch sie ihn sah, nur ihn. Und nun hatte er womöglich alles vermasselt. Die Panik in ihren Augen würde er so schnell nicht mehr vergessen.

Zitternd legte er die Hand auf eine der Ranken. Er wollte sie nicht aufnehmen, er wollte nur, dass sie ihm Kraft gab. Und er bekam auch die Kraft, nur wollte die Pflanze nicht einfach zurückgelassen werden. Sie kroch seinen Arm hinauf und sank in seine Haut.

So sehr sich Julian auch bemühte, sie ließ sich nicht mehr abstreifen. Voller Hast rannte er nun in sein Zimmer und streife sich einen Pullover über. Dann rannte er raus, ohne noch einmal zu seiner Mutter zu gehen.

Kaum war er vor der Haustüre angelangt, traf er auf seine Brüder.

»Lasst uns gehen«, platzte Julian sofort heraus.

»Nee. Erst geh ich was trinken«, erwiderte Milo und verschwand in der Tür.

Nervös schnaubte Julian. Je länger sie blieben, desto größer war die Gefahr, dass seine Mama ihm auf die Schliche kam.

»Milo, mach hin!«, forderte nun Tilo in bestimmendem Ton.

Gott sei Dank, Julian war nicht der Einzige, der schnell hier weg und die anstehende Entschuldigungsleier hinter sich bringen wollte. Ein Blick zu seinem ältesten Bruder ließ ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken ziehen. Seine hellbraunen Augen fixierten Julian. Er hatte ihn sofort durchschaut, hatte aber zum Glück nicht vor, ihn zu verpfeifen, sondern sorgte dafür, dass es geheim blieb.

Genervt erschien Milo in der Tür und zu dritt machten sie sich auf den Weg. Vor der Haustüre angekommen zögerten sie. Angst machte sich breit. Wie würde denn die Mutter von Cloe reagieren?

Ihre Sorge war jedoch unbegründet. Nachdem sie geläutet und der Frau erklärt hatten, wer sie waren und warum sie vor der Tür standen, ließ sie die drei Kinder in den Flur und schrie nach ihrer Tochter.

Es dauerte etwas, bis man eine Tür hörte und Julians Traum sichtbar wurde. Als sie die Jungs sah, blieb sie mitten auf der Treppe stehen und bekam große Augen. Oh, wie Julian dieses Grün mochte - seine absolute Lieblingsfarbe seit neuestem.

Bevor einer der drei auch nur den Mund aufmachen konnte, rannte sie die Treppen wieder hinauf. Ratlos blickten sich die Brüder an.

Dann tauchte Cloe erneut auf. Sie schmiss ihnen die Efeuranke vor die Füße und schrie: »Lasst mich in Ruhe! Ich will nie mehr mit euch spielen.«

Damit rannte sie endgültig in ihr Zimmer und achtete nicht auf die Mama, die ihr nachschrie.

I

 

 

Summend wanderte Cloe Wolv mit ihren Kindheitsfreundinnen Anna Neuer und Lisa Ruhr am Schulgelände umher. Es war einer von sehr seltenen unbeschwerten Momenten.

Die Mädchen waren inzwischen zu hübschen achtzehnjährigen Frauen herangewachsen und besuchten dieselbe Haushaltsschule in Haid. Der Ort war ein ganzes Stückchen weg von St. Pankraz, und damit auch nicht zu vergleichen. War St. Pankraz ein kleines Dorf, wo sich Fuchs und Henne gute Nacht sagen, waren sie hier in einer Stadt, etwas abgelegen zwar, aber dennoch war alles groß und protzig. Die Leute grüßten sich nicht auf der Straße und jeder schien beweisen zu müssen, was er nicht alles hatte.

In dieser Schule ging es nicht darum, kochen zu lernen oder bügeln, sondern um jahrelange Vorbereitung auf die Berufswelt. Theoretisch wurde ihnen das Geldverdienen in allen Facetten gezeigt. In den letzten zwei Schuljahren arbeitete man dann auch schon tageweise in Schnupperbetrieben. Von den oberen Jahrgängen hatten sie aber schon öfters gehört, dass diese Tage unter fadenscheinigen Gründen immer wieder abgesagt wurden.

Vier Semester hatten sie schon, acht standen ihnen noch bevor. Und es waren keine schönen Jahre gewesen. Es war die reine Tyrannei. Die Lehrer, die Internatsaufseher, und vor allem die Direktorin, waren böse, abgrundtief. Die lehrten einem das Fürchten, wie man so schön sagte.

Cloe hatte schon nach dem ersten Halbjahr gebettelt, aufhören zu dürfen. Zumal in den Anmeldeformularen von ganz anderen Lernmethoden die Rede war. Angepriesen wurde es so, wie man sich eine typische Haushaltsschule eben vorstellte: das Lernen vom Führen eines Haushalts, kochen, sparsame Wirtschaft, vielleicht schon auf beruflicher Basis. Und eben auch der Bezug auf die Berufswelt, Workshops, Ausflüge in verschiedenste Betriebe -, gleich vom ersten Schuljahr an.

Das, was sie im ersten halben Jahr gelernt hatte, nämlich so gut wie gar nichts, ließ sie reine Zeitverschwendung erahnen. Auch den Umgangston konnte sie nur schwer akzeptieren. Was gab diesen Menschen das Recht, die Schüler so zu diskriminieren, dass sie gar kein Selbstwertgefühl mehr hatten?

So sehr ihre Mutter Elisa sie von der Unterrichtsanstalt nehmen wollte, es ging nicht. Sie hatte unterschrieben, dass sie die Aufsicht auf das Internat überschrieb, für alle sechs Jahre. Man durfte die Schule nicht abbrechen, ohne eine beträchtliche Summe zu bezahlen, die Cloes Mutter als Alleinstehende unmöglich aufbringen konnte. Das war sehr klug eingefädelt, wenn man es von der anderen Seite betrachtete. So konnten sie tun und lassen, wie es ihnen beliebte, ohne dass ihnen die Schüler absprangen.

Schon war es vorbei mit der Heiterkeit. Cloes Herz zog sich zusammen, das Lächeln war wie weggewischt. Sie bereute es jede Sekunde, sich diese Schule eingebildet zu haben. Allen Gerüchten, die sie nun bestätigen konnte, zum Trotz, hatte sie so lange auf ihre Mutter eingeredet, bis diese eingewilligt hatte.

Und diesen Salat hatte sie nur, weil Anna und Lisa in dieses Internat geschickt worden waren und Cloe unbedingt weiterhin mit den beiden zur Schule gehen wollte. Heute wusste sie, dass sie Gerüchten lieber Glauben schenken sollte - noch dazu, wenn so viele Personen dasselbe sagen - anstatt selbst herausfinden zu wollen, was da dran war. Aber jetzt war es zu spät und sie musste wohl oder übel damit leben.

Nicht nur die Schulverhältnisse lasteten Cloe auf der reinen Seele. Wenn sie nachts nicht in ihren Träumen damit konfrontiert wurde, dann füllten sie sich mit anderen, weit merkwürdigeren Dingen. In diesen Träumen wanderte sie durch die Gänge, völlig schwerelos. Und dann war da permanent dieser Efeu. Die Traum-Cloe blieb dann immer stehen und beäugte den Strauch ahnungsvoll. Sie bekam das Gefühl, etwas Bekanntes zu sehen, aber kaum wollte sie nach diesem Wissen greifen, fand sie sich schweißgebadet in ihrem Bett sitzend wieder.

Und dann wanderte sie in der Wirklichkeit im Haus umher, so als wollte sie sichergehen, dass die Pflanze im Traum geblieben war. An Schlaf war in solchen Nächten sowieso nicht mehr zu denken.

So auch in der folgenden Nacht. Die Schule und die Schlafräume, welche mit je drei Betten, schäbigen Kästen und einem Tisch bestückt waren, lagen in einem Haus. Es bestand aus fünf Stockwerken. In den unteren zwei Etagen waren die Klassenzimmer, achtzehn an der Zahl. Cloe war immer wieder erstaunt, wie die Schule es schaffte, so viele junge Frauen anzulocken. Schuld war bestimmt der Optimismus der Gesellschaft, der die schlechten Kritiken einfach verharmloste - sie selbst war ja auch darauf hereingefallen.

Im dritten Stock befanden sich die Küche und der Speisesaal, der meistens auch als Gemeinschaftsraum benutzt wurde. Dort war der einzige Fernseher drin und ein Schrank mit Spielen. Dieser Ort war der Einzige, der auf ein bisschen Menschlichkeit schließen ließ. Da tummelten sich die meisten. Zu jeder Tageszeit war der Raum bewohnt. Egal ob in Freistunden oder abends, hier war man einfach lieber als in den Zimmern, die man zwar durch Poster und Dekorationen persönlicher machen konnte, durch die spärliche Größe und den Gittern an den Fenstern aber trotzdem an ein Gefängnis erinnerten. Die waren zwar auch im Aufenthaltsraum zu finden, aber die Größe des Raumes - und der Fernseher - ließen das leichter vergessen.

Der Rest des Stockwerkes und die anderen zwei waren mit Schlafzimmern und Badezimmern besetzt. Die Waschräume waren richtig ekelig: Die alten Toiletten, Waschbecken und Duschen gehörten dringendst saniert, in den Ecken sah man schon den Schimmel.

Voller Abscheu schüttelte sich Cloe. Daran wollte sie gar nicht denken, so sehr graute ihr davor. Drei Zimmer mussten sich ein Badezimmer teilen. Demnach war ein weiteres Problem das Managen der Duschzeiten.

In der Nacht war es wenigstens friedlich hier im Haus, dachte sich Cloe, deren Schlafraum im vierten Stock lag, und wanderte zum Aufenthaltsraum. Dort hatte man einen schönen Ausblick. Es zeigte die Seite, wo die Sonne unterging und auf dem angrenzenden See tanzte.

Sie saß oft dort. Zum Nachdenken, zum Hausaufgaben machen, …

Sie hatte sich dort sogar ein Sitzkissen hingelegt. Jeder wusste, dass diese Fensterbank ihr Platz war, und da alle sie leiden konnten, wurde er ihr nicht weggenommen.

Cloe wusste, dass sie eigentlich nicht umherwandern durfte. Es war strengstens untersagt, doch im ersten Jahr hatte sie gelernt, unsichtbar zu werden. Die Aufseher hatten sie noch kein einziges Mal erwischt.

Träumerisch saß sie nun schon seit einer Weile am Sims und starrte hinaus. Es war schon weit nach Mitternacht. Außerhalb des Fensters herrschte tiefste Nacht. Nicht mal die Umrisse des Waldes und das Wogen des Sees waren zu sehen. Der Mond hatte sich scheinbar hinter Wolken versteckt. Cloe war das egal. Sie hätte ohnehin nichts mitbekommen, so in Gedanken versunken war sie.

Plötzlich schrak sie aber auf. Eine Bewegung war da, inmitten der Dunkelheit - die bildete sie sich zumindest ein. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Diese Träume ließen sie noch ganz kirre werden.

Während sie sich halb von der Fensterbank löste, im Begriff das Bett aufzusuchen, um vielleicht doch noch etwas Schlaf zu ergattern, schob sich der Mond hinter den dicken Wolken hervor und tauchte die Welt in gespenstische Schatten. Und da sah sie ihn. Eigentlich unmöglich, aus einer Entfernung von hundert Metern mit erschwerten Lichtverhältnissen Einzelheiten zu erkennen, sah sie einen jungen Mann, lässig an einen Baum gelehnt. Er schien von innen heraus zu strahlen.

Sein Blick war ebenfalls auf sie gerichtet. Das ließ Cloe ungläubig zurückzucken, fast wäre sie von der Fensterbank gefallen. Nur einen Augenblick wandte sie den Blick für einen Millimeter ab und brach den Bann. Sekunden später starrte sie ins Leere. Der Fremde war weg. Nicht gegangen. Einfach Puff und weg.

Außer den mausgrauen Augen - unmöglich, dass sie das in diesem Licht und der Entfernung erkennen konnte, aber sie bildete sich dies definitiv nicht ein -, die sie fortan verfolgten, blieb Cloe nichts in Erinnerung von diesem Fremden. Einzig die Frage, warum ihr das so zusetzte, schwirrte noch drängender in ihrem Kopf herum.

Je länger sie über ihn nachdachte, desto bedeutsamer wurde eine Ahnung tief in ihr. Nur konnte sie wie im Traum nicht danach greifen.

In den nächsten Tagen schienen sie alle mit diesen Augen anzusehen. Sie war dem Verrücktwerden nahe. Jede Nacht saß sie nun am Fensterbrett und hoffte, ihn wiederzusehen, doch er kam nicht. Und mit jedem verstreichenden Tag stieg die Enttäuschung. Cloe war traurig darüber, denn sie kam nicht umhin, zu denken, dass er und ihre Träume in irgendeinem undefinierbaren Zusammenhang standen.

Auch ihre zwei Freundinnen, mit denen Cloe in einem Zimmer wohnte, merkten schnell, dass etwas in ihr vorging. Immerhin waren sie eine leise, verschwiegene Cloe nicht gewöhnt. Ihnen hatte sie immer alles anvertraut. Wieso war sie also jetzt so schweigsam? Sie wussten aber auch, dass bohren nichts half. Wenn Cloe es nicht von selbst mit ihnen teilte, dann konnte sie nichts dazu bringen.

Also beschlossen die zwei Damen, für Ablenkung zu sorgen. Anna musste Cloe nicht lange überreden, mit ins Einkaufscenter zu gehen, das eine halbe Stunde von der Schule entfernt lag. Recht begeistern konnte sie sich jedoch nicht dafür. Sie ging einfach mit, weil es egal war, ob sie im Internat verweilte, oder woanders. Anfangs.

Ziemlich schnell stellte sich nämlich heraus, dass Lisa und Anna genau ins Schwarze getroffen hatten. Das Bummeln zeigte Wirkung, Cloe vergaß die Augen, die Träume. Wenn auch nur für diesen Tag war sie wieder die Alte.

»Den musst du jetzt unbedingt anprobieren!«, prustete Anna los, während die zwei jungen Damen schon fast bei der Tür ihres Lieblingscafés in dem Center angelangt waren. In dem wollten sie noch Kaffee schlürfen, bevor es wieder in die Schule ging.

Anna hatte einen Ganzkörperanzug in der Hand, der Stoff war plüschig und die Farben darauf schrien gegenseitig um die Grellheit. Es war ein Schlafanzug, wie schnell zu erkennen war. Cloe grinste.

»Zieh´s doch selber an.«

Das ließ sich Anna nicht zweimal sagen. Schon war sie im Geschäft verschwunden. Lisa und Cloe wanderten unterdessen in den Reihen voller Klamotten herum. Richtig begeistern konnte sich Cloe für die neue Mode nicht. Wer bitte war auf die Idee gekommen, Hosen zu zerreißen und diese dann wie eine normale Hose zu verkaufen? Abgesehen davon, dass sie diesen Look - gelinde ausgedrückt - schleißig fand, konnte man sich das zuhause selber machen, mit einer alten Jeans.

Und die Bauchtops? Schön und gut, im Alter von zehn Jahren hatte Cloe sowas auch getragen, da war das auch in und jetzt halt wieder. Aber dieser Look setzte bei einer erwachsenen Person einen top Körper voraus, fand Cloe, und das würde sie sich selbst nie andichten. Sie war nicht dick, aber auch nicht gertenschlank, somit war für sie das Thema Modebewusstsein beendet.

Gerade sah sie, wie Lisa angewidert das Gesicht verzog, eben solch ein Top in den Händen. Cloe lachte auf. Die zwei hatten denselben Geschmack. Im Gegensatz zu Anna. Sie war sehr modebewusst, sah auch dementsprechend aus - schlank, sogar Ansätze von Bauchmuskeln hatte sie. In ihrem Kleiderschrank hingen eine Menge von bauchfreien Teilen und auch diese zerrissenen Jeans kaufte sie für ihr Leben gern. Die Lehrer waren von ihr immer zutiefst genervt. Dieser Kleiderstil war für sie natürlich unausstehlich - ja nicht genug Reize zeigen.

Anna stolzierte wie auf dem Laufsteg aus der Umkleide und grinste übers ganze Gesicht. Cloe musste aus tiefster Brust lachen. Anna sah so albern und niedlich zugleich aus, wie sie da in dem schlabberigen Plüsch stand, das nichts von ihr offenbarte, außer ihre Stupsnase, den Mund und einen Teil ihrer Augen, weil die Kapuze ihr so weit hineinhing.

»Komm Lisa«, rief sie. »Den müssen wir ihr kaufen. Damit sie zumindest ein Ding hat, in dem man nicht gleich alles von ihr sieht.«

Nun lachte auch Lisa und wanderte schnurstracks zur Kasse. »Aber den musst du jetzt anlassen, bis wir im Internat sind.«

Anna schaute kurz geschockt, lockerte sich aber schnell wieder und grinste frech. Ihr war nichts zu blöd.

Nachdem Lisa also bezahlt hatte, gingen sie ins Kaffeehaus gegenüber. Darauf freuten sie sich am meisten, wenn sie hierherkamen. Die Zeit außerhalb der Schule war immer sehr eng bemessen - vor allem unter der Woche -, aber der Besuch dieses herzlich eingerichteten Coffeetime musste einfach drin sein.

Wenn man durch die rustikale, im Westernstil gehaltene Tür ging, fühlte man sich wie in einer anderen Welt. Nichts ließ darauf schließen, dass sie geradewegs vom Shoppen kamen.

Die Innenseite war ohne Fenster, auch auf der Außenseite des Gebäudes waren nur kleine Fenster eingelassen, die mit breitgefächerten Holzlatten bedeckt waren, und eine große Glastür im selben Look, um auf die Terrasse zu kommen.

Hölzerne Lämpchen an der Decke lieferten die Helligkeit in einem warmen gelben Licht, das der ganzen Einrichtung, ebenfalls aus Holz im Westernstil, einen romantischen Touch verlieh.

Am Wochenende waren die drei Frauen, oft auch mit weiteren Schülerinnen gemeinsam, mindestens einmal dort anzutreffen. Die Atmosphäre war beruhigend und der Kaffee einfach unvergleichbar lecker. Cloe genoss den Abend in vollen Zügen. Solche Ausflüge konnten sie viel zu selten wahrnehmen. Einmal am Wochenende herzukommen war doch mehr Theorie als Praxis.

 

***

 

Draußen war es schon dunkel und obwohl allen die Zeit bewusst war und dass im Internat bald Nachtsperre sein würde, saßen die drei noch immer gemütlich und ohne Hast im Café.

Anna flirtete mit Milo, dem Kellner, der ein wirklich lieber Kerl war. Abgesehen von den Blicken, die er den Dreien immer zuwarf, Wissen lag in seinen braunen Augen, die Cloe an einen Bären erinnerten. Cloe war die Einzige, der das auffiel und sie fragte sich jedes Mal wieder, was er denn wissen konnte, ohne auf einen Nenner zu kommen.

Anna versuchte schon lange, bei ihm zu landen und Milo schien auch nicht abgeneigt, doch irgendetwas stand ständig zwischen ihnen. Wie eine unsichtbare Wand.

Nachdem sie sich eine Menge Sätze entgegengeworfen hatten - Cloe hatte ziemlich schnell Klappen über die Ohren gelegt - ging Milo augenzwinkernd zu seiner Arbeit zurück.

»Na, Julian …«, hörten sie ihn Momente später sagen und Cloe wandte sich zu ihm.

Julian. Hieß so nicht der Junge, der im Kindesalter mit seinen Brüdern in ihre Heimatstadt gezogen war? Warum fiel ihr das jetzt wieder ein?

In der jungen Frau regte sich noch etwas, das mit diesem Namen in Zusammenhang stand. Doch noch bevor sie sich damit beschäftigen konnte, spürte sie erst Milos Blick auf sich. Er hatte ihren starren Ausdruck bemerkt. Dann drehte sich der als Julian Angesprochene um.

Cloe vergaß alles rund um sich. Seine Augen zogen sie unweigerlich in den Bann. Sie waren grau. Mausgrau.

Der Mund klappte Cloe auf, während sie weiter in diese Augen starrte und die zwei neben ihr der Verwirrung mit Fragen Luft machten. Auch er erkannte sie - die Fremde an der Fensterbank -, schien aber in keiner Weise überrascht oder gar geschockt.

»Hallo. Ich bin Julian«, stellte er sich vor, als er den Tisch erreicht hatte.

»Cloe«, presste sie hervor, nachdem sich die anderen vorgestellt hatten und sie von Anna einen Rippenstoß kassiert hatte.

Der Mann lächelte, dann hielt er inne. Seine Augen verengten sich.

»Moment mal ... Cloe, Anna und Lisa. Hey Bruder«, schrie er etwas zu laut durch den kleinen Raum.

Milo schaute entschuldigend nach links und rechts - viele Gäste waren glücklicherweise nicht mehr da - und ging schleunigst zum Tisch rüber.

»Das sind die drei Mädchen von früher, weißt du noch?«

Endlich konnte sie sich von seinen Augen, die von dunklen, vollen Wimpern umrahmt waren und einen atemberaubenden Augenaufschlag boten, loseisen. Er war es also wirklich.

Kurz blickte sie verlegen in ihren Kaffee, der schon längst kalt war. Dann betrachtete sie Julian erneut. Nun hatte sich ein anderer Körperteil in ihrem Blick verfangen. Er hatte die Ärmel seines langen T-Shirts - das ihrem Geschmack nach viel zu warm war für diesen vorangeschrittenen Frühlingstag - hochgeschoben und offenbarte ein Tattoo auf dem rechten Unterarm, das unter dem Shirt noch weiterzugehen schien. Es war eine schlichte, sehr echt aussehende Efeuranke.

»Gibt’s nicht«, sagte sie und sah zu Milo. Auch er hatte diese Tätowierung. Wieso war ihr das noch nie aufgefallen?

»Gibt’s nicht«, wiederholte sie.

Julian alleine lächelte. Wie konnte er wissen, was sie gerade dachte? Die Träume waren ihr in den Sinn gekommen. Die Pflanze, die immer wieder auftauchte, der junge Mann, der als einziger in dunkler Nacht zu sehen war. Alles fügte sich zu einem Bild zusammen.

Und plötzlich war alles wieder da. Dieses Spiel. Die Efeuranke, die sich in ihren Arm hineingefressen hatte und dann genau so aussah wie das an Julians oder Milos Hand. Und sie war geflogen.

All das hatte Cloe über Jahre verdrängt, bis es komplett aus ihrem Gedächtnis gestrichen war. Und wie diese Erinnerung gekommen war, wusste sie auch sogleich, warum sie das getan hatte. Früher wie heute hatte sie keine Ahnung, wie sie mit dieser Geschichte fertig werden sollte. Und erneut war sie sich nicht sicher, ob sie damit leben konnte, dass das Übernatürliche tatsächlich existierte.

Die Damen waren die letzten Gäste, also setzte sich Milo mit Julian kurzerhand an ihren Tisch. Cloe kämpfte mit ihren Gefühlen, wusste absolut nicht, wie sie mit dem Wiedersehen der Jungs umgehen sollte, und mit dem Ding!

 

***

 

Milo war echt perplex. Er hätte nie gedacht, diese Mädchen noch einmal zu sehen. Die drei hatten nach dem Spiel den Kontakt komplett abgebrochen.

Irgendwie hatte er sich schon mit den drei Frauen verbunden gefühlt, seit sie zum ersten Mal dieses Lokal besucht hatten. Und doch hatte er nie herausgefunden, woher er sie kennen sollte.

Keck grinste er Anna an. Nicht einmal Blicke wurden den Buben damals geschenkt, jetzt flirtete sie ihn so offen an, dass es fast schon peinlich war. Wenn er nicht genau für diesen Typ Frau Interesse hegte. Sie war so aufgeschlossen, sagte immer, was ihr gerade in den Sinn kam. Nicht ein Fünkchen Selbstvertrauen fehlte ihr. Darum konnte er sie nur beneiden, so unsicher er ab und an war.

Milo selbst war keineswegs der stille, bedachte Typ. Nein, das überließ er schon seinem älteren Bruder. Er hatte einfach oft das Gefühl, dass es keinen interessierte, wenn er den Mund aufmachte, also konnte er nie so offen sein wie Anna. Neben Tilo und seinem anderen Bruder Julian, der auch sehr clever und bedacht darauf war, was er aussprach, fühlte er sich meist wie ein Trampel.

Schnell wandte er sich wieder Schönerem zu und studierte Anna erneut. Sie redete gerade auf ihn ein und berührte ihn dabei immer wie zufällig. Das war mitunter ein Grund, warum er ihr nicht folgen konnte. Stattdessen betrachtete er ihr blondes Haar, das in wilden Locken ihr leicht kantiges Gesicht umrahmte. Ein paar Strähnen hingen ihr in die eisblauen Augen. Bereits als Achtjähriger war er fasziniert von dem Paar, dessen Farbe so kalt wirkte, aber dennoch fast schon unheimliche Wärme ausstrahlte.

Gerade wollte er sich ihre Stupsnase und den vollen Mund einprägen, als ihm auffiel, dass Anna still war. Mist, hatte sie ihm etwa eine Frage gestellt?

Tatsächlich schenkte sie ihm einen irritierten Blick, ihre Aufmerksamkeit wanderte aber schnell zu wem anderen. Milo folgte ihren Augen und da bemerkte er es auch sofort. Er kannte Cloe nicht wirklich, aber ihr Verhalten war überaus eigenartig. Sie wirkte wie weggetreten.

Noch mehr verstörte ihn aber Julian. Während der nach außen hin heiter und fröhlich witzelte, vor allem mit Lisa, war in seinen Gedanken das reinste Chaos.

Als sein Bruder das Eindringen erspürte, schirmte er seinen Geist ab. Und Milo war noch beunruhigter.

»Oh mein Gott«, entrüstete sich Anna plötzlich. »Wir müssen los, sonst können wir gar nicht mehr rein.«

Auch Milo schaute auf die Uhr und war überrascht. Es war kurz vor zehn Uhr. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sein Arbeitskollege schon gegangen war.

Anna steckte ihm schnell einen Zettel zu, auf dem ihre Telefonnummer stand. Als Cloe nicht auf Julian reagierte, der auf ihre Kontaktdaten hoffte, gab Anna auch diese her. Dann verabschiedeten sie sich und Milo blieb allein mit seinem Bruder zurück.

Ein Blick auf Julian sagte ihm, dass er keine Fragen stellen brauchte. Er hatte einen verträumten Ausdruck in den Augen, zugleich wirkte er abweisend. Nur vage erinnerte sich Milo, dass sein drei Jahre älterer Bruder schon damals nur Augen für Cloe gehabt hatte, kaum war sie in seiner Nähe. Seufzend machte Milo sich ans Zusammenräumen.

 

***

 

»Ach, ist das toll. Ich hab die Jungs von damals voll vergessen«, schwärmte Anna. Für sie gab es gerade kein anderes Thema als Milo.

»Ich weiß nicht«, meldete sich Lisa skeptisch zu Wort. »Ich find sie eigentlich nur komisch. Habt ihr gesehen, wie Milo auf einmal geguckt hat? So, als könnte er Gedanken lesen.«

Cloe hatte das nicht mitbekommen. Ehrlich gesagt war sie fortwährend damit beschäftigt gewesen, Julian anzustarren. Auch jetzt hatte sie nur seine grauen funkelnden Augen im Sinn. Froh über Ablenkung versuchte sie, am Gespräch teilzuhaben, und verdrehte genervt die Augen. Anna war mit Lisas Aussage absolut nicht einverstanden und hatte gerade zu protestieren begonnen.

»Ich finde, Lisa hat recht. Irgendwas ist komisch an denen«, fuhr Cloe mit ihrer Meinung dazwischen, hielt sich aber sonst mit ihrer Meinung zurück.

Anna schnaubte entrüstet und starrte ihre Freundin an. Das nahende Schultor erstickte jede Antwort im Keim. Anna konnte nur noch beleidigt dreinschauen, was allerdings niemanden kümmerte.

Cloe war nach wie vor verwirrt und erneut stand ihr eine schlaflose Nacht bevor. Ihre Gedanken kreisten nun um etwas anderes als vor dem Kaffeehausbesuch, aber sonst war sie in derselben Situation, dachte die junge Frau, während sie sich auf ihre übliche Fensterbank hievte. Sie schaute hinaus und hoffte irgendwie, dass Julian dort wieder auftauchte, konnte sich das aber überhaupt nicht erklären. Vorhin erst hatten sie sich gesehen. Und so anziehend war er dann auch wieder nicht. Doch warum musste sie dann dauernd an ihn denken?

Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Ängstlich sah sie sich im Raum um. Wurde sie heute Nacht das erste Mal erwischt? Durch die Dunkelheit konnte sie jedoch kaum etwas sehen. Nervös schaute sie sich nach Möglichkeiten um, so schnell wie möglich zu verschwinden.Sie hatte kaum zwei Schritte gemacht, da trat jemand in das wenige Licht, das der Mond hineinwarf.

Julian. Ein Glücksgefühl breitete sich in ihr aus, sodass ihr ganz warm wurde. Ihr Gesicht war jetzt bestimmt rot wie eine Tomate, dachte sie und schüttelte sich, um wieder zur Besinnung zu kommen.

Einen Moment lang musterte sie ihn einfach nur. Er hatte ein sanftes Gesicht, das durch die kurzen braunen Haare aber etwas schärfer wirkte. Ein wenig längere Haare standen ihm bestimmt. Nichtsdestotrotz war er ein hübscher Kerl, der garantiert haufenweise Frauen den Kopf verdrehte. In seinen mausgrauen Augen verlor sie sich wieder für einen Augenblick.

Cloe war das ganze magische Zeugs absolut nicht geheuer, sich auf den Jungen zu konzentrieren half aber. Und ein leiser, klitzekleiner Hoffnungsschimmer. Vielleicht konnte er ihr helfen. Sie waren nicht glücklich in dieser Schule. Die meisten Schülerinnen nicht und Cloe wollte nichts mehr als raus hier, konnte sich den Schulabbruch aber nicht leisten. Vielleicht gelang es ja mit den Jungs, irgendetwas zu deichseln.

Die junge Frau sagte aber nichts, beschloss, mit ihrem Anliegen eine angemessene Zeit zu warten. Sie wollte ihn kennenlernen, eine Freundschaft aufbauen und dann würde sie weitersehen. Auf keinen Fall durfte sie ihn gleich vergraulen. Um der Schülerinnen und ihrer selbst willen. Außerdem ging dieses Thema wieder in Richtung Magie und allein das Wort - oder das Wort Efeu - verursachte in ihr eine Aufgewühltheit, die sie am ganzen Körper zittern ließ.

Das charmante Lächeln ihres Begleiters lenkte sie ab. Konnte er Gedanken lesen? Nein, dann würde er nicht lächeln, dann wäre sein Gesicht vermutlich zu einer Fratze verzogen. Wer wollte schon benutzt werden?

Julian hatte eine so angenehme Art, man musste ihn einfach mögen, fand Cloe. Sie wusste nicht, wie lange sie sich nur anstarrten. Ihrem Zeitgefühl nach waren es bestimmt ein paar Minuten. Es schien ihn kaum zu stören, er hatte sichtlich Spaß dabei, sie in diesem weggetretenen Zustand zu betrachten. Als Cloe sein Lächeln so interpretierte, senkte sie für Sekunden den Blick.

»Hallo!«, hauchte sie.

Sein Gesichtsausdruck wurde schmunzelnder. Er erwiderte den Gruß und lud zu einem Nachspaziergang ein.

»Ich darf …«, schnell verbesserte sie sich, » kann nicht raus.«

Er schwieg, sein Blick wurde spottend und Cloe begriff. Er musste ja irgendwie reingekommen sein. Beschämt schaute sie an Julian vorbei. Zugleich wurde ihr etwas unwohl zumute, zumal sie sich an ihr letztes Erlebnis vor zehn Jahren erinnerte.

Wieder schien Julian ihre Gedanken zu erraten. Er hielt ihr die Hand hin und sagte: »Ist nicht schlimm.«

Zaghaft verdeckte sie die Handinnenfläche mit ihrer. Cloe wurde heiß und kalt, alles in einem. Sie schwankte und Julian hielt sie besorgt fest. »Sollen wir es verschieben?«

Auf irgendeine Weise rührte seine Sorge etwas in ihr. Sie hatte noch nie so auf eine Berührung reagiert. Was war da los? Doch auch wenn es durchaus unangenehm war, irgendwie wollte sie es auch nicht missen. Cloe schüttelte kurz den Kopf und schloss die Augen, um das Schwindelgefühl ein bisschen loszuwerden. Durch einen Windzug, der nicht sein durfte, schaute sie wieder auf. Und Julian stand nicht mehr vor ihr. Entsetzt sah sie zum Fenster hinaus. Dort unten stand er und sah zu der noch immer schwindeligen Cloe hinauf.

Dieser Moment war genauso bewegend für mich. Ruh dich aus. Wir vertagen unseren Ausflug!, hallte es in Cloes Kopf wider.

Cloe stand noch eine ganze Weile am selben Fleck und starrte durch die Scheibe. Sie war enttäuscht. Warum, konnte sie unmöglich beantworten. Schließlich umfing sie endlich die Müdigkeit und sie tapste in den Flur hinaus zu ihrem Zimmer.

Es dauerte kaum einen Wimpernschlag und sie sank in den friedlichsten Schlaf seit Tagen.

 

***

 

Julian stand noch lange im Wald und starrte zum Fenster hinauf. Selbst als Cloe schon träumte, wandte er sich nicht ab. Wie schon vor zehn Jahren war sein ganzes Wesen ihr zugetan, von der ersten Begegnung an. Fortwährend starrten ihn diese unvergleichbar hellgrünen Augen mit den kleinen grauen Punkten darin an.

Schlagartig wurde ihm ganz anders, als er an seine Mission dachte. Was würde Cloe von ihm denken, wenn sie es erfuhr? Bestimmt, dass er sie nur ausnutzen wollte.

Mit einem schweren Seufzer setzte er sich in Bewegung. Um sich von den schrecklichen Gedanken abzulenken, die ihm gerade durch den Kopf rasten, strich er über das Tattoo. Ein Prickeln durchfuhr seinen Körper, das ihn beruhigte. Mit fünfzehn hatten sie die Ranke endlich dauerhaft tragen dürfen. Julian konnte gar nicht richtig beschreiben, wie sich das angefühlt hatte. Als wäre er jahrelang nur halb gewesen. Damals hatten sich die Brüder die Ranken, die dem Träger magische Kräfte verliehen, fast täglich geholt und jedes Mal zum Tagesende wieder abgelegt, wobei sie sich danach immer merkwürdig leer gefühlt hatten.

Plötzlich begann der Arm zu brennen. Irritiert schaute er auf sich runter, konnte aber nichts erkennen. Da stürmten auf einmal vier Männer aus dem Gebüsch. Im Abstand von ein paar Metern blieben sie vor Julian stehen, als würden sie sich fragen, was er hier wollte.

Erst war Julian wie erstarrt, als er in vier Läufe starrte. Komischerweise konnte er keine Details über die Männer ausmachen. Als wäre ein Nebel über Julians Wahrnehmung gelegt worden. Was sie wollten, schwängerte hingegen die Luft.

Nun wartete Julian nicht mehr länger. Jetzt gab es keinen Halt mehr. Er konzentrierte sich ganz auf die Macht in ihm, schloss die Augen und atmete tief ein. Die Arme waren angewinkelt und in Augenhöhe. Julian konnte förmlich spüren, wie die Magie sich zwischen seinen Händen sammelte. Er war bereit.

»Ihr bekommt sie niemals«, knurrte er, öffnete die Augen und ... war allein.

Verdutzt ließ er die Hände sinken. Wo waren sie hin?

Instinktiv nahm er über die Gedanken mit seinen Brüdern Kontakt auf. Es war ihm unerklärlich, was das gerade war. Entweder hatte er sich die Angreifer nur eingebildet, oder sie waren wieder abgehauen. So oder so, hier stimmte was nicht.

Keine fünf Minuten waren vergangen, da erfasste ihn eine Wiederholung der Ereignisse. Die vier Männer brachen aus dem Gebüsch hervor und nahmen Aufstellung, genau wie vorhin. Diesmal jedoch konnte Julian Einzelheiten erkennen. Sie waren allesamt Mitte vierzig, durchschnittlich groß. Sturmmasken verdeckten ihre Haare und einen Teil der Gesichter. Die Augenpaare, die ihm entgegen starrten, waren gefüllt mit Neugierde - dunkler, an sich reißender Neugierde.

Julian zögerte nicht. Erneut konzentrierte er sich auf die Magie und schloss die Augen. Als er vorsichtig durch die Wimpern lugte, waren die Männer noch immer da. Ohne weiter nachzudenken, schoss er den ersten Zauber auf einen der Männer. Ein gellender Schrei entfuhr ihm, er traf ihn an der Schulter, mit einer Wucht, die ihn von den Füßen riss und einen Meter nach hinten katapultierte. Dort blieb er regungslos liegen.

Jetzt hielt auch die anderen nichts mehr. Julian stand unter Dauerbeschuss. Bisher hatte ihn noch keine Kugel erwischt. Die Schützen waren echt nicht die besten.

Schützend hob Julian die Hände und aktivierte so einen magischen Schutzwall, um nicht doch noch eine Kugel abzubekommen. Krampfhaft überlegte er, was er denn nun tun sollte. Wie konnte er die drei Männer überwältigen? Der Schild forderte seine ganze Aufmerksamkeit, außerdem auch beide Hände. Eigentlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis das Magazin seiner Gegner verballert war. Diese Situation war neu für Julian. Seit sie den Efeu immer bei sich trugen, war es schon das ein oder andere Mal vorgekommen, dass jemand auf sie aufmerksam geworden und vor Gier auf die Brüder losgegangen war. Wie das Geheimnis durchsickern konnte, war der magischen Familie ein Rätsel. Deshalb hatten die Brüder wöchentlich einen Trainingsabend vereinbart, um immer gut vorbereitet zu sein.

Aber meist waren die Angreifer allein und glaubten, mit reiner Muskelkraft an ihr Ziel zu kommen. Eine Waffe war ab und an auch schon mal dabei. Aber zu dritt, mit Waffen?

Nein, damit war Julian völlig überfordert. Noch dazu, weil er alleine war.

In diesem Moment stellten die Männer das Feuer ein. Sie hatten festgestellt, dass die Magie unerschütterlich war. Julian wagte dennoch nicht, den Schutzwall zu senken, denn darauf warteten die Fremden nur.

Hinter sich fühlte er, wie die Luft sich erhitzte. Er musste sich ein Lächeln verkneifen, stattdessen vergrößerte er den Schutzwall, damit seine eben angekommenen Brüder auch geschützt waren.

Den drei übriggebliebenen Männern wurde bang, der eine riss die Lider auf, der andere hatte den Kopf eingezogen und blinzelte ständig. Der Letzte lachte lauthals, in seinen Augen lag blanker Wahnsinn, geschürt von Angst.

Zwei Feuerbälle schossen an Julian vorbei und auf die Männer zu. Die wichen aus und verschwanden im Gebüsch. Ratlos drehte sich der Magier zu seinen Brüdern um. Die zuckten nur mit den Schultern. Als die Angreifer weiterhin nicht mehr auftauchten, löste Julian den Schutzwall.

»Wie lange hast du schon gegen sie gekämpft?«, fragte Tilo.

»Noch nicht lange. Ich habe gerade den Schutzwall errichtet.«

»Was? Dann hast du uns schon vorher gerufen?« Er war deutlich verwirrt.

»Ja. Das ... Ich weiß auch nicht, was da geschehen ist.«

Kurz schilderte er, wie sich das Ganze zugetragen hatte. Die Brüder hörten schweigend zu, konnten sich anfangs auch absolut keinen Reim darauf machen. Dann hellte sich Milos Gesicht auf.

Julian war überrascht. Er hätte von Tilo eine Antwort erwartet, aber nicht vom jüngsten Familienmitglied. Milo war der Typ, den man gemeinhin als Träumer bezeichnete. Waren seine Brüder immer voll bei der Sache, schweifte er meist mitten im Gespräch ab und dachte über völlig andere Sachen nach.

Der Schwarzhaarige war ganz aus dem Häuschen, seine kastanienbraunen Augen strahlten Freude, Ungläubigkeit und Wehmut zugleich aus. Milo konnte aber nichts von seinen Gedanken erläutern. Er hatte nicht mal die Gelegenheit, den Mund aufzumachen.

Die Männer waren wieder da. Sie stürmten aus dem Gebüsch und warfen sich auf die Magier. Vollkommen überrumpelt gingen sie zu Boden.

»Wo ist es?«, brüllte der Mann, der auf Julian hing.

»Dort, wo du es niemals findest«, knurrte er und warf ihn mit magischer Kraft von sich. Auch die Brüder hatten ihre Angreifer abschütteln können.

Die Männer rappelten sich sofort wieder auf und setzten zum erneuten Angriff an. Sie zogen ihre Pistolen.

Haben die denn gar nichts dazugelernt?, fragte sich Julian, während er die Magie in seinen Händen bündelte und den Energieball auf seinen Gegner warf, bevor der auch nur eine Kugel abfeuern konnte. Der Mann wurde meterweit weggeschleudert und krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen einen Baum. Julian dachte nicht lange über den Mann nach. Später würde er nachsehen müssen, ob er tot war, denn eine Leiche durften sie auf keinen Fall zurücklassen.

Allein bei dem Gedanken daran wurde ihm schlecht, aber es gehörte einfach dazu. Sowie es möglich war, schlugen sie ihre Gegner nur bewusstlos und veränderten anschließend in diesem Zustand ihre Erinnerungen - das war Tilos Spezialgebiet, ging diese Art der Magie doch mit seiner besonderen Gabe, dem Gedankenlesen, die nur er hatte, einher. Die Männer konnten aber nicht immer steuern, wie hart die Energie ihre Gegner traf oder wo sie aufprallten.

Auch Tilo hatte seinen Übeltäter schon ins Abseits katapultiert, zu dritt machten sie sich nun an den letzten. Milo wurde von ihm in einen dichteren Fleck Wald getrieben und hatte große Schwierigkeiten mit ihm fertig zu werden. Ob er wirklich schwächer war als die zwei anderen Magier, bezweifelte Julian. Milo war oft einfach zu langsam und hatte keine Einfälle.

Der Mann bekam nun die geballte Macht von drei magiegeladenen Menschen zu spüren. Es dauerte keine Sekunde und er sackte zusammen. Gott sei Dank nur bewusstlos, entdeckte Julian und suchte die anderen Kerle auf. Nur der eine, der gegen den Baum geknallt war, hatte nicht überlebt. Er lag merkwürdig verrenkt am Boden, das Gesicht zur Erde gerichtet.

Den Würgereiz, den Julian wegen sich selbst empfand, ignorierend hob er die Hand und ließ sie über die Leiche schweben. Die Wärme, die er erschuf und dem Körper langsam versengte, bis nichts mehr übrig war, fühlte sich irgendwie wohltuend an. Sie vermittelte ihm, dass er ja gar nichts dafür konnte. Es war einfach notwendig, um die Pflanze zu beschützen, um zu verhindern, dass sie in die falschen Hände geriet. Das zu tun, hatte schon sein Großvater geschworen, ebenso wie sein Vater.

Außerdem hatten die Männer es ja irgendwie selbst herausgefordert mit ihrem Überfall auf die Magier.

Diese Kämpfe wurden immer häufiger, denn irgendwie drang das Wissen über die Magie überall durch, obwohl sich um strenge Geheimhaltung bemüht wurde. Julian fühlte sich elend nach solchen Begegnungen. Und nicht nur ihm ging es so. Seine Brüder fühlten genauso, das konnte er aus ihren Gedanken lesen.

»Visionen«, lenkte ihn Milo ab, nachdem alle Spuren eines Kampfes beseitigt waren und die Brüder beinander standen. Julian verstand nur Bahnhof.

»Tilo kann nicht nur unsere Gedanken lesen, sondern auch die anderer Leute. Und du hast Visionen. Das ist deine Gabe.«

Milo war stolz über seine Erläuterung. Auch Julian ging nun das Licht auf. Er hatte genau vorhergesehen, was passieren würde. Sein Bruder hatte Recht. Er hatte Visionen ...

II

II

Den ganzen Tag konnte Cloe an nichts anderes denken als an die kommende Nacht. Sie zweifelte nicht daran, dass Julian wiederkam.

Anna und Lisa bemerkten erneut ihre veränderte Stimmung. Als klar war, dass etwas Positives dahinter steckte, begannen sie darüber zu witzeln. Relativ schnell fanden die Frauen auch heraus, dass der Grund dieses Gemütszustands den Namen Julian trug. Nicht allein daran, dass Cloe jedes mal zusammenzuckte, wenn sein Name fiel.

»Fräulein Wolv! Wie ich sehe, unterhalten Sie sich sehr angeregt über dieses Thema. Dann wiederholen Sie doch mal in eigenen Worten, um was es geht.«

Mit großen Augen blickte Cloe zu Herrn Pennet, ihrem Lehrer in Rechnungswesen. Mist, gerade heute mussten sie bei ihm Unterricht haben. Dieser Lehrer war noch penetranter als die anderen. Cloe konnte ihn auf den Tod nicht ausstehen. Dabei hatte ihr Rechnungswesen immer Spaß gemacht.

Unauffällig schielte sie zur Sitznachbarin. Gott sei Dank schrieb die immer brav mit. Noch dazu gut leserlich. Gerade wollte Cloe ihm ein paar Grundlagen der doppelten Buchführung erläutern, als seine Stimme erneut über sie hinweg donnerte.

»Zwei Stunden Flurarbeit für Sie drei. Und ein dreiseitiger Aufsatz über die doppelte Buchhaltung. Solch ein respektloses Verhalten wird hier nicht geduldet!«

Anna und Lisa war das Lachen im Gesicht eingefroren. Mit großen Augen sahen sie den Lehrer an, dann wandte sich Lisa entschuldigend an Cloe.

»Könnt ihr euch denn nicht zusammenreißen? Da hat er mich schon in der Mangel und ihr lacht immer noch? Die Diskussion, was denn Tilo und Julian arbeiteten, hätte ruhig bis nach der Schule warten können.«

Nach dem Abendessen hatten sie sich auf dem Weg zur Besenkammer gemacht. Bis dato hatte Cloe kein Wort gesprochen, so wütend war sie.

»Ja, sorry. Aber es ist einfach so süß, dich verliebt zu sehen«, erwiderte Anna, ohne Reue. In ihren eiskristallenen Augen glitzerte Schalk, das bekam Cloe aber gar nicht mit.

»Das ist mir egal, ob ihr es süß findet. Jetzt kann ich bis in die Nacht hinein Hausaufgaben machen, weil ihr mir die zwei Stunden gestohlen habt. Und dann noch der Aufsatz. Wer weiß, ob ich heute ....« Den Satz, ob sie Julian heute noch sah, ließ sie lieber offen. »Außerdem bin ich nicht in ihn verliebt!«

Lisa war vernünftig und schwieg. Anna hingegen widerstrebte der schroffe Ton.

»Jetzt mach mal halblang. Nicht nur du musst heute eine Nachtschicht einlegen. Und wir wissen ganz genau, dass du in der Nacht oft das Zimmer verlässt, also tu nicht so als würden wir dir den Schlaf rauben.«

Cloe starrte Anna wütend an. Was hatte denn das eine mit dem anderen zu tun?

»Du machst ein ziemliches Fass auf«, mischte sich Lisa etwas kleinlaut ein. »Klar, keiner mag Putzen und die Strafarbeit. Aber deshalb brauchst du dich nicht so aufzuregen.«

Grimmig schnappte sich Cloe einen Wischer. Jetzt waren beide gegen sie. Na toll. Aber was konnte sie denn dafür?

Den ganzen Abend über spielte sie wieder die Wortkarge. Den Blick auf den Boden gerichtet versuchte sie sich mit dem Gedanken, Julian wiederzusehen, abzulenken.

Durch die extra Arbeit kam die Nacht schnell. Kaum dass die Freundinnen ruhig atmeten, schlich sie aus dem Zimmer.

»Julian?«, flüsterte sie in den Speisesaal hinein. Zur Antwort bekam sie eine Hand, die sie leicht erschrocken, aber lächelnd ergriff. Diesmal wurde ihr nicht schwindelig, dafür begann es in ihrer Magengrube eigenartig zu kribbeln. Keine Sekunde später wehte ihr eine kühle Brise um die Nase.

Cloe hatte sich den ganzen Tag ausgemalt, wie es wohl sein würde, durch Magie aus dem Haus zu gelangen. Und ihr war ehrlich mehr als ungut zumute gewesen, wenn sie an das erste Erlebnis dachte. Aber als es dann soweit war, ergab sich keine Gelegenheit, um Angst zu haben.

Gleich als sie sich in Bewegung setzten, begann er zu reden. Es war das erste Mal, dass er ihr nicht mehr grenzenlos selbstbewusst vorkam. Er war nervös. »Du bist mir schon seit einiger Zeit aufgefallen. Diese Traurigkeit …«

»Was machst du da immer?«, wollte Cloe wissen, geschmeichelt, aber auch unangenehm berührt über das Thema, das er da anschnitt.

Seine Miene wurde von einem Schlag auf den anderen von tiefer Trauer zersetzt. Die Augen niedergeschlagen, sagte er mit leiser Stimme und seiner üblichen Tonlage, die klang, als wären seine Stimmbänder über Schleifpapier gezogen worden: »Eine gute Freundin von meinem Bruder … ging hier vor einem Jahr noch zur Schule. Sie hat uns erzählt, wie hier unterrichtet wird.« Er setzte Gänsefüßchen in die Luft. »Wir wollten ihr unbedingt helfen. Ich meine, wenn wir schon den Efeu haben, dann können wir ihn auch mal nutzen.«

Cloe nickte, nur halb bei der Sache. Dafür, dass es die Freundin des Bruders war, wirkte Julian etwas zu niedergeschlagen. Es war wohl eher seine Freundin. Aber wieso sagte er das nicht und schwindelte sie stattdessen an?

Und warum interessierte sie sich überhaupt dafür?

»Ein Jahr ist es jetzt her, dass sie die Schule verlassen hat - für sie war die Hilfe zu spät. Und seither treiben wir uns in der Nähe herum. Mann«, seufzte Julian. »Wir wissen einfach nicht, was wir tun sollen. Ich hab die Direktorin jetzt schon einige Male gesehen. Sie wirkt nett. Ich verstehe nicht, warum dann die Schule so schlecht ist. Und es fällt uns so schwer, den Efeu auch zu nutzen. Wir haben ihn immer nur beschützt und machen hierfür alles Nötige.«

Nun war die junge Frau wieder voll dabei. Binnen Sekunden kapierte sie, warum er ihr davon eigentlich erzählte. Ungläubig starrte sie das Seitenprofil ihres Begleiters an.

Das Leben meinte es im Moment wirklich gut mit Cloe. Sie unterstand sich, den Jauchzer raus zu lassen, der gerade ihre Kehle rauf kroch. Auch sagte sie nichts von der Hoffnung, die er ihr gerade eingepflanzt hatte. Julian brauchte ihre Hilfe, gleichzeitig würde er ihr helfen.

Siegessicher lächelte Cloe. Sie hatte es geschafft. Ohne ihn zu kränken, hatte sie erreicht, dass die Magie auf ihrer Seite war.

»Also, bei mir bist du eindeutig richtig. Ich würde nichts lieber tun, als hier zu verschwinden. Aber dank der Klauseln muss ich alle Jahre hier absitzen.« Coe überlegte. »Bei dem Efeu-Dings kann ich dir nicht helfen, was die Direktorin und die Lehrer gegen uns Schüler haben, könnte ich aber vielleicht fragen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Galtix noch gar nicht oft gesehen. Die verkriecht sich meist in ihrem Büro.«

Julian strahlte sie an, als hätte sie ihm gerade ein unentdecktes Weltwunder offenbart. Ohne ein weiteres Wort in den Mund zu nehmen, war die Zusammenarbeit abgemacht. Cloe hatte zu kämpfen, ihre Ungeduld zu bändigen. Es gab einen Weg, diesem Ort zu entkommen. Diesen Menschen, denen es eine Wohltat war, ihre Schützlinge zu schikanieren und herunterzusetzen. Von ihr aus hätte es sofort ans Pläne schmieden gehen können, wie sie diese schlimmen Verhältnisse am schnellsten aus der Schule verbannen konnten. Auch Julian kannte kein anderes Thema.

Cloe musterte sein Seitenprofil erneut, während er davon erzählte, was er schon alles über die Direktorin und die Lehrkräfte wusste. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet, kein einziges Mal blickte er auf. Merkwürdigerweise schienen die Äste vor ihm zurückzuweichen, während Cloe damit kämpfen musste, Schlägen ins Gesicht zu entgehen. Wenn ihm etwas nicht gefiel, verzog er das Gesicht und Cloe stellte verzückt fest, dass sich kleine Grübchen in seinen Wangen bildeten.

Ein unheimliches Gefühl beschlich sie, als sie Julian immer weiter beobachtete und seine Mimik studierte. Die Gewissheit, dass er sie unendlich faszinierte und Cloe mehr von ihm wollte, als nur Hilfe in Bezug auf die Schule. Und doch konnte sie sich nicht freuen darüber, denn irgendwie wusste sie, dass das Zulassen dieses Gefühls in einem Unglück enden würde.

 

In den kommenden Nächten trafen sich Cloe und Julian immer wieder. Mit jedem Mal fühlte sich Cloe mehr zu ihm hingezogen. Ohne Zweifel war sie bis über beide Ohren in diese funkelnd grauen Augen, in sein kurzes braunes Haar und sein unwiderstehliches Lächeln verliebt. Ihre Freundinnen hatten doch tatsächlich recht gehabt.

Julian hingegen schien es nicht mal ansatzweise so zu gehen. Er redete nur von der Schule, fragte Cloe permanent darüber aus, was die junge Frau mit jeder Begegnung missmutiger werden ließ. Eine unerwiderte Liebe hatte ihr gerade noch gefehlt.

Julian hatte es bemerkt, den merkwürdigen Blicken, die er ihr oft zuwarf, zu urteilen. Was Cloe so sehr verletzte, war, dass er sie nicht danach fragte. Stattdessen zog er sich einfach aus der Misere, indem er die Treffen nur mehr auf die Notwendigkeit ansetzte. So gefühlskalt hatte sie ihn doch nicht kennengelernt. Cloe war dem gegenüber gänzlich verständnislos.

Doch nach einer Zeit verlor das an Wichtigkeit. So war es immer. Sie beschäftigte sich lange mit etwas, aber wenn dies nicht täglich auf sie zukam, dann ließ sie es wieder auf sich beruhen. Und eigentlich war das eine gute Option

Trotzdem gab es ihr jedes Mal einen Stich, wenn sie ihn sah. Sie hatte noch nicht so viel mit Jungs zu tun gehabt. Von Liebe gar nicht zu reden. Für Cloe war das also absolut Neuland und sie wusste nicht, wie sie mit solchen Gefühlen umgehen sollte.

Als Julian der neue Hausmeister wurde, fühlte sich Cloe innerlich so wund, dass sie sich kaum noch auf ihren Schulalltag konzentrieren konnte. Ihre Nerven waren ohnehin schon ständig von einem nervösen Kribbeln belegt und Julian in ihrer unmittelbaren Nähe zu wissen, machte es nicht besser.

Von Lisa erfuhr sie, warum er den Job angenommen hatte. Julian wollte das Haus nun auch von innen erkunden, jetzt wo er Cloe nicht mehr als Spion hatte. Richtige Fortschritte zum Thema Plan gab es jedoch noch nicht.

Cloe hatte ihren Freundinnen von der ganzen Sache erzählt, als es zwischen Julian und ihr angefangen hatte, schwierig zu werden. Anna hatte daraufhin den besten Einfall: Sie wollten in Zukunft alles zu sechst besprechen.

Natürlich dachte sie dabei auch an den Nutzen, den es für sie und Milo haben konnte. Das eigentliche Thema verstanden sie gar nicht so recht. Hatte Cloe das Erlebnis - so traumatisch es für ein achtjähriges Mädchen war - verdrängt, hatten Anna und Lisa den Vorgang damals gar nicht wirklich begriffen und relativ schnell vergessen.

Aber dennoch konnten die zwei Frauen durchaus dabei sein, wenn sie erst mal die Lage abcheckten.

Bis es zu einem richtigen Plan kam, mussten die Brüder sowieso mal Klartext reden. Auch Cloe wusste eigentlich nur, dass sie zaubern konnten. Wie und was, war ihr ein absolutes Mysterium. Was für den Moment ruhig so bleiben konnte. Cloe war so schon überfordert genug.

So kam es, dass sie den dritten Bruder auch kennenlernten. Sie waren im Coffeetime und unterbreiteten den jungen Männern, dass mehr zu sein mehr erzielen würde. Wie auf Stichwort kam plötzlich Tilo aus dem Hinterzimmer. Milo erklärte, dass er eine Ausbildung zum Kinderpfleger mit Hintergrund auf Problemfälle machte und nebenbei seine Brötchen hier verdiente.

Cloe musterte ihn unterdessen unverhohlen. Er hatte schwarzes Haar, das locker zurückgekämmt war, es reichte ihm fast bis zu den Schultern. Sein Gesicht war mager, die Wangenknochen schauten deutlich hervor. Auf seinem Mund lag ein spitzbübischer Zug. Die Augen aber faszinierten Cloe wirklich und sie fragte sich, welcher Gendefekt da in der Familie lag, dass alle so atemberaubende Seelenfänger hatten. Tilos waren hellbraun, gingen fast ins Gold über, wenn das Licht richtig schien.

Ein leichter Schmerz an der Bauchseite ließ Cloe auffahren. Links neben ihr stand Anna, die Arme an der Bar abgestützt und nickte mit Schalk in den blauen Augen zu Cloes rechten. Dort stand Lisa und musterte den Neuzugang ebenso unverhohlen wie Cloe.

Nur dass in ihrem Gesicht eine Sanftmut zu entdecken war, die Cloe noch nie zuvor an ihrer besten Freundin gesehen hatte. Ganz eindeutig war sie interessiert - verliebt auf den ersten Blick konnte man übertrieben sagen. Und für Tilo schien auch nichts anderes mehr zu existieren auf dieser Welt und anderen Galaxien.

Das war der Beginn ihrer Clique, die sich mindestens zweimal in der Woche zum Kaffeetrinken einfand. Über die Schule wurde aber gar nicht so viel geplaudert wie angenommen. Nein, vielmehr waren das Gruppendates, und das ärgerte Cloe ungemein.

Sie hatte sich noch nie so sehr über verliebte Menschen geärgert. Bei ihren Treffen saßen alle gemeinsam am selben Tisch und sprachen erst mal durch, was sich alles in der Schule ereignet hatte.

Dann wurde gefragt, ob schon jemand eine Idee hätte, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Auf diese Frage gab es nie eine Antwort und nach einer langen Redepause, änderte sich die Stimmung. Anna beschäftigte sich mit Milo und Lisa tat selbiges mit Tilo. Sie flirteten und turtelten, lachten und berührten sich.

Tja, und Cloe saß da, beschämend still, denn sie fand nicht die richtigen Worte, um mit Julian ein Gespräch zu beginnen. Sobald sie ihn auch nur ansah, wurde sie nervös. Auch wenn sie das nie zugeben würde, wollte sie ihm gefallen. Und um ihm zu gefallen, wollte sie auf keine Fall etwas Falsches sagen.

Leider kam von Julians Seite auch keinerlei Gesprächsstoff und so konnte sie nur die Tischplatte mustern.

 

***

 

Julian litt unglaublich an der Funkstille zwischen Cloe und ihm. Was hatte er denn falsch gemacht? Am Anfang war doch alles gut gewesen und er so froh, dass sie dasselbe Ziel hatten und Cloe nicht eine Sekunde lang gekrängt war. Denn in einer gewissen Weise nutzte er sie aus. Er hatte sogar das Gefühl gehabt, sie hätten sich etwas angenähert. Und jetzt?

»Hast du ihr denn schon gesagt, wie du empfindest?«

Irritiert schaute Julian auf. Er hatte mit keiner Silbe etwas von der Situation erzählt. Aber Tilo hatte natürlich alles aus seinen Gedanken gelesen. Julian fluchte innerlich. Wieso war er so nachsichtig und hatte seine Gedanken nicht abgeschirmt? Das ging nun wirklich keinen was an. Er hätte ihm bestimmt mal davon erzählt, Tilo war mehr oder weniger sein bester Freund. Aber er wollte sich den Moment schon selbst aussuchen.