#ProjektHappyLife - Ailis Regin - E-Book

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Ailis Regin

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Beschreibung

Julia hat in ihrem Leben alles, was sie braucht.
Super Job, tolle Beziehung.
Beim Lesen und ihrem Sport kann sie sich richtig verlieren.
Jedes Gramm, das sie abnimmt, macht sie glücklicher und selbstbewusster.
Dass ihr Verhältnis zu ihrer Mutter seit deren Scheidung vom Vater gestört ist, macht ihr nicht allzu viel aus, sie hat Kevin und Lina, ihre beste Freundin.
Aber das neugewonnene Selbstbewusstsein bringt Ungeahntes mit sich. Kevin kann nicht damit umgehen. Die Beziehung bricht. Jules ist Single, und obwohl sie noch sehr an Kevin hängt, genießt sie dies.
Aber nicht lange. Da ist Ian.
Aber auch er hat nach einer Weile ein Problem mit ihr als starke Persönlichkeit.
Und dann ist da immer noch Kevin, ...

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Ailis Regin

#ProjektHappyLife

Familie hat nichts mit Blut zu tun Sondern mit dem Herzen Für meine bessere Hälfte BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1

 

»Also, die Wurstbrote machen mir echt zu schaffen.«

Zwei Wochen hatte ich Nelly jetzt aufgeschrieben, was alles immer so in meinem Magen landete. Fünf Monate, nachdem mich eine Bekannte auf dieses Fitnessstudio gebracht hatte.

Früher wäre mir nie in den Sinn gekommen, mich in einem vor Schweiß muffelnden Raum abzurackern. Nie. Bis Nelly, die Ladenchefin, mir ihr hartes, aber effektives Training gezeigt hatte. Es machte tatsächlich Spaß, gemeinsam mit anderen das Höchstmaß aus seinem Körper rauszuholen.

Aber egal, wie stark das Training auch war, gewisse Fettpölsterchen wollten einfach nicht verschwinden.

»Und die Scheiben Käse! Julia! Nach dem Training! Und dann noch einen Eiweißshake dazu! Das bewirkt genau das Gegenteil von dem, was du willst.«

Etwas verwundert schaute ich die ursprüngliche Amerikanerin an. Damit hatte ich nicht gerechnet, immerhin war mir schon seit längerem bewusst, dass ich mit dem Essen ein bisschen aufpassen musste und hatte eigentlich auf eiweißreiche, aber kalorienarme Kost geschaut. Ich fand es völlig okay, ein Stück Käse oder Schinken zu mir zu nehmen, wenn mich am Abend der Hunger plagte.

»Ja, aber Nelly. Was soll ich denn machen? Ich muss mir doch etwas in die Arbeit mitnehmen.«

»Koch am Vortag!«

Ich überlegte kurz. »Und wie mache ich es warm? Wir haben keine Mikrowelle.«

»Also, ich esse immer kalt«, entgegnete Nelly.

Automatisch schüttelte es mich. Nein, das konnte ich mir mal so gar nicht vorstellen.

 

Mit flauem Gefühl verabschiedete ich mich, gekonnt mied ich Nellys intensive dunkelblaue Augen. Drew, Nellys Mann und ebenfalls Trainer, kam mir auch nicht mehr unter, als ich hinaus zum Fahrrad ging. Der Kopf steckte immer noch in meinem Kalender, wo so gut wie alles, was ich bisher als gegessen hineingeschrieben hatte, rot angestrichen war.

Nach fünf Minuten war ich zuhause angelangt, wo ich gefrustet die Tür zuschlug - was ich sogleich bereute, denn der Designerspiegel, den ich vor kurzem erst günstig ersteigert hatte, wackelte und knarzte verdächtig an der Wand des Flurs. Er reichte von Boden einen Meter achtzig hinauf und war zu beiden Seiten mit altertümlichen Schnörkeln versehen, die sich nach innen ein wenig ausliefen.

Normalerweise stand ich vor dem Spiegel und sah nichts als Herrlichkeit darin, alleine wegen der Schönheit des Gegenstandes an sich. Heute hatte ich dafür nichts übrig. Ich betrachtete mich selbst und versuchte, die Rebellion in mir zu verdrängen. Mein erster Impuls bei Konfrontationen war immer: Schallklappen zu und auf stur schalten. Es fällt mir im ersten Moment immer schwer, Kritik anzunehmen.

»Du hast es gewollt, Julia. Also ziehst du das auch durch«, schimpfte ich mich selbst.

Hinter mir ging die Wohnzimmertür auf und Kevin lugte hervor.

Ich weiß nicht, wen er erwartet hatte, aber als er seine Freundin entdeckte, glättete sich die gerunzelte Stirn. Er kam her und umfasste mich von hinten.

Im Spiegel funkelten mir seine hellbraunen Augen entgegen, die nahtlos ins Weiß überzugehen schienen. Diese Seelenfänger hatten es mir vor drei Jahren auf den ersten Blick angetan. Seitdem verging kaum eine Woche, in der ich sie nicht studierte.

»Hier«, sagte ich und hielt ihm den Kalender hin. »In Zukunft kann ich mich nur noch von Luft und Liebe ernähren.«

»Was? Wieso denn?«

Kev nahm mir das Buch aus der Hand und drehte sich weg.

»Na. Das, was ich essen darf, schmeckt mir nicht.«

Irgendwie hatte ich Angst, was Kevin dazu sagen würde. Er war es, der mich dazu animiert hatte, den Ernährungsplan machen zu lassen.

Das klingt jetzt vielleicht blöd. Ich selbst war auch nicht so begeistert von meiner Figur, und weil er mich ganz genau kannte, hatte er mich immer in diese Richtung gestupst. Aber jetzt wollte ich absolut nichts Negatives aus seinem Mund hören, das konnte bei ihm aber sehr gut sein. Denn wenn es nicht um ihn ging war er sehr direkt, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer.

»Und was das kostet, will ich gar nicht erst wissen«, setzte ich deshalb noch hinzu, in der Hoffnung, ihn von etwaigen blöden Ideen abzubringen.

»Wird schon«, sagte Kev und ging wieder ins Wohnzimmer. Das Interesse war vorüber - der Fernseher war wieder interessanter.

Erleichtert atmete ich die Luft aus, die ich unbewusst angehalten hatte. Das war gut. Er sagte zumindest nichts, was die Sache noch schlimmer gemacht hätte und ließ mir Ruhe. Die brauchte ich jetzt.

Während ich unter der Dusche stand, freundete ich mich langsam mit der Sache an. Ich wusste ja von Anfang an, dass es nicht leicht werden würde.

 

Am folgenden Tag ging es zum Einkaufen. Es war ein heißer Samstag, der August zeigte sich in seiner vollen Pracht.

»Badesee wäre mir jetzt lieber«, murrte Kevin, der mit dem Einkaufswagen hinter mir herschlurfte.

»Können wir ja noch, Kev. So viel brauch ich eh nicht und zum Kochen ist es mir heute zu heiß. Mmh«, ich studierte die Einkaufsliste. »Bin gespannt, wie so ein Tomaten-Mozzarella-Salat schmeckt.«

»Machst du das heute?«

Kevin klang nicht unbedingt begeistert. Belustigt betrachtete ich ihn mit Blick über die Schulter. Seine blonden Haare waren heute wild mit den Fingern nach hinten gestrichen. Es machte ihn verwegen, nicht so brav, als wenn sie ihm wie üblich in die Stirn hingen.

»Du bekommst natürlich etwas anderes. Essigwurst.«

Dass in Zukunft doppeltes Kochen angesagt war, hatte ich gewusst. Auf meinen künftigen Einkaufszetteln standen vorwiegend Fisch, Gemüse und Putenfleisch. Einzig mit Letzterem konnte Kevin etwas anfangen. Er war es gewohnt, deftig zu essen. In dem Jahr, das wir jetzt schon zusammen in unserer Stockwohnung gemeinsam lebten, hatte er sich schon ein wenig umgewöhnt, denn ich hatte bei meiner Mutter zuhause eine fettfreiere Art zu kochen gelernt und übernommen.

Kevin zeigte sich besänftigt und war plötzlich nicht mehr hinter mir, was mir ein Lächeln entlockte. Es hatte mich schon gewundert, dass er es überhaupt so lange ausgehalten hatte. Es gab zwei Gemütszustände, wenn wir gemeinsam einkaufen waren: Entweder er marschierte desinteressiert mit und die Zeit im Lebensmitteladen war ihm viel zu lange. Oder er fuhr mit dem Einkaufswagen davon und füllte ihn mit lauter ungesundem Zeugs.

Auch heute hatte er sich ganz schön was eingeladen, von Buttercroissants bis hin zu Gummibären war einiges im Wagen, das nicht auf meiner Liste stand.

»So viel?«, murrte ich, als wir bei der Kasse standen.

Ich hatte die Befürchtung, dass mir das Widerstehen zu anfang schwerfallen würde, wenn so viel zuhause war, sollte ich doch überschüssigen Zucker weglassen.

Und ich liebe alles Süße.

Kev starrte mich an, seine Augen spiegelten eine Mischung aus wütendem Grizzly und geschlagenem Hund wieder. Die schmalen Lippen waren fest zusammengepresst, was seine Wangenknochen noch mehr hervorhob.

Ich strich über seinen leichten Dreitagesbart, den er sehr penibel pflegte und fast täglich zurechtstutzte.

»Das wird eine Härteprobe für mich.«

Sachte legte er mir seine Handfläche auf den Rücken und sofort baute sich ein Kribbeln in mir auf, zumal Kev das Turteln in der Öffentlichkeit nicht so mochte.

»Du schaffst das.«

Ich strahlte ihn an. Das hatte ich nie zu träumen gewagt. Dass er so hinter mir stand und an mich glaubte.

Raus aus dem Geschäft kam uns eine Frau mit hellbraunem Pferdeschwanz entgegen. Prompt verflog meine Heiterkeit.

Jeder Mensch freute sich, wenn er seine Mutter traf, ich empfand nur Minderwertigkeitskomplexe und Groll. Das hatte sie gemacht ...

Aber darüber wollte ich jetzt nicht grübeln.

Lydia Tinger, welcher eine nachdenkliche, in sich gekehrte Ausstrahlung anhaftete, hatte den Blick auf den Boden gerichtet und sah uns nicht. Kurz überlegte ich, einfach an ihr vorbei zu gehen, dann aber holte mich der Anstand zurück.

»Hey, Ma«, sagte ich, wie immer zu freundlich - meinen Gefühlen zu ihr im Kontrast.

Mum schaute auf, die Augenbrauen in die Höhe gezogen, als würde sie sich fragen, wer es wagen konnte, sie anzusprechen.

»Hallo, mein Mädchen!«, sagte sie dann in süffisantem Ton und gab mir ein Küsschen links und rechts.

In Kevins Richtung ging keinerlei Gruß. Auch er reagierte nicht. Im vorletzten Jahr hatte die fünfzigjährige Frau eine Abneigung gegen meinen Lebenspartner entwickelt. Seit sie von zuhause aus- und bei ihrem Freund Marvin eingezogen war. Woher die plötzliche Asymphatie kam, war nicht schwer zu erraten.

Hinter mir erklang ein Geräusch, so als litt jemand an Würgereiz. Unmittelbar darauf fuhr Kev mit dem Einkaufswagen davon.

»Alles gut bei dir?«

»Ja, klar. Alles gut«, entgegnete ich. »Wir fahren jetzt baden.«

»Wie schön. So was in die Richtung hatten wir auch geplant.«

Schweigen trat ein, unwissend, was wir uns erzählen sollten. Ich muss zugeben, wenn Kev dabei war, verhielt ich mich immer eher befangen mit meinen Lebensgeschichten. Dafür hatte ich hinterher nie das Gefühl, ich hätte meine Zeit verschwendet, mit Worten, die eh keiner hören wollte.

»Na, dann. Bis demnächst.«

»Ja, schönen Tag.«

Wieder Küsschen links, Küsschen rechts, und Mama war im Geschäft verschwunden. Etwas missgestimmt ging ich zu Kev´s Subaru, den er schon fleißig einräumte. So empfand ich immer nach einem Zusammentreffen mit meiner Mutter. Es fühlte sich an, als wäre ich nichts wert, als friste ich mein Leben komplett sinnlos in dieser Welt.

»Die wird immer komischer«, sagte er, als er mich sah.

Mein Mund war ein schmaler Strich - was mich laut Aussagen meiner Mutter ähnlicher sehen ließ - und ermöglichte kein Aussprechen von irgendetwas. Auch wenn dieses Aufeinandertreffen mehr als komisch war - vor allem, weil ich nicht damit klarkam, dass Lydia ihre Tochter so unwichtig geworden war -, ich wollte nicht, dass Kev auch noch über sie herzog.

Er hatte gute Gründe, sie nicht zu mögen. Aber das Recht, mich von ihr wegzutreiben, oblag ihm in sicher nicht.

Während Kev das Auto weiter einräumte, stand ich einfach nur da und wartete. Dann fuhr ich den Einkaufswagen zurück und stieg dann auf der Beifahrerseite ein, immer noch in Gedanken bei meiner Mutter.

Immer wieder nahm ich mir vor, diese Frau, oder besser gesagt ihre Umgangsweise mit mir, zu ignorieren. Aber was hatte ich nicht alles versucht, immer wieder baute sich ein Kloß im Hals auf, der erst nach etlichen Stunden wieder verging.

 

Leicht genervt saß ich auf der Arbeit und brütete vor mich hin. Es war Mittwoch Nachmittag und keine einzige Kundschaft im Möbelgeschäft. Ich durfte aber nicht nach Hause gehen.

Es mussten mindestens zwei Berater anwesend sein, und da meine Arbeitskolleginnen Mara und Nadine diese und nächste Woche Urlaub hatten, waren nur noch ich und Marcel übrig. Der war gerade im Außendienst - bei einem Kunden zuhause und schaute sich an, ob sein Plan mit den dortigen Anforderungen übereinstimmte.

Der Sommer war immer die ruhigste Zeit im Jahr. Wer wollte sich schon eine Wohnung oder ein Haus einrichten lassen, wenn draußen die Sonne heizte und der Badesee lockte?

An sich war es für mich nicht so schlimm, wenn keine Kunden zu betreuen waren. Es gab genug aufzuarbeiten, bereits gestartete Projekte zum Beispiel. Meistens. Heute nicht mehr.

Noch hinzu kam, dass ich heute meinen Hunger-Tag hatte. Es war jetzt die letzte Augustwoche, vor zwei Wochen hatte ich den Ernährungsplan in Angriff genommen.

Und es klappte überraschend gut, muss ich sagen. Die kohlehydrate- und zuckerarme Kost tat mir witzigerweise überhaupt nichts. Vor allem, dass ich ganz ohne Süßigkeiten auskam, überraschte mich sehr. Nichts, wirklich nichts schien meinem Körper abzugehen.

Im Gegenteil, ich fühlte mich leichter, freier, als würde mich kein unnötiger Ballast plagen - was bestimmt auch so war.

Nur an manchen Tagen - so wie heute - hatte ich das Gefühl, unterernährt zu sein, als hätte ich zu wenig gegessen. Dem gab ich aber nicht nach. Ich aß nach wie vor zu meinen Zeiten die erlaubten Gramm der erlaubten Speisen. Am Ende des Tages war ich dann immer extrem froh, nicht nachgegeben zu haben. Denn wenn ich im Bett lag, gar nicht mehr hungrig und rund um wohl fühlend, erkannte ich, dass es nur der Kopf war. Es war der Kopf, der meinte, Zucker wäre die Lösung für alles.

Dass schon ein paar Kilo gepurzelt waren, half mir natürlich, durchzuhalten. Von meinen anfänglichen siebenundfünfzig Kilo - auf einen Meter Fünfundfünfzig - waren in der ersten Woche eineinhalb und in der letzten ein Kilo verschwunden. Wo die fehlten, wusste ich zwar nicht, aber es war ein urschönes Gefühl.

»Na, was ist denn mit dir heute los?«

Marcel riss mich aus dem Bildschirmstarren. So sehr, dass ich beinahe vom Stuhl fiel.

»Ich weiß nicht«, entgegnete ich und versuchte es mit einem Lächeln. »Ist heute nicht mein Tag.«

Marcel grinste. Ich machte kein Geheimnis aus meinem Wandel und der etwas festere dunkelhaarige Mann konnte absolut nicht verstehen, wieso ich, seine Worte, mir so etwas antat.

Heute war er, Gott sei Dank, so klug und sagte nichts zu mir. Lediglich: »Jetzt haben wir eh nicht mehr lang.«

Das stimmte. In einer Stunde war es fünf Uhr am Abend und das kleine Einrichtungsgeschäft schloss ihre Pforten.

Ich freute mich heute schon so richtig aufs Training. Denn je weniger ich zuhause war, desto mehr schwand die Versuchung, zu viel zu essen. Vor allem die Süßigkeiten waren an solchen Tagen mehr als gefährlich. Außerdem bekam ich heute meinen korrigierten Kalender von Nelly zurück.

Ich fragte Marcel nach seinem Projekt und er erzählte ein wenig darüber. Es lief anscheinend alles nach Plan. Die Maße stimmten alle ganz genau überein, die Kunden hatten keine Änderungswünsche mehr, also konnte er die Einrichtungspläne zur Fertigung geben.

»Toll, ich freu mich für dich«, sagte ich.

Es war immer schön, wenn ein Projekt zum Abschluss kam. Dann war der harte Teil vorbei und man wusste, man hatte den Menschen zu einem schönen angenehmen Leben mit perfekten Möbeln verholfen.

Ich hatte diesen Erfolg schon länger nicht mehr. Alle meine Kunden waren gerade in Urlaub oder mit ihren Kindern beschäftigt, sie konnten sich keine Zeit freischaufeln, um alles ins Reine zu bringen. Aber ich ärgerte mich nicht darüber. Es war Sache der Kunden, wann sie fertig sein wollten.

 

Zwei Stunden später saß ich im Trainingsraum, vollgeschwitzt - mein Handtuch immer griffbereit - und machte bei der Bauchübung mit, so gut es ging. Die Muskeln brannten schon wie Feuer. Aber aufgeben war keine Option. Das musste jetzt sein.

Ich verabscheute nichts mehr, als die Tatsachen, dass sich Leute nur mit mir abgaben, wenn sonst keiner da war, mit dem sie reden konnten.

Wobei - ganz so stimmt das nicht. Mittlerweile hatte ich mich schon damit abgefunden, denn das schien mein Schicksal zu sein. Ich war vom Wesen her eher ruhig und ging nicht viel aus mir raus. Erst wenn ich die Person näher kannte, änderte sich das.

Und selbst dann kam es immer auf mein Gegenüber an. Wenn ich das Gefühl hatte, er oder sie interessierte sich nicht sonderlich für die Sachen, die mich betrafen und ausmachten, dann sprach ich nicht weiter. Aus Erfahrung waren das die Menschen, die vom Gemüt her offen waren, zu allem etwas sagen wollten - kurz Aufmerksamkeitsheischer.

Schon in der Schulzeit hatte ich begonnen, das Beste daraus zu machen, anstatt dagegen anzukämpfen. Man kann nicht gegen sich selbst arbeiten. Da hatte meine beste Freundin auch immer so gehandelt, ohne dass es ihr bewusst gewesen war, wie wir bei Gesprächen Jahre später festgestellt hatten. Deshalb konnte ich gar niemandem einen Vorwurf machen.

Dass ich so bin, warf ich aber durchaus jemandem vor. Kaum jemand wusste etwas Tiefergehendes über mich, denn bevor die Leute so weit zu mir durchdrangen, um mich richtig kennenlernen zu können, wurde ihnen vorher langweilig.

Lange hatte ich das gar nicht bewusst wahrgenommen, erst durch Kev, der meine Mutter ziemlich schnell durchschaut hatte, war mir bewusst geworden, dass sie es war, die mich in das Schneckenhäuschen gesteckt hatte.

Lydia hatte doch permanent etwas an mir zu mäkeln gehabt.

»Tu dies nicht, tu das nicht. Was hast du nur für eine Unart?«

Wenn man ständig vorgelebt bekam, dass man schlecht war, nicht in diese Gesellschaft passte und es einfach besser war, den Mund zu halten, zog man sich irgendwann in sichere Gefilde zurück.

So war es heute auch bei Mina. Es war Konditionstraining mit Drew, gemischte Gruppe aus Frauen und Männern. Mina war auch beim Damentraining dabei, je nachdem, wie sie Zeit hatte. Ich unterhielt mich immer gerne mit ihr, sobald aber in den Kondition-Trainings Lena da war, wurde ich geflissentlich ignoriert.

Heute war dafür ein Paradebeispiel. Mina und ich waren schon seit ein paar Minuten da und redeten ein wenig über die Arbeit, den Sommer und das Training selbst. Dann kam Lena bei der Tür herein. Mina warf einen Blick auf sie und drehte sich von mir weg. Als wäre ich nicht mehr da. Luft.

Das musste ich jetzt erst mal aus meinem Kopf kriegen, in dem ich mich so richtig auspowerte. Dass ich nach der Stunde mit Nelly meinen Ernährungsplan durchbesprechen sollte, blendete ich dabei komplett aus.

Am Ende des Trainings fühlte ich mich fitter als zuvor, obwohl ich mir kaum Zeit zu atmen gegeben hatte. Darüber musste ich selber grinsen. Genau so sollte es sein. Wenn man Sport richtig betrieb, fühlte man sich danach nicht ausgelaugt, sondern so, als könnte man Bäume ausreißen. Zumindest sagte das Drew immer.

Während ich meine Sachen zusammenpackte und die Socken anzog, kam Nelly auf mich zu. Kurz schoss mir der Puls in die Höhe. Aber ihr Lächeln, das die schmalen Züge weicher wirken ließ, beruhigte mich gleich wieder.

Sie war sehr streng, wenn man sich auf ihren Ernährungsplan einließ - zurecht, immerhin hatte sie damit Arbeit und durfte durchaus erwarten, dass man das auch würdigte, in dem man hart mit ihren Angaben arbeitete. Aber wenn sie lächelte, konnte es doch gar nicht so schlimm werden.

»Wie geht es dir?«, sagte sie in ihrem typischen amerikanischen Akzent.

»Gut, Nelly. Danke.«

Ich wusste genau, worauf sie hinauswollte, deshalb fragte ich auch nicht zurück. Aber erst wollte ich wissen, was sie zu sagen hatte.

»Du bist wirklich fleißig. Sehr diszipliniert. Ein bisschen zu viele Süßigkeiten vielleicht noch.«

Damit hatte ich gerechnet. Ich aß zwar schon wesentlich weniger, aber ab und zu konnte ich mich nicht zusammennehmen und schnappte mir halt ein Bonbon oder ein Stückchen Schokolade.

Ich nickte nur, denn so, wie sie mich ansah, war das noch nicht alles.

»Und der Salat. Ohne Öl und Essig wäre besser.«

Erneut verzog ich das Gesicht. »Was? Aber das schmeckt ja dann voll langweilig.«

»Du kannst ein wenig Zitrone reinpressen. Dann hast du auch ein wenig Geschmack drin.«

Ich wiegelte mit dem Kopf. »Ja, ich probier´s.«

Inzwischen war ich fertig mit dem Sockenanziehen und stand auf von der lässigen Paletten-Couch. Das Holz war in Schwarz gestrichen und darauf lag eine Matratze mit gelbem Überzug. Ich fragte mich immer wieder, wieso auf der noch keine Schweißflecken sichtbar waren.

Nelly umarmte mich.

»Super, Julia. Echt toll. Drei Kilo sind fast schon weg.«

Ich fühlte mich etwas unbehaglich, wie immer, wenn ich unverhofft auf Nähe traf.

»Wie viel willst du denn abnehmen? Was ist dein Ziel?«

Die achtunddreißigjährige Frau hatte sich von mir gelöst, um mich ansehen zu können, mit ihren außergewöhnlich dunkelblauen Augen.

»Ich weiß nicht genau. Es gibt einfach Stellen an meinem Körper, die will ich weghaben. Und meine Dirndl! Ich habe zwei. In das Ältere, passe ich schon lange nicht mehr rein. Und das Neue hat mir im Juni noch gepasst und jetzt geht der Reisverschluss nicht ganz zu.«

Ich wurde rot. Das zu erzählen war mir etwas unangenehm. Damit hatte ich mich nicht einmal Kev anvertraut.

»Ah, okay. Die müssen wieder passen.«

»Mmh, ich hoffe, das Neue passt mir im Oktober, da bin ich auf einer Hochzeit eingeladen.«

Nellys dunkle Augen funkelten listig. »Und was wenn nicht?«

Ich kaute auf der Lippe. »Dann habe ich notfalls ein einfach geschnittenes Ballkleid«, sagte ich und dachte dabei an das silberne Rüschenkleid, das kurz über den Knien endete. Es gefiel mir, nach drei Jahren immer noch, aber im Dirndl fühlte ich mich einfach wohler.

»Das ist gut.«

Von einem Schlag auf den anderen schaltete Nellys Gemütszustand um. Plötzlich war sie extrovertiert, wollte ihre Ruhe haben und schien beinahe flüchten zu wollen. Ich war das schon gewöhnt. Es gab mehr Tage, an denen ich nicht wirklich mit ihr reden konnte, als solche Momente wie eben. Dass sie mitten im Gespräch die Laune änderte, war allerdings neu und überraschte mich kurzzeitig doch.

Um sie zu erlösen, setzte ich mich in Bewegung.

Ich fühlte mich gut, als ich aus der Tür ging. Ich hatte mich gefreut, als ich mich das erste Mal auf die Waage gestellt hatte, und eine Woche später noch mehr. Aber von jemand anderem das Lob zu hören, das hebt einen hoch und motiviert ungemein.

2

 

Der Tag der Hochzeit war da.

Die Hochzeit meiner besten Freundin Lina und ihrem Calvin. So ewig hatte ich mich schon darauf gefreut.

Heute wollte ich mein Dirndl anziehen. Das Dirndl, das mir vor drei Monaten den Kampf angesagt hatte. Gerade stand ich davor und traute mich nicht, es überzustreifen.

Kev hatte schon eine Woche zuvor gesagt, ich solle es einfach mal probieren, ich hatte mich partout geweigert. Ich wollte mir damit meine Motivation nicht vertun, weiter streng nach den Regeln zu essen.

Mittlerweile war ein weiteres Kilo runter, aber ich konnte nicht sagen, dass mir am Körper eine Veränderung aufgefallen wäre, äußerlich. Gemütsmäßig schon. War ich vor drei Wochen eigentlich permanent müde gewesen und hatte der Magen immer wieder gedrückt, fühlte ich mich jetzt ausgeruht und leicht. Zu jeder Uhrzeit.

Ersteres war aber der Grund, warum ich das Kleid nicht anprobieren wollte. Ich hatte Angst, dass es mich deprimieren würde, wenn es nicht passte.

Ich war bereits felsenfest davon überzeugt, dass die Waage einen Defekt hatte. Wenn ich jetzt mein Ersatzkleid anziehen müsste, wäre das noch das Tüpfelchen auf dem I.

»Zieh schon an, wir müssen dann fahren.«

Kev stand ungeduldig in der Tür des Büros, indem ein Schrank stand, wo die nicht alltägliche Bekleidung gelagert war. Ich stand immer noch davor und studierte das Kleid, als würde es mir etwas verraten, das ich noch nicht wusste.

»Ist ja gut. Aber ich will, dass du weggehst!«

Warum, konnte ich selbst nicht sagen. Wenn ich anschließend mit dem Ballkleid rauskommen würde, wüsste er ja ohnehin, dass es nicht passte.

Aber es war wohl dasselbe, warum ich Kev anfangs nicht gesagt hatte, dass dieses Kleid nicht mehr passte. Ich wollte das mit mir selbst ausmachen. Ganz alleine. Ich hatte ja auch mit den Konsequenzen zu leben.

Kev schnaubte nur und ließ die Tür hinter sich zuknallen.

»Es passt. Es passt. Es passt!«, kreischte ich eine Minute darauf.

Nie hatte ich mich so erleichtert und in Spannung zugleich gefühlt. Der Reisverschluss war einwandfrei, ganz locker und lässig, zugegangen, da würde sogar noch viel Essen Platz haben, ohne aus den Nähten zu platzen.

Die Tür ging auf, Kev hatte wohl davor gewartet. Er starrte mich mit Stolz und Belustigung in seinen hellbraunen, kleinen Augen an.

Voller Freude sprang ich ihm in die Arme und verpasste ihm einen dicken Schmatzer. Sein Duft ließ mich ganz schummrig werden und noch glücklicher als ich es ohnehin schon war.

Kev grinste, in seinen Augen glitzerte nun Begehren auf, womit er mich ansteckte. Ein reizvolles Kribbeln breitete sich in mir aus.

»Schön, trotzdem zieh ich dir das jetzt aus. Du rattenscharfe Braut, du«, sagte Kev und drückte meinen Kopf hinunter, damit unsere Lippen sich treffen konnten.

Dass die Zeit knapp wurde, war vergessen.

Langsam ließ er sich auf die Knie und legte mich auf den Laminatboden. Ich bekam große Augen. Wollte er jetzt etwa hier, am Boden ...

Ja er wollte, zeigten mir seine Hände, die das Dirndl abstreiften. Ich schloss die Augen und begann zu genießen, in angenehmer Überraschung über die Spontanität.

 

»Und der Song ist ganz speziell für die Braut. Sie wird wissen, von wem er gewünscht wurde.«

Verschmitzt grinste ich den schwarzhaarigen DJ an. Sogleich setzte Hamma von Culcha Candela ein. Der Song war der absolute Hit in Linas und meiner Fortgehzeit gewesen. Und Lina ging auch sofort darauf ein.

Meine beste Freundin war heute der glücklichste Mensch auf Erden. Als frischgebackene Frau Kerren musste das auch so sein. Ihr knielanges cremefarbenes Kleid wehte hin und her, die langen braunen Locken wippten auf und ab, während sie die letzten paar Meter überbrückte, die uns trennten. Dann schnappte sie mich an der Hand und zog mich auf die Tanzfläche.

Auch ich könnte heute nicht besser gelaunt sein. Ich fühlte mich so wohl in meinem Körper und war erfreut über meine neu gewonnene Spontanität, die sich am Vormittag gezeigt hatte.

Einer aufkommenden Sehnsucht nach drehte ich mich nach meinem Mann um. Fast gleichzeitig fanden sich unsere Augen. Er saß neben Calvin, dem Bräutigam, und hatte schon einiges intus, was ich an seinem verhangenen Blick erkannte.

Es war ein Glück für mich, dass Kev nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die im Rausch anstrengend und ausfallend wurden. Er blieb ruhig und besonnen, redete nur etwas mehr als sonst und machte gerne Witze.

 

Es war schon Nacht, als ich das erste Mal seit der Torte - ein himmlischer Traum in Rot-Creme, gefüllt mit der besten Malakofftorte, die ich je verspeist hatte - die Tanzfläche verließ und einen Moment Ruhe suchte.

Die Torte, der Wein und die etlichen Gläser Sekt machten mir den Magen doch etwas schwer. Das war ich nicht mehr gewöhnt.

Die Luft draußen war an diesem Oktobertag schon sehr frisch, und genau das brauchte ich jetzt.

Unmittelbar neben dem Eingang stand eine alte, nicht sehr vertrauenserweckende Holzbank. Ungeachtet Letzterem setzte ich mich, achtete aber darauf, nicht zu sehr herumzuwetzen, um mir keinen Schiefer einzuziehen beziehungsweise das Kleid zu ruinieren. Ich löste die Schuhe von den Füßen und seufzte vor Erleichterung. Dann sank ich in mich zusammen, schloss die Augen und sog ein paar Mal tief die Luft ein.

Ein unangenehmer Geruch zog im letzten Atemzug mit und kitzelte mich in der Nase. Etwas pikiert schaute ich wieder auf und suchte nach der Ursache dieses eigenen Geruchs. Es war Rauch, kalter Rauch.

Schräg vor mir stand der DJ - Lix nannte er sich, wenn ich nicht irrte - und rauchte sichtlich mit Genuss die merkwürdig riechende Zigarette.

Obwohl ich wusste, dass es unhöflich war, mich nicht aufmerksam zu machen, blieb ich im Dunkeln und beobachtete ihn, musterte seine Rückansicht. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Jacke überzuziehen - wie ich - und stand nur in einem dunkelblauen kurzärmeligen Hemd da. Die Schultern drückten sich deutlich durch. Automatisch war ich interessiert. Der trainierte garantiert.

Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so genüsslich an einer Zigarette zog. Er stand da, bei jedem Zug wurde er ganz gerade, und wenn er den Rauch ausblies, legte er den Kopf in den Nacken, bestimmt mit geschlossenen Augen.

Normalerweise hatte ich nichts übrig für Menschen, die sich ihr Leben mit diesen Stängeln ruinierten und andere mit dem Gestank belästigten. Aber der Mann hatte dabei etwas an sich, das es mir antat.

Vielleicht war es diese Art, etwas zu genießen. Es war schon so selten, dass jemand etwas wirklich mit vollstem Einsatz von Körper und Geist annehmen konnte.

Die Menschheit hatte es verlernt, mit den kleinsten Dingen Freude zu haben.

Ich betrachtete ihn weiter, ohne zu wissen, warum. Seine Zigarette war bis zum Filter abgeraucht und er drehte sich nach dem Aschenbecher um, der unweit neben mir stand. Bevor er mich aber entdeckte, kam jemand aus der Tür geschneit. Ich erkannte sofort an ihrer Statur und dem lasziven Gang, der wohl sexy sein sollte, dass es Jessica war, eine von Linas besten Freundinnen.

Ich mochte sie nicht, ohne recht benennen zu können, warum. Womöglich wegen ihrer herablassenden Art: Sie wusste, dass sie ein hübsches Gesicht hatte mit ihren vollen Lippen, der schmalen Nase und den hellgrünen Augen. Ihre langen schwarzen Haare waren heute zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Das fliederfarbene Neckholderkleid passte perfekt auf ihren schlanken Körper, die pralle Oberweite kam perfekt zur Geltung.

Lix hatte sich beim Geräusch der High Heels auf dem Kies etwas zur Seite gedreht. Ich konnte deutlich sehen, wie sich die Augen des Mannes weiteten. Die Zigarette, die er vorhin umweltbewusst entsorgen wollte, fiel ihm aus der Hand.

Es ärgerte mich ungemein, dass - größtenteils - alle Männer auf solche Frauen abfuhren.

Das war´s für mich, so sehr mich der DJ vorhin auch fasziniert hatte, jetzt war er in meiner Wertschätzung um neunundneunzig Prozent gesunken. Das letzte Prozent verlor sich, als ich schon möglichst leise aufgestanden war und sah, wie Jessica ihre Hand vorne in seine Röhrenjeans steckte - und er es sich gefallen ließ.

Wutschnaubend und zutiefst enttäuscht vom männlichen Geschlecht stapfte ich nicht gerade leise davon, zurück zum Festsaal. Der Mann war schon so verzückt, dass er das gar nicht wahrnahm.

An der Bar des großen Saals entdeckte ich Kev mit ein paar Freunden und einem Schnaps in der Hand. Ich raste auf ihn zu und schnappte mir das kleine Glas. In einem Zug leerte ich es. Wie üblich entgleisten mir die Gesichtszüge. Es gab tatsächlich Menschen, denen so ein Gesöff schmeckte.

Die Umstehenden sahen mich schmunzelnd an, Kev´s Mund stand sperrangelweit offen.

Ich grinste ihn keck an - der Schnaps zeigte sofort Wirkung - und schloss ihm die Lippen mit einem dicken Schmatz. Dann rauschte ich ab auf die Tanzfläche.

Der DJ hatte für seine Rauchpause vorgesorgt, die Musik spielte noch, es tanzte aber niemand dazu. Mir war das egal. Ich schloss meine Augen und bewegte mich ganz alleine für mein Wohl zu Ein Hoch auf uns.

Diese Begegnung hatte mich ganz unerklärlich so aus der Bahn geworfen, dass ich nicht wusste, wie damit umzugehen war. Ich wollte auch ehrlich gesagt gar nicht darüber nachdenken. Vergessen war mir lieber.

Das Einzige, worum ich mich jetzt bloß kümmern musste, war, dass ich nicht geschwätzig wurde. Unter Alkoholeinfluss sank meine Hemmschwelle um einiges und wo ich normalerweise darüber nachdachte, wem ich was erzählte, hatte diese Vernunft heute bestimmt schon ausgesetzt. Dass ich gerade darüber nachdachte, änderte nichts daran. Mein Gehirn war unter Alkoholkonsum wie ein Schmetterling.

Um meine Hüfte legten sich Arme. Zutiefst erschrocken öffnete ich die Augen. Aber es war nur Lina in ihrem hübschen Hochzeitskleidchen und mittlerweile schuhlos. Sie wollte mich da nicht so alleine stehen sehen.

»Und weiter gehts!«, ertönte es hinter mir.

DJ Lix war wieder da, besser gelaunt als zuvor. Ein böses Grinsen fuhr mir die Lippen entlang. Wer wäre nach so einer Einlage nicht gut drauf?

Plötzlich haftete der Blick des schwarzhaarigen Mannes auf mir. Ich schaute nach links und rechts - viel zu schnell und auffällig, wie ein Eichhörnchen auf Drogen - aber es war unmöglich, mich diesen flussblauen Augen zu entziehen.

Warum schaute er mich so an?

Überheblich schnaubte ich, als ich Jessica im Hintergrund wahrnahm. Der Zauber, welchen auch immer er im Sinn hatte - wahrscheinlich wollte er aufgeputscht von der Ersten die Nächste klar machen - war verflogen. Ich würdigte ihn keines Blickes mehr und dachte auch nicht weiter über ihn nach.

Der Kerl - alle Kerle dieser Welt konnten mir so egal sein. Nur einer war wichtig, und der kam gerade etwas wackelig auf mich zu.

Ich streckte meine Hände nach ihm aus und rempelte dabei eine Tanzende an. Mit einem Lächeln wollte ich mich entschuldigen. Da sah ich, wer es war und meine Züge gefroren zu Eis. Nein, Jessica war es nicht wert, derartige Wörter zu verwenden. Mochte ich sie vorher schon nicht sonderlich, konnte ich sie seit heute regelrecht nicht mehr ausstehen.

Als hätte mich der DJ die ganze Zeit beobachtet - ! - setzte in dem Moment, als sich Kev´s und meine Finger zu einem Knödel verbanden, ein ruhiges Lied an.

Kev zog mich zu sich und legte ganz sanft, aber voller Begierde seine Lippen auf meine. Im Takt wippten wir mit, alle Welt verschwand. Es gab nur mehr meinen Freund und mich, die Liebe und dieses Neue, das sich da heute Vormittag angebahnt hatte.

 

Als hätte man mir tausende von Stecknadeln bis zum Kügelchen in den Magen gedrückt. Mit diesen Schmerzen schlug ich die Augen auf und krümmte mich in der Fötusstellung.

Die Hochzeitsfeier hatte bis in die Morgenstunden gedauert. Jetzt war es zehn Uhr vormittags, ich hatte nur drei Stunden geschlafen.

Kevin lag neben mir, auf dem Bauch, die Bettdecke quer über ihm, sodass sie mehr Körper freigab, als zudeckte. Der Kopf war in meine Richtung gedreht. Mit offenem Mund schnarchte er leicht. Ich schmunzelte. Nur wenn er getrunken hatte, machte er das.

Dann trat der stechende Schmerz wieder voll in mein Bewusstsein und benebelte jegliche Sinne. Ich veränderte meine Liegeposition, legte mich ganz gerade auf den Rücken, um dem Körper die Spannung zu nehmen. Mit der rechten Hand strich ich sachte am Bauch hin und her, die linke rieb über die Augen und legte sich dann auf die Stirn.

Was war das denn? So schlimm hatte ich mich seit Monaten nicht mehr gefühlt.

Sachte stieg ich aus dem gusseisernen Bett, vorbei am begehbaren Kleiderschrank. So leise wie möglich öffnete ich die Tür und ging in die Küche. Dabei kam ich an meinem heißgeliebten Spiegel vorbei, der mittig in dem schmalen Flur hing.

Als ich mein Gesicht sah, kam mir das Grauen. Die Haut war fettig und von Pickeln übersät. So schön und rein mein Gesicht durch die Ernährungsumstellung geworden war, jetzt war es ums doppelte schlimmer.

Das war die Antwort auf meine Bauchkrämpfe: Der gestrige Abend, sprich das viele Essen und der Alkohol - zu viel Ballast für meinen Körper.

Als wollte mein Körper dies bestätigen, ließ das Ziehen im Bauch kurz nach. Irrwitzigerweise beruhigte mich das, so wusste ich wenigstens, dass ich mir keinen Virus eingefangen hatte. Es ärgerte mich aber auch. Mal einen Tag lang einfach ohne Regeln genießen, ging wohl nicht mehr. Da wurde sofort auf Rebellion gesetzt.

Ich zog mich ins Bad zurück und ließ Wasser in die freistehende Badewanne mit den coolen Füßchen ein. Wärme hatte dem Magen immer schon gutgetan. Außerdem fühlte ich mich plötzlich so schmutzig.

Bevor ich mich aber ins heiße Nass begab, kramte ich mein Smartphone hervor. Keine Nachrichten, wie zu erwarten. Alle meine Freundinnen, mit denen ich regelmäßigen Kontakt pflegte, waren auf der Hochzeit gewesen und schliefen jetzt bestimmt noch.

Das Brautpaar, Kev und ich waren das Schlusslicht gewesen, die letzten Gäste - vorwiegend unsere Generation - hatten auch erst in den Morgenstunden die Reise ins Bett angetreten.

Auf der Plattform Facebook tat sich schon wesentlich mehr. Ein paar Leute hatten Fotos mit ihren Handys gemacht und hochgeladen. Während ich durch die Timeline scrollte, entdeckte ich nur ein Foto, wo ich mit Kev tanzte. Ich mit dem Rücken zur Kamera, er himmelte mich scheinbar an. Das speicherte ich mir sofort aufs Handy.

Dafür gab es viele Fotos von diesem DJ Lix - der schien ein Frauenmagnet zu sein. Und immer, wirklich immer war Jessica mit auf dem Bild. Genervt legte ich das Handy weg und versuchte, nicht mehr daran - an ihn - zu denken.

Die Krämpfe lösten sich langsam und ich begann wieder, etwas wegzudösen. In dem Moment klingelte das Handy. Genervt schaute ich auf das Display. Ich telefonierte nicht gerne, und wenn mich das dann auch noch aufweckte, wurde ich grantig.

Als ich den Namen am Display sah, war ich wieder hellwach, aber dafür noch mieser gelaunt.

»Hallo Ma.«

»Hallo Süße, wie gehts dir?«

»Ja, passt schon.«

Ich konnte nicht verhindern, dass ich abweisend klang. Das ganze Jahr über meldete sie sich nicht, abgesehen von Geburtstagen und Weihnachten. Was wollte sie also jetzt?

»Hör mal. Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Was denn?«

»Zuhause, also bei Papa, müsste noch mein altes Dirndl hängen. Könntest du mir das vielleicht holen?«

»Ernsthaft?«

Meine Augen wurden zu Schlitze, sodass ich die dunkelgrauen Wandfliesen nur verschwommen sah. Mit etlichen Durchatmern schaffte ich es, meine Wut zu bändigen. Schreien brachte auch nichts.

Erst dann sagte ich: »Du hast dir heute einen ganz schlechten Tag ausgesucht. Ich akzeptiere schon lange, dass du deine Mutterseite und auch die dazugehörigen Gefühle mit der Scheidung abgelegt hast. Aber glaubst du echt, du rufst an und ich springe sofort? Du bist wirklich der Wahnsinn.

Sorry. Du willst den Kontakt zwischen uns auf ein bis zweimal im Jahr beschränken? Ist okay. Aber glaub nicht, dass du von mir Gefälligkeiten erwarten kannst. Der Zug ist schon lange, sehr lange abgefahren.«

In der Leitung war es still. Noch nie hatte ich Lydia gesagt, was durch ihren neuen Lebenswandel in mir vorging. Nie hatte ich ihr gezeigt, wie sehr es mich schmerzte, dass ich plötzlich nicht mehr wichtig war, als wäre ich nur eine ehemalige Arbeitskollegin oder dergleichen.

»Ich ... Was redest du da? Das ist gar nicht wahr. Du wolltest doch den Abstand, hast gesagt, Kev fühlt sich nicht mehr wohl und bist seitdem kaum mehr zu Besuch gewesen!«

Nun war ich es, der es die Sprache verschlagen hatte. Hatte sie gerade echt die Schuld auf mich geschoben?

Als der Unglauben fiel, dass sie das tatsächlich getan hatte, konnte ich immer noch nichts sagen. Die brodelnde Wut, überdeckte allen Schmerz und blockierte die Stimmbänder. Ich wusste, jetzt würde ich ausfallend werden, denn jetzt war ich über den Punkt der Besonnenheit hinaus.

»Hast du je darüber nachgedacht, warum sich Kev nicht wohlfühlt in eurer Gegenwart, oder hast du es einfach so hingenommen, weil es ja nicht schlimm ist?

Ist dir je in den Sinn gekommen, dass sich eine Mutter öfter bei der Tochter melden könnte als nur zu Weihnachten und Geburtstag?

Und wenn du dich erinnerst, zu Anfang, nachdem Kevin nicht mehr mit zu euch kommen wollte, war ich noch ein paar mal bei euch Kaffee trinken. Nur irgendwie bin ich mir immer sehr unerwünscht vorgekommen. Und, tut mir leid, das geb ich mir nicht. Jedes Mal bin ich mit einem schlechten Gefühl nach Hause gefahren.«

»Jules, das wusste ...«

»Sag nicht, das wusstest du nicht. Früher hast du immer ein gutes Gespür dafür gehabt, was in mir vorging. Seit du nur mehr Augen für Marvin hast, hat sich bei dir ein Schalter umgelegt. Mir ist schon klar, dass du das so eigentlich gar nicht wolltest, Ma. Ich hab ziemlich schnell mitgekriegt, dass er dich beeinflusst und du das gar nicht merkst.«

Ein jäher Stich im Bauch ließ mich stocken.

»Mach dir aber keinen Kopf, ich habe schon gelernt, ohne Mutter zu leben und lass dir gesagt sein, ich habe ein schönes Leben. Ich brauche dich nicht mehr.

Was das Dirndl angeht. Eigentlich müsstest du erwachsen genug sein, Papa selbst fragen zu können, ob du es dir holen kannst. Er steht über dem Ganzen, obwohl du ihn verlassen hast und nicht umgekehrt. Sowohl er als auch ich finden es lächerlich, dass du die Straßenseite wechselst, oder gar in einem Geschäft verschwindest, nur damit du ihn nicht grüßen musst.«

Damit verabschiedete ich mich, plötzlich erstaunlich ruhig.

Eine Zeit lang starrte ich nur vor mich hin. Das Wasser war schon kalt, aber ich merkte es gar nicht. Ich konnte auch gar nicht sagen, worüber ich nachdachte. Erst als sich eine Hand auf meine Schulter legte, erwachte ich aus meiner gedankenlosen Starre.

Ich schaute Kevin in seine wundervollen Augen und mir wurde ganz anders. Die Wärme und Fürsorge rührte mich so sehr, erinnerte mich abermals daran, was für einen tollen Mann ich an meiner Seite hatte.

Dass ich weinte, fiel mir erst auf, als mein Hals keine Luft mehr aufnehmen wollte. Ein dicker Knoten hatte sich in ihm festgesetzt, der meine Brust anspannen ließ und ein jämmerliches Keuchen meiner Kehle entfuhr.

Mitsamt Boxershorts legte sich Kev neben mich in die Wanne, umschloss mich mit seinen Armen, den Kopf bettete er auf seiner Brust.

So versiegten die Tränen relativ schnell, wir blieben aber um einiges länger so sitzen.

Erst als mein Körper unaufhörlich zu zittern begann, stand Kevin auf. Er half mir auf die Beine, ließ mich aber noch nicht aus der Wanne steigen. Er stellte die Brause an und ließ mir das warme Wasser über meine dunkelbraune Mähne laufen.

Ein leichtes Grinsen umspielte meinen Mund, als die Wärme langsam wieder in meine Glieder kroch. Behutsam hob er mich an, damit ich auf die Badematte steigen konnte, und begann, mich abzutrocknen. Ich genoss es, fühlte mich aber auch irgendwie wie ein Kleinkind.

»Ich hab dich noch nie so mit ihr reden hören.«

Gedankenverloren strich ich ihm durch das wirr stehende blonde Haar.

»Ich hab einfach genug. So jemanden brauche ich nicht in meinem Leben, der sich nur an mich erinnert, wenn er etwas braucht. Echt nicht. Bevor ich mich mit solchen Leuten abgebe, bin ich lieber einsam. Egal ob Familie oder nicht.«

»Da hast du recht. Süße, wir brauchen die nicht. Du hast immerhin mich. Und meine Eltern, die dich von der ersten Sekunde an angenommen haben, so wie du bist.«

Ich musste lächeln. Ja, da hatte er vollkommen recht. Katharina und Amir als auch Kev´s älterer Bruder Nils hatten mich mehr als herzlich in ihre Familie aufgenommen. Auch wenn wir ab und zu charaktermäßig nicht hundertprozentig kompatibel waren, so hatten wir doch ein sehr gutes Verhältnis. Man konnte fast sagen, dass sie jetzt zu meiner Familie geworden waren.

»Ich habe Hunger«, sagte ich plötzlich aus dem Stegreif heraus. Ich wollte nicht mehr darüber reden. Die Tränen, die schon lange geweint gehört hätten, endlich losgeworden fühlte ich mich gut, aber auch irgendwie kraftlos.

Verständlicherweise. Auch wenn ich gestern eine gefühlte Wochenration an Nahrungsmitteln verputzt hatte, brachte das meinem Körper nichts. Der brauchte regelmäßige Nahrungszufuhr. Und heute schien der Hunger größer zu sein als sonst. Ich wusste schon, bevor ich mir das Frühstück herrichtete, dass es zu wenig sein würde.

Das hatte man davon, wenn man einmal vom Verbotenen kostete. Man konnte nicht mehr aufhören.

Kev grinste frech. »Mmh. Jetzt wo du es sagst, grummelt´s bei mir auch.«

Wie auf Kommando begann sein Magen laut zu knurren und ich musste lachen.

»Wenn einer von uns schon fahrtüchtig wäre, könnten wir uns zu deinem heißgeliebten McDonalds-Frühstück aufmachen.«

Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen. »Nee. Ich hab erstmal genug von so schwerem Essen. Die Schmerzen, die mich heute aufgeweckt haben, will ich so schnell nicht mehr erleben.«

Kevins Grinsen war weg, seine Stirn runzelte sich. »Ach, so schlimm kanns nicht sein.«

Meine Lippen pressten sich zusammen, sodass es fast schon schmerzte, weil ich bei den Zähnen ankam. Ich wusste nicht, was er jetzt hatte. Sonst hatte er mich doch immer unterstützt und meine Entscheidungen bezüglich Ernährung akzeptiert. Wenn er einmal etwas sagte, dann höchstens um mich zu zügeln, damit ich nicht zu viel von zuckerhaltigem oder fettigem Zeug zu mir nahm. Doch ich wusste, dass es besser war, jetzt nichts zu sagen und ihm einfach seine Meinung zu lassen.

Während ich mir etwas anzog, vorsorgehalber schon Jeans und ein langärmeliges Shirt, hatte Kev bereits sein Handy in der Hand. Es lag jedoch still in der Handfläche, ohne dass er es aktivierte.

»Überlegst du, wer heute fahren könnte?«

»Ja, blöderweise sind all unsere Freunde auf der Hochzeit gewesen und haben genauso viel getrunken, wie wir zwei.«

»Frag doch Nils. Der fährt auf das Fast Food Zeugs doch auch so ab.«

Erst schaute er skeptisch, dann grinste er. Ja, mit seinem Bruder ging er am liebsten essen. Ich hatte diese Beziehung zwischen den beiden nie verstanden. Einerseits waren die Brüder wie Hund und Katz, stritten über alles und jeden, aber wenn es ums Essen ging, da waren sie als Duo unschlagbar.

Während er Nils Nummer wählte, schminkte ich mich leicht. Er hatte ja recht. Am Wochenende konnte man sich schon mal ein wenig mehr gönnen. Überhaupt, wenn ich so einen Erfolg wie gestern zu feiern hatte.

Jetzt freute ich mich auch schon auf einen guten McToasty, oder zwei. Es war eh schon bald Mittag, also fiel eine Mahlzeit ohnehin weg. Das Einzige, was mich jetzt schon störte, war, dass der Toast aus Weizen bestand. Auf diese weit verbreitete Zutat wollte ich eigentlich verzichten, einfach weil mir bewusst geworden war, dass es Magen und Darm extrem belastete. Meine beste Freundin sagte immer: »Der beste und schlimmste Klebstoff zugleich.«

Ich hatte ihr nie geglaubt, bis ich mit dem Ernährungsplan begonnen hatte und Weizen tabu wurde. Es hatte nicht lange gedauert und mir war aufgefallen, wie sehr dieser Spruch stimmte. Weizen verklebte den Darm und beschränkte dessen Funktionstüchtigkeit.

Aber, wie hatte ich vorhin gesagt? Ab und zu musste man sich halt was gönnen ...

3

 

Es dauerte lange, bis ich ihn wahrnahm. Diesen Blick, mit dem mich Marcel seit einer Weile immer bedachte. Langsam ging es auf Weihnachten zu. Diesen Tag hatte ich dazu auserkoren, dass das andere Dirndl passen musste - mein Allererstes, welches ich vor etwa vier Jahren gekauft hatte.

Immer wieder hatte ich mit Heißhungerattacken zu kämpfen, in denen ich mich kaum zusammennehmen konnte, nicht doch ein kleines Stückchen Schokolade zu essen. Das Einzige, was mir half, war der enorme Gewichstverlust, den ich in der letzten Zeit vorweisen konnte. Es war schon deutlich zu sehen: Die Wangen waren eingefallen - auf gesunde Weise - und der Hals war schmäler geworden. Die Schlüsselbeine stachen prächtig hervor, und dass ich am Rücken Muskeln besaß, war mir erst jetzt bewusst. Meine Hosen saßen mir viel zu locker auf den Hüften - so locker, dass ich darin wie jemand aussah, der sich keine passenden Klamotten leisten konnte.

Es entrang mir ein Lächeln, zeigte es doch, wie sehr meine Problemzonen Po und Oberschenkel geschrumpft waren. Und ich konnte mit gutem Grund und Gewissen shoppen gehen - was ich Lina heute in einer SMS verkündet hatte. Beim Bauch hatte ich leider noch nicht viel gesehen. Seitlich waren die Bauchmuskeln zu sehen, da ging es wie eine Mulde hinein. Der untere Teil stand aber immer noch spitz hervor und machte es mir oft schwer bei der Kleiderwahl. Vielleicht war da doch schon etwas weggegangen, aber es fiel mir nicht auf. Dafür war mir etwas anderes sehr bewusst. Die Oberweite war um fast eine Körbchengröße geschrumpft. Logisch, bestand die Brust hauptsächlich aus Fettzellen. Aber auch, wenn ich es verstand, es ärgerte mich ungemein.

Kevin hatte nur das Gesicht verzogen, als ich ihm davon erzählt hatte. Es gefiel ihm genauso wenig, er wollte aber nichts dazu sagen. Er war clever, das hätte bestimmt zum Streit geführt.

Selbstbewusst und leicht schmunzelnd dachte ich an das letzte Wochenende zurück, während ich auf Lina wartete, die seit einer Woche aus den Flitterwochen zurück war und diesen Samstag mit mir alleine im Shoppingcenter verbringen wollte.

Wir hatten eine Art Vor-Weihnachtsfeier - der Chef nannte es so, weil es gerade mal Anfang November war - und erstmals durften wir unsere Lebenspartner auch mitnehmen.

Kevin hatte sich anfangs mit allen gut verstanden, vor allem mit Marcel hatte er seinen Spaß. Bis er plötzlich still neben mir sitzen blieb und den dunkelhaarigen Mann anstarrte.

»Was hast du?«, hatte ich gefragt und meinen Freund verwirrte Blicke geschenkt.

»Der ist komisch«, war seine einzige Aussage.

Ich hatte nur gelacht und mir nichts weiter gedacht, sondern mit Mara weitergetratscht. Erst den Dienstag darauf dämmerte mir, was Kevin über die Leber gelaufen sein könnte.

Marcel zeigte eindeutiges - und plötzliches - Interesse an mir. Er erwähnte das mit keiner Silbe, immerhin wusste er, dass ich glücklich vergeben war, aber die bereits erwähnten Blicke, die ich schon öfter auf mir haften gespürt hatte, aber erst jetzt bewusst wahrgenommen hatte, sprachen es eindeutig aus.

Es machte mir ehrlich gesagt kaum was aus. Im Gegenteil, es schmeichelte mir, für andere interessant zu wirken - und dass ich in Kevin Eifersucht hervorrufen konnte. Aber ich fragte mich schon, warum ausgerechnet jetzt.

Wir arbeiteten jetzt zwei Jahre zusammen und nie, nicht mal in der ersten Zeit, hatte er mehr Interesse für mich gezeigt als kollegiale Freundschaft. War es, weil ich abgenommen hatte und so - davon gehe ich zumindest aus - attraktiver geworden war?

Eigentlich traute ich ihm so eine Oberflächlichkeit nicht zu. Aber was denn sonst?

In dem Moment kurvte Lina herbei und entriss mich glücklicherweise meinen Gedanken. Irgendwann würde ich ihn fragen. Wenn ich genug Mumm dazu aufbrachte.

Ich stieg sofort auf der Beifahrerseite ein, denn der Wind war ziemlich frisch. Einmal drinnen in dem kleinen Wagen umarmten wir uns heftig. Seit der Hochzeit hatten wir uns nicht mehr gesehen, denn die Zeit danach musste natürlich dem frisch vermählten Paar gehören, sonst niemandem.

»Sag mal, du hast ja bald gar nichts mehr auf den Rippen«, sagte Lina, nachdem sie mich einmal von oben bis unten betrachtet hatte.

»Ach was. Das sieht nur so aus. Es gibt noch einiges, das wegmuss.«

»Du spinnst ja«, entgegnete Lina in ihrer üblichen direkten Art. »Wo, bitte, willst du denn noch abnehmen?«

Ich war so clever und sagte nichts dazu. Niemand kannte meinen Körper so wie ich, niemand musste sich in ihm wohlfühlen, außer mir. Und deshalb brauchte ich mich nicht vor niemandem rechtfertigen!

Ich hatte genug Verstand - und zu viel Genusssinn -, um nicht magersüchtig zu werden und mehr hatte andere nicht zu kümmern.

Ich wechselte das Thema, bevor mir nicht doch noch etwas in diese Richtung auskam und das vielleicht die Stimmung kippen ließ.

»Erzähl von euren Flitterwochen. Ich bin schon so gespannt.«

Sofort sprudelte Lina mit Feuereifer los, und erzählte über Paris und die Einkaufsmeilen dort.

»Dann hätten wir heute doch was anderes unternehmen sollen, wenn du die letzten Tage schon shoppen warst.«

»Nee. Du weißt ja, wie Männer sind. Cal hatte weit nicht so viel Geduld, wie ich gebraucht hätte.« Sie schmunzelte, während sie das Auto gekonnt durch den Verkehr schlängelte. »Und mit der besten Freundin ist das ganz was anderes. Beim Shoppen kann der Mann einfach nicht mit dir mithalten.«

Das entlockte mir ein herzliches Lachen. Sogleich musste ich an Kev denken. Er verabscheute das Shoppen. An guten Tagen ging er interessiert in die Läden mit hinein, nach einer Weile aber ließ er mich alleine und wartete vor den Geschäften.

Oft genug hatte ich mir geschworen, alleine zu fahren, aber das war auch nicht das Wahre. Mit der besten Freundin war das wirklich viel cooler.

Keine zwanzig Minuten später standen wir auf dem Parkplatz unsers Ziels. Es standen schon Unmengen von Autos dort. Offenbar hatten nicht nur wir die Idee, den kalten und trüben Tag so zu nutzen.

Wir ließen uns davon nicht die Laune vermiesen, und starteten hinein. Gegen Mittag hatten wir erst die Hälfte der Geschäfte durch, wobei die überteuerten und somit uninteressanten Läden gar nicht mitgerechnet waren. Wir entschieden uns für eine kleine Mittagspause. Ich freute mich, mal sitzen zu können. Aber nicht nur die Füße taten mir weh, mein ganzes Gesicht spannte schon vor lauter Lachen.

»Mann, wann haben wir zuletzt so gelacht?«

Lina schmunzelte, ihr Blick schweifte in die Ferne, als überlegte sie tatsächlich.

»Du hast recht. So gelöst waren wir lange nicht mehr. Klar, bei der Hochzeit oder auch bei den Vorbereitungen war es echt spaßig, aber es war doch immer eine gewisse Anspannung da. Aber heute haben wir mal über nichts Alltägliches gesprochen, nur geblödelt. Das hat wirklich gut getan.«

Ich grinste. »Und wie gut das getan hat. Man sollte eh nicht immer so ernst und eingenommen von den täglichen Problemen sein.«

Plötzlich sah mich Lina komisch an. Ihre blauen Augen starrten mich mit undefinierbarem Ausdruck an, die Nase hatte sie gerümpft.

»Was ist denn?«, fragte ich, während wir uns einem Tisch näherten, der in unserer ausgewählten Pizzeria gerade frei geworden war.

»Weiß nicht. So kenn ich dich gar nicht. Also, so gelöst. Und auch solche Worte aus deinem Mund.«

Meine Augenbrauen zogen sich nach unten.

»Ich meine, ich hatte immer Spaß mit dir, aber du bist halt schon eher der ernste Typ. Heute habe ich davon aber nichts mitgekriegt. Du hast noch nie so bei Witzen oder Blödeleien mitgemacht.«

Als sich mein Gesichtsausdruck nicht veränderte, fügte sie noch hinzu: »Das gefällt mir.«

Nun musste ich doch grinsen, fragte mich aber, ob das denn wirklich so war. Ja, möglich. Ich wusste, dass ich durch meine Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung - die auf der Angst basierte, schief angesehen zu werden - reifer und älter wirkte, als ich war. Ich wusste aber nicht, woher meine »witzige Ader« so plötzlich hergekommen sein mochte.

»Meinst du, die Leute sehen mich deshalb anders, weil ich lustiger drauf bin?«

Meine Freundin sah von der Speisekarte auf und wiegelte mit dem Kopf. »Deshalb vielleicht nicht, aber womöglich weil du selbstbewusster wirkst.«

Überrascht quiekte ich auf. Was denn noch alles?

»Was? Wie kommst du darauf, dass ich selbstbewusster geworden bin?«

»Ach komm. Das musst du doch selbst merken.«

Lina sah mich skeptisch an.

Als ich nichts erwiderte, sondern stattdessen die Speisekarte anstarrte, obwohl ich eigentlich schon wusste, dass es Spagetti Carbonara wurden, sagte sie: »Du hast dich nie wirklich selbst akzeptiert. Während andere einfach aussprechen, was sie denken, ohne darauf zu achten, was das in anderen auslöst, hast du immer drei Mal überlegt, ob du wirklich den Mund aufmachen sollst. Du hast dich immer von den anderen unterbrechen lassen und dann nicht mehr weitergesprochen, weil du dachtest, es interessiert keinen. Du hast Fremden, wie beispielsweise den ganzen Verkäufern hier, nie kecke Antworten zurückgegeben. Heute hast du mir gezeigt, dass du auch anders kannst.«

Lina gluckste. »Mit mir hast du immer viel geredet. Vor mir hast du dich nicht versteckt und hast nie die Angst gehabt, unwichtig oder lächerlich zu wirken - zumindest kommt es mir so vor. Andere werden dich jetzt erst richtig kennenlernen, weil du sie endlich hinter deine Fassade schauen lässt.«

Unbewusst war mir der Mund aufgeklappt. Mir gefiel, was ich hörte; es erklärte die Blicke von Marcel und auch so manch anderes.

Und jetzt, so deutlich aufgezeigt, fiel es mir selbst auf, dass ich mir tatsächlich weniger aus den Gedanken meiner Mitmenschen machte. Aber ich konnte mir absolut nicht erklären, wo dieser Sinnes- oder besser gesagt Charakterwandel eigentlich herkam.

Als hätte Lina meine Gedanken gelesen, sagte sie: »Dein Körper muss jetzt nicht mehr so viel arbeiten, weil du ihn nicht mehr überhäufst mit Nährstoffen und Giften, und danach richten sich deine Launen.«

Ja, das machte Sinn. Dennoch sah ich sie überrascht an. Lina hatte sich vom ersten Tag an gegen den Ernährungsplan ausgesprochen.

Sie sagte immer: »Ein wenig Zucker braucht der Körper!« Dass in den Lebensmitteln genug natürlicher Zucker enthalten war, wollte sie nie akzeptieren.

Dass sie nun so etwas sagte, und damit für den Ernährungsplan war, überraschte mich also.

Ich sagte aber nichts, denn genau in diesem Moment kam unser Essen. Voller Heißhunger hatten wir das Besteck in der Hand, bevor die dampfenden Teller vor uns standen.

Jede Gabel genoss ich in vollen Zügen. Ewig hatte ich meine Leibspeise schon nicht mehr. Ich war ja ein absoluter Nudeltiger. Leider waren die voller Kohlehydrate und standen damit auf meiner No-Go Liste. Umso mehr freute ich mich auf meine sogenannten »Egal-Tage«, wo ich mir so Speisen zu Gemüte führte.

Als wir fertig waren, blieben wir noch ein wenig sitzen, um das Essen sacken zu lassen, ehe unsere Einkaufstour weiterging. Ich hatte schon einiges in meinen Einkaufstüten, unter anderem ein oder zwei Kleider, die eigentlich nicht geplant waren, mir aber so gut gefielen und das Selbstwertgefühl steigerten.

Vor einem Monat hätte ich ein eng anliegendes Bleistiftkleid oder das von der Brust weg abfallende Kleidchen, in denen man oftmals schwanger aussah, nicht tragen können.

Zum krönenden Abschluss des Tages gönnten wir uns in einem Café noch Torte und Cappuccino. Gerade hatten wir uns nicht mehr viel zu sagen. Wir saßen uns gegenüber, beide ziemlich müde und stachen in unsere Kuchen. Linas Blick ging in die Ferne.

»Mein Konto ist heute um einiges leichter geworden«, sagte ich schließlich. »So viel wollte ich doch gar nicht ausgeben. «

»Mmh«, mampfte Lina. »Aber so wie ich dich kenne, gehst du jetzt ohnehin ein Jahr nicht mehr shoppen, also ist es gut angelegtes Geld.«

Gerade wollte ich mir das letzte Stück in den Mund schieben. Die Gabel blieb in der Luft hängen, weil ich lauthals loslachen musste.

»Du kennst mich einfach viel zu gut«, schnaufte ich.

»Das will ich doch wohl hoffen. Immerhin bin ich deine beste Freundin. Da sollte das schon so sein.«

»Ich bin froh, dass du damals in derselben Disco warst wie ich. Du bist durch niemanden zu ersetzen. Wer versteht mich denn so, wie du es tust?«

Lina grinste nur und sagte nichts darauf. So sehr sie mit Lob um sich schmiss, selber wollte sie keines haben. Ihre Wangen färbten sich leicht rot.

Vor fast zehn Jahren hatten wir noch völlig verschiedene Freundeskreise. Ich war mehr mit Jungs unterwegs gewesen und Lina in der jetzigen Mädchengang. Wir waren damals oft im selben Lokal, hatte aber nie sonderlich Notiz voneinander genommen.

Bis ich eines Nachts mit meinem Schuh in diesen Pflastersteinen hängen geblieben war, die vor dem Lokal verbaut waren. Der Stöckel knackte und brach weg, ehe ich aber die Steine küssen konnte, schnappte mich jemand von hinten um den Bauch und gab mir mein Gleichgewicht wieder. Und seit dem folgenden Dankeschön-Drink waren wir unzertrennlich.

Seufzend kehrte ich aus dieser schönen Erinnerung zurück und erlöste die verlegene Lina, winkte dem Kellner zum Zahlen. Der hübsche Mann, kam sofort herbeigewuselt und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

»Zahlen bitte. Alles zusammen«, sagte ich und versuchte, nicht in seine blauen Augen zu sehen.

Sein Blick hing deutlich länger an mir, als es für eine Kundin angebracht war. Es schmeichelte mir, dennoch behagte es mir irgendwie nicht. Bei meinen Arbeitskollegen oder etlichen Freunden machte ich mir einen Spaß daraus, zu flirten. Denn die wussten, wie es aufzufassen war - dass es nur Blödeleien waren, da ich einen Freund hatte und glücklich war. Bei einem Fremden sah die Sache schon ganz anders ans.

Als er mit der Rechnung wieder kam, sah ich ihn gar nicht an, sondern legte ihm den Betrag, den er wollte, inklusive Trinkgeld einfach auf den Tisch.

Lina bedankte sich für die Einladung. Dabei funkelten ihre Augen vor Schalk und ich wusste, sie hätte viel lieber etwas anderes gesagt. Ich verdrehte die Augen so offensichtlich, damit sie es auch sah, und erhob mich.

»Musst du am Montag wieder arbeiten oder hast du noch ein paar Tage?«

Das brachte Lina zum Seufzen, während wir schwer bepackt zu ihrem Auto marschierten. Draußen war es schon dunkel und es hatte zu schneien begonnen - äußerst früh für Mitte November, fand ich - absoluter Sommermensch.

»Mhm. Da heißt es wieder früh aufstehen. Eigentlich hätte ich noch bis Mittwoch frei, aber meine Chefin hat gestern schon angefragt, ob ich nicht früher kommen kann. Es stehen einige Aufträge ab Dienstagabend an, und da hat sie zu wenig Leute.«

Lina arbeitete bei einem renommierten Cateringservice. Eigentlich war sie mit vier anderen Köchen für die Speisen zuständig. Seit kurzem hatte sie aber ihre Leidenschaft fürs Servieren entdeckt und arbeitete so in beiden Bereichen. Für ihre Chefin war sie damit eine der wichtigsten Personen im Betrieb. Jemand, den man zu allem einteilen konnte, war das Beste, was man sich wünschen konnte.

Dass man dann der erste Ansprechpartner war, wenn Not am Mann war, und auch mal auf seinen Urlaub verzichten musste, war vorhersehbar und störte Lina auch weit nicht so, wie sie sich jetzt gab.

»Ach, wie lange hattest du jetzt schon frei? Tut bestimmt gut, wieder was zu tun zu haben, oder nicht?«

»Ja, da hast du recht. Mit den drei bezahlten Fehltagen für die Hochzeit sind es schon dreieinhalb Wochen.« Lina grinste. »Du kennst mich auch schon viel zu gut.«

Das brachte mich erneut zum Lachen. »Wie hast du vorhin gesagt: Wäre schlimm, wenns nicht so wäre. Immerhin bin ich deine beste Freundin!«

 

Vor der Haustüre holte ich zum ersten Mal mein Handy hervor und sah nach, was sich denn so tat. Kev hatte schon etliche Male versucht, mich anzurufen. Oh je, da konnte ich mich auf etwas gefasst machen. Er mochte es gar nicht, wenn man nicht erreichbar war.

Als ich die Haustüre öffnete und schnurstracks ins Wohnzimmer ging, ungeachtet dessen, dass meine Schuhe nasse Spuren hinterließen, saß er allerdings ganz gechillt auf der Couch und grinste, als er die vielen Tüten sah. Diese lud ich ab und schmiss mich neben ihm auf die Couch.

Nach einem dicken Schmatzer zog ich mich wieder zurück. Nun musste ich doch meine Schuhe ausziehen.