Magic Life - Manuel Reisinger - E-Book

Magic Life E-Book

Manuel Reisinger

4,9

Beschreibung

Roman mit autobiografischen Zuegen. Wenn Ihnen jemand auf die Frage, was er beruflich mache, antwortet, er sei Zauberer: Wie ernst nehmen sie den Typ dann? Wenn Ihnen der gleiche Mann sagt, er habe seine Freundin im Internet kennengelernt: Kommt Ihnen das nicht dubios vor? Und wenn Ihnen eben jener dann auch noch anvertraut, er ist als Kind immer absichtlich in den falschen Bus eingestiegen, hat sich als Jugendlicher jedes Wochenende mit den Ex-Freunden seiner Freundin getroffen, lief während des Zivildiensts als Banane verkleidet durch die Stadt, fuehrte Regie bei einem der schlechtesten Filme aller Zeiten und muss sich taeglich dutzender halbnackter junger Frauen erwehren – haben Sie da nicht das Gefuehl, dass sich das alles höchst merkwuerdig aber irgendwie auch sehr unterhaltsam anhört?

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Manuel Reisinger

Magic Life

Roman

Ich entschuldige mich bei allen Personen, die es ertragen müssen, durch die Zufälle des Lebens den Weg in dieses Buch gefunden zu haben. Ausdrücklich darauf hinweisen möchte ich, dass deren liebenswerte Andersartigkeit, in welcher Ausprägung auch immer, von mir gnadenlos überzeichnet wurde. Der einzige in seiner Absurdität realistisch dargestellte Charakter in diesem Buch … bin ich.

Prolog

Bin ich ein Freak mit Hang zum Größenwahn?

Eine Autobiografie! Mit dreißig!

Wenn mich wenigstens die breite Masse kennen würde. Aber mitnichten. Niemand hat eine Ahnung, ob ich ein Haus besitze, ein teures Auto, eine Yacht, Kinder, eine Frau, eine heimliche Geliebte oder vielleicht doch einen homosexuellen Liebhaber. Keiner schert sich darum, ob ich ein Kiffer, ein Weltverbesserer, ein manisch Depressiver, ein Sexsüchtiger, ein Alkoholiker, ein Vegetarier, ein Magersüchtiger, ein Kapitalist, ein Kommunist, ein Sadist, ein Chauvinist, ein Theoretiker, ein Praktiker, ein Linker, ein Rechter bin oder einfach völlig von der Rolle.

Aber Moment.

Wenn man bei Facebook und Twitter hunderte von Menschen damit unterhalten kann, indem man literarische Leckerbissen wie etwa „Gehe jetzt spazieren“ oder „Montag ist doof“ zum Besten gibt – ist dann die Zeit nicht reif für die Autobiografie eines völlig Unbekannten?

Kein Wunschkind

Februar 1983

Überraschende Geburt um 5:47 Uhr, eine Uhrzeit, die ich seither nur noch vom Hörensagen kenne.

Überraschend deshalb, weil sich meine Eltern erst im April 1982 kennen gelernt hatten. Wer jetzt eins und eins zusammenzählt (oder neun addiert), kann sich leicht ausrechnen, dass ich daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht als eines der in der Werbung propagierten Wunschkinder durchgehe. Gut, ich kann damit leben. Würden in unserer Welt nur noch Wunschkinder geboren werden, wären wir innerhalb kürzester Zeit derart dezimiert, dass man zwei Pflichtbabys einführen müsste. Dann fragt das scheinheilige Kind in der Werbung nicht mehr „Mama, bin ich ein Wunschkind?“, sondern „Mama, war ich ein Pflichtbaby?“.

Wie gesagt, kein Wunschkind. Dafür immerhin der Grund, dass Mama das Rauchen und ihren Job aufgegeben hat. Für Papa mit Sicherheit der Grund, nie wieder einer Frau zuzuflüstern: „Wird schon nichts passieren, verzichten wir auf das Präservativ“.

Da war ich also. Ich befürchte, bei der Darstellung meiner ersten Lebensjahre bis zur Volksschule muss ich mich auf die Meinungen anderer verlassen, da sich die Erinnerungen der Kleinkind-Zeit aus irgendeinem Grund nicht so richtig im Gedächtnis verankern. Vielleicht gibt es nur einen begrenzten Datenspeicher im Gehirn und bei neuem Speicherbedarf werden einfach die ältesten Dateien gelöscht? Sortiert per Eintragungsdatum, dann ab in den Papierkorb? Habe ich in vier Jahren auch meine Volksschuljahre vergessen? In zwölf Jahren meine komplette Schulzeit?

Ich schweife ab.

Wie gesagt, bezüglich der ersten sechs Jahre berufe ich mich auf Zeitzeugen.

Angeblich soll ich ja ein überdurchschnittlich braves Kind gewesen sein. Keine Schrei-Orgien nach Mitternacht, kein Drang sich im Schmutz zu suhlen und keine Freude am Zerstören von Dingen, die für andere von Bedeutung gewesen wären.

Ich muss so unglaublich ausgeglichen und ruhig gewesen sein, dass sich meine Eltern wohl dachten, ein bisschen mehr Aufregung kann nicht schaden. Sie schickten daher zusätzlich ein Brüderlein ins Rennen. Der war natürlich ein Wunschkind. Nicht, dass mich das jetzt stören würde. Keineswegs. Ich wollte nur noch einmal darauf hingewiesen haben, damit das hier auch alles korrekt dokumentiert ist.

Mit der Ankunft des Bruders war es vorbei mit der Ruhe. Der hatte wohl irgendwie die gegenpolige Adjustierung abbekommen – und sorgte mit seiner nicht ganz harmonischen Art dafür, dass es bei der klassischen Zwei-Kinder-Familie geblieben ist.

Als ich drei Jahre alt war, zogen wir von Traun nach Ebelsberg, einem kleinen Vorort von Linz. Im dortigen Kindergarten durfte ich meine ersten Zeichen-Meister-werke produzieren, die ab sofort unsere Wohnung schmückten(?) und mich sozusagen als Vorbereitung für die erst viel später populär gewordenen Castingshows im inbrünstigen Trällern von zeitlosen Klassikern wie „Ich gehe mit meiner Laterne“, „Oh, du lieber Augustin“ oder „Ein Männlein steht im Walde“ versuchen.

Scheinbar waren mir Kirchenlieder ein besonderes Anliegen. Bei endlosen Autofahrten pries ich lautstark und melodisch ausbaufähig den Namen des Herrn, wodurch ich mich letzten Endes doch noch um den Ruf des Vorzeigekindes brachte. Aber wer kann das schon von einem Kind, das kein Wunschkind war, tatsächlich erwarten?

Von Ministranten und Indianern

Als Kind kommen einem die Lebensjahre ewig vor, im Rückblick betrachtet, scheint meine Kindergartenzeit nur wenige Tage gedauert zu haben. Quasi über Nacht war ich in der Volksschule. Internet und Handy waren noch völlig unbekannt, der Gameboy kam gerade auf den Markt und aus dem Fernsehen kannte ich höchstens Wickie und die Schlümpfe.

Schulisch wurde ich kaum gefordert. Deutsch und Mathematik kein Problem, Englisch blieb unserer Generation in der Volksschule noch erspart. Meine super-saubere weiße Weste bei Schularbeiten und Tests wurde nur durch einen ominösen Sachunterrichtstest befleckt, bei dem ich es vorzog, die männlichen beziehungsweise weiblichen Geschlechtsteile lieber nicht zu beschriften, da mir das irgendwie unangenehm war. Meine Erklärung „Weiß ich, will ich aber nicht sagen“ hätte sich meiner Meinung nach mindestens ein „Gut“ verdient, das „Befriedigend“ erschien mir im Zusammenhang mit der Thematik schon fast ein wenig anzüglich ...

Als Volksschulkind konnte man sich damals noch nicht in Onlinespielen virtuell gegenseitig den Schädel einschlagen. Ich musste mir dem Zeitalter entsprechende Hobbys suchen. Und was kommt einem da als 8-Jährigen zuerst in den Sinn?

Richtig! Stricken.

Dies schien zwar meinem Vater ein wenig zu missfallen, brachte aber meinen reichlich vorhandenen Kuscheltieren viele selbst gestrickte Pullover ein und ließ mich zu Omas Lieblingsenkel aufsteigen.

Darüber hinaus zeigte ich in jungen Jahren viel Engagement für Religion und Kirche. Als Ministrant war ich wichtiger Bestandteil jeder Messe, die in Ebelsberg abgehalten wurde. So ein Klingeln im richtigen Moment, das wollte schon gelernt sein. Heute wäre ich sicher Kaplan oder Pfarrer – hätte es nicht jenen Vorfall gegeben, der meine Kirchenlaufbahn von einem Tag auf den anderen jäh beenden sollte.

Schon wieder einer dieser unzähligen vertuschten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche? Mitnichten. Vielmehr ein von mir verursachter Eklat während eines Freitag-Abend-Gottesdienstes.

Zusammen mit den anderen Ministranten saß ich damals brav hinter dem Pfarrer. Ich denke, das erste Mal muss es während der Lesung aus dem Neuen Testament gewesen sein, dass ich den Drang verspürte, auf das stille Örtchen zu verschwinden. Musste sich der Pfarrer ausgerechnet heute ein derart ausschweifendes und langatmiges Kapitel aussuchen? Endlich schlug er das Buch der Bücher zu. „Wir kommen jetzt zu den Für-bitten“. Na toll. Was sollte ich machen? Einfach aufstehen und die Kirche verlassen hätte mir strafende Blicke der Kirchengemeinde eingebracht. Aufzeigen wie in der Schule, um die Erlaubnis zu bitten, mein Geschäft verrichten zu dürfen, erschien mir ebenfalls mehr als unangebracht. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz hin und her. Mein Bauch fühlte sich mit jeder Sekunde dicker und dicker an. „Wir sprechen nun das Vater Unser“. Wahnsinn, dieses Gebet zog sich an jenem Tag wie ein Strudelteig. Endlich war es vorbei. Lange konnte die Messe ja nicht mehr dauern, da würde ich schon noch irgendwie über die Runden kommen. Dachte es, stand auf, um bei der Kommunion zu assis-tieren – und spürte, wie es in der Hüftgegend und wenig später um die Oberschenkel feucht-warm wurde. Es folgte ein Schweißausbruch sowie ein besorgter Blick auf meine Kleidung. Unübersehbar zeichneten sich die Konturen meines unkontrollierten Harngangs auf der weißen Robe ab. Ich wandte den Kopf zur Kirchengemeinschaft, in dem Glauben, soeben mindestens zweihundert Augenpaare auf mich gerichtet zu haben. Glück gehabt, kaum jemand sah zu mir. Freilich nur bis zu dem Augenblick, in dem ich, völlig bleich im Gesicht und mit Schweißtropfen auf der Stirn, in die Menge starrte, anstatt meiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen und zu klingeln. Plötzlich waren wirklich zweihundert Augenpaare auf mich gerichtet, dazu noch der gestrenge Blick des Pfarrers. Meine Gesichtsfarbe wechselte von bleich zu hochrot, hastig klingelte ich, in dem Wissen, mich gerade vor dem halben Ort als 8-jähriger Bettnässer präsentiert zu haben. Frei von jedem klaren Gedanken ließ ich den Pfarrer einfach stehen und rannte mit gelblichen Flecken auf der hellweißen Robe an allen Bankreihen vorbei die Kirche hinaus.

Meine Mutter versuchte mich daheim zu beschwichtigen, dass sicher niemand etwas von meinem kleinen Missgeschick bemerkt habe. Außer der liebe Gott, und der würde bekanntlich ohnehin alles verzeihen.

Trotzdem beendete dieser Vorfall meine kirchliche Karriere. In meiner Entscheidung bekräftigt sah ich mich durch meine Sandkasten-Liebe, mit der ich täglich händchenhaltend den Schulweg bestritt. Sie erklärte mir, dass man der Kirche ohnehin nicht vertrauen könne, schließlich würden wir zum Beispiel in Bezug auf die wahre Identität des Christkinds skrupellos angelogen.

Ein längeres Gespräch mit meinen Eltern folgte, bei dem ich mich mit den Händen in die Hüften gestemmt breitbeinig vor sie gestellt und eine Klärung des scheinbar dubiosen Sachverhalts gefordert hatte. Und weil wir schon bei ungeklärten Rätseln waren, wollte ich auch gleich noch wissen, wieso Mama und Papa am Vortag nackt am Küchenboden gelegen waren, als ich mir spät abends ein Glas Wasser holen wollte. Heutzutage läuft das bei Volksschulkindern wahrscheinlich so ab, dass sie bei einer Internet-Suchmaschine eingeben:

„wer ist das christkind?“

Oder:

„was machen mama und papa nackt am küchenboden?“

Da ich bis zu diesem Zeitpunkt einen Großteil meiner Freizeit der Kirche geopfert hatte und alle meine Kuscheltiere mit selbst gestrickten Pullovern in zweifacher Ausführung ausgestattet waren, musste ich mir ein neues Hobby suchen.

Gemeinsam mit meiner Mutter suchte ich die örtliche Bibliothek auf. Der Bibliothekar musterte mich kurz und führte uns in die Kinderabteilung. Ja sah der Greis nicht, dass ich bereits zu Höherem berufen war?! Ich blätterte einige der bunten Bücher durch, konnte mich aber nicht wirklich für die Empfehlungen des Bibliothekars erwärmen. Meine Mutter schien meinen mit nobler Zurückhaltung zur Schau getragenen Enthusias-mus richtig zu deuten und fragte nach, ob er denn nicht Bücher über Indianer und Cowboys empfehlen könnte, da ich mich ja schon immer für den Wilden Westen interessiert hätte.

Der Bibliothekar rümpfte leicht die Nase, weil ich die von ihm empfohlenen Bücher nicht zu schätzen wusste, und führte uns zu einem anderen Regal. Das sei die Karl-May–Abteilung, sämtliche der 88 Werke des deutschen Schriftstellers und – was mich am meisten faszinierte – alle in einheitlichem Einband und sorgfältig nach Nummern sortiert. Ich blätterte das eine oder andere Werk durch. Kaum einer der Bände hatte weniger als fünfhundert Seiten, das machte also insgesamt so in etwa 45.000 Seiten Lesestoff. Eine echte Herausforderung! Denn eines war klar: Wenn, dann wollte ich gleich alle Romane lesen, halbe Sachen waren gar nicht nach meinem Geschmack.

„Eigentlich ist Karl May ja noch nicht für Kinder in diesem Alter geeignet“, hörte ich den Bibliothekar missmutig murmeln.

Meine Mutter hatte freilich längst erkannt, dass ich meine Wahl getroffen hatte, meinte, ich solle doch einmal einen der Romane probeweise lesen und dann könnte ich ja immer noch entscheiden, ob ich mir nicht doch lieber eines der bunten Bücher aus der Kinderabteilung ausborgen wollte.

Voller Stolz ging ich also mit meinem ersten von mir ernst genommenen Buch, „Winnetou I“, nach Hause – und las es innerhalb von drei Tagen aus. Der Bibliothekar staunte nicht schlecht, als ich noch in derselben Woche ein zweites Mal vorstellig wurde, um mir „Winnetou II“ auszuleihen.

Ab sofort war alles andere uninteressant, einzig die Abenteuer von Old Shatterhand und Winnetou bestimmten mein Leben. Ich verfasste eigene Indianer-Geschichten (mit nett gemeinten Illustrationen, die jedoch eher in die Kategorie „künstlerisch suboptimal“ fielen), sah mir sämtliche Verfilmungen mit Pierre Brice an und schlüpfte im Fasching nur noch ins Cowboy-Kostüm.

Die Faszination des Wilden Westens nahm langsam, aber sicher seltsame Formen an.

So wachte ich damals jede zweite Nacht auf, weil mich im Albtraum irgendwelche feindlich gesinnten Indianerstämme an den Marterpfahl gebunden hatten und ich dann die grausamsten Tode erleiden musste.

An den Wochenenden und in den Ferien, die wir in Wohnwagen und Zelt am Wolfgangsee verbrachten, band ich mir ein weißes Band um die Stirn, schlich wildfremden Personen nach und legte mich im Wald auf die Lauer. Keine Ahnung wozu. Das führte zu abstrusen Situationen, in denen Wanderer sich zu Recht fragten, wieso ein 10-Jähriger mit Stirnband regungslos halb verdeckt hinter einem Gebüsch verharrte.

Noch besorgniserregender war ein Vorfall im Krankenhaus: Fiebrig im Krankenbett liegend hatte ich ohne das Wissen meiner Eltern einige Karl-May-Bücher in das Krankenhaus geschmuggelt. Ich konnte einfach nicht anders, als selbst bei stark erhöhter Temperatur ein Buch nach dem anderen zu verschlingen. Wie sollte ich mir als Volksschulkind den ganzen Tag im langweiligen Krankenzimmer die Zeit vertreiben? Mit den 45.000 Seiten wollte und konnte ich ja auch nicht warten, bis ich siebzig war. Was in jenen Nächten dazu führte, dass ich nicht mehr wusste, ob ich nun im Österreich des 20. oder nicht doch im Amerika des 19. Jahrhunderts lebte. Tagelang wähnte ich mich in Gefangenschaft der Sioux-Indianer, musste mich mit dem unappetitlichen Gefängnisfraß zufrieden geben, den mir meine in seltsamem Weiß gekleideten Gefängniswärter brachten. Insgeheim wartete ich darauf, dass mir Old Shatterhand und Winnetou beim Ausbruch helfen würden. Überraschenderweise entkam ich letzten Endes mit Hilfe zweier unbekannter Indianer, die meinen Eltern zum Verwechseln ähnlich sahen ...

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88 Karl-May-Bücher später:

Wahrscheinlich war ich der einzige 10-Jährige in Ebelsberg, der vollständig Absätze aus Karl Mays Gesamtwerk zitieren konnte.

Inzwischen trat ich auch der lokalen Pfadfinder-Gruppe bei, schließlich konnte ich dort, wie mein großes Indianer-Vorbild, der wortkarge Winnetou, mein Essen am Lagerfeuer zubereiten und naturverbunden im Zelt schlafen. Mit der Gemütlichkeit stand es bei durchgehendem Regen und Temperaturen unter zehn Grad trotz aller Begeisterung nicht immer zum Besten. Doch selbst ausgehobene und später per Hand wieder zugeschüttete Fäkaliengruben konnten meinem Engagement für die Pfadfinder keinen Abbruch tun. Mir wurden schließlich Dinge beigebracht, die der postmoderne 10-Jährige von Welt schlicht und einfach brauchte: Nachrichten verschlüsseln, Spezialknoten knüpfen, die unglaublichen Lasten trotzten, oder Pfeil und Bogen selber basteln.

Meine Zeit bei den Pfadfindern sollte allerdings nur ein paar Jahre dauern. Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich der letzte verbliebene Bub der Pfadfinder-Gruppe war. Und das bei acht Mädchen. Jetzt könnte man sagen: Traumhaft, die Qual der Wahl sozusagen! Die Mädchen würden sich ja bestimmt alle um den Hahn im Korb reißen! Doch als Jugendlicher tat ich mir im Umgang mit Frauen mehr als schwer. Wobei mehr als schwer eine gewaltige Untertreibung ist. Mich stellte teilweise schon die Kommunikation mit einem Mädchen vor unüberwindbare Hürden, wenn ich dieses für hübsch befand. Abgesehen von heimlich zugesteckten, anonymen Liebesbriefen, verschlüsselt nach einem höchst komplexen, von mir selbst ausgedachten System, das die betroffenen Mädchen mit Sicherheit niemals entschlüsselt haben, beschränkten sich meine Dialoge mit dem weiblichen Geschlecht auf „Hallo!“, „Wie geht es dir?“ und „Tschüss!“. So war ich verständlicherweise mit acht Mädchen an meiner Seite schlichtweg überfordert, daher mein überhasteter Ausstieg aus der Pfadfinder-Gruppe.

Aber ich musste mich ohnehin vorerst einmal auf meine schulische Laufbahn konzentrieren.

Gerade war ich noch ein gebildeter Hüne, zu dem alle anderen aufgesehen hatten – und im nächsten Moment ein intellektuell zurückgebliebener Zwerg. So ähnlich würde ich rückblickend den Wechsel von der Volksschule ins Gymnasium kommentieren.

Der erste Schultag. Ich betrat den Klassenraum mit meinen Eltern – und stellte fest: wir waren die Letzten. 27 Mitschüler saßen bereits an den Tischen, dahinter drängten sich die Väter, Mütter, Onkel, Tanten, Großeltern und Obdachlosen, welche es auf das Buffet abgesehen hatten.

Folgerichtig blieb für mich nur noch ein Platz übrig. Neben einem mir unbekannten Schüler, mitten im Raum. Der undankbarste aller Plätze natürlich. Denn hinten hatten sich bereits die Ultracoolen eingefunden, vorne diskutierten die Wissbegierigen wahrscheinlich die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und in der Fensterreihe hatten es sich die Mädchen gemütlich gemacht, um die älteren Schüler am Sportplatz beobachten zu können.

Der erste Schultag gestaltete sich nicht sonderlich spannend. Die üblichen Floskeln eben: Die Schule würde sich natürlich freuen, uns für die nächsten acht Jahre auf unserem Lebensweg begleiten zu dürfen und so weiter und so fort ...

Nach etwa einer Stunde wurden wir auf das Buffet losgelassen. Meine Mutter fragte, ob es auch Brötchen ohne Wurst gäbe, denn sie wäre Vegetarierin. Ob sie es schon beim Kuchenbuffet probiert habe, wurde sie gefragt.

Als ob sich Vegetarier nur von Süßspeisen ernähren würden! Da müsste man doch bei jedem Dicken nachfragen: „Vegetarier?“.

Papa schlug ungeachtet dessen beim Wurstbrötchen-Buffet zu, nachdem zu Hause in letzter Zeit der Speiseplan doch eher in Richtung Gemüse und Getreide ging. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich meinte, ihn beobachtet zu haben, wie er sich das eine oder andere Wurstbrötchen in Alufolie einwickeln ließ ...

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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