Malwida von Meysenbug - Joachim Radkau - E-Book

Malwida von Meysenbug E-Book

Joachim Radkau

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Beschreibung

Malwida von Meysenbug: Aristokratin, Freiheitskämpferin, Frauenrechtlerin, Erfolgsautorin: das Leben einer außergewöhnlichen Frau im 19. Jahrhundert

Sie hätte das Leben einer Aristokratin führen können, Malwida von Meysenbug (1816 – 1903) aber ging ihren eigenen Weg. 1848 stand sie auf der Seite der Revolutionäre, später kämpfte sie für die Rechte der Frauen. Im Exil in London und Paris verkehrte sie in den wichtigsten künstlerischen und politischen Kreisen. Zurück in Deutschland, wurde sie zur Vertrauten Wagners und Nietzsches, in Rom schließlich fand diese europäische Kosmopolitin ihre zweite Heimat. Ihre „Memoiren einer Idealistin“ waren ein Bestseller, viele Frauen entdeckten darin die Möglichkeit, aus eigener Kraft ein erfülltes Leben zu führen. Joachim Radkaus Biografie lädt dazu ein, diese faszinierende Frau zu entdecken: eine Netzwerkerin, bei der viele Fäden zusammenliefen.

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Über das Buch

Malwida von Meysenbug: Aristokratin, Freiheitskämpferin, Frauenrechtlerin, Erfolgsautorin: das Leben einer außergewöhnlichen Frau im 19. JahrhundertSie hätte das Leben einer Aristokratin führen können, Malwida von Meysenbug (1816 — 1903) aber ging ihren eigenen Weg. 1848 stand sie auf der Seite der Revolutionäre, später kämpfte sie für die Rechte der Frauen. Im Exil in London und Paris verkehrte sie in den wichtigsten künstlerischen und politischen Kreisen. Zurück in Deutschland, wurde sie zur Vertrauten Wagners und Nietzsches, in Rom schließlich fand diese europäische Kosmopolitin ihre zweite Heimat. Ihre »Memoiren einer Idealistin« waren ein Bestseller, viele Frauen entdeckten darin die Möglichkeit, aus eigener Kraft ein erfülltes Leben zu führen. Joachim Radkaus Biografie lädt dazu ein, diese faszinierende Frau zu entdecken: eine Netzwerkerin, bei der viele Fäden zusammenliefen.

Joachim Radkau

Malwida von Meysenbug

Revolutionärin, Dichterin, Freundin: eine Frau im 19. Jahrhundert

Hanser

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Joachim Radkau

Impressum

Inhalt

Einführung

: Zwischen Kampfeslust und Nirwana-Sehnsucht — ein Frauenleben voller Spannung

Reiz und Relevanz einer Neuentdeckung: erste Schlaglichter. Und fortan einfach »Malwida«.

Magnetismus oder Mimikry?

Warnsignale für den Biografen.

Herausforderungen an einen Malwida-Biografen.

Spannungen, Lösungen, lebenslange Lernprozesse.

»Idealismus«: vom Wirrwarr zur Lebensphilosophie.

»Altes Deutschland« — anderes Deutschland.

1

 Konfirmation, Revolution, Liebe — und frühe Enttäuschungen: spirituell, politisch, erotisch

Die hugenottische Herkunft: bloßer »Atavismus«?

Liebe und »Tyrannei«: Zwiespältige Familienerinnerungen.

1830 — 1834 — 1845: »Taufe« durch die Revolution, Konfirmation ohne Erlösung, doch Erleuchtung im Anblick der Gletscher.

Theodor Althaus, »Apostel« und »jugendlicher Bergstrom«: »Zukunft des Christentums« und Teutoburger Bergpredigt — himmlische oder irdische Liebe?

Im Auf und Ab von 1848 — in Deutschland wie in Detmold.

2

 Die Natur der Frau als neue Chance nach dem Scheitern der Revolution — für Malwida und für die Menschheit

Am Anfang »heiliger Hass«: »Frauenschwur« und »Auferstehung« in Ostende.

Durch Kindergärten zum Zukunftsmenschen: An der Hamburger »Hochschule für das weibliche Geschlecht« (1850—52).

Menschliche Natur — weibliche Natur: urtümlich und zukunftsträchtig.

Streitbare Mütterlichkeit — doch Frieden als Berufung der Frau.

Mai 1852: Musste oder wollte Malwida emigrieren? Und: Warum nicht gleich nach Amerika?

3

 Exil-Jahre und Exil-Netzwerke: von Johanna Kinkel bis zu Alexander Herzen — und zu zwei Attentätern

Land des self-government — Land der Gouvernanten: Malwidas Stimmungsumschlag im britischen Exil.

Der Held und die Mutter des Exils, und die Marx’sche Attacke auf Mitemigranten: die Kinkels in Spannungsfeldern der Emigration.

Die Emigration als »Heuschreckenschwarm« und als Beziehungsnetz: Beginn einer kommunikativen Kettenreaktion.

Ein heftiges Hin und Her mit Alexander Herzen und die Erfahrung der Mutterliebe als Leidenschaft: ein dramatischer Dreiakter mit furios-versöhnlichem Finale.

Erster Akt: November 1853 bis Mai 1856 — höchstes Glück und tiefster Sturz.

Zweiter Akt vom Sommer 1859 bis zum Sommer 1865: Paris, Florenz, Rom — mit den Herzen-Töchtern auf Reisen.

Dritter Akt ab 1865: erneuter Konflikt mit Herzen und am Ende Versöhnung.

Eine »Feuerseele in ewiger Erregung« (Malwida über Herzen)

: Verbundenheit durch Spannung.

Zärtlichkeit zwischen Antipoden: Malwida und Mazzini, der gottgläubige Verschwörer, »Feuergeist« und »Fanatiker«.

»Blitzendes Auge« und »blitzartige Gedanken«: Jules Michelet — Historiker der Revolution, der Insekten, der Frau und der Hexe.

Herzen — Michelet — Monod — Rolland: eine Kettenreaktion von Freundschaften, trotz »Malwida Bismarckowa«.

Lothar Bucher: Ex-Revolutionär, künftige »rechte Hand« Bismarcks

— und dazwischen »Maulwurf«, Mentor und Mit-Leidender Malwidas.

Abkehr vom Ideal »Volk« — zugleich Idealisierung exekutierter Attentäter: Emmanuel Barthélemy und Felice Orsini.

4

 Von Todessehnsucht zu dreifacher Lebenserfüllung: musikalisch, philosophisch, spirituell

»Wie schmachte ich nach Wagner!«

Wie Richard Wagner zu Malwidas einzigem Duzfreund wird — und Cosima von einer »Kundry« zur Duzfreundin.

Ein Geheimnis der Ausstrahlung Malwidas: »Die Todessehnsucht zu träumerischer Wonne ausbilden«.

»Unglaublich, wie Wagner oft komisch ist«

: eine Kampfgemeinschaft mit Humor.

Drei Reizthemen: Religiöses Ritual, Rassismus, Emanzipation der Frau.

In unerwarteter Mutterrolle: Malwida und Cosima.

»Es fiel wie in Fesseln von mir ab«: Wie Malwida mit Schopenhauer »selig« wird, doch schließlich zur Wertschätzung des »Willens« zurückkehrt.

»Im vollen Sinn des Worts Buddha werden«: Über Wagner und Schopenhauer zu altindischer Erleuchtung — und auf diesem Weg zu neuen Freundschaften.

Von alt- zu neuindischer Weisheit: Begegnung mit drei indischen Gelehrten.

5

 Über das Atom zur All-Einheit: Idealismus und Materialismus, Naturwissenschaft und Naturliebe

Absage an den »Don Juanismus des Ideals« — der Idealismus in der Defensive.

»Die einzige Todsünde, die es gibt, ist die gegen die Individualität«. Ideal und Individualität, Selbstbewusstsein und Selbstlosigkeit: eine Spannung mit Dynamik.

»Oh Causalität, wie unerbittlich rächst Du den Zweifel an Dir.« Glaube an Kausalität und Streben nach dem Ideal: ein Spannungsfeld nicht nur im Denken Malwidas.

Zur All-Einheit über das Atom und über elektrische Wellen: Die Elektrizität als »wundervolle Urkraft der Natur« und die »Seligkeit« durch das Kohlenstoffatom.

Die Natur: »intimste Freundin« und »allmächtige Trösterin«. Idealismus und Naturalismus.

Nach »brennender Sehnsucht« »Quietismus der Seele«: Vom ruhelosen zum erlösenden Idealismus — durch den Geist.

6

 Von Bayreuth nach Rom: Italien als reales Ideal

»Das Land meiner Träume« wird Wirklichkeit, anfangs in Florenz, am Ende in Rom — trotz eindringlicher Warnung des Rom-Historikers Gregorovius.

Statt der Villa Wahnfried in ein römisches Mietshaus: nur wegen des Klimas? Malwidas Leben als »ewiges Fragezeichen«.

Ein Auf und Ab an der Via Polveriera: »Götteraussicht«, doch später »wahre Hölle mit dem entsetzlichen Lärm«.

Von der Zukunft zurück zur Vergangenheit: der Zeit der »Frauenherrschaft« — und der Papstherrschaft in Rom.

Unter die »Antiquitäten« geraten: Wie Malwida in Rom zur Sehenswürdigkeit wird.

»Götteraufenthalt« bei Laura Minghetti und ihrer Tochter Marie von Bülow: Über Frauenfreundschaften Vertraute eines italienischen Ex-Regierungschefs und eines kommenden Reichskanzlers.

7

 Im Zentrum einer Lesergemeinde: Die unerwartete Resonanz auf die »Memoiren einer Idealistin« — eine neue Lebensphase beginnt

Unter lauter literarischen Enttäuschungen und nach »Höllenangst« eine wunderbare Überraschung; dazu drei Fragen.

Von jungen Mädchen bis zu Friedrich Nietzsche: Was begeistert viele Leser an den Memoiren Malwidas?

»Hass« auf selbsternannte Idealisten, doch »wilde Lust« bei der Lektüre der »Memoiren einer Idealistin«: Der Lebensreformer Emil Gött.

Malwida-»Manie« im Neuidealismus der Jahrhundertwende.

8

 Von der »besten Freundin der Welt« zur mitleidlos lachenden »Kundry«: Das Nietzsche-Drama

Eine Verbundenheit durch Geist und Musik, durch Liebe und durch Leiden.

Sorrent als »Zaubergarten«: zumindest für Malwida. Das Experiment einer »idealen Kolonie« — trotz »Réealismus« kontra Idealismus.

Nietzsche — Rée — Lou: eine brisante Dreiecksbeziehung — von Malwida vermittelt und fatal nicht nur für sie.

Vom »Zarathustra« bis zum »Fall Wagner«: Nach heftigem Hin und Her Nietzsches Fluch auf den Idealismus und Malwidas »Kriegserklärung« an ihn.

Der neue Nietzsche-Kult, Meta von Salis und die Frage nach dem wahren Nietzsche.

9

 Ein temperamentvolles Intermezzo als »schöne Überraschung«: Über »Phädra« zur Freundschaft mit Alexander von Warsberg

»Phädra«: Glückliches Ende unter südlicher Sonne für ein grausiges Drama.

»Warsberg — Venusberg«: Die »schöne Überraschung«.

Krisenzeichen — und am Ende tiefe Trauer.

10

 Höchste Erfüllung im Alter: Malwida und der junge Romain Rolland — eine zärtliche, doch streitbare Liebe

Von zögerndem Anfang zur Zärtlichkeit: über Beethoven- und Wagner-Klänge, über Mitleid und Mit-Leiden — und über letzte Lernerfolge in Malwidas Kunst der Freundschaft.

Goethe und »Göthe« — Kontroversen und Gekäbbel.

Eine zerbrechliche Dreieinigkeit: Malwida, Rolland und Suarès. 

Rolland, von Malwida ermutigt, doch mit Geheimnistuerei: vom blutigen Drama zum musikalischen Roman — von immer neuer Enttäuschung zum Welterfolg.

Zwischen Nationalgefühl und Kosmopolitismus; Wilhelm II.: vom Heiligen zum Scheusal — Stimmungsschwankungen und Streitigkeiten zu Fragen der Politik.

Zwischen Heldenkult und Hass auf Krieg und Kolonialismus — Malwidas Begeisterung für das »kleine Heldenvolk« der Buren und ihre Wut auf die »verfluchte Seele« Francesco Crispi.

Dreyfus: Verräter oder »erhabener als Christus«? Der heftige Dauerkonflikt über die Dreyfus-Affäre — zugleich der tiefe Zwiespalt bei beiden gegenüber den Juden.

Kein Streitthema: »Das idealistische Gift« (Rolland) — Gefahren des Neuidealismus.

»Amore — pace«: Todesekstase und Fortleben Malwidas.

Schluss

: Zur Aktualität des Malwida-Idealismus, und: Mein Weg zu Malwida

Dank

Anmerkungen

Einführung  Zwischen Kampfeslust und Nirwana-Sehnsucht — ein Frauenleben voller Spannung

1  Konfirmation, Revolution, Liebe — und frühe Enttäuschungen: spirituell, politisch, erotisch

2  Die Natur der Frau als neue Chance nach dem Scheitern der Revolution — für Malwida und für die Menschheit

3  Exil-Jahre und Exil-Netzwerke: von Johanna Kinkel bis zu Alexander Herzen — und zu zwei Attentätern

4  Von Todessehnsucht zu dreifacher Lebenserfüllung: musikalisch, philosophisch, spirituell

5  Über das Atom zur All-Einheit: Idealismus und Materialismus, Naturwissenschaft und Naturliebe

6  Von Bayreuth nach Rom: Italien als reales Ideal

7  Im Zentrum einer Lesergemeinde: Die unerwartete Resonanz auf die »Memoiren einer Idealistin« — eine neue Lebensphase beginnt

8  Von der »besten Freundin der Welt« zur mitleidlos lachenden »Kundry«: Das Nietzsche-Drama

9  Ein temperamentvolles Intermezzo als »schöne Überraschung«: Über »Phädra« zur Freundschaft mit Alexander von Warsberg

10  Höchste Erfüllung im Alter: Malwida und der junge Romain Rolland — eine zärtliche, doch streitbare Liebe

Schluss  Zur Aktualität des Malwida-Idealismus, und: Mein Weg zu Malwida

Abkürzungen

Lebensdaten und Schlaglichter

Bildnachweis

Quellen:

Register

Einführung

Zwischen Kampfeslust und Nirwana-Sehnsucht — ein Frauenleben voller Spannung

Reiz und Relevanz einer Neuentdeckung: erste Schlaglichter. Und fortan einfach »Malwida«.

Warum ist es an der Zeit, das von 1816 bis 1903 reichende Leben dieser einst europaweit bekannten Frau neu zu entdecken? Neugier sollte schon dadurch geweckt werden, dass die Erinnerung an sie ab 1933 systematisch verdrängt wurde;1 so wurde die Umbenennung der erst 1930 so benannten Kasseler Malwida-von-Meysenbug-Oberschule zum Jahresbeginn 1940 damit begründet, dass »Weltanschauung und Leben Malwida von Meysenbugs das genaue Gegenteil« seien »von der Haltung, zu der unsere weibliche Jugend erzogen werden soll«.2 Wir werden bei Malwida auf so manche innere Spannung bis hin zu Selbstwidersprüchen stoßen, und doch gibt es bei ihr scharfe Konturen, eine markante Klarheit zu entdecken, nicht nur in ihren Überzeugungen, sondern mindestens so sehr in ihrem Leben: Davon zeugt das NS-Verdikt.

Die Neugier wächst, wenn man darauf stößt, dass diese Frau über viele Jahre Friedrich Nietzsche in enger Freundschaft verbunden war: Jenem Philosophen, den der Nationalsozialismus als (angeblichen) Wegbereiter feierte und der vielfach als Frauenfeind gilt. Nietzsche verherrlicht sie am 26. Mai 1876 sogar als »die beste Freundin der Welt« — so in einem Brief an seinen Freund Carl von Gersdorff, der auf sie erbost war, da sie ihm in bester Absicht eine unheilvolle Liebesbeziehung zu einer italienischen Gräfin eingebrockt hatte.3 Und immer wieder schwärmt Nietzsche von der »herrlichen Frau«, der »reinsten Seele unter den deutschen Frauen«,4 mit der er am liebsten zusammen sei5 und von der er seine Gesundung erhoffe6 — bis er Anfang 1889, schon dem Wahnsinn nahe, ihren Idealismus als genaues Gegenteil seiner eigenen Weltanschauung schmäht und sie als »Kundry« tituliert: Jene Gestalt aus Wagners »Parsifal«, die im Anblick des gekreuzigten Jesus gelacht hatte. Nietzsche unterschreibt diesen Brief: »Der Gekreuzigte«. Und doch: Ihr sei »viel verziehn, weil sie mich viel geliebt hat«.

Malwida von Meysenbug war eben mitnichten bloßer Resonanzboden Nietzsches, sie erlangt ihre historische Bedeutung längst nicht nur als Nebengestalt des großen Nietzsche-Dramas. Sie hat lebenslang ihren eigenen Kopf, macht immer neue Entwicklungen durch und begegnet in sehr unterschiedlichen, ja zueinander konträren Beziehungen. Auf ihre Freundschaft zu Nietzsche folgt ihre sich über mehr als zwölf Jahre bis zu ihrem Tod erstreckende geistige Liebesbeziehung zu dem fünfzig Jahre jüngeren Romain Rolland, die durch einen riesigen, bislang erst in Ansätzen ausgewerteten Briefwechsel dokumentiert ist. Das Kapitel »Die Freundinnen« in Rollands »Reise nach innen« (1924) handelt im Grunde nur von Malwida von Meysenbug, die er am Schluss »die einzige Freundin« nennt7 und die er einst in einer schweren Lebenskrise kennenlernte. Schon 1893, nach vierjähriger Bekanntschaft, schreibt er an sie: »Ich verdanke es Euch, klarer zu mir selbst erwacht zu sein.«8 Und, wie er bekennt, verdankt er ihr eine Offenbarung, die für seinen Riesenroman »Jean Christophe«, der ihn nach lauter Misserfolgen berühmt machen sollte, konstitutiv wird: »das Geheimnis des alten Deutschlands«, mehr noch: »die enge Verwandtschaft des verborgenen wahren Frankreichs und des wahren Deutschlands«.9

Obwohl Rolland sich mit Malwida von Meysenbug nie geduzt hat, spricht er von ihr schlichtweg als »Malwida«, auch wenn ihm »dieser romantische Name« für eine »Tochter Goethes« eigentlich nicht passt10; auch hier soll von ihr fortan nur mit Vornamen die Rede sein, zumal sie ohnehin nicht als eine von Meysenbug, sondern als Rivalier, hugenottischer Abkunft, geboren wurde. Als sie 1852 in London ihre Mitemigranten Gottfried und Johanna Kinkel aufsucht, mit denen sie sich noch siezt, und das Dienstmädchen, das ihr öffnet, sie darum bittet, ihren Namen auf einen Zettel zu schreiben, schreibt sie einfach nur »Malwida« und hört gleich darauf »ein freudiges Aufschreien mehrerer Stimmen« (I 265). Auch solche Biografen, die umständlich-korrekt von »Malwida von Meysenbug« oder der Kürze halber von »der Meysenbug« reden, verfallen irgendwann in »Malwida«. Wenn Gareth Stedman Jones in seiner großen Marx-Biografie immerzu von »Karl« redet, wirkt das kurios, denn Karle gibt es viele, von Karl dem Großen bis zu Karl May. Doch der Vorname »Malwida« — manchmal auch »Malvida« geschrieben11 — ist singulär. Angeblich setzt er sich aus den Vornamen ihrer drei Patinnen zusammen: Amalie, Wilhelmine und Tamina.12 Also ein für sie neu geschaffener Name.

»Das Geheimnis des alten Deutschlands« als Offenbarung Malwidas: Das erinnert an ihre Würdigung durch ihren einstigen Mitemigranten Carl Schurz, der in der Folge in die USA ging, Bürgerkriegsgeneral der Nordstaaten und später amerikanischer Innenminister wurde. Der schreibt nach Malwidas Tod an den französischen Historiker Gabriel Monod, der durch die Ehe mit Olga Herzen, für die Malwida mit leidenschaftlicher Liebe die Mutterrolle übernommen hatte, eine Art Schwiegersohn dieser Frau geworden war: »Malwidas Tod ist mir sehr zu Herzen gegangen. … Ihr Tod hat eine wirkliche Leere hinterlassen, die durch nichts anderes gefüllt werden kann. Sie war der reinste und wahrste und zugleich der anziehendste Ausdruck des Idealismus des vorigen Jahrhunderts. … Jener Idealismus ist keineswegs ganz verschwunden, und davon ist die neue Popularität der Schriften Malwidas ein unverkennbares Symptom. Es gibt in Deutschland, wie anderswo, viele Gemüter, die sich in der Öde des heutigen materiellen Strebens und Interessenwesens nach dem alten oder wenigstens einem ihm verwandten Idealismus zurücksehnen. Und für diese haben Malwidas Schriften mit ihrer rührenden Aufrichtigkeit, ihrer wahrhaftigen Gefühlswärme und ihrer poetischen Eingebung an das Edle, Große und Schöne einen unwiderstehlichen Zauber.«13 Das von Malwida verkörperte alte Deutschland könnte auch ein neues werden!

Sucht man nach ebenso prominenten wie aparten Würdigungen Malwidas, ist man ohne Kenntnis ihrer späteren Lebensgeschichte erst einmal verblüfft über ihre wiederholte Wertschätzung ausgerechnet in den »Denkwürdigkeiten« des Reichskanzlers Bülow, die durch ihre Bosheiten berüchtigt wurden.14 Da nennt er sie »unsere liebe alte Freundin«, an die er — bereits Reichskanzler — kurz vor ihrem Tod geschrieben habe, mit Anspielung auf ihren Buddhismus: »Ich denke oft an Sie. Was uns zu trennen scheint, gehört der Erscheinungswelt an, was uns verbindet, ist unvergänglich.« Und fast eine Seite lang zitiert er ihre Antwort, die »den hohen Geist dieser Frau so wundervoll« spiegele. Da berichtet die schon todkranke Frau von einer Nacht, wo sie sich »allem Zeitlichen entrückt« fühlte, »im Urgrund des Seins höchster Seligkeit genießend«. »Und ich schwamm wie getragen auf Wellen unsäglicher Wonne …«15

Doch gegen Ende seiner Memoiren lässt Bülow seinen Hang zur Pikanterie auch an Malwida aus und verweist auf ihre Begeisterung für Felice Orsini, der 1858 ein Bombenattentat auf Napoleon III. verübt hatte und — zu Malwidas Empörung — dafür hingerichtet wurde: »Sie erklärte den Attentäter Felice Orsini, den sie im Exil gut gekannt hatte, für einen edlen Jüngling, Harmodios und Aristogeiton, den Tyrannen-Mördern, vergleichbar, die in Athen gefeiert und besungen wurden.«16 Zur Hochschätzung dieses Attentäters, dessen Bombenanschlag mehrere Menschen zum Opfer gefallen waren, hatte sie sich sogar mit erstaunlicher Offenheit in ihren Memoiren bekannt und auch ihre abgrundtiefe Trauer geschildert, als sein Haupt auf der Guillotine gefallen war (II 98). Und auch aus ihrer Wertschätzung für einen anderen Attentäter, Emmanuel Barthélemy, macht sie keinen Hehl und dass sie bei dessen bevorstehender Hinrichtung »Unsagbares« litt: »Ein grenzenloses Mitleid füllte mein Herz bis zum Zerspringen.« (I 433)

Noch 1884, als sie sich längst von den revolutionären Idealen der 1848er Zeit abgewandt hat, spricht sie in einem Brief an Daniela von Bülow, Cosima Wagners Tochter aus erster Ehe, von der »großartigen Furchtbarkeit der Nihilisten« in Russland, die etwas gezeigt habe, »was noch nicht da gewesen ist in der Weltgeschichte«.17 Ein Nihilist hatte 1881 den Zaren Alexander II. ermordet! Und doch kündigt ihr Silvester 1889 der mit ihr gut befreundete Maler Lenbach an, um Mitternacht werde er »mit meinem Freunde Otto« auf ihr Wohl trinken18: Otto ist niemand anderes als der Fürst von Bismarck, den Lenbach so oft porträtierte, dass solche Serienproduktion zum Objekt der Karikatur wurde.

Sprung in die Gegenwart: Beim Googeln im Internet stößt man auf den damaligen Kanzleramtschef Peter Altmaier, der am 8. März 2017 in seinem Glückwunsch zum Weltfrauentag daran erinnert, »die großartige Malwida von Meysenbug« habe bereits vor 150 Jahren die Zeit reif für die Emanzipation der Frau befunden. Und in einer Podiumsdiskussion mit Vertretern des »Spiegel« zitiert er gleich zu Anfang Malwida. Googelt man Malwida dagegen zusammen mit »Emma« und ihrer langjährigen Redakteurin Alice Schwarzer, kommt rein gar nichts. Auch für den modernen Feminismus ist diese Frau neu zu entdecken. Im gängigen Geschichtsbild begegnet sie, wenn überhaupt, am ehesten in prominenten Männerbeziehungen — vor allem zu Richard Wagner und Nietzsche —, die nicht gerade als »fortschrittlich« gelten, schon gar nicht unter Feministinnen. Malwidas eigenes Potential ist eben nicht ohne Weiteres evident.

Magnetismus oder Mimikry?

Schon die Wirkkraft ihrer »Memoiren einer Idealistin« ist für viele heutige Leser zunächst erklärungsbedürftig. Doch ihre Bedeutung erschöpft sich bei weitem nicht darin. Mehr noch ergibt sie sich daraus, dass sie sich im Laufe ihres langen Lebens zu einer Künstlerin der Kommunikation entwickelte. Doch wodurch? Das erscheint bei dieser äußerlich unscheinbaren, eher schweigsamen Frau erst einmal als großes Rätsel. Nichts von der sprudelnden Lebendigkeit großer Frauen der Romantik wie Rahel Varnhagen und Bettina von Arnim (die allerdings ebendadurch einem Goethe auf die Nerven fiel19)! Stefan Zweig, von seinem Freund Romain Rolland inspiriert, schreibt über sie: »Nationen und Sprachen sind diesem freien Geiste keine Grenze …, der ›ein Menschenmagnet‹, unwiderstehlich große Naturen vertrauend an sich zog.«20 All dies durch »ihre wundervolle Fähigkeit zur Freundschaft«.21

Doch worauf beruhte, auf welche Weise äußerte sich diese Fähigkeit? Dies bleibt bei Zweig ein Geheimnis — oder doch nicht? »Denn ein geheimnisvoller Genius des Verstehens hatte immer und immer wieder Menschen der verschiedensten Art in gleich tiefer seelischer Verbundenheit dieser merkwürdig magnetischen Frau nahegebracht, und was sonst … unverbindbarer Gegensatz schien, war durch ihre einzigartige Fähigkeit geistiger Hingabe, dank ihrer unnachahmlichen Wissenschaft, das Beste in den Besten mit Liebe zu begreifen, eine Einheit, ein Lebenskreis, eine Gemeinde geworden.«22

Um Rolland selbst das Wort zu geben, der von Malwida bei seiner ersten Begegnung überhaupt nicht beeindruckt war und die über Siebzigjährige dann in lebhafter römischer Gesellschaft erlebte: »Sie war eine kleine, schmächtige Frau, ruhig, schweigsam …, schlicht in ihrer Sprache, ihrer Kleidung, ihrem ganzen Wesen. … Sie sprach nicht, oder mit so sanfter Stimme, die allein ihr Nachbar vernahm; sie hörte zu, schaute zu, mit ihrem ruhigen Lächeln. Aber eine Ehrfurcht umgab sie. Eine natürliche Würde ging von ihr aus, flößte den Leichtfertigsten, den höchsten Standesgenossen Achtung ein. Ohne sie näher zu kennen, beugten sie sich vor dieser betagten, armen Frau …«23

Der Historiker, der sich auf ihre vielen und oft recht wortreichen Briefe stützen muss, sollte derartige Erlebnisse der Begegnung in Erinnerung halten. Zugleich mag man ahnen, dass diese gewaltige Briefschreiberei eine Zurückhaltung in der Geselligkeit kompensierte. Doch beides ergänzte einander. Der Maler und Wagnerianer Paul Joukowsky, fast dreißig Jahre jünger als sie, schreibt ihr aus Bayreuth unmittelbar nach Wagners Tod über das vorhergegangene Wiedersehen mit ihr: »Ich konnte nicht schreiben vor Glück. Unser Wiedersehen war so über alle Maßen schön, so schattenlos lieblich gewesen … Sie hatten eine wunderbare Zärtlichkeit … für mich gefasst, dass ich im Wahne der Sicherheit und Freude mir oft sagte: es gibt ein Glück!«24 Oder man höre die Gräfin Armgard von Eperjesy, Enkelin Bettina von Arnims, die Malwida am liebsten noch kurz vor deren Tod wiedergesehen hätte, um »mich wie ein Vogel im Abendstrahl im klaren Licht Ihres Wesen’s (zu) baden, dessen friedbringender Schein auf lange Zeiten hinaus leuchten wird«.25

Jacques Le Rider, Autor der bislang umfangreichsten Malwida-Biografie26, glaubt mittlerweile, das Geheimnis dieser Frau gelüftet zu haben; es lautet: »Mimikry«. Und zwar deshalb, weil sie »von den Begegnungen mit bedeutenden Männern die Anregung zur Entfaltung ihres eigenen Profils erlebte. Diese intellektuelle Mimikry macht sie zu einer grande dame mit einem Dutzend verschiedenen Gesichtern. Im Umgang mit Herzen und Mazzini ist sie eine andere als im römischen Salon von Bernhard von Bülow. … Dieses Verlangen, geliebt, geschätzt, anerkannt zu werden, machte sie abhängig und erstickte manchmal ihre eigene Persönlichkeit.«27 Das passt jedoch nicht zu der Feststellung, dass sie in solchen Begegnungen ihr »eigenes Profil« entfaltete.

Gewiss muss man bei vielen Passagen ihrer Briefe erwägen, wieweit sich ihr Ton nach dem Empfänger richtet. Doch das bedeutet nicht unbedingt »Mimikry«, gehört es doch zur Kunst gelungener Kommunikation, dass man das Gegenüber erst einmal auf seine Art gelten lässt, Verständnis bekundet und auf den anderen eingeht. In dieser Kunst brachte es Malwida im Laufe ihres Lebens zur Meisterschaft. Aber darin ging sie nicht auf. Selbstbewusst und nicht ohne Grund versichert sie ihrer Mutter aus dem britischen Exil, die Zeiten seien vorbei, wo sie der Enthusiasmus, den sie bei einem »ehemaligen Feind« hervorgerufen habe, »hätte eitel machen können«. Und dann: »Einfluss hat die Beistimmung oder der Tadel der Menschen nicht den geringsten auf mein Gefühl und Handeln, denn ich kenne nur noch einen Richter über mein Leben: das sittliche Bewusstsein in meiner eignen Brust, das Gesetz was einst die Menschen außer sich suchten und Gott nannten.«28

Gott in uns, zumindest in ihr selbst: Dieses Selbstgefühl ist nicht so übertrieben, wie man denken könnte. Wie wir sehen werden, hat es an Kontroversen selbst mit solchen Menschen, die sie schätzte, nicht gefehlt. Davon zeugen schon allein ihre heftigen Auseinandersetzungen mit Alexander Herzen über ihre freiheitliche Erziehung seiner Töchter — und dies, obgleich ihr das Zusammenleben mit der Herzen-Familie unendlich viel bedeutete und der Bruch sie in tiefe Verzweiflung stürzte. Und dann das dramatische Ende ihrer Beziehung zu Nietzsche!

Kein Zweifel, Malwida hatte und behielt ihren eigenen Kopf, lebenslang. Kurz nach ihrer Ankunft im britischen Exil schrieb Johanna Kinkel über sie an ihren Gatten: »Ihr Geist ist von kristallner Klarheit, und dabei besitzt sie eine Anmut der Ausdrucksweise, welche verrät, dass sie nur in den allerfeinsten Kreisen geselliger Bildung muss erwachsen sein.«29 Und lange nach ihrem Tod rühmt sie Rolland wieder kristallinisch: »alle hatten sich ihr anvertraut; fast alle hatten sie geliebt; und nichts hatte den Kristall ihres Denkens getrübt.«30

Warnsignale für den Biografen.

Umso mehr muss sich der Biograf davor hüten, in eine Hagiografie zu rutschen. Heute stolpert man über nicht wenige Malwida-Passagen, die schwülstig und allzu edel klingen. Wiederholt beobachtet man, wie Malwida-ForscherInnen, die sich über weite Strecken von ihr haben anstecken lassen, unversehens in Überdruss verfallen. Ruth Stummann-Bowert, die bis dahin für das Jahrbuch der Malwida-von-Meysenbug-Gesellschaft die mit Abstand meisten Beiträge geliefert hat, erkennt bei dieser Frau am Ende »Selbstbetrug und Illusion«.31 In einem insgesamt würdigenden Sammelband, der im Titel Malwida als »Ideal einer Frauengestalt des 19. Jahrhunderts« vorführt, schießt die Schriftstellerin Christine Brückner quer mit einem Beitrag »Eine Oktave tiefer, Fräulein von Meysenbug!«, wo sie beginnt: »Sie hielten sich für eine Idealistin, aber Sie waren eine Phantastin!«32

Die Lektüre ihrer lebensvollen, immer wieder ergreifenden Memoiren könnte dazu führen, der von Pierre Bourdieu angeprangerten »biographischen Illusion« zu verfallen, nämlich der Einbildung, ein Leben lasse sich ganz aus dem geschilderten Ich heraus als ebenso folgerichtige wie einzigartige Abfolge von Ereignissen begreifen.33 Doch Malwidas ungemein vielfältige Beziehungen und Korrespondenzen wirken dieser Illusion so gründlich entgegen, dass Le Rider mit seiner »Mimikry«-These in das genaue Gegenteil verfallen kann.

Da kommt es für den Biografen erst einmal darauf an, nicht wie so manche Malwidologen zwischen Identifikation und Aversion, zwischen Begeisterung und Kopfschütteln zu schwanken; vielmehr kann man bei der Beschäftigung mit dieser Frau den Wert eines werturteilsfreien historischen Verstehens neu schätzen lernen und auch eines Verstehens aus einem historischen Breitenwissen über jene Zeit heraus. Wer Texte der Goethezeit kennt — und Malwida lebte mehr und mehr aus dem Geiste jener Zeit heraus —, findet viele Briefpassagen — all diese Bekenntnisse zum Guten, Wahren, Schönen — nicht mehr so phrasenhaft, wie sie auf moderne Menschen wirken mögen.34 Was einen nicht davon abhalten sollte, über manche Malwida-Ergüsse erst einmal zu lächeln, so wenn sie — um nur ein Beispiel von vielen zu zitieren — etwa Ende 1849 an Johanna Kinkel über deren Sohn, den sie in ihr Herz schließen möchte, ins Schwärmen verfällt: »O solche Geschöpfe, die dem Geist von früh auf untertan sind wie reizend!«35

Doch wenn Malwida 1877 gegenüber der schweizerischen Frauenrechtlerin Meta von Salis von den »Ideen« — so der Idee der Frauenbefreiung — spricht, für die sie ihren »Kampf gekämpft« habe, und sich als »einsame, alte Kämpferin« bezeichnet,36 wenn sie noch im Alter schreibt, das Leben sei »nichts anderes als ein großes Schlachtfeld« und die »einzige Tugend« bestehe darin, »trotz aller Wunden bis zuletzt zu kämpfen« (II 452), stellt sich die Frage: Wo und wie hat sie denn gekämpft? Führerinnen der Frauenbewegung wie Helene Lange und Clara Zetkin werfen ihr später vor, nicht selbst für ihre Ideale gekämpft zu haben.37 Doch diese Frauen gehören der späteren Generation einer organisierten Frauenbewegung an. Ihre Kritik verweist gleichwohl auf eine Schwäche, die sie sich selbst eingesteht: Sie empfand zeitlebens eine tiefe Scheu vor öffentlichem Auftreten; nicht einmal zu einer Grabrede für ihre Freundin Johanna Kinkel fühlte sie sich imstande, »wie ich denn von je eine unüberwindliche Schüchternheit gehabt hatte, in irgendeiner Weise öffentlich zu sprechen, und eigentlich nur im Zwiegespräch mich frei fühlte« (II 126f.). Ein Schlüsselzitat zum Verständnis ihres Lebens, ihrer Art der Kommunikation von Mensch zu Mensch!

Für Malwida bedeutet »Kampf« erst einmal Kampf um eine selbstständige Existenz, in der sie ihrer eigenen Überzeugung nach leben und ihre Ideen frei verbreiten kann; auch tapfere Überwindung immer neuer Phasen der Vereinsamung und Verzweiflung bis hin zur Todessehnsucht: Nicht zuletzt darin liegt das Bewegende dieses Lebens. Andere »große Frauen« jener Zeit, die als Wegbereiterinnen weiblicher Emanzipation gelten — Bettina von Arnim, Rahel Varnhagen, Fanny Lewald — waren alle verheiratet und durch Herkunft und gesellschaftliches Milieu mehr oder weniger vor Vereinsamung geschützt; für Malwida galt das nicht. Anders als die genannten Frauen ging sie ins Exil, um von dort nicht wieder heimzukehren. Jules Michelet, der größte französische Historiker seiner Zeit, zwischen dem und Malwida sich eine freundschaftliche Beziehung entwickelte, schreibt in seinem Buch »Die Frau«: »Das schlimmste Schicksal, das eine Frau treffen kann, ist: allein zu leben.«38 Malwida hat sich für dieses Schicksal ganz bewusst entschieden; das war damals ungleich außergewöhnlicher als heute.

Und sie suchte und fand eine Fülle an menschlichen Beziehungen im Exil und weit abseits jener Gesellschaftskreise, in die sie in jungen Jahren hineingewachsen war; auch dies setzte zu jener Zeit besondere Fähigkeiten voraus, zumal gerade im Ausland in besonderem Maße die Vereinsamung drohte. Die Exilsituation als solche, wo sich ein jeder erst einmal auf eigene Faust durchschlagen muss, erzeugt oftmals mehr Spannung als Solidarität. Das scheint in besonderem Maße für deutsche Emigranten zu gelten, nicht nur nach 1848.39 Dass Malwida gerade in jener Situation zur großen Netzwerkerin wird, will etwas heißen. Mit der Zeit entwickelte sich in ihren Beziehungen eine wahre Kettenreaktion. Aus dem einen Kontakt gingen weitere hervor, die sie immer sorgsamer zu kultivieren wusste, bis zu ihrem Tod.

Das große Werk von Marie-Claire Hoock-Demarle»L’Europe des lettres« (2008) über transnationale Korrespondenzen vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, aus denen ein europäisches Beziehungsnetz hervorgegangen sei, das den Weltkriegen hätte entgegenwirken können, kulminiert in dem Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Malwida, der alle anderen dort dargestellten Korrespondenzen in den Schatten stellt; das Kapitel trägt die Überschrift: »Le réseau européen de Donna Malwida cosmopolita«. Sie wirkte durch ihre Vielfalt persönlicher Beziehungen — und durch ihre Lebensgeschichte, so wie sie diese in ihren »Memoiren einer Idealistin« und ihrem »Lebensabend« schildert und deren ergreifende Wirkung auf viele Zeitgenossen ein Kapitel eigener Art ist.

Herausforderungen an einen Malwida-Biografen.

Wer sich eine Biografie dieser Frau vornimmt, sieht sich zwei einander konträren Gefahren gegenüber: bis in die frühen 1870er Jahre in eine bloße Nacherzählung ihrer lebenssprühenden, mitunter verblüffend offenherzigen Memoiren zu verfallen, die in ihrer Art unübertrefflich sind, und in deren Geiste in ihr Leben frühzeitig eine höhere Prädestination hineinzulegen; und für die Zeit danach bei Ausschöpfung ihrer gewaltigen Korrespondenzen die Darstellung je nach Briefpartner zu zersplittern.

Ebendiese Gefahr erhöht sich noch durch die äußeren Lebensdaten: durch Malwidas exorbitante, für eine alleinstehende Frau damals höchst ungewöhnliche Reiserei, wegen derer Alexander Herzen sie als weiblichen Magellan neckte. Eine von der Weimarer Malwida-Forscherin Sabine Arndt erstellte Liste ihrer Reisen ist zwölf Seiten lang, wobei jede Seite im Schnitt zwanzig verschiedene Aufenthaltsorte umfasst und sich auch die oft nicht leicht zu beantwortende Frage stellt, wie diese im Exil zunächst verarmte Frau viele Reisen — zumal in teure Badeorte — finanzierte. Malwidas Memoiren sollen den Eindruck hinterlassen, dass sie die früh in ihr angelegte Prädestination und damit ihr Lebensglück erreicht habe: mit der leidenschaftlich-mütterlichen Beziehung zu Olga Herzen, den berauschenden Wonnen der Wagner-Musik und der »Seligkeit« über den neu offenbarten Schopenhauer. Doch das ist nicht das Ende ihres Lebens. Die Frage, wieweit sie letztlich ihrem »Ideal« nahegekommen ist, muss erst einmal offenbleiben.

Aus dem einen wie dem anderen Problem geht hervor, dass für diese Frau ein neuer Typ von Biografie gefragt ist: eine Lebensgeschichte, die nicht durchweg dem zeitlichen Nacheinander dieses Lebens folgt, so wie es in der Liste der Lebensdaten präsentiert wird, sondern Schneisen schlägt, Längsschnitte vornimmt, Leitmotive und Leitgedanken verfolgt. Dabei gilt es, vorweg die historische, womöglich auch aktuelle Bedeutung dieser Frau und ihres Lebens genauer zu bestimmen.

Einen Reiz aus dieser Lebensgeschichte ergibt sich zumal für den Historiker bereits bei flüchtiger Bekanntschaft: Dieses Leben ist geradezu ein Kaleidoskop des 19. Jahrhunderts, gerade auch seiner reizvollen Seiten — seiner geistigen, künstlerischen, nicht zuletzt auch musikalischen Welten. Zu Anfang ertönt noch in der Ferne die Marseillaise, später mischt sich deren revolutionärer Marschtakt mit »Tannhäuser«-Klängen, martialische Fanfaren wechseln mit Gongschlägen fernöstlicher Tempel.

Um mit anderen Frauenleben zu vergleichen: Bei einer Biografie von Maria Theresia oder von Rosa Luxemburg — oder auch von Cosima Wagner und Elisabeth Förster-Nietzsche — ergeben sich Bedeutung und Leitlinien mehr oder weniger von selbst. Ein ergreifender Grundzug von Malwidas Leben besteht demgegenüber darin, dass sie sich immer wieder auf die Suche nach Lebenssinn begibt, begeben muss. Von einem konventionellen Geschichtsverständnis her mag man erst einmal enttäuscht sein, dass diese Frau, die das öffentliche Auftreten scheute, in einer Geschichte der Aktionen, der Institutionen und Organisationen nicht von Bedeutung ist. Umso größer ist dagegen ihre potentielle Bedeutung in einer Geschichte der Kommunikation, der immer tieferen Verständigung von Mensch zu Mensch, der Schaffung menschlicher Beziehungsnetze über die Grenzen bestimmter Gesellschaftskreise, ja über nationale Grenzen hinweg.

Es ist immer wieder verblüffend, wie rasch diese Frau Kontakt zu bedeutsamen Persönlichkeiten erlangt. Noch nicht lange im Londoner Exil, wird ihr eine gemeinsame Bahnfahrt mit dem damaligen britischen Innen-, künftigen Premierminister Lord Palmerston arrangiert, mit dem sie ein langes Gespräch führt, bei dem sie — wenn man ihr glauben darf — aus ihren damaligen revolutionären Überzeugungen keinen Hehl machte und ihn — der ihr offenbar nicht widersprach — mit Ironie als einen jener Staatsmänner in Erinnerung behielt, »deren Gewissen den Figuren aus Kautschuk gleicht, die nach dem jeweiligen Druck irgend eine beliebige Form annehmen, und, nachdem der Druck aufhört, in ihre frühere Form zurückspringen« (I 296f.). Eine Tragik mag man darin erkennen, dass ihr »ein beständiger Wirbel von Gesellschaften, Mittagessen, Besuchen usw.« oftmals »viel zu viel« wird und sie sich dann »nach Stille und Konzentration« sehnt. Darin besteht eine der Spannungen, doch zugleich ein Reichtum ihres Lebens.

Spannungen, Lösungen, lebenslange Lernprozesse.

Überhaupt all diese Spannungen, die diesem Leben seine innere Dramatik geben: zwischen dem Drang zur Freiheit von der Familie und doch liebevoller Anhänglichkeit an sie; zwischen ihrer noch später mitunter durchbrechenden revolutionären Leidenschaft und ihrem aristokratischen Grundgefühl, ihrer Hochschätzung einer Aristokratie der Kultur und des Geistes; zwischen ihrer Abscheu vor der Kirche und ihrem lebenslangen tiefen spirituellen Bedürfnis; zwischen ihrem Drang ins romanische Ausland noch zu einer Zeit, als sie längst gefahrlos nach Deutschland hätte heimkehren können, und ihrer lebenslangen Verbundenheit mit deutscher Kultur — fühlte sie sich wirklich als »Kosmopolitin« zwischen Idealismus und Naturalismus — das lohnt gerade heute eine intensive Betrachtung; zwischen ewiger Unruhe und tiefer Gelassenheit, ja Seligkeit; und, ganz besonders bewegend: zwischen dem »brennenden Durst nach dem Freitod« (Rolland)40 und einem zähen Lebenswillen.

In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1892, schreibt die 75-Jährige an Romain Rolland, »hatte ich eine seltsame Empfindung (sensation). Ich erwachte um Mitternacht mit einem derart übernatürlichen Glücksgefühl, wie ich etwas Ähnliches in meinem ganzen Leben nicht gehabt hatte … Und sofort dachte ich an den Tod und fragte mich: Ist das so? Und da erschaute ich eine große Klarheit und fühlte mich über alle Beschreibung glücklich.«41 Es ist das Nirwana des Buddhismus, so wie Malwida es von Schopenhauer gelernt hat: nicht etwa das »Nichts«, wie viele noch heute glauben, sondern die Erlösung vom Leiden, das höchste Glück.42 Und solches Glück strahlt sie auch auf andere aus. Fürst Rudolf von Liechtenstein, der nicht nur eine hohe Stellung am Wiener Hof einnahm, sondern auch Texte von Heinrich Heine und Walther von der Vogelweide vertonte und Richard Wagner verehrte, begeistert sich 1876 in einem Brief an Cosima Wagner über Malwida: »Sie gehört zu jenen starken und vollen Menschennaturen, die alles in sich aufnehmen können, um es versöhnlich weiterzugeben. Ihr Umgang würde mich beständig in einer weichen, sanften, edlen Stimmung erhalten, sie würde die Todessehnsucht, die ich in mir trage, zu träumerischer Wonne ausbilden …«43

In der »Fröhlichen Wissenschaft« beklagt Nietzsche: »Bislang hat alles das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte. Oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit?«44 Heute ist die Geschichte der Emotionen zu einem neuen Trend der Geschichtswissenschaft geworden. Kein Zweifel: Für eine derartige Geschichte ist die gefühlsstarke Malwida mit ihrer oftmaligen Offenherzigkeit, doch auch ihrer Selbstreflexion ein ungemein dankbares Thema. Sie mag auch bei manchem Leser Reflexionen anstoßen, die zur Klärung eigener, mitunter verwirrender emotionaler Untergründe beitragen.

Von Malwida kann man lernen, was lebenslanges Lernen heißt.45 Mag sie auch in früheren Jahren mitunter rigide doktrinär wirken — darüber kommt sie hinaus —, erst dadurch wird die phänomenale Vielfalt ihrer Freundschaften möglich. Als Autodidaktin, die nie eine Schule besucht hat und immer wieder den Mangel an früher Bildung beklagt, ist sie dahin gelangt, vier Fremdsprachen zu beherrschen: Französisch, Englisch, Russisch und Italienisch. Und als sie sich in Rom für einen jungen Bischof der syrischen Maroniten begeistert, hätte sie am liebsten noch Arabisch gelernt!46 All das begleitet von ihrer lebenslangen Sorge um ihre Augen, die sie doch nicht davon abhält, unendlich viel zu lesen und zu schreiben. Auch im Leben mit der Angst kann man von ihr lernen, und im Leben mit inneren Spannungen und in der Lebenskunst, Widersprüchliches in Einklang zu bringen oder einfach nebeneinander bestehen zu lassen.

Noch mit 34 Jahren, vor ihrem Exil, verübelt sie es ihrer bis dahin besten Freundin Elisabeth Althaus (der »Kleinen« ihrer Memoiren), dass sie einen von ihr selbst nicht geschätzten — obwohl »bedeutenden« — Mann heiratet; »seitdem sind wir geschieden«.47 Ein unglaublich achtloser Umgang mit einer Freundschaft, vergleicht man ihr späteres Verhalten! Ihre Mutterliebe zu Olga Herzen hat in früherer Zeit oftmals etwas Vereinnahmendes. Hätte sie darin nicht dazugelernt, hätte die liebevolle Beziehung zwischen beiden schwerlich Olgas Heirat mit Gabriel Monod (1873) — für Malwida erst einmal ein tiefer Schmerz! — überdauert und bis zu ihrem Tod fortbestanden. Schon gar ihre tiefe Liebe zu Romain Rolland über alle Konflikte hinweg setzt einen langen Lernprozess der Liebe voraus. Liebe unter Wahrung voller Freiheit beiderseits wird die Grundlage ihres Experimentes mit einer neuen Form des Zusammenlebens mit Nietzsche und seinen Freunden Albert Brenner und Paul Rée im Winter 1876 in Sorrent. Zu ihrem Kummer ist diese Gemeinschaft nicht von Dauer.

In diesem Zusammenhang sollte man, wie schon erwähnt, einen Lernprozess nicht vergessen: Die in ihrer früheren Zeit recht humorlos wirkende Malwida lernt sogar Humor! Ohne diesen hätte ihre Freundschaft mit dem in Hochstimmung oft zu Späßen aufgelegten Richard Wagner schwerlich lange bestehen können. Den brauchte sie auch für ihre enge Beziehung zu Wagners Sohn Siegfried. An Cosima Wagner schreibt sie 1897 in einer Zeit der Krankheit, ihrem letzten Brief an Siegfried werde sie, Cosima, wohl entnommen haben, »dass mein Humor noch nicht unter den allerlei mir auferlegten Entbehrungen gelitten hat«.48 Und noch später über ihre Beziehung zu Siegfried: »Mit niemand spreche ich so viel Unsinn wie mit ihm«, und das sei ein gutes Zeichen, »denn es ist die heitere Blüte des Humors, die auf dem dunklen Grund des Lebens schließlich siegend über das Vergängliche emporsteigt«.49 Auf eine scharfe Grenze stößt ihr Humor allerdings zeitlebens, wo sie ihre Idealwelt frivol verhöhnt sah, so bei Jacques Offenbach, dem größten Wagner-Gegner, der in seinen Operetten antike Mythen verulkte. Der Leser zuckt zusammen, wenn er auf die Passage in einem Brief Malwidas an Olga Monod-Herzen stößt, wo sie schnaubt: Damit das Theater »die edelste Erziehungsanstalt der Menschheit« würde — damals ihr höchstes Ideal —, müsste man »freilich erst Offenbach und Konsorten an den Galgen hängen«.50

»Idealismus«: vom Wirrwarr zur Lebensphilosophie.

Um mit den Lernprozessen fortzufahren: Besondere Beachtung verdienen Lernprozesse bei ihrem Idealismus. Dieser soll eingehender betrachtet werden, schon um Malwida beim Wort zu nehmen; doch nicht nur deshalb. Malwida hat es bis zur Verzweiflung erlebt, wie das Streben nach einem realitätsfernen Ideal zu ewiger Unruhe und immer neuen Enttäuschungen führt. Ihr Weg zu einem Idealismus tiefer Gelassenheit, ja der Seligkeit ist wohl derjenige Prozess, der die meiste Anteilnahme verdient und auch heute neue Aktualität erlangen könnte.

Zum Thema »Idealismus« fehlt es nicht an Literatur; und doch: Je länger man darin herumliest, desto mehr überkommt einen das Unbehagen, in einem Wirrwarr zu landen — und dies ausgerechnet bei philosophischer Literatur! Die große Zeit der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel gilt vielfach als Epoche des Idealismus, doch diese Philosophen bezeichneten sich selbst gar nicht als Idealisten; sie handelten von Ideen, nicht von Idealen. Friedrich Albert Lange schreibt in seiner »Geschichte des Materialismus«, die zuerst drei Jahre vor den »Memoiren einer Idealistin« erschien und noch den jungen Max Weber beeindruckte, der »gewöhnliche Idealismus« stehe zu dem »transzendentalen« Idealismus Kants — aber was heißt hier »transzendental«?51 — »in schärfstem Gegensatz«. Sobald der »gewöhnliche Idealist« »über die Welt der reinen Dinge etwas lehren oder gar diese Erkenntnis an die Stelle der Erfahrungswissenschaften setzen will, kann er keinen unversöhnlicheren Gegner haben als Kant«.52 Überdies begegnet »Idealismus« bei Kant in diversen Bedeutungen. »Idealismus« war bei den philosophischen Klassikern weder ein großes Thema noch ein durchweg klarer Begriff. Frederick C. Beiser, der britische Historiker des deutschen Idealismus, weist darauf hin, dass Kant einen jahrzehntelangen Kampf gegen den Idealismus führte und es schon seit den 1760er Jahren für einen angehenden Professor »Ehrensache« gewesen sei, »den Idealismus zurückzuweisen«.53

Immer wieder heißt es, der Idealismus gehe letztlich auf Platon zurück, von dem der Begriff der »Idee« stammt. In seinem berühmten Höhlengleichnis findet man die Vorstellung, das von den Sinnen Wahrgenommene sei lediglich ein Abglanz höherer Ideen, die man erkenne, wenn man aus der Höhle zum Licht erhoben werde. Bei solchen Ideen mag man untergründig die Bedeutung »Ideal« erkennen, doch insgesamt bleiben die platonischen Ideen diffus und münden in keine Philosophie des Idealismus. Und wenn man kantianisch davon ausgeht, dass unsere Wahrnehmung von unseren Ideen bestimmt wird und die Wirklichkeit demgegenüber ein »Ding an sich« bleibt54, so ist das — wenn überhaupt — ein erkenntnistheoretischer, kein ethischer Idealismus. Und Hegel: In seiner »Phänomenologie des Geistes« kommt »Idealismus« nur ganz sporadisch vor, ebenfalls eher erkenntnistheoretisch; den »theoretischen und praktischen Idealismus« ordnet er der »reinen Einsicht« unter.55

Populärer wird der Idealismusbegriff seit den 1840er Jahren, und zwar im sogenannten »Materialismusstreit« als abschätzige Fremdbezeichnung ihrer konservativen Gegner durch die Materialisten. Ebendies ist die Situation, mit der Malwida konfrontiert ist, als ihre politischen und weltanschaulichen Überzeugungen Gestalt annehmen. Das muss man zu ihrem Verständnis stets im Auge behalten. »Ideen« und »Ideale« hatten um 1848 bereits etwas Abgenutztes. Selbst der Historiker Veit Valentin, Emigrant von 1933, schreibt in seiner großen Geschichte der Revolution von 1848, für die er voller Sympathie ist, ironisch über damalige »Ideen«: »Ohne Ideen ging es in dem ideell so überfütterten Vaterlande nicht ab«; selbst die Witzblätter mokierten sich über damalige hochtönende Ideale.56

Von daher wird verständlich, dass Malwida mit der Selbstbezeichnung als Idealistin zunächst zögert und vorerst statt von »Ideal« von »Prinzip« spricht. Ende 1849 bezeichnet sie Johanna Kinkel gegenüber die »Verbreitung unseres Princips« als »höchsten einzigen Lebenszweck«.57 Im März 1851, noch in Hamburg, spricht sie zu der bereits im Londoner Exil lebenden Johanna Kinkel von »uns Prinzipmenschen« und bezeichnet sich zugleich als »freiheitathmenden Vogel«.58 Und im September jenes Jahres, wieder an Johanna Kinkel: »Ach überhaupt liebe Freundin, täglich mehr seh ich es ein, wie ich noch immer zu sehr Idealistin bin, wie ich noch immer nicht genug den Pful (sic) des Elends und der Verworfenheit begreife in dem das faule Leben der Gesellschaft steckt und dass mein Hass noch lange nicht genug sich genährt hat an der Ungerechtigkeit.«59

Idealismus begegnet hier noch als Illusionismus, als Projektion eigener Ideale auf die Realität. Umso stärker erkennt man das Ungewöhnliche, ja Überraschende, wenn sich Malwida in der Folge selbst der Öffentlichkeit als »Idealistin« präsentiert: »Idealist« nicht als abfällige Bezeichnung von »Materialisten« für meist konservative Widersacher, sondern als Selbstbezeichnung einer Frau, die aus ihrer Verbundenheit mit Revolutionären keinen Hehl macht! Ihren Idealismus von Illusionen zu befreien, mit Materialismus, Realismus zu unterfüttern, darin kann man ein lebenslanges Streben dieser Frau erkennen.

Und vor dem Hintergrund des dargestellten philosophischen Wirrwarrs wird zugleich deutlich, so merkwürdig es zunächst erscheinen mag, dass bei Malwida der Idealismus eine Klarheit gewinnt, die er bis dahin nicht besaß, und dass sie eine bis dahin nur unterschwellige Tendenz der philosophischen Ideenlehre offenlegt. Nicht zuletzt daraus erklärt sich der starke Eindruck der »Memoiren einer Idealistin«. Gewiss führt die Suche nach einem konsistenten theoretischen System bei Malwida in eine Sackgasse. Ihr Idealismus ist vielmehr Lebensphilosophie, Lebenshilfe, Ansporn zur Aktivität und zur Überwindung seelischer Tiefpunkte, des Gefühls der Sinnlosigkeit des Daseins.

Weil dieser Idealismus dem Leben und Erleben entspringt, trägt er in wechselnden Stimmungen unterschiedliche Akzente und entwickelt eine eigene Dynamik. Worin ihr Ideal besteht, scheint aus ihrer Sicht oftmals keine Definition zu benötigen, wohl in der Annahme, dass es von allen Idealisten verstanden werde: das Gute, Schöne, Edle, Gerechte, Freiheitliche — nicht unbedingt das Selbstlose. Auch »Individualität« wird neben dem Ideal für sie zum Zauberwort, doch auch das Aufgehen des eigenen Ichs im All-Einen eine Form der Erlösung. Für Malwidas Leben ist dies von ganz besonderer Bedeutung: Da der Idealismus in vielen Menschen angelegt ist, stiftet er Gemeinschaft, Freundschaft, tiefes Verstehen.

»Altes Deutschland« — anderes Deutschland.

Zu den wohl bedeutendsten deutschen Historikern, die sich mit dem populären — nicht philosophischen — Idealismus befasst haben, gehören der 1933 kaum 31-jährig verstorbene und von Hans-Ulrich Wehler neu entdeckte Eckart Kehr und der nach 1933 in die USA emigrierte Hajo Holborn. Kehr behauptet, der Idealismus sei »die Weltanschauung der preußischen Ministerialbürokratie, die im Kampf lag mit dem Adel um die Beherrschung der staatlichen Maschine«.60 Holborn setzt andere Akzente: Der Idealismus habe »das gesamte Naturrecht verworfen« und auf solche Weise wesentlich zum deutschen Sonderweg, zur geistigen Abspaltung vom Westen beigetragen: »Der deutsche Idealismus verwarf in der nachkantischen Zeit nicht nur das demokratische Naturrecht der Französischen Revolution, sondern auch etwaige gemäßigtere Verfassungsvorschläge englischer Prägung.«61 »Die Staatslehre des deutschen Idealismus, die der Macht so große Bedeutung im Staats- und Völkerleben zuwies, hat die inneren Klassenspaltungen des deutschen Volkes nicht überwunden, sondern im Gegenteil ihnen eine scharfe ideologische Starrheit gegeben.«62

Wer sich mit dem Idealismus Malwidas befasst, auf den wirken beide Bestimmungen der historischen Rolle von Idealismus ganz und gar absurd: Weder vertrat diese lebenslange Emigrantin Sichtweisen der preußischen Ministerialbürokratie, Interessen der Staatsmacht, noch war sie Gegnerin des Naturrechts, der Demokratie, der Revolution. Alles ganz im Gegenteil! Gewiss, den von Kehr und Holborn dargestellten Idealismus hat es gegeben, doch Malwida ist der beste Beweis für die Existenz auch eines sehr anderen Idealismus, und die Resonanz auf ihre Memoiren ebenso wie die Vielfalt ihrer Beziehungen dokumentieren, dass dieser Idealismus nicht lediglich ihre individuelle Eigenart war.

Für Carl Schurz wie für Romain Rolland verkörperte sie nicht nur ein altes, sondern auch ein anderes Deutschland. Das bislang womöglich größte Desiderat der Geschichtsforschung ist die »kontrafaktische« Historie, die sich potentiellen Alternativen zum realhistorischen Gang der Dinge zuwendet. Darin mag man den größten Gewinn einer Geschichte dieser Frau erkennen. Sie ist der beste Beweis dafür, dass nicht jeglicher deutsche Idealismus zum »Geist von 1914« führte, nicht jegliche Faszination durch »Helden« zur Kriegsbegeisterung, nicht jede Begeisterung für Richard Wagner und seine Musik zu deutschem Chauvinismus und Rassismus.

Zu den letzten Bekanntschaften Malwidas gehört 1901 die Begegnung mit der 33 Jahre jüngeren visionären63 schwedischen Reformpädagogin Ellen Key, deren zur Jahrhundertwende erschienenes »Jahrhundert des Kindes« weltweit zu einem Jahrhundertbuch werden sollte und die von Malwida tief beeindruckt ist und über sie prompt einen Artikel publiziert.64 In einem Brief an Gabriel Monod bezeichnet sie Malwida als »una sacerdotissa«, »die Priesterin eines Kultes, der von den Menschen noch nicht gut verstanden ist«, also als eine Frau, deren volle Bedeutung erst in Zukunft erkannt werden wird.65 Und 1916, mitten im Krieg, schreibt sie an Romain Rolland: »Ich habe das Glück gehabt, 1901 in Rom Malwida von Meysenbug kennen zu lernen. … Oh! Welch eine Gabe Gottes — unseres Gottes, Malwidas Gottes —, eine Seele zu haben, die anders beschaffen ist als die der Chauvinisten.«66

1

Konfirmation, Revolution, Liebe — und frühe Enttäuschungen: spirituell, politisch, erotisch

Die hugenottische Herkunft: bloßer »Atavismus«?

Malwida wurde am 28. Oktober 1816 in Kassel bürgerlich als Rivalier geboren, als neuntes von zwölf Kindern; zur von Meysenbug wurde sie erst 1825, als ihr Vater als kurhessischer Minister in den Adelsstand erhoben wurde. Wie schon ihr französischer Geburtsname anzeigt, stammte sie väterlicherseits von Hugenotten ab: jenen französischen Protestanten, die seit ihrer Verfolgung unter Ludwig XIV. ins protestantische Ausland geflohen waren. Diese Tradition wirkte in Malwidas Familie nach, wie sie sich noch als 83-Jährige in einem Brief an Monod erinnert: Ihr Vater erfuhr seine erste Erziehung auf einer französischen Schule, sprach und schrieb perfekt Französisch.1

Und da stoßen wir auf ein erstes Rätsel im Leben dieser Frau: Während deutsche Hugenottenabkömmlinge — von Fontane bis hin zu Max Weber2 — diese ihre Abkunft mit Stolz hervorzuheben pflegten, da den Hugenotten — mitunter sogar in übertriebenem Maße3 — große Verdienste um den geistigen und wirtschaftlich-technischen Fortschritt im protestantischen Deutschland zugeschrieben wurden, ist Malwida ihre Herkunft fast nie der Erwähnung wert; ein umso auffälligeres Schweigen, als auch sie selbst in gewissem Sinne zum Glaubensflüchtling wurde. Zudem könnte man meinen, dass sie gerade in älteren Lebensjahren diese ihre Abstammung als Ursprung einer Prädestination als bedeutungsvoll hätte begreifen können — bereits in ihrer Freundschaft mit Gabriel Monod, dem Gatten ihrer heiß geliebten Olga, schon gar jedoch in ihrer geistigen Liebesbeziehung zu Romain Rolland, in gewissem Sinne die höchste Vollendung ihrer vielen Freundschaften.

Rolland selbst hielt diese Herkunft denn auch — so in seinem »Dankgesang« auf Malwida — für hoch bedeutsam: »den französischen Ursprung, der unauslöschlich bleibt! Harmonische Verschmelzung der lateinischen Klarheit, die durch das Geäst des germanischen Waldes sickert.«4 Doch seltsam: Im Sachregister zu dem riesigen Briefwechsel zwischen Rolland und Malwida findet sich bei »Rivalier« kein einziger und bei »huguenot« nur ein vereinzelter nicht auf Malwida bezogener Treffer. Monod gibt in seinem Vorwort zur französischen Ausgabe ihrer französisch-hugenottischen Herkunft höchste Bedeutung für ihr gesamtes Wesen und glaubt diese überall zu erkennen, von der »klaren (limpiden) Einfachheit ihres Stils« bis hin zu ihrem »demokratischen Instinkt«.5 Doch die Art, wie Malwida ihm zustimmt — ohne dies weiter zu erläutern —, ist geradezu komisch: »Auch ich spüre manchmal ein wenig hugenottischen Atavismus in mir.«6 Atavismus, also Wiederkehr von Merkmalen weit zurückliegender Ahnen, gewöhnlich eher abschätzig als ein Rückfall in primitive Urzeiten!

Wie mag man das erklären? Sie muss wohl bei diesen Glaubensflüchtlingen jene religiöse Orthodoxie — nur eben protestantisch — gespürt haben, die sie verabscheute. Später scheint der Katholizismus — nicht als Dogmatik, sondern als religiöse Volkskultur des Südens — auf sie einen weitaus höheren Reiz ausgeübt zu haben als der Protestantismus, der sie offenbar emotional kaltließ. Ihrer großen Liebe Theodor Althaus, immerhin angehender protestantischer Geistlicher, ging es ganz ähnlich; sein Bruder Friedrich erläutert dies aus dessen »Zukunft des Christentums«, und das mag auch Malwidas Einstellung verständlicher machen: »Das von Christus gepredigte Gottesreich nahm im Protestantismus eine noch jenseitigere Gestalt an als in der katholischen Kirche, und während diese ihre rebellische Tochter an werktätiger Liebe weit übertraf, schmiedeten die protestantischen Theologen zugleich der Freiheit neue Fesseln.«7

Es gab neben jenem orthodoxen Protestantismus, den man als langweilig und gefühlskalt empfinden konnte, noch eine ganz andere, wärmere Richtung: den Pietismus. Doch die Pietisten, einst religiöse Nonkonformisten und als solche oftmals diskriminiert, hatten sich im frühen 19. Jahrhundert, nunmehr von oben gefördert, vielfach zu Scharfmachern der Reaktion gewandelt,8 gerade auch in Lippe. Ihnen galt daher Malwidas besonderer Hass — sie konnten am allerwenigsten ihr spirituelles Bedürfnis befriedigen. Vermutlich machte es sie erst recht wütend, dass ausgerechnet die Pietisten, wie der mit Malwida befreundete Carl Volckhausen klagte,9 mit ihren Konventikeln in Lippe am meisten von der neuen Vereinsfreiheit profitierten! Sie waren dort der populäre Flügel der Konterrevolutionäre, die eine »tobende Menge« dazu brachten, einen Freiheitsbaum umzuhauen und die neue schwarz-rot-goldene Fahne mit Füßen zu treten.10

Liebe und »Tyrannei«: Zwiespältige Familienerinnerungen.

Für Malwidas erste dreißig Lebensjahre muss sich der heutige Biograf ganz überwiegend auf ihre Memoiren und auf Jugenderinnerungen in späteren Briefen stützen. Das ändert sich erst ab 1846 mit langen Briefen Theodors an sie, mehr noch ab 1849 mit ihren Briefen an Johanna Kinkel und ab 1850 mit ihren Briefen — zunächst aus Hamburg, dann aus London — an ihre Mutter, wie überhaupt seit jener Zeit ihre erhaltene Korrespondenz immer uferloser wird. Für ihre jungen Jahre jedoch wird es erst einmal zu einem großen Rätsel: Aus welchen Erfahrungen heraus wurde sie zur Rebellin, zur Revolutionärin, ja zeitweise zur erklärten »Fanatikerin«, die nicht zuletzt gegen Familienbindungen aufbegehrte?

Lag es an Theodor? In ihren Memoiren behauptet sie, durch ihre Liebe zu Theodor und seinen revolutionären Überzeugungen sei ihre Stellung im Elternhause »täglich unerträglicher« geworden: »Die Meinigen, trotzdem sie gut und edel waren, waren fast grausam gegen mich … Es war die Tyrannei der Familie, die sich in diesem Fall noch auf den bedauernswerten Grundsatz stützte, dass die Frau nicht für sich selbst denken, sondern auf dem Platz, den ihr das Schicksal angewiesen hat, bleiben soll, einerlei ob ihre Individualität dabei untergeht oder nicht.« (I 165) Dass die Familie zur »Tyrannei« wird, »sobald sie zum Tod der Individualität führt«, diese Klage kehrt bei ihr immer wieder. Und doch erfuhr sie »in ihrem Streben nach Unabhängigkeit von der Mutter Unterstützung« (Ann Taylor Allen).11 Gleichwohl geht sie in der Folge ins Ausland, um nie wieder zu ihrer Familie heimzukehren!

Später versichert sie Gabriel Monod, sie habe ihre Memoiren nicht etwa veröffentlicht, um junge Mädchen zu veranlassen, ihrem »Beispiel zu folgen«, also ebenfalls ins Exil zu gehen. »Wenn sie diesen Eindruck hervorriefen, wäre ich sehr traurig. Sondern mein Ziel war: Toleranz, Achtung vor selbständigen Überzeugungen zu predigen und die Familien abzuhalten, jene Tyrannei auszuüben, die zu solchen außergewöhnlichen Schritten zwingt.«12 Doch wo hatte sie eine derartige Tyrannei erlebt, besser gefragt: Was hatte sie als Tyrannei empfunden?

Man kann an dieser Stelle von 1848 nach 1968 springen und an Jürgen Habermas erinnern, der — obwohl der philosophische Star vieler Achtundsechziger — doch die unter diesen verbreitete Klage über das vermeintliche Leiden an familiären »autoritären Strukturen« zurückweist: »Die aktiven Studenten haben eher Eltern, die ihre kritischen Einstellungen teilen, sie sind relativ oft mit mehr psychologischem Verständnis und nach liberaleren Erziehungsgrundsätzen aufgewachsen als die nicht aktiven Vergleichsgruppen.«13 Etwas Ähnliches gilt mehr oder weniger auch für Malwida: Nicht nur Auflehnung gegen das Elternhaus, sondern auch Prägung durch ihre Familie haben ihr Leben mitbestimmt. Sie ist in einer reizvollen, geistig anregenden aristokratischen Welt aufgewachsen, frei von steifer Förmlichkeit; und nicht zuletzt daraus wird sich ihre stete Sehnsucht nach »edlen« Welten erklären. Alexander Herzen stolpert sogar bei der Lektüre der französischen Erstfassung ihrer Memoiren über ihre »Vergötterung der Familie«, die doch eine historisch überholte Einrichtung sei!14

Malwida als junges Mädchen

Ein Gedicht, das die 84-jährige Malwida im November 1900 auf dem Monte Pincio in Rom verfasst, beginnt: »Heiter stieg mein Lebensmorgen herauf / In theurer Eltern Liebe heil’ger Hut …«15 Da ist es »des Wissens Trieb«, die Sehnsucht nach starken geistigen Erlebnissen, was sie aus dem Elternhaus in die Ferne zog. »Mich aber zog’s im Grund der Geschichte / Der Verhängnisse Rätsel erforschen, / Die geliebten Heroengestalten / Vor mir auferstehen sehn wie in Wahrheit.« Nicht so sehr ein Leiden unter einer »Tyrannei der Familie«, sondern mehr noch ein Streben nach Lust, eine Neugier, eine Sehnsucht nach vollem Leben und einer Vielfalt geistig-menschlicher Kontakte müssen ihr weiteres Leben geleitet haben. Die 26-Jährige schreibt an einen Bruder, ihre Familie idealisierend und zugleich bedauernd: »O warum kann denn gerade unsere Familie, in der so viele Elemente des Guten und Schönen vorhanden sind, nicht das Glück genießen, das aus der Vereinigung edler Menschen entspringt.«16

Noch als sich Malwida politisch und intellektuell von ihrem Vater, der das alte Regime verkörperte, »für immer« getrennt hat, liebt sie ihn, wie sie noch in ihren Memoiren überschwänglich bekennt (I 128), »immer gleich, mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit«. Er stirbt 1847; man kann sich vorstellen, wie Malwidas revolutionäre Begeisterung fortan freie Bahn bekommt. Dieser Vater Carl Philipp war bis zum Verbot der Freimaurerei in Kurhessen 1824 hochrangiges Mitglied der Kasseler Freimaurerloge »Wilhelm zur Standhaftigkeit« gewesen. »Er war ja Freimaurer u. auch darüber habe ich ihn oft befragt«, schreibt sie 1900 an einen Neffen.17 Von einem Zwang zum Kirchgang ist in Malwidas Jugend keine Rede. Als sie den Vater fragt, »was er über die Gottheit Christi und die Bibel als Offenbarung dächte«, erwiderte er, »dass Christus ihm mehr als Ideal menschlicher Vollkommenheit denn als Gottessohn nahe sei« (I 132). Ebendies bestimmte in der Folge auch Malwidas Stellung zu Christus. Ihre Abkehr von der Kirche bedeutete keine Auflehnung gegen ihr Elternhaus.

Um 1855 schreibt sie aus Richmond an ihre Mutter: »Du erinnerst Dich vielleicht noch, dass Ihr mich in alten Zeiten scherzhaft die Versöhnung nanntet weil ich so ein friedliebendes Herz hatte.«18 Später in Rom berichtet sie von ihrer »Freude«, dass »alle Mitglieder meiner Familie sich mit mir wieder versöhnt und sich mir liebend zugewendet hatten, nachdem ihnen die Überzeugung geworden war, dass ich nie bloß phantastischen Impulsen gefolgt wäre, sondern einer Idee gedient hätte, die, wenn sie auch nicht die ihre war, vor keinem Richterstuhl der Erde verurteilt werden konnte.« (II 211f.)19

Während andere junge Deutsche die Freiheitskämpfer gegen Napoleon verehrten, ist in Malwidas Elternhaus Napoleons Bruder Jérôme, der als König von Westfalen in Kassel residierte und den Spitznamen »König Lustik« bekam — »Heute wieder lustik!«, soll er jeden Tag eröffnet haben —, in schönster Erinnerung, wogegen viele Bürger unter der französischen Herrschaft litten.20 Um Malwida selbst zu zitieren: »Der junge König schuf ein kleines Paris auf deutscher Erde. … Wie begierig lauschte ich den Beschreibungen der glänzenden Feste und der schönen, reizenden Frauen, die mit ihren Familien aus Frankreich gekommen waren, um durch ihre Grazie den Hof des galanten Königs zu schmücken! … Wie ein Traum war all das Prächtige verflogen.« (I 3f.) Auch die dort erkennbare Sehnsucht nach großer Welt wird bei Malwidas Weg in die Ferne mit im Spiel gewesen sein.

Für ihre Mutter Ernestine war Malwida schon früh ein Sorgenkind, geistig wie gesundheitlich21. Über die Zwölfjährige schrieb sie an deren neun Jahre älteren Bruder Carl: »Du glaubst nicht wie sich dieses Kind geistig auf eine merkwürdige Art entwickelt hat, oft ist mir dabei ängstlich zu Muth.«22 Sie erläutert die »merkwürdige Art« nicht, geht nicht mit Strenge dagegen an. Schon früher hatte sie an Carl geschrieben, dass sie mit dem Hauslehrer Lobe — der Malwida immerhin in die deutsche Literatur und in Fremdsprachen einführte — »in einem großen Krieg« lebe, da er sich »seit einiger Zeit herausgenommen« habe, »die Kinder tüchtig zu prügeln«.23

Der Kunsthistoriker Werner Broer schreibt über diese »sehr belesene Mutter«, sie habe um sich »einen Kreis von modern denkenden, aufgeschlossenen Menschen« gesammelt, bei ihren Einladungen »freizügig die Grenzen der Konventionen« überschritten und einen Geist gepflegt, »der durch Namen wie die Humboldts, Rahel Varnhagen, Schleiermacher, die Schlegels bestimmt war«24 — sie verkörperte also bestens jenes gute alte Deutschland der Klassik und Romantik, als dessen Verkörperung später Malwida gerühmt wurde. An ihrer Mutter erlebte sie, wie auch in der höfischen Gesellschaft Eigenständigkeit möglich wurde. Noch in ihrer revolutionären Phase um 1848 und später, als sie nach Hamburg und dann nach London geht, bewahrt sie ihr liebevolles Verhältnis zu ihrer Mutter, die während der revolutionären Unruhen Ängste aussteht.25 Aus Hamburg schreibt sie ihr, sie sei ihr »zum tiefsten Dank verpflichtet«, dass sie aus »weiser Liebe« der »Notwendigkeit« nachgegeben habe, dass sie, die Tochter, zur Entfaltung ihrer »Natur« aus dem kleinen Detmold fortgehen müsse.26

Auch Malwidas Emigration nach England muss die Mutter ertragen. Aus der engen Mutterbeziehung heraus versteht es sich jedoch, dass Malwida — ihrer eigenen Aussage zufolge — sich durch die Verzweiflung der Mutter von der Auswanderung in die USA abhalten lässt. Gewiss herrschte im Verhältnis zur Mutter keine reine Harmonie. Wieder aus Hamburg erinnert sie die Mutter daran: »Ich hatte es zu oft erfahren, dass Ihr meinen Plänen misstrautet und das war natürlich, denn unsere Naturen sind verschieden.«27 Immer wieder die »Natur«, die menschliche Natur! Die Mutter versichert ihrerseits der bereits in London befindlichen Tochter, sie teile ihre Gesinnungen und Wünsche in vielem und rate ihr nur vom »öffentlichen Auftreten oder Einmischen« ab, da es »sich später oder früher immer an Frauen räche, ohne irgend einen Einsatz oder Erfolg jemals herbeizuführen«.28

1830 — 1834 — 1845: »Taufe« durch die Revolution, Konfirmation ohne Erlösung, doch Erleuchtung im Anblick der Gletscher.

Den ersten Anstoß zum politischen Denken — da kann man ihr glauben — gab Malwida die Revolution von 1830. Hier ist der Punkt, um auf ein kurhessisches Drama zu kommen, über das sich Malwida trotz der Betroffenheit ihrer Familie in ihren Memoiren eisern ausschweigt, da es ihren Vater ins Zwielicht rückte und ihrem Idealbild von ihrer Familie so krass wie nur möglich widersprach, das jedoch zum Verständnis der Kasseler Unruhen von 1830/31 unmöglich übergangen werden kann: die Affäre um die kurfürstliche Mätresse Emilie Ortlepp, die ihr fürstlicher Liebhaber nach seinem Regierungsantritt 1821 zur Gräfin von Reichenbach erhoben hatte.

Nun waren fürstliche Mätressen in der alten höfischen Gesellschaft gang und gäbe gewesen, ja wurden von manchen Untertanen gar erwartet; August der Starke von Sachsen hatte von diversen Mätressen angeblich über dreihundert uneheliche Kinder.29 Doch im 19. Jahrhundert begann die bürgerliche Moral zu dominieren. Überdies handelte es sich bei Emilie Ortlepp / Reichenbach um mehr als eine Mätresse alter Art. Sie war offenbar über Jahrzehnte die große Liebe des Kurfürsten Wilhelm II.