Theodor Heuss - Joachim Radkau - E-Book

Theodor Heuss E-Book

Joachim Radkau

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Beschreibung

Man nannte ihn „Papa“, doch Theodor Heuss war viel mehr als der biedere Hausvater der frühen Bundesrepublik. In die Geschichte ging er ein als der Mann, der in Deutschland nach dem Krieg Mut machte und Lebensfreude weckte. Dass er im Reichstag noch für Hitler gestimmt hatte, nahm ihm damals kaum jemand übel. In seiner großen Biographie präsentiert Joachim Radkau Heuss als facettenreiche Persönlichkeit: Schöngeist und Spötter, Politiker und Ökonom. Theodor Heuss verkörpert die Modernisierung Deutschlands von der Kaiserzeit bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik. Nun ist er als zentrale Figur der deutschen Geschichte zu entdecken – und zugleich öffnet sich ein neuer Blick auf die frühen Jahre der Bundesrepublik.

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Hanser E-Book

Joachim Radkau

Theodor Heuss

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24446-7

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2013

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von Theodor Heuss am Tag nach seiner Wiederwahl im Juli 1954 in Berlin (Foto © pbk/Hanns Hubmann)

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Die Hintergründigkeit der Heuss-Welt:

Erlebnisse bei einer Wiederbelebung

Heuss-Reize und Heuss-Rätsel: »Regulierte Taktlosigkeit« und »Theos Kleine Nachtmusik« - Wie gewinnen Bundespräsidenten im Kollektivgedächtnis Gestalt? - Wo ist in diesem Leben die Linie? - Charisma und Kairós - Zwischen Historisierung und Aktualisierung: Neue Sichtweisen in einer Geschichte der Möglichkeiten

1    Allotria im Bannkreis Friedrich Naumanns

Zeittafel - Selbstabgrenzung im Anblick einer Überfülle von Optionen: Die Modernität des Heuss’schen Dilemmas - »Mein rundes Bekenntnis zum ›Allotria‹« - Weder Vater-Sohn-Konflikt noch väterliches Vorbild – weder Achtundvierziger noch Bismarck-Deutscher - Konflikt zwischen den Vätern: Friedrich Naumann und Lujo Brentano - Heuss und die Heilbronner Weingärtner: zwischen allen Fronten - Latente Distanz zu Naumanns Flottenbegeisterung - Heuss und die haarsträubenden Naumann-Eskapaden - Naumanns Charisma und seine Schwachstellen: eine lebenslange Lehre für Heuss - Kreise ohne Klüngel - Mütterliche Freundinnen: Lulu, Lis, Lu – und dann Elly - Unschlüssigkeit und Leidenschaft - Selbstprofilierung als Gegenpart zu Elly - Wappnung gegen die nervöse Reizbarkeit der Zeit - Spaltung zwischen Kultur und Politik oder »Konkubinat von Romantik und Realismus«? Der Deutsche Werkbund als Synthese - Zeppelin statt Wagner – und statt »Titanic« - Wo ist die politische Leidenschaft? - Fehlende Feindbilder - »Es gibt in der Politik keine absoluten Wahrheiten, sondern fast nur Relationen« – Das Heuss’sche Vergnügen an der Politik - Eine lebenslange Liebe: Heuss und Wilhelm Busch

2    Kühl und korrekt durch den Krieg: Der Zivilist vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Zeittafel - Zwei Logiken zur Erklärung des Kriegsausbruchs - Ahnungslosigkeit als Bedingung des Kriegsausbruchs und das Beispiel Heuss - Ernst Jäckh und Paul Rohrbach oder: Der fragwürdige Nutzen von Insider-Kontakten - Heuss, die drei Akte der Fischer-Kontroverse und das Rätselraten um die Tagebücher Kurt Riezlers - Eine Verlockung zu Heuss’scher Selbstbespiegelung: Die doppelbödige Gestalt Bethmann Hollwegs - Der lächelnde Bülow als Proto-Heuss? - Die schwierige Sinngebung des Krieges als Chance für Literaten und Gelehrte: Heuss als Kriegspublizist und als Verächter der »Kriegsliteraten« - Im Gezänk der Kriegsliteraten: Heuss, Hesse und Hodler - In der Gefahr der Banalität, aber nicht aus der Ruhe zu bringen - Zwischen Entsetzen und Entdeckung ungeahnter Fähigkeiten: Elly Heuss-Knapp im Krieg - Gegen Kurt Hiller, den »Famulus des Geistes«: Irritation durch Friedensliteraten - Das größte und abgründigste literarische Kriegsereignis: Naumanns »Mitteleuropa« - Heuss’ Missmut gegenüber der Friedensresolution des Deutschen Reichstags - Heuss und Max Weber: Reale Begegnung und retrospektive Aneignung - Neue »Kreise« in Berlin und Heimkehr zum Werkbund: 1918 als Jahr des Neuanfangs

3    Auf Schlingerkurs, gelassenes Scheitern und geschärftes Profil: Heuss in der Weimarer Republik

Zeittafel - Abschied und doch kein Abschied vom Obrigkeitsstaat oder: Die vergebliche Suche nach der Heuss’schen Staatstheorie - Die Mehrdeutigkeit der Demokratie in der Weimarer Verfassung - »Kronprinz muss warten«, »nach Strich und Faden hereingelegt« und doch: Ein unverdrossener Fehlstarter - Ein Leitmotiv im Lavieren: Gegen die »ekelhafte Monopolisierung der Worte Vaterland und Nation« durch die Rechte! Der Kapp-Putsch als »Verbrechen gegen die Nation« - Von »Mitteleuropa« zum »Anschluss« - Zwischen völkischer Romantik und antichauvinistischer Taktik: Heuss’ Engagement für die Auslandsdeutschen und der »Flaggenstreit« - Eine Freundschaft von politischer Brisanz: Heuss und der Reichswehrminister Otto Gessler - Eine unüberwindliche Aversion: Heuss und der Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster - Völkerbund und Paneuropa-Union: Politische Luftschlösser? - Zonen des Schweigens in der Flut der Worte - Das Dilemma des Anstands in der Wirtschaft oder: Wie dachte Heuss über Inflation und Deflation? - Eine Lebensfreundschaft bei »ganz verschiedenen Temperamenten«: Heuss und Gustav Stolper - Warum wurde die DDP nicht zur Partei der Frauen – und warum ging Heuss nicht dabei voran? Und welche Rolle spielten dabei Elly Heuss-Knapp und Gertrud Bäumer? - Der größte Kampf in der 1920er Jahren: Heuss in vorderster Front für das Gesetz gegen »Schund und Schmutz« - Wo bleibt die Wiedervereinigung der Liberalen? Und warum stattdessen die »Deutsche Staatspartei«? - Heuss und Hindenburg - Ein Proto-Heuss: Willy Hellpach als demokratischer Gegenkandidat Hindenburgs und als politischer Prophet - Die Frage nach den Gründen des NS-Aufstiegs: Erneut zwei Logiken der historischen Kausalität - Eine gewisse Begabung zur Hellsicht gegenüber der NS-Gefahr - »Hitlers Weg« – wohin? - Ironie und historische Analogie im Blick auf die Adressaten von »Hitlers Weg« - Heuss’ Weg zum Ermächtigungsgesetz - Noch zwei historische Analogien: Wartburgfest und Hambacher Fest

4    Unter der NS-Diktatur: Kreativer Rückzug auf sich selbst

Zeittafel - »Das Leben ist ziemlich eingeschrumpft« - Heuss’ Kunst der Balance gewinnt Format - Erfahrung des »Dual State«: Fühler zum NS-Apparat - Heuss’sche Toleranzen und Toleranzgrenzen: Wilhelm Stapel, Paul Schmitthenner und Carl Schmitt - Zum Vergleich: Gertrud Bäumer und der Drang zum Dabeisein - »Den ganzen Kopf voll mit Reklame«: «Ellys große Zeit« als Krisenmanagerin - Vorneweg auch in der Erinnerungspolitik: Elly Heuss-Knapps »Ausblick vom Münsterturm« - Eine elsässische Konnexion mit einem verhinderten Proto-Hitler - Die Heussens und die Stolpers: Eine Freundschaft wird transatlantisch - Das andere Deutschland trifft die anderen USA - Die große Naumann-Biographie: die lange Abarbeitung am geistigen Vater - Konkurrierende Naumann-Erinnerungen: Noch einmal Heuss und Gertrud Bäumer - Im Mittelpunkt der imaginären Naumann-Gemeinde - Wiederbelebung von Werkbund-Erinnerungen: Das »Lebensbild« des Architekten Hans Poelzig - »Unheimlich nahe an die Naturwissenschaften heran«: Die Biographie des Meeresbiologen Anton Dohrn - An der Schwelle zur Ökologie - Heuss und Margret Boveri: Der Beginn einer gereizten Freundschaft - Lob des Mischwalds; Heuss und das Holz - Die Leidenschaft in den Naturwissenschaften: Heuss als Liebig-Biograph - Die Biographie des Bosch-Zünders und die Bestimmung eines deutschen Erfolgspfads in der Technik - Eine gefährliche Beziehung: Bosch, Goerdeler und Heuss - Rehabilitation der Bastelei gegenüber der Theorie in der Technik - Der kritische Punkt: Der Streik von 1913 und das »Bosch-Tempo« - Kriegsaussichten - Zuflucht zur Geschichte: Ein Wohlgefühl als »Allerweltshistoriker« - Ein neues Selbstgefühl als überlebender Zeitzeuge - Ein Fenster in NS-Abgründe: Die Berichte des Sohnes - »Schmale Wege«: Ein erster Versuch der Vergangenheitsbewältigung durch Elly - Das Problem der «anständigen Elemente« im NS-System und der Fall Martin Sandberger

5    Heuss’ historische Stunde: Schwächen verwandeln sich in Stärke

Zeittafel - Vom Rand ins Zentrum des Geschehens: Die schlagartige Expansion der Heuss-Welt und der Ansturm neuer Möglichkeiten - Wie kam es zum großen Sprung? Heuss, die Amerikaner und die Emigranten - Eine zeitgemäße Art von bürgerlicher Lebenskunst - Gegen das Vergessen, und doch: Die ewigen Reizthemen »Entnazifizierung« und Ermächtigungsgesetz; und noch einmal Kurt Hiller - Mitherausgeber der »Rhein-Neckar-Zeitung«: Eine Vorübung in Überparteilichkeit - »Leben wir noch?« Liberale Wiederbelebungsversuche und Heuss’sche Entkrampfungskünste - »Kein Entrinnen aus dem deutschen Gesamtschicksal?« Die Kluft zwischen Ost und West bricht auf – Heuss bricht mit Wilhelm Külz - Verleidung des Liberalismusbegriffs - Heuss’ persönliche Westorientierung: Scharfe »Weltluft« in den Hochalpen und die verworrene »deutsche Wirklichkeit« - 1948–1848: Vom historischen Allotria zur gezielten Geschichtspolitik - »Zünglein an der Waage« im Parlamentarischen Rat: Heuss und die Erfindung der Bundesrepublik Deutschland - 1. Gegen die Betonung des Provisorischen - 2. Für eine starke Bundeskompetenz - 3. Christliche Erziehung ohne konfessionelle Regelschule - 4. Gegen die schwarze Legende vom Proporzwahlrecht - 5. »Cave Canem«: Warnung vor dem Plebiszit – Abschied vom Mythos »Volk« - 6. »Es darf hier in diesem Hause keiner besiegt worden sein«: Konsensorientierter Debattierstil – Kontroverse mit Dolf Sternberger - »Aber wenn in der Welt kein Humor mehr vorhanden ist, dann lohnt sich die Welt nicht mehr.« Heuss und Carlo Schmid: Wilhelm-Busch- und Homer-Humor - Und wieder die Gereiztheit des Zivilisten gegen die Pazifisten - Auf dem Weg ins Präsidentenamt; Heuss und die Debatten über die Kompetenzen des künftigen Bundespräsidenten - Mysterium oder Banalität? Die Genese der Allianz Adenauer – Heuss - Ein Hauch von Charisma: Von »Wie soll ich Dich empfangen?« zu»Großer Gott, wir loben Dich« – und zum »Mut zur Liebe«

6    Entkrampfung der Deutschen – Veralltäglichung des Heuss’schen Charismas

Zeittafel 1950–1963

6.1 Hymnenschöpfer oder »Hüter der Verfassung«? Ein fehlerfreundlicher Bundespräsident auf der Suche nach dem Präsidentenprofil

Die Gefahr präsidialer Langeweile inmitten von Hektik, und: Die Präsidentenmacht als Funktion der Kanzlernerven - Junggesellenwirtschaft mit Bott: Bremsversuche gegenüber einer Bürokratisierung des Präsidialamtes - »Das Mögliche aus dem Amt herausholen«: Aber was? - Der Hymnenstreit, oder: Ein Ironiker verfällt in unfreiwillige Komik - Heuss, Hesse und Hebel, der »Homer aus dem Wiesental«: Eine verhaltene Romantik - Ein Versuch zum Einklang mit der SPD scheitert an Schumachers Schwabenspott - Trotz Koeppens »Treibhaus«: Die Unschlagbarkeit der Heuss’schen Popularität - Hüter der Verfassung, Kanzlermarionette oder zaudernder Zauberlehrling? Heuss’ Gang nach Karlsruhe und zurück - Heuss’ peinlichste politische Beziehungskrise: Der Bruch mit Dehler - »Was ist Qualität?« Der schwer zu fassende »Stil« und das erlösende Wort »Entkrampfung« - Auf vermintem Gelände, aber »mit Selbstironie und begrenzter Bosheit«: Der »geheime Bundeskultusminister« und die Grabenkämpfe um die Moderne in der Kunst - Mit Blick auf das Atomium: Verdrossen in Brüssel – Heuss in der Kontroverse um den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung von 1958 - Ein Kuss für den Kernspalter: Eine Männerliebe besonderer Art in der Ära der Atomeuphorie - Wissenschaftspolitik als Politik der Sparsamkeit - Als Architekt einer neudeutschen Walhalla: Neuerfindung der »großen Deutschen«

6.2 Heuss und Adenauer: Yin und Yang – Ein Stil des Understatement als Gegengewicht zur »Politik der Stärke«

Ein klassischer Kontrast, doch mit querschießenden Momenten - Ironie, Krisenstrategie und Ökologie à la Adenauer und Heuss - Der Fall Edgar Alexander: Ärger mit einer Adenauer-Apotheose, und zugleich ein Reizthema in der Beziehung zu Toni Stolper - »Kein Dreck ohne Jäckh«: Der »Weichensteller« wird zum Wolkenschieber - Ein weltläufiger Lehrmeister der politischen Ernüchterung: Moritz Julius Bonn - Verlockende Dritte-Welt-Perspektiven - Nasser, Hitler und die Makkabäer: Historische Assoziationen in der Suezkrise von 1956 - Außenpolitische Schwachstellen als Chance für den Bundespräsidenten: mit Reiserei, dabei nicht ohne Risiko - Die Streitfrage der alten Seilschaften im Auswärtigen Amt - Die Vereinigung mit der Saar: »von Heuss vollzogen«, doch unter Spaltung der FDP - Heuss’ Gelassenheit als Temperaturregler im Kalten Krieg - »Entkrampfung« auch in den Beziehungen zum Ostblock - Der 17. Juni 1953: »Tag der Deutschen Einheit« oder wilder Streik? - Von der »Entkrampfung« zur »Entspannung«? Die Kontroverse um Kennan zwischen Adenauer und Heuss - »Vertriebene« in Anführungszeichen; ökologische Umfunktionierung der »Heimat« - Koketterie mit dem »Anti-Adenauer-Komplex«: Heuss, Margret Boveri und der Fall Otto John - Ein erstes Göttinger Manifest gegen einen »deutschen McCarthy«: Heuss, Toni Stolper und das Anti-Schlüter-Netzwerk

6.3 Die große Liebe, der doppelte Krach und die unvermeidliche Banalisierung

Mai 1955: »Im Jubel des Blütenregens« - Liebe, Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung - Und die Männerliebe? - Gesellschaftsgeschichte des Präsidentenkörpers: Ein Pendeln zwischen Wirtschaftswunderbürger und »grazilem Intellektuellen« - »Im Briefeschreiben der Genusssucht frönender Routinier«: In der »Produktivität des Behagens« - Dokumente der Bedeutung oder der Bedeutungslosigkeit? Zwiespältige Reaktionen auf die »Tagebuchbriefe« - Heuss als Testfall für Grenzfragen des Politischen - Von der Freundin aus New York: Internationales Insider-Wissen in die »deutsche Klause« des Präsidenten - »Mut zur Liebe« ganz persönlich – doch auch Grauzonen der Lieblosigkeit - Heuss als »gefundenes Fressen« für Adenauer und: »Papa Heuss« als politischer Vatermörder - »Bemerkungen zur Bundespräsidenten-Frage«: Heuss als Mentor der Staatsräson - Schwankende Kurse an der »Bundespräsidenten-Börse« - Zwei konträre Kräche - Missverständnis und Bekenntnis zur »Metapolitik« - Wer ist schon für den Atomtod? Heuss gegen die »Pharisäer« - »Christlich eingekleidete Demagogie« kontra »Hohe Schule für Berufsverbrecher« - Hinter Niemöller die »rabiaten Barthianer« - Das Dilemma der Kontroverse um die Atomwaffen - Die Zweideutigkeit des »Nun siegt mal schön«; Heuss als Netzwerker zwischen den Fronten - In der Spaßgesellschaft: Die Entkrampfung wird banal - »Ich habe ja von so vielen Dingen renommiert«: Koketterie mit der Koketterie - Von der Inklusion zur Exklusion: Das Dilemma der Suche nach der Mensch-zu-Mensch-Kommunikation - Abwimmeln und Kampf gegen Verkitschung als Präsidenten-Alltag - »Emigrantenrede« und neue Horizonte – von Willy Brandt bis Tagore - Der letzte Triumph über Adenauer: Gelassenheit im Loslassen

Egeria, Sarastro und der Sputnik: Die weibliche Seite der Toni-Theodor-Tagebuchbriefe

Anhang

Dank

Anmerkungen

Personenregister

Bildnachweis

»Mein wesenhafter Ehrgeiz ist der, mit mir selber im Reinen zu bleiben. … Und den Deutschen als Gesamterscheinung gegenüber habe ich bei der sachlichen Begrenzung der konkreten Zuständigkeiten als wesenhafte Aufgabe dies unternommen: sie zu ›entkrampfen‹. Einigermaßen ist mir das geglückt, wenn auch freilich für die Parteigrenzkämpfe nur in bedingtem Maße.«

Theodor Heuss am 29. Juni 1951 an Friedrich Dessauer

»Als bei dem Neujahrsempfang 1950 Adenauer eine Ansprache an mich hielt und mir freundlich Elogen machte, wies ich sie zurück und sagte, mein ›Programm‹ für die nächsten Jahre sei mit einem Wort umfasst, nämlich ›Entkrampfung‹. Zum Teil ist mir diese Therapie gelungen, aber ich sehe, dass bei vielen Menschen, wie auch bei Gruppen, eine Verliebtheit in ihre Komplexe besteht, so dass sie sich nach Lockerungen doch wieder in das so interessante Gespaltensein flüchten.«

Theodor Heuss am 18. Mai 1954 an Margret Boveri

»Man darf keinen ›Heuss-Kult‹ etablieren – die Demokratie ist nebenher ein Erziehungs- und Gesinnungsprozess. Ich weiß, dass ich einige angenehme Talente besitze, darunter das für mich wichtigste, dass ich mich nie mit mir gelangweilt habe.«

Theodor Heuss am 3. Januar 1959 an Ludwig Erhard

»Aber Ihre Auffassung, dass ich keine Feinde habe, ist doch zu harmlos. Zum leisen Schrecken meiner nächsten Mitarbeiter führe ich von Zeit zu Zeit gegen rechts oder links eine journalistische Polemik durch, was die Herren des Bundespräsidialamtes eigentlich ›unter meiner Würde‹ finden; aber als alter Journalist lasse ich mir nichts, und vor allem keine Fälschungen gefallen.«

Theodor Heuss am 12. Februar 1959 an Karl Loewenstein

Die Hintergründigkeit der Heuss-Welt: Erlebnisse bei einer Wiederbelebung

HEUSS-REIZE UND HEUSS-RÄTSEL: »REGULIERTE TAKTLOSIGKEIT« UND »THEOS KLEINE NACHTMUSIK«. Als Zehnjähriger bekam ich mit, wie Theodor Heuss als spitzbübischer Bundespräsident zum Star unserer Familiensaga wurde. Das kam so: An der Universität Frankfurt, wo mein Onkel Helmut Koch frischgebackener Professor für Betriebswirtschaftslehre war, wurde ein internationales Studentenheim eingeweiht, und Heuss hatte zugesagt, auf dem Festakt zu reden. Sonst pflegte er Einladungen von lediglich lokaler Bedeutung abzuwimmeln, aber der Bau eines solchen Studentenheims besaß für ihn damals Signalwirkung. Denn es war eines seiner Lieblingsziele als Präsident, das Studentenwesen aus dem Dunstkreis der Korporationshäuser und ihrer Prügel-Ehre heraus ins Freie zu befördern.

Schon dies ein Grund, Heuss nicht ewig in der Schublade »Restauration«zu verstauen! Dieser Bundespräsident, der historische Anekdoten wie Kaninchen aus dem Zylinder zauberte, war ein neuer Typ in der deutschen Politik. Doch zurück nach Frankfurt 1953. Die Ergüsse der Heuss’schen Vorredner, der Honoratioren der Universität, wurden lang und länger. Schließlich verlor er die Geduld, verließ das Podium, setzte sich in eine Ecke zu den jungen Dozenten neben meine Tante, eine Schönheit der 1950er Jahre, ließ ihr und sich einen Schoppen Wein kommen, zündete sich eine seiner geliebten Zigarren an – all das zur Begeisterung seiner Umgebung und der Presseleute – und begann zu plaudern, wobei sich seine Augen lustvoll zu Schlitzen verengten, wie überhaupt die präsidiale Heuss-Ikone eine gewisse Ähnlichkeit mit der späteren Mao-Ikone aufweist. Natürlich hielt er am Ende doch noch eine anständige Rede, die im Regierungsbulletin den Titel bekam: »Die Freiheit kann auch eine konservative Aufgabe sein.«1

Nicht ohne Grund trumpfte Heuss 1960 gegenüber seiner Altersliebe Toni Stolper auf: »Ich rühme mich ja, der Erfinder der ›regulierten Taktlosigkeit‹ zu sein.«2 1955 hatte er ihr über eine gerade an der Universität München gehaltene Rede über Stilfragen der Demokratie geschrieben: »Die jokose Art des Anfangs war dazu bestimmt, das Pathos wegzuschwemmen, das der Rektor und der Dekan produziert hatten.«3 Statt Demokratie neu zu definieren, führte er vor, was für ihn demokratischer Stil im Alltag bedeutet.

Kein Wunder, dass meine Tante Heuss fortan liebte – in jenem weiten Sinne, den das Wort »Liebe« im Heuss’schen Freundschaftsvokabular besaß. Und doch hatte sie sich vorher wie so viele deutsche Zeitgenossen ausgeschüttet vor Lachen über »Theos Kleine Nachtmusik«: jene von Rudolf Alexander Schröder ausgedachte »Hymne an Deutschland«, die Heuss in seinen ersten Präsidentenjahren verbissen und unbelehrbar als neue Nationalhymne durchzusetzen versuchte. Neben dem Engagement des Weimarer Reichstagsabgeordneten Heuss für das »Schund-und-Schmutz«-Gesetz, mit dem Heuss sich viele Freunde verdarb, ist für Heuss-Bewunderer bis heute nichts so rätselhaft geblieben wie sein gereizter Kampf für die neue Nationalhymne.

Allzu leicht wird man durch vieles, was von und über Heuss geschrieben wurde, zur Identifikation mit ihm verführt, schon gar, wenn man sich durch seine charmant-unterhaltsamen Memoiren in die Heuss-Welt locken lässt; da ist das Nationalhymnen-Intermezzo ein Warnsignal. Es führt vor Augen: Auch Heuss hätte zur lächerlichen Figur werden können, wie es seinem Nachfolger Lübke widerfuhr. Man wird noch sehen, wie er sich als Bundespräsident manchen politischen Eigensinn von Adenauer austreiben ließ; das blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen und hat dem bundesdeutschen Präsidentenamt bis heute etwas Unsicheres gegeben.

WIE GEWINNEN BUNDESPRÄSIDENTEN IM KOLLEKTIVGEDÄCHTNIS GESTALT? Ende 2008 erhielt ich Gelegenheit zu einem Heuss-Gespräch mit dem damals amtierenden Bundespräsidenten Horst Köhler, dem Genius loci zuliebe in der Bonner Villa Hammerschmidt. Ich begann das Gespräch mit der Bemerkung, dass ich gerade aus dem Haus der Geschichte käme und mir nur schwer erklären könne, dass ich im dortigen Buchladen keinen einzigen Titel über Heuss gefunden hatte, den populärsten deutschen Politiker seiner Zeit. Köhler erwiderte nicht ohne Resignation, das sei wohl das Schicksal der Bundespräsidenten, dass von ihnen nur Punktuelles, nur losgelöste Fetzen mit bestimmten Effekten im Gedächtnis haften blieben – »Meine Damen und Herren, liebe Neger« von Lübke, Weizsäckers Berliner Rede.

Das wirft ein Licht auf ein Grundproblem: Mit konventionellen Kategorien der Politikgeschichte ist die Bedeutung von Bundespräsidenten nicht zu fassen. Da gerät man in Verlegenheit durch die Frage, was Heuss eigentlich konkret getan habe, außer der Wiedereinführung von Orden und diesem und jenem Klimbim. Bislang haftete die Heuss-Erinnerung noch am ehesten an einzelnen Sätzen: die ernsthafte Erinnerung an die Ersetzung der »Kollektivschuld« durch die »Kollektivscham« – bei geschickten Wortschöpfungen war Heuss in der Tat ganz in seinem Element – oder die humoristische an den Heuss’schen Ausrutscher gegenüber den bei Boppard ins Manöver ziehenden Rekruten »Nun siegt mal schön!« Die wirkliche Bedeutung dieses Bundespräsidenten für die deutsche Geschichte ist am wenigsten aus seinen verfassungsrechtlichen Kompetenzen herzuleiten.

Den unmittelbaren Anstoß zu dem Heuss-Vorhaben gab meine Arbeit an der Biographie Max Webers. Als das Register des Buches vorlag, staunte ich, Heuss dort nicht weniger als 20 Mal zitiert zu haben. Als ich das Umfeld Max Webers erkundete, war ich über die dürftige Literaturlage zu Heuss überrascht; da reizte mich die Idee, mich von jenem leidenschaftlichen Denker bei dem – wie es scheint – Mann ohne Leidenschaften zu erholen.

Wenn ich Bekannten von meiner Heuss-Liebhaberei erzählte, kam reflexartig der Hinweis auf dessen Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz. Die hat freilich nicht der Biograph zu verantworten, und Heuss war nicht der Einzige, der den mörderischen Kern der nationalsozialistischen Ideologie nicht erkennen konnte oder wollte.

Aber warum wollte ausgerechnet er – der als Zivilist an keinem Krieg teilgenommen hatte und den man sich nicht mit angelegtem Gewehr vorstellen kann – nahezu als Einziger im Parlamentarischen Rat verhindern, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ins Grundgesetz aufgenommen wurde? Glaubte er nach zwei Weltkriegen wirklich noch, dass der Militärdienst die Basis von »Demokratie als Lebensform« ist? Damit Heuss Denkanstöße gibt, muss man ihn selber stoßen. Man darf sich nicht gar zu sehr daran gewöhnen, sich verständnisinnig in ihn einzufühlen, sondern er verträgt es auch, wenn man an ihn mit zupackenden Fragen herangeht.

WO IST IN DIESEM LEBEN DIE LINIE? Schon Heuss selbst fiel es schwer genug – sofern ihm das überhaupt wichtig war –, in seinem Leben irgendeine Kohärenz und Entwicklungslogik zu erkennen. Aber gibt es vielleicht in Heuss’ Leben bis kurz vor 1949 gar Linie zu erkennen? Der Biograph muss der Versuchung widerstehen, die Bedeutung des Bundespräsidenten in den Heuss der Weimarer Republik zurückzuprojizieren: Merkwürdig ist eben, dass Heuss, obwohl in jungen Jahren ein Schnellstarter und zeitlebens ein Schnellschreiber, vielseitig begabt, von gewinnendem Wesen, physisch-psychisch robust, ungeheuer fleißig und – um im heutigen Jargon zu reden – »voll vernetzt«, die längste Zeit seines Lebens nie so recht vorankam – weder als Politiker noch als Publizist. Um 1919 konnte man ihn für den kommenden Mann der Demokraten halten, aber nüchtern besehen bestand seine politische Laufbahn während der gesamten Weimarer Zeit aus einem Fehlstart nach dem anderen, bis sie 1933 scheinbar an ihr Ende kam. Nach 1949 überschlugen sich mehr und mehr Publizisten in Huldigungen an den Bundespräsidenten, wobei sie sein unverwechselbares Wesen genau zu kennen glaubten. Aber man suche in der Literatur vor 1949 nach markanten Schilderungen der Heuss’schen Persönlichkeit: Da erlebt man eine Fehlanzeige nach der anderen. Müsste Heuss nicht wenigstens in den 1924 veröffentlichten Briefen und Aufzeichnungen seines schwäbischen Parteifreundes Conrad Haußmann ausgiebig vorkommen, mit dem er eng zusammenarbeitete? Nichts davon!4 Oder in den umfangreichen, 1931 publizierten Memoiren seines akademischen Lehrers Lujo Brentano, mit dem Heuss dazu über Naumann und über die Familie seiner Frau verbunden war? Nicht ein einziges Mal wird er dort erwähnt.5 Nicht besser steht es mit den Memoiren der ihm bestens bekannten Gertrud Bäumer, die 1933 erschienen6: zu einem Zeitpunkt, als sie und Heuss allen Grund hatten zusammenzuhalten. Als er jedoch zum Bundespräsidenten gewählt worden war, wollte diese Frau seine Biographie schreiben: eine für ihn »geradezu erschreckende Vorstellung«!7

CHARISMA UND KAIRÓS. Vor diesem Hintergrund scheint der Kern der Heuss-Historie darin zu bestehen, dass sich jene zersplitterte Vielseitigkeit und Schwerentschiedenheit, die bis dahin Heuss’ ewiges Handicap gewesen war, nach der Wahl zum Bundespräsidenten mit einem Schlage in einen Trumpf verwandelte: in weise Überparteilichkeit, die Verbissenheiten zu entkrampfen half. So verstanden besitzt die gloriose Pointe, die das Heuss’sche Leben schließlich doch fand, etwas Tröstliches: Man soll die Hoffnung nie aufgeben, dass sich eigene Schwächen durch überraschende Konstellationen in Stärken verwandeln! Und es mag als Memento dienen, dass auch eine gewisse Unentschiedenheit eine Tugend sein kann – in der Politik wie im Leben –, zumindest in unübersichtlichen Situationen und über eine gewisse Strecke hinweg.

Nicht so sehr als prima causa der Geschehnisse, sondern mehr noch als Medium seiner Zeit ist Heuss von historischem Interesse. Seine Briefe und Essays bieten ein wahres Kaleidoskop deutscher Geschichte von der wilhelminischen Ära bis zur Ära Adenauer, das von der Politik einschließlich sozialer und ökonomischer Fragen bis zur Kunst, Literatur, Architektur, ja selbst zur Technik reicht. Von seinem Mentor Friedrich Naumann, dem er seine »wichtigste literarische Arbeit« widmete, bemerkte Heuss, dass »alle Zeitprobleme durch den Mann hindurchgehen«8: Auch dadurch, nicht nur als großer Akteur, gewinnt man Bedeutung; an einem solchen Punkt erkennt man, wie Heuss sich selbst in seinem einstigen Vorbild spiegelt und von ihm Selbstbewusstsein bezieht. Wie kaum ein anderer Politiker filterte Heuss unablässig eine Fülle von Zeitströmungen.

ZWISCHEN HISTORISIERUNG UND AKTUALISIERUNG: NEUE SICHTWEISEN IN EINER GESCHICHTE DER MÖGLICHKEITEN. Man kann es nicht leugnen: Heuss-Studien verführen zur Nostalgie und zu einer Sehnsucht nach einem bundesdeutschen back to the roots. Dieses Heuss’sche In-sich-Ruhen, diese vielfältige und feine Bildung, dieses Stilgefühl, diese Zurückhaltung mit großen Worten und knalligen Effekten, diese lässige Nüchternheit, versetzt mit einem zarten Hauch von Romantik! Obwohl von Hause aus ebenso sehr Journalist wie Politiker, legte er als Bundespräsident sein öffentliches Auftreten nur in sehr verhaltener (dafür umso wirksamerer) Weise auf Medieneffekte an; eher verkörperte er jene Kultur des Understatement, die zur Klugheit der frühen Bundesrepublik gehört. Dazu dieser unermüdliche Fleiß bis in seine letzten Jahre; die schwäbische Sparsamkeit und Korrektheit noch als Bundespräsident eines »Wirtschaftswunder«-Landes; die Zurückhaltung mit Protektion trotz seiner weit verzweigten Freundeskreise; dieses Festhalten an eigener Authentizität, indem er noch als Präsident seine vielen Reden selber verfasste! Obwohl sich die Medienleute um diesen Präsidenten rissen, suchte er doch stets den Kontakt von Mensch zu Mensch; nicht zuletzt aus diesem Grund noch als Präsident diese Briefeschreiberei von früh bis spät.

Das Beste von dem, was Heuss zeitlebens vorlebte, ist vielleicht seine Fähigkeit, Politik nicht als »schmutziges Geschäft«, sondern als stets anregende, ja vergnügliche Angelegenheit zu erfahren, selbst in den Jahren der Weimarer Republik, die ihm immer neue Enttäuschungen bescherte. Wie es scheint, ertrug er seine Niederlagen mit einer gewissen Gelassenheit (wenn wohl auch nicht ganz so, wie er nach außen zeigte); er verachtete Leute, die sich vom »Ressentiment« beherrschen ließen und einen Dauerzustand der Gekränktheit und Gereiztheit kultivierten. Die Manier, mit viel zu hohen Erwartungen in die Politik zu gehen und sich hernach wehleidig in bitterer Enttäuschung zu ergehen, lag ihm ganz fern.

Beim Herumlesen in der Heuss-Literatur muss man Distanz halten zu jener subtil höfischen Atmosphäre, die um die Villa Hammerschmidt den Stil bestimmte. Eine frühe Biographin schwärmt über Heuss: Es sei, »als habe ein unsichtbarer Gott ihn uns geschickt, um Verzeihung zu erbitten, dass er Deutschland in den Jahren davor von einem Teufel habe regieren und unterdrücken lassen«.9 Heuss selbst hätte sich über eine derartige Apotheose geschüttelt; aber sie erinnert daran, welche Blüten der Heuss-Kult treiben konnte – und wie den Nachfolgenden auf solche Art die Erinnerung an ihn verleidet werden konnte. Wenn man sich intensiv mit Heuss’ Umfeld beschäftigt und immer wieder auf die vielen Arabesken und Floskeln in dem Wust der Briefe stößt, droht die Laune zu kippen. Merkwürdig: Kaum je in letzter Zeit konnte ich mich so lebhaft wie bei den Heuss-Recherchen wieder in jene Stimmung zurückversetzen, die meine Intellektuellengeneration in die Rebellion von 1968 führte.

Jene Revolte hat sich mit Vorliebe als Vater-Sohn-Konflikt inszeniert: Das war ein klassisches Muster, das in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Aber genau besehen existierten die autoritären Nazi-Väter oftmals gar nicht (so auch bei mir nicht). Nicht so sehr unbelehrbare Altnazis waren, wie es scheint, in vielen Fällen der Grund des Aufbegehrens, sondern eher Tanten oder Großtanten, die auf ihre eigene Art den NS-Horror bewältigt hatten – mit Goethe, Kultur, Dezenz und gemütlich ausstaffierter Privatwelt. Keine harte Autorität war oftmals die Herausforderung, sondern eher das, was Herbert Marcuse »repressive Toleranz« nannte: ein herablassender Humor, an dem Unpassendes abglitt und der keine Angriffsfläche bot, an der sich Jugendliche kräftig hätten reiben können. Da gab es nicht »richtig« und »falsch«, sondern »reif« und »unreif«, »seriös« und »unseriös«, »anständig« und »albern«, guten und schlechten Stil. Es kam mehr auf einen gewissen gepflegten Bildungshabitus an als auf die geistige Substanz: Auch das gehört zur Breitenwirkung der Heuss-Welt in jener Zeit!

Die Heuss-Generation, soweit sie nach 1945 noch bei Kräften und nicht offenkundig durch Mittäterschaft bei NS-Verbrechen diskreditiert war, erlangte eine Chance wie kaum eine andere ältere Generation vor ihr: In einem Lebensalter, wo man normalerweise durch die nachrückende Generation aufs Altenteil abgedrängt wird, war diese jüngere Generation stärkstens dezimiert, desorientiert, disqualifiziert, lückenhaft gebildet – für die Älteren eine einzigartige Gelegenheit, erneut zum Mittelpunkt zu werden und eine überlegene Selbstgefälligkeit auszubilden! Was bei Heuss selbst bei allem Triumph verhalten blieb, konnte bei Heuss-Verehrern, die sich von diesem Habitus anstecken ließen, penetrant wirken. So verschwand die Heuss-Welt am Ende aus dem kollektiven Gedächtnis der Jüngeren. Heuss-Bücher, in denen ich heute mit Vergnügen lese, wirkten auf mich in meiner Jugend antiquiert: »Lust der Augen« oder »Von Ort zu Ort«, die auf allen Geschenktischen herumlagen oder die sich in allen großen Buchhandlungen breitmachenden »Großen Deutschen«, jene voluminöse Neukonstruktion eines geistig bedeutenden Deutschlands, auf die Heuss als Bundespräsident so viel Zeit und Kraft verwandte – trotz meiner Leidenschaft für die Geschichte wäre ich nie auf die Idee gekommen, in solche Bücher auch nur einen Blick zu werfen!

Obwohl er zur Weitschweifigkeit neigte, besaß Heuss eine ausgeprägte Fähigkeit, Gedanken abzuwimmeln, die ihm nicht passten. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund muss man seine »Entkrampfung der Deutschen« verstehen. Mit der »Entkrampfung« vermied er den Begriff »Entspannung«, der in den 1950er Jahren zum Schlagwort gegen die Kalten Krieger wurde, mit dem er jedoch den Groll Adenauers riskiert hätte. Dabei verstand er die wachsende Sehnsucht nach Entspannung nur zu gut. Liest man sein Bekenntnis zur »Entkrampfung«, das als Motto vorangestellt wurde, in seinem Brief an die kritische Margret Boveri 1954 im Kontext, erkennt man, dass er mit diesem Begriff auch die Erwartung eines konkreten Programms abwehrte. Es war seine Art, aus der diffusen und wenig griffigen Kompetenz des Präsidentenamtes etwas zu machen.

Heuss schrieb als Bundespräsident in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Max Webers politischen Schriften – auf nur wenige andere Texte verwandte er als Präsident so viel Mühe –, diese Schriften seien »Beiträge zu einer Geschichte deutscher Möglichkeiten«.10 Und diese Bemerkung enthielt wie so vieles, was er über andere schrieb, zugleich ein Stück Bespiegelung seiner selbst. Am 7. Dezember 1944 schrieb er an den Architekten Paul Schmitthenner: »Ob auf mich je noch eine Aufgabe von gemäßem Sinn wartet, ahne ich nicht. Vielleicht bin ich museumsreif; dann will ich in eine Abteilung der deutschen Möglichkeiten gestellt werden …«11 Ebendarin besteht auch vielleicht der beste historische Erkenntniswert der Heuss-Vita vor1945, und zwar gerade dann, wenn man sich von der fixen Idee befreit, in dem frühen Heuss sei bereits der künftige Bundespräsident angelegt, vielmehr das Heuss’sche Beziehungsnetz als ein Potential mit einer Mehrzahl von Möglichkeiten begreift. Mehr noch: Diese Biographie spekuliert darauf, dass Heuss’ Lebensgeschichte auch auf künftige Möglichkeiten verweist.

Anmerkungen

1 Allotria im Bannkreis Friedrich Naumanns

1884

Am 31. Januar Geburt von Theodor Heuss in Brackenheim am Neckar als Sohn des Regierungsbaumeisters Ludwig (genannt Louis) Heuss; die Mutter Elisabeth, geb. Gümbel, entstammt einer pfälzischen Försterfamilie

1890

Umzug nach Heilbronn

1899

Heuss’ Vater erkrankt an einem Nervenleiden, muss sich aus diesem Grund pensionieren lassen und begibt sich in Heilstätten; von 1900/1901 an dauerhaft bettlägerig

1902

Abitur; am 31. Juli bei einer feuchtfröhlichen Nachfeier und Rempelei Schulterverletzung (»Luxation«), wegen der Heuss vom Wehrdienst freigestellt wird. Friedrich Naumann: Neudeutsche Wirtschaftspolitik; im Juni schreibt Heuss eine Besprechung des Buches für die »Neckar-Zeitung«: Beginn seiner Förderung durch Ernst Jäckh, den damaligen Chefredakteur der Zeitung. Oktober: erste Begegnung mit Friedrich Naumann beim nationalsozialen Vertretertag in Hannover. Beginn des Studiums der Neuphilologie und Nationalökonomie an der Universität München

1903

Bekanntschaft mit Lulu von Strauß und Torney. 30. Mai: Tod des Vaters im Alter von 50 Jahren in der Heilanstalt Winnenthal (Heuss’ Mutter lebt noch bis 1921). 30. August: Auflösung des Nationalsozialen Vereins nach der Niederlage in den Reichstagswahlen; Naumann schließt sich der von Theodor Barth geführten Freisinnigen Vereinigung an

1903/04

Zweisemestriges Studium in Berlin

1905

Abschluss des Studiums der Nationalökonomie mit einer Dissertation zum Thema »Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar« bei Lujo Brentano. Redakteur von Naumanns Wochenzeitschrift »Die Hilfe« in Berlin; zunächst Leitung des literarischen Teils. Oktober: Erste Begegnung mit Elly Knapp »an einem Abend bei Naumann«

1906

April: Deutsche Heimarbeitsausstellung in Berlin mit weiter Resonanz: für Elly Knapp damals »der Mittelpunkt der Welt«; auch Heuss schreibt dazu in der »Süddeutschen Arbeiterzeitung«. Mai/Juni: Reise nach Paris; dort Treffen mit Wilhelm Hausenstein. September: Besuch der Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden. November/Dezember: Erfolgreicher Landtagswahlkampf für Ludwig Bauer in Urach

1907

Januar/Februar: Erfolgreicher Reichstagswahlkampf für Friedrich Naumann in Heilbronn. Übernahme des politischen Teils von Naumanns »Hilfe«. April: Verlobung mit Elly Knapp (geb. 1881), der Tochter von Georg Friedrich Knapp, Professor der Nationalökonomie an der Universität Straßburg. Juli: Reise nach Belgien und Holland. 5./6. Oktober: Gründung des Deutschen Werkbundes in München unter Beteiligung Naumanns

1908

11. April: Hochzeit mit Elly Knapp in Straßburg (Trauung durch Albert Schweitzer)

1909

Heuss in den Vorstand des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller gewählt (bis 1912)

1909

April: Reise mit Elly in die Toskana

1910

6. März: Zusammenschluss der Freisinnigen Vereinigung mit der von Eugen Richter geführten Freisinnigen Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei unter Teilnahme Naumanns. Mai: Besuch der Weltausstellung in Brüssel. 5. August: Geburt des Sohnes Ernst Ludwig

1911

Juli: Reise mit Elly nach England

1912

Januar: Erfolgloser Reichstagswahlkampf für Naumann in Heilbronn. April: Chefredakteur der »Neckar-Zeitung« in Heilbronn (bis 1917) als Nachfolger von Ernst Jäckh. August/September: Reise nach Norditalien. November: Erfolglose Kandidatur in Backnang für den württembergischen Landtag

1913

Schriftleiter der Kulturzeitschrift »März« (bis 1917)

1914

Mai: Reise mit Elly nach Rom. 1. August: Ausbruch des Ersten Weltkrieges

SELBSTABGRENZUNG IM ANBLICK EINER ÜBERFÜLLE VON OPTIONEN: DIE MODERNITÄT DES HEUSS’SCHEN DILEMMAS. Wo findet man in dieser Lebensgeschichte einen Zugang, den Heuss selbst nicht als »banal«, »pedantisch« oder gar »subaltern« verspotten würde? Fragen wir besser so: Wo berührt der Heuss’sche Lebensweg in all seinem Auf und Ab, seinen Höhepunkten und seinem Schlingern ein aktuelles vitales Problem?

Vorweg eine vorläufige Antwort. Sie geht aus von folgender Regel: Vernünftig und erfolgreich handeln lässt sich am ehesten in einer übersichtlichen Welt, in der man einigermaßen überblickt, was wichtig ist, und die Folgen dessen, was man tut, mehr oder weniger abschätzen kann. Je unübersichtlicher dagegen die Welt wird, je schwerer sich die Folgen des eigenen Tuns vorhersehen lassen, desto größer ist – wie es scheint – die Gefahr, dass man dann, wenn man sich doch irgendwie entscheiden muss, aus Hilflosigkeit seinen Halt bei recht simplen Anhaltspunkten sucht. Ebendies scheint ein Grunddilemma unserer heutigen Ära der weltweiten technischen Vernetzung zu sein, wo wir unablässig mit Informationen, Reizen und Offerten aus aller Welt überschüttet werden und in vielen Fällen gar nicht durchblicken, was Substanz hat, ernst gemeint ist und in unsere eigenen Vorstellungen von gutem Leben passt – und in unsere begrenzte Lebenszeit. Je transparenter die ganze Welt wird, desto undurchsichtiger wird, an was man sich in der Lebenspraxis halten kann. Und je unübersichtlicher und komplizierter die Prozesse in Politik und Gesellschaft werden, desto weniger fühlt sich irgendwer für das, was geschieht, verantwortlich.

Schon der junge Theodor Heuss wurde in eine Welt hineingeboren, in der die Horizonte ausgeweitet waren wie nie zuvor, verlockende und verwirrende Bilder aus aller Welt einströmten, die deutsche Fahne unter Palmen flatterte und mit der wachsenden Sichtbarkeit ferner Welten auch die Unübersichtlichkeit der Welt stieg. »Welt«-Komposita kamen ähnlich in Mode wie in jüngster Zeit die Wortverbindungen mit »global«. Wo sollte sich die deutsche »Weltpolitik« als erstes engagieren? Auf Samoa, der »Perle der Südsee«, oder in Tsingtao, an einem Einfallstor in das chinesische Riesenreich, oder besser in Sansibar, wo der »dunkle Kontinent« Afrika lockte, oder noch besser im näher gelegenen Marokko, wo man jedoch bedrohlich mit Frankreich zusammenstieß?

Und diese verwirrende Fülle der Optionen bestand nicht nur für die Berliner Außenpolitik; sie bestand auch in der Kultur, der Technik, den Lebensstilen, und sie wurde ganz besonders von einem jungen Mann wie Theodor Heuss erfahren, der sich durch ein ungewöhnliches Aufnahmevermögen auszeichnete, vieles zugleich aufschnappte und vielerlei Zeitströmungen durch sich hindurchfilterte. Und was bot sich damals alles zugleich: In der Kunst, der die erste Liebe des jungen Heuss galt, folgten in raschem Tempo Historismus, Naturalismus, Jugendstil, Impressionismus und Expressionismus aufeinander; und in den großen politischen und sozialen Leidenschaften der Zeit konkurrierten Chauvinismus und Pazifismus, Sozialismus und Sexualreform, Jugendbewegung und Lebensreform, Individualismus und Suche nach neuen Formen der Gemeinschaft miteinander; mit alledem kam der junge Heuss in enge Berührung.

Und dazu die neue Technik, die Proklamation des »elektrischen Säkulums«, die neue Gigantomanie in der Industrie, die ersten Automobile und Flugmaschinen: Auch der Brückenschlag von der traditionellen Gebildetenkultur zu dieser neuen Welt der Technik wird zu einem lebenslangen Leitmotiv der Heuss-Welt, und dies mit steigender Tendenz. In einem Brief, den Elly Ostern 1906 an den 22-jährigen Heuss schreibt, erkennt man eine Sehnsucht nach einer permanenten Ruckzuck-Kommunikation, wie sie heute das Internet ermöglicht: »Eigentlich wäre ich für immerfort schreiben. Denn mir wenigstens geht es so, dass ich nur sofort Antwort finde, die noch als Resonanz gelten kann. … Mich packt immer die Ungeduld über die Langwierigkeit der Technik.«1

Aber was kommt aus dieser überwältigenden Fülle von Perspektiven für die junge Generation der Jahrhundertwende heraus? All dies geht am Ende unter in dem furchtbarsten Krieg der neueren europäischen Geschichte; die Wunderwerke der modernen Technik, die vielerlei Phantasien beflügelten, wurden auf archaisch-primitive Art zur Vernichtung eingesetzt; die hoffnungsvolle Jugend der europäischen Nationen mähte sich gegenseitig nieder und schoss sich zu Krüppeln. Und um die Absurdität auf die Spitze zu treiben: Bei keinem großen Krieg der neueren Zeit war später aus ruhiger Distanz so schwer zu rekonstruieren, wofür man ihn geführt hatte. Im Grunde hatten alle Beteiligten verloren. Ausgerechnet eine Ära der bis dahin beispiellosen Vielfalt und Raffinesse der Chancen und Optionen mündete am Ende in eine törichte Primitivität.

Es hat seine Logik, dass mit der wachsenden Vielfalt auch die Auswahl, die Selbstbegrenzung, der Rückgewinn der ruhigen Konzentration zur immer größeren Aufgabe wird. Auch da sind wir an einer Spannung, die das gesamte Heuss’sche Leben durchzieht: einer Spannung, die in diesem Fall produktiv wurde. Auf der einen Seite spürt man bei Heuss einen lebenslangen Ehrgeiz, nach vielen Seiten offen zu sein, Grenzen zu überschreiten, sich nicht festzulegen; auf der anderen Seite jedoch auch ein ausgeprägtes Bedürfnis danach, sich einzugrenzen, in sich selbst zu ruhen, »mit sich im Reinen« zu sein – Heuss’sche Lieblingsformel! –, bei der Aufnahme all der vielen Außenimpulse doch keiner Außensteuerung zu erliegen.

»MEIN RUNDES BEKENNTNIS ZUM ›ALLOTRIA‹.« Im September 1946 nahm Heuss als württembergischer »Kultminister«, der sich im Behördenbetrieb noch nicht recht zu Hause fühlte, in München an einer Ministerkonferenz zu Fragen der Reorganisation des Schulwesens teil. Später als Bundespräsident erinnerte er seinen Nachfolger Theodor Bäuerle daran: »als mir die Sache zu bieder wurde, beunruhigte ich die Teilnehmer durch mein rundes Bekenntnis zum ›Allotria‹, zum Spieltrieb der Jugend, zu den unnützen Dingen und zur Resignation gegenüber dem in allen Umbruchzeiten stark gemeldeten Anspruch der Schule, alles machen zu wollen, alles machen zu können.«2 »Allotria«: ein »viel belachtes Wort« (so Heuss 1947 an Alfred Weber)3 und Stichwort zu einer der beliebten Anekdoten, die über Heuss und auch von ihm selbst erzählt wurden.4 Er glaubte damals, Bäuerle habe ihn »mit leicht missbilligendem Erstaunen« betrachtet; aber nein, dieser sein Mitschwabe stimmte ihm »von Herzen« zu und machte diese Szene sogar zum Clou seines Beitrages zu der Festschrift zum 70. Geburtstag des Bundespräsidenten.5

Gewiss wusste Bäuerle, dass »Allotria« ein Element von Heuss’ eigener Lebensphilosophie war. Für den war es in der Tat eine elementare Erfahrung, dass man seinen Weg erst nach einigem Herumschweifen findet und nur so die Freude am eigenen Tun bewahrt. Sein ganzer Schreibstil, der erst nach einigem assoziativen Ausschweifen zur Sache kommt, spiegelt diese Erfahrung. »Allotria« war ein schulmeisterlicher Begriff für »Unfug«; aber der Humanist wusste, dass es wörtlich nur »Andersartiges« bedeutet. Heuss definierte es zu etwas Vergnüglichem, Anregendem um.6 Im gleichen Sinne belehrte er 1955 Toni Stolper, »Herumdarmeln« sei nichts Unnützes, sondern »ein schwäbischer Ausdruck für schweifende Nachdenksamkeit«7 – auch eine Heuss’sche Wortschöpfung.

Porträt von Theodor Heuss in München, 1905

1897 als 13-Jähriger schrieb er in einem Lebenslauf, seine »Lieblingsneigung« gelte dem »Studium der Litteratur und ihrer Geschichte«, aber zum »Lebensberuf« habe er sich »die Ausübung der Rechtswissenschaft gewählt«; weder das eine noch das andere brachte er zu Ende. Und doch glaubt Thomas Hertfelder, der als Geschäftsführer der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart einen Überblick besitzt, wie ihn nicht einmal Heuss selbst je besaß: »Würde man sich die Mühe machen, in den 2304 öffentlichen Reden, die Heuss zwischen 1902 und 1963 gehalten hat, die am häufigsten zitierten Autoren zusammenzustellen, so stünden vermutlich Schiller, Hölderlin, Mörike und Uhland ganz am Anfang.«8 Da verrät die bloße Quantität, dass die Liebe des Staatsmannes zeitlebens doch mehr noch als der Politik demjenigen galt, was man damals das »Schöngeistige« nannte – und dass er bei all seiner Offenheit eine Eingrenzung, eine Beheimatung im Schwabentum kultivierte, auch wenn er dem süddeutschen Föderalismus gerne einen Seitenhieb versetzte.

1941, als er beruflich vor dem Nichts stand, wusste er seinen jugendlichen Hang zum Allotria nicht mehr zu schätzen: »es gibt für meinen Rückblick kaum etwas Verpfuschteres als meine Studienzeit, da ich keinen Menschen hatte, der mich irgendwie geführt hätte. Ich hatte keine Ahnung, was ich studieren sollte, und studierte alles, vor allem Kunstgeschichte und Philosophie« – und dann doch Nationalökonomie, weil ihn Lujo Brentano in München reizte, aber dann ging er wegen Naumann nach Berlin, obwohl ihn die dortigen Ökonomen anödeten.9 Doch dann wieder zurück nach München, um bei Brentano – heutzutage ganz unglaublich! – in wenigen Wochen eine ökonomische Dissertation herunterzuschreiben. Und danach wieder zu Naumann. Margret Boveri, die von dem Politiker Heuss noch in dessen Präsidentenzeit nicht allzu viel hielt, lässt in ihrer Einführung zu der Heuss-Bibliographie erkennen, dass Heuss’ eigentliche Begabung ihn eher in das Kunst- und Literatur-Feuilleton verwiesen haben würde, hätte ihn nicht Naumann auf die politische Bahn gebracht.10

Nun, dieses anfänglich ziellose Herumstudieren – von »Schnupperstudium« würde man heute sprechen – war zu Heuss’ Zeiten nicht ungewöhnlich; damals galten noch nicht detaillierte Lehrpläne als Inbegriff des Fortschritts an Schule und Hochschule, aber dafür fand man gewöhnlich nach dieser Übergangsphase seinen »Lebensberuf«, während es heute eher umgekehrt ist und auf ein straff reguliertes Studium ein unter dem Imperativ der Flexibilität stehendes Berufsleben folgt. Immerhin, der junge Heuss, mit 23 Jahren promoviert, wonach er unter Naumanns Einfluss nicht wie zuvor geplant in die Wissenschaft, sondern in den Journalismus geht, ist dort erst einmal ein Schnellstarter. Schon als 28-Jähriger, als Redakteur bei Naumanns »Hilfe«, kann er seinem Schwiegervater, dem Professor, selbstbewusst berichten, dass er einen finanziellen Zuschuss von ihm »eigentlich gar nicht nötig« habe, da seine Einkünfte »zu einem behaglichen bürgerlichen Leben« reichten.11 Die »Hilfe« nehme nur seine »halbe Kraft« in Anspruch; er arbeite »an einer ganzen Reihe von Zeitungen und Zeitschriften mit« und sei dabei, sich einen »literarischen Namen« zu erwerben.12 Bald darauf wird er mit nur 29 Jahren Chefredakteur der »Neckar-Zeitung«, eines liberalen Organs von überregionaler Bedeutung, und erreicht da bereits – wie sein damaliger Volontär Willy Dürr später berichtet – »so ungefähr das Endgehalt eines höheren Beamten« und stellt in Heilbronn etwas dar.13

Aber dann geht es über Jahrzehnte nicht so recht voran: weder in der Journalistik noch in der Politik oder gar in der Wissenschaft oder Schriftstellerei. Zwischen all diesen Bereichen kann er sich nie definitiv entscheiden – bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten. Zum politischen Journalisten großen Formats fehlt ihm in seinen Artikeln zu oft die klare Linie und scharfe Pointe; spätere Heuss-Sammelbände enthalten auffallend wenige politische Artikel. Als Journalist zählt Heuss nie zu den ganz großen Namen; und ebenso wenig bis 1945 im Parteiwesen. Politisch erleidet er immer neue Rückschläge: Schon im Jahr1912, als er als Chefredakteur in Heilbronn beginnt, führt er eine vergebliche Reichstagswahlkampagne für Naumann, für den er noch fünf Jahre davor mit Erfolg gekämpft hatte; und dann fällt er selbst als Kandidat für den württembergischen Landtag durch! In seinen Erinnerungen kommentiert er, dieser Reinfall sei »eine Erfahrung, die ich noch ein paar Mal gut überlebt habe«14. Nun, das schreibt er als Altbundespräsident; nach einem derart grandiosen Happyend hat er gut reden – und doch scheint eine Gelassenheit im Scheitern, ein unverdrossenes In-sich-Ruhen ohne krampfhafte Verrenkungen nach Selbstbestätigung von außen in der Tat zu seinen bemerkenswerten Fähigkeiten gehört zu haben, auch wenn er manches Tief hinter einer wohltemperierten Fassade verborgen haben mag. Er verachtete Menschen, die vom »Ressentiment« gereizt und permanent von einem unbefriedigten Geltungsbedürfnis gequält werden.

Im Sommer1907, ein Vierteljahr nach der Verlobung, bekennt ihm Elly, die gerade an der Gründung einer Fortbildungsschule für Mädchen mitgewirkt hat, den darauf folgenden Schulalltag jedoch »tödlich langweilig« findet: »Das solide Arbeiten ist mir fremd, und wird’s, fürcht ich, auch bleiben. Im Haushalt ist’s ebenso. Anfallsweise bin ich sehr tüchtig und dann muss ich mal wieder was anderes sehen. Macht Dir das Kummer?«15 Oh nein, da sucht sie ihr Verlobter mit einem eigenen Bekenntnis zur Leichtlebigkeit noch zu übertrumpfen. Elly, deren Mutter georgisch-armenischer Herkunft war16, hatte damit kokettiert, dass sie bei Besuch aus dem Kaukasus »immer das nichtdeutsche Blut« in sich spüre. »Ich kann nicht so ganz bieder auf der Landstraße gehen, ein paar Seitensprünge sind mir Lebensbedürfnisse« (wobei sie aber sogleich einer sexuellen Interpretation dieser »Seitensprünge« vorbeugt).

Da will Heuss nicht zurückstehen: Er habe das Gefühl, dass bei ihm selbst »das ganze Leben ein weit größerer Exzess von der Landstraße« sei als bei ihren armenisch-russischen Verwandten. »Das weißt Du auch, dass Du bei mir nicht in die braven, ebenmäßige(n) Philisterarme kommst, sonst wärst Du gar nicht hineingegangen. Bloß, Liebes, kann man aus dem ›Leichtsinn‹ so zu sagen kein Programm machen, denn dann verliert er allen moralischen Wert.« Und, nachdem er bekannt hat, dass ihm »die russische Seele, Kultur, Gesellschaft noch recht fremd sind«, setzt er seine Lektion über limitierten Leichtsinn fort: »Unser Leichtsinn wird wahrscheinlich nicht zu oft die Form annehmen, dass wir über unsere innersten Grundlagen hinausschweifen; aber er wird bei uns bleiben als vollkommene Unabhängigkeit, die nur vor sich selber Verantwortung leistet.« Weiter: »Und was Du Dir vorwirfst: Mangel an Beständigkeit und so, ist alles nicht so schlimm.«17

Gewiss spürt Heuss genau, dass Elly im Grunde verlässlich ist und einen Sinn für die nötige Ordnung hat. Und er weiß auch, dass sein eigener Leichtsinn, so gerne er zuweilen mit ihm kokettiert, seine Grenzen hat. Man muss nur an die Tausende von Reden denken, die er in seinem Leben gehalten hat, und an die Tausende von Artikeln und Zehntausende von Briefen, die von ihm überliefert sind, dazu an das weit verzweigte Netz menschlicher Kontakte, das er sorgfältig pflegte, um jeden Zweifel daran zu verlieren, dass er bei aller Liebe zu Alkohol und Allotria im Kern doch ein kolossal disziplinierter Workaholic war. Wahllos nimmt er anfangs Publikationsangebote an. Da wird Elly schon in ihren verliebten Brautbriefen energisch: Zumindest Lexikonartikel solle Theodor (»Dorle«) nur unter der Bedingung übernehmen, »dass sie sehr gut bezahlt werden«. »Sei hart! Man verzappelt sich sonst zu leicht.«18 Und: »stell Dich nur ruhig etwas auf die Hinterbeine.«19 Sie sucht ihn zu mehr Durchsetzungsvermögen zu erziehen. Zum Riesenproblem wird die Selbstabgrenzung über 40 Jahre darauf für den Bundespräsidenten, der alle Tage mit Briefen, Bitten und Einladungen überschüttet wird. Dass Heuss jedoch relativ virtuos eine Balance zwischen Offenheit und Eingrenzung gehalten hat, liegt gewiss nicht zuletzt daran, dass er mit diesem Problem von jung auf seine Erfahrung besaß.

WEDER VATER-SOHN-KONFLIKT NOCH VÄTERLICHES VORBILD – WEDER ACHTUNDVIERZIGER NOCH BISMARCK-DEUTSCHER. Eine Lebensgeschichte beginnt üblicherweise mit den Eltern. Heuss selbst versichert in seinen ersten Memoiren: »Der geistige und seelische Einfluss des Elternhauses ist für mich unendlich viel wichtiger gewesen als die Schule und alles, was damit zusammenhängt, vor allem die bestimmte wie präpotente Art und Unart des Vaters, mit der wir uns schon frühe auseinandersetzen mussten.«20 »Art und Unart«! Wie hat man sich die letztere konkret vorzustellen? Das bleibt im Dunkeln. In den Unmassen der Heuss’schen Briefe, die erhalten sind, findet sich kaum einer an seine Eltern. »Präpotent« kann übermächtig, aber vor allem in Österreich auch »überheblich« bedeuten.

Dieser Vater, Ludwig, genannt Louis Heuss (1853–1903), ab 1890 als Baurat in Heilbronn, avancierte 1899 zum Tiefbauinspektor dieser Stadt und bemühte sich in dieser Position vehement um die Durchsetzung einer »Schwemmkanalisation«, die auch die Fäkalien wegschwemmt und das Wasserklosett zum Standard macht. Die Kreisregierung in Ludwigsburg durchkreuzte jedoch das Projekt mit Hinweis auf die darauf drohende Verunreinigung des Neckars; kurz darauf brach Louis Heuss nervlich zusammen.21 Schon mit 47 Jahren, als der Sohn erst 15-jährig war, verfiel dieser »präpotente« Vater in ein schweres »Nervenleiden«; er musste in Heilstätten und starb drei Jahre darauf. Zu der Zeit war Heuss auf einer Gebirgswanderung; von dem Tod des Vaters erfuhr er erst sechs Tage danach, wie er an Lulu von Strauß und Torney schrieb, »nachdem alle offiziellen Geschichten, Feuerbestattung usw. schon herum waren«22 – man spürt die Erleichterung! »Feuerbestattung«: damals noch ungewöhnlich und in Kirchenkreisen heftig umstritten, aber bei einem engagierten Freidenker keines Kommentars bedürftig.23

Nichts weiter über den Vater – und dabei hätte die Adressatin, deren Vater zur gleichen Zeit gestorben war und die über diesen Tod lange Zeit nicht hinwegkam, mit Heuss gewiss liebend gern Vater-Erinnerungen ausgetauscht! Schon hier zeigt sich Heuss’ Fähigkeit, Schockierendes zwar nicht zu verdrängen, aber an einem Ort abzulegen, wo es nicht stört. Soweit den Akten zu entnehmen, hat Heuss seinen Vater in der Anstalt nie besucht.24 Mit dessen »Präpotenz« kann es nicht weit her gewesen sein; denn an anderer Stelle erinnert sich Heuss: »Der Ton im Hause war aufs Kameradschaftliche gestellt, und wir genossen im ganzen eine ungewöhnliche und viel beneidete Freiheit. Der Vater war gar nicht autoritätssüchtig, er hatte es gerne, wenn man auf seine Kosten Scherze machte, freute sich, wenn wir etwas besser konnten oder wussten.«25 Also nichts von dem, wie man sich damalige patriarchalische Familienverhältnisse vorstellt!

Familie Heuss, um 1885 (v.l.n.r.): Bruder Hermann (1882–1959), Mutter Elisabeth, geb. Gümbel (1853–1921), Theodor (1884–1963), Vater Louis (1853–1903) und Bruder Ludwig (1881–1932)

Wenn Heuss auch gerade als Bundespräsident gerne damit kokettierte, dass in ihm eigentlich ein Lausbub stecke, hatte er doch zu einer großen Auflehnung gegen den Vater nie so recht Gelegenheit; demgemäß hatte er für ein allzu trotziges Rebellenpathos lebenslang nie viel Sinn. Diesen Rebellentrotz verkörperte eher der Vater, der noch in der südwestdeutschen 1848er- und Hecker-Tradition stand. Wie der 22-jährige Heuss an die 33-jährige Lulu schrieb, deren politischen Konservatismus er auf sanfte Art zu lockern suchte: »es gehört zu meinen enthusiastischen Erinnerungen, wenn unser Vater abends seinen drei Buben schauerlich-schön aus Ça ira vorlas«, dem Gedichtband Freiligraths von1846, dessen Titel auf das blutrünstige Revolutionslied anspielte. »Das war die Zeit, wo ich jeden Fürsten oder sonstigen Großen für einen gemeinen Menschen und des Totschlags würdig hielt. Zugleich aber wars meine schönste Zeit.« Bei einem leidenschaftlich-lustvollen Rebellentum verstünde sich demnach der Drang zum Tyrannenmord von selbst – aber sogleich beruhigt er Lulu: »Heute bin ich nicht mehr so gefährlich, weil allerhand Erkenntnisse und Einsichten die glühenden Rosen meines fröhlichen und düsteren Radikalismus angewelkt haben.«26 Das klingt betrübt; aber Heuss’ Ironie und Selbstironie stehen bereits in Blüte.

Aus seiner frühen Kindheit stand dem Memoirenschreiber Heuss noch eine Szene »mit erschreckender Deutlichkeit« vor Augen: Es war nach den Reichstagswahlen von1887, dem letzten Triumph Bismarcks, als der »Eiserne Kanzler« mit seinem Alarm vor einem angeblich drohenden Angriff der Franzosen den Freisinnigen, die gegen das »Septennat« – eine Bewilligung des Militärhaushalts auf sieben Jahre – opponierten, eine vernichtende Niederlage zugefügt hatte und Heuss’ Vater vor Erbitterung kochte. Da erblickte er auf der Terrasse einer Bahnhofswirtschaft einen politischen Gegner – es war »ein stämmiger, rotbärtiger Sägmüller namens Schwarzkopf«; und da stehen plötzlich beide auf und »beginnen sich zu verprügeln, bis die übrigen Gäste die hitzigen Männer auseinanderreißen«27. Heuss unterlässt nicht hinzuzubemerken, dass er den Sägmüller später als einen Kontrahenten schätzengelernt habe, mit dem man sich zivilisiert auseinandersetzen konnte. Aus der Rückschau muss Heuss diese Reizbarkeit des Vaters als Vorboten des Nervenleidens, nicht als gesunde Kampfeslust empfunden haben.

Der Vater verehrte Eugen Richter, den Führer des Freisinns und unversöhnlichen Gegner Bismarcks; in Heuss’ Erinnerung war Richter »die Autorität der Kindheit«. Aber gerade gegen diesen Helden der Linksliberalen entwickelte Heuss eine förmliche Aversion. Der »alte Eugen Richterkreis« bestand in seinen Augen »aus einer Clique absoluter Simpel und gewalttätiger Philister«.28 Richters »Freisinnige Zeitung« war für ihn »wohl das trostloseste Blatt des damaligen Berlin«.29 1932 fühlte er sich durch einen gewissen Typus von Nationalsozialisten an Eugen Richter erinnert.30 In seiner Naumann-Biographie überschüttet er Richter und seinen Anhang mit abfälligen Bemerkungen: Über seinem Wirken liege ein »Schleier von Verdrossenheit, der sich zu gewalttätiger und unduldsamer Rechthaberei verfestigte«; dieser engstirnige »Parteidiktator« habe einen »Typus von unfrohen und unfreien Freiheitsbekennern« geschaffen.31 Das »einigende Band« der von Theodor Barth geführten linksliberalen Dissidenten, der Freisinnigen Vereinigung, der sich Naumann 1903 anschloss, bestand Heuss zufolge darin, »auf Eugen Richter und seine nächste Umgebung zu schimpfen« – für ihn später ein Warnzeichen, »dass parteipolitische Bruder- und Nachbarschaftskämpfe … zum menschlich Bösesten und sachlich Unfruchtbarsten gehören«.32

Die Distanz der durch die Reichsgründung von 1871 geprägten neuen Generation zu den »Achtundvierzigern« erinnert an die Distanz der durch die deutsche Einigung von 1990 geprägten Jüngeren zu den »Achtundsechzigern«: Sogar der zeitliche Abstand ist gleich. Aber Heuss, Jahrgang1884, gehörte schon nicht mehr zu den Bismarck-Deutschen, deren Initiationserlebnisse die drei siegreichen Bismarck-Kriege gewesen waren und deren gesamtes politisches Denken vom Thema »Bismarck« beherrscht wurde, ob sie ihn nun verehrten oder abzuschütteln suchten. Vater Heuss – versteht sich – schimpfte auf den Kanzler, war dann freilich doch von den »Gedanken und Erinnerungen« des »Alten im Sachsenwald« gepackt.33 Bei Heuss selbst dagegen fällt geradezu auf, dass bei ihm, dem passionierten Hobby-Historiker, Bismarck kaum je ein großes Thema ist: Weder liebt er ihn, noch hasst er ihn. Im Register der Heuss’schen Jugenderinnerungen – man staune! – fehlt das Stichwort »Bismarck«.

1957 monierte ein pensionierter Oberstudienrat in einem Brief an den Bundespräsidenten, dass dieser geschrieben habe: »Würde sich ein deutscher Garibaldi bei ihm (Bismarck) gemeldet haben, so hätte er ihn verhaften lassen.« Er hielt Heuss entgegen: »Hat Bismarck jemals jemand verhaften lassen? Und zwar … aus eigener Machtvollkommenheit? Hatte er diese Macht?« Oh, da kannte Heuss, der schwäbische Liberale, sich besser aus; mit historischen Anekdoten stets schlagfertig, klärte er in einem prompten und ausführlichen Antwortbrief seinen Kritiker auf, Bismarck habe bekanntlich »Blanko-Vollmachten für Anklageerhebungen ausgestellt«. »Es gehört zu meinen Kindheitsanekdoten, dass der schwäbische politische Publizist und Dichter Ludwig Pfau das ›Opfer‹ einer solchen Anklage wurde und für ein paar Monate ins Gefängnis spazierte, weil er die Bismarcksche Politik als einen Zerstörungsvorgang deutscher Kultur bezeichnet hatte.«34 Diese Geschichte kommt nicht einmal in den drei Bismarck-Bänden Erich Eycks vor; Heuss kannte sie, da Pfau wie er Schüler des Heilbronner Karlsgymnasiums gewesen war.35 Dagegen Naumann, Jahrgang1860, gehörte in jungen Jahren noch ganz und gar zu den Bismarck-Deutschen; sein politisches Debüt gab er bei den Septennatswahlen von1887, als er sich für die Nationalliberalen in die Schanze schlug, die zu Bismarck hielten.36 1946 bemerkt Heuss in einem Brief, sein »Weg zu Naumann« habe in seiner »Frühzeit« die innere Lösung von der »alten württembergischen Demokratie« bedeutet, die durch seinen Vater streitbar verkörpert wurde.37

KONFLIKT ZWISCHEN DEN VÄTERN: FRIEDRICH NAUMANN UND LUJO BRENTANO. Als Heuss kurz nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten von einem deutschen Emigranten, der inzwischen in New York bei der U.S. Foreign Trade Co. arbeitete, um biographisches Material gebeten wurde, antwortete er ihm: »Das wesentliche in meiner Entwicklung ist die Beeinflussung durch Friedrich Naumann und die Schülerschaft bei Lujo Brentano.«38 Naumann und Brentano: das waren beides Leitbilder, die sich sehen lassen konnten und von denen jeder seine eigene »Strahlkraft« besaß – um Heuss’ Eindeutschung des »Charismas« zu gebrauchen. Naumann (1860–1919), der Ex-Pfarrer, der die nationalen, sozialen und liberalen Kräfte zusammenführen wollte und als Volksredner, sosehr er sich als harter Realist gab, etwas von einem Erweckungsprediger hatte und vielen Anhängern ein Erlebnis der Erleuchtung verschaffte, das diese lebenslang verband; Brentano (1844–1931), die glänzendste Erscheinung in der deutschen Nationalökonomie seiner Zeit – ein Typus von Wirtschaftswissenschaftler, wie es ihn schon bald nicht mehr geben sollte, noch unter Zeitgenossen Goethes aufgewachsen und mit breitem Bildungsfundus und packendem Rede- und Schreibstil, emphatischer Anhänger des Freihandels, nicht weniger jedoch der freien Gewerkschaften. Brentano, der Ältere und der berühmte Gelehrte, pflegte Naumann – so Heuss – »zu mahnen und zu belehren«; Heuss glaubte jedoch, dass diese Freundschaft dem Älteren noch mehr bedeutete als dem Jüngeren.39

Georg Friedrich Knapp, 1919

Der junge Heuss stieß zu beiden genau in jenem Augenblick, als sie sich politisch verbündeten und Naumann sich nach der Wahlniederlage seines Nationalsozialen Vereins der Freisinnigen Vereinigung anschloss, laut Brentano dank seiner eigenen Vermittlung.40 Im Unterschied zu Richters Freisinniger Volkspartei, von der sie sich abgespalten hatte, ließ sich die Freisinnige Vereinigung, in der es eine Reeder-Fraktion gab, partiell vom Flottenfieber anstecken.41 Eine Zeitlang schienen sich die Kreise im Leben des jungen Heuss zu schließen: Gerade als sein Vater gestorben war, bekam er zwei geistige Väter42, um die Höhenluft wehte und die in weite Zukünfte wiesen. Beide zeichneten sich durch Wortgewalt, weiten Blick, innere Autonomie und furchtlose Zivilcourage aus und wurden Heuss nicht zuletzt dadurch zum Vorbild, dass sie Selbstbewusstsein und Gleichmut auch dann bewahrten, wenn rasche Erfolge ausblieben. Heuss’ Ehe schien den Kreis vollends zu schließen; denn Elly, die Heuss im Naumann-Kreis kennengelernt hatte, begeisterte sich für Naumann noch leidenschaftlicher als er selbst; und ihr Vater, der Nationalökonom Georg Friedrich Knapp, war trotz mancher Differenzen ein alter Freund Brentanos.

Als Bundespräsident explodierte Heuss gegenüber einem naseweisen Studenten der Philologie, der ihm allen Ernstes vorhielt, dass seine Art, wie er bei Brentano in München den Doktortitel erworben, zugleich aber schon in Berlin gewesen sei, die Universität und die Träger des Doktortitels zu verunglimpfen drohte. Da schrieb Heuss einen seiner wortreichen Schimpfbriefe, mit denen sich der Präsident, von dem die Öffentlichkeit immerzu milde Würde erwartete, von Zeit zu Zeit Luft zu machen liebte: Zwar sei seine Promotion, wie er in einer Rede bemerkt habe, formal »ein leichter Schwindel gewesen«, den Brentano jedoch »gedeckt« habe, da es ihm »Freude« bereitet habe, dass er, Heuss, den Ruf zu Naumann bereits zu Anfang seines fünften Semesters erhalten hatte. »Nur ein so enger Kopf, wie Sie es zu sein scheinen, kann in dieser Mitteilung eine grobe Verhöhnung sämtlicher Hochschullehrer sehen«; sein Mahnbrief sei eine »alberne Unverschämtheit«, die nur zeige, dass ihm, dem Studiosus, »der Sinn für lockere Selbstironisierung« fehle.43 Für Heuss war dieser Sinn eine menschliche Qualität ersten Ranges.

Für Heuss war das Zusammenspiel von Brentano und Naumann bei seiner Promotion ganz in Ordnung. Aber die Kreise gingen wieder auseinander; immer wieder war Heuss’ Lebensweg Zentrifugalkräften ausgesetzt. Naumann und Brentano, einander mehr emotional als intellektuell verbunden – der eine mit einem Leuchten in den Augen und der andere mit blitzendem Blick –, bildeten in mehrfacher Hinsicht zueinander den größten Kontrast. Naumann, dem – wie Heuss später bemerkt44 – im Unterschied zu Brentano »das Talent zum Hassen« fehlte, suchte die ganz große Harmonie, eine coincidentia oppositorum, wie sie mehr der spirituellen als der politischen Sphäre angehört: die Versöhnung der Religion, dann der Nation mit der sozialen Leidenschaft, des liberalen Freiheitsdranges mit der Bindung an Staat und Volk, ja die Versöhnung von Militarismus und Menschlichkeit, von Kaisertum und Demokratie miteinander. Zu lange bildete er sich zum Horror Brentanos ein, in Wilhelm II. seinen Mann gefunden zu haben und zugleich in der vom Kaiser angeheizten Flottenbegeisterung die transzendentale, alte Fronten überbrückende Kraft. Brentano dagegen entfaltete seine rhetorische Brillanz in der Polemik, im bissigen Witz; er tat nichts lieber, als gegen Kollegen zu polemisieren, und suchte das kampfeslustige Bündnis gegen die konservativen Mächte. Anders als Naumann bewegte er sich auch auf internationalem Parkett mit Eleganz und erblickte in dem wachsenden völkischen Nationalismus ein Unheil. Schon körperlich waren die beiden der größte Kontrast, der sich denken lässt: Naumann massig-erdnah, schon in seinen besten Jahren von klobiger Korpulenz – selbst in den Augen eines Verehrers »ebenso breit wie groß«45 –, dabei oft kränkelnd und früh alternd, Brentano dagegen anerkanntermaßen einer der schönsten Professoren, mit federndem Elan und noch in älteren Jahren wie das Urbild ewiger Jugend. »Man konnte sich auf dem Katheder keine brillantere Erscheinung denken«, erinnert sich Heuss noch viel später; und man merkt, wie ihm Brentano neben Naumann zum Vorbild wurde: »Mit vollkommener Sicherheit verfügte er über das Wort, über die Pointen, die er mit List und Anmut zu setzen wusste.«46 Kein Zweifel: Genau diesen Ehrgeiz hegte auch Heuss! Und als Bundespräsident gelang ihm in seinen besten Stunden die Synthese seiner geistigen Väter.

Brentano glaubte wohl, Naumann durch die Vermittlung zu den Freisinnigen zu sich selbst, zu seinem inneren Freiheitsdrang geführt zu haben; in Wirklichkeit handelte es sich um eine spannungsgeladene Verbindung heterogener Kräfte, wobei die Frage war, was Naumann bei dieser linksliberalen Abspaltung eigentlich gewinnen konnte, mit der er in ein ganz anderes Milieu geriet als das christlich-soziale, aus dem er ursprünglich kam.47

Heuss mit Hut und Zigarre, Tübingen 1913

Selbst ein nicht von Naumann verfasster Leitartikel der »Hilfe« fragte 1903 mit Blick auf die anstehende Fusion: »Passen wir Lehrer, Pastoren und Beamte, mit all den Idealen der Hungerleider, auch in diese Kreise des Bank- und Börsenkapitals?«48 Besonders aufgebracht reagierte Adolf Damaschke, der führende Kopf der Bodenreformer, die Land für Kleinbauern gewinnen wollten: »Die Freisinnigen würden nur durch die Presse zusammengehalten … Welchen Landmann könne man mit dem ›Berliner Börsenkurier‹ begeistern?«49

Nun, wir können vermuten, dass ebendadurch dem jungen Heuss der Anschluss an Naumann eher erleichtert wurde. Für ihn in Württemberg bedeutete das Bürgertum etwas anderes als in Berlin, wo man eine neureiche Bourgeoisie vor Augen hatte. Zwar machten ihm feuchtfröhliche Abende und Nächte in der Schwabinger Bohème zwischendurch Spaß, und in seinen Briefen an Lulu von Strauß und Torney foppt er zuweilen die Biederkeit der Bückeburgerin; aber eine fundamentale Empörung gegen die Bürgerlichkeit scheint bei ihm nie sehr lange gewährt zu haben. »Eigentlich wäre ich gern ein Bohemien gewesen, aber dazu gehörten Liebesgeschichten und Schulden, beides hatte ich nicht«50