Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen - Ella Carina Werner - E-Book
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Ella Carina Werner

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Beschreibung

Mit den Jahren wird das Leben immer wunderbarer, vor allem als Frau: Nie mehr Schulsport, kaum noch schlechte Flirts und irgendwann, halleluja, das Ende der lästigen Bluterei in der Gestalt der Menopause. Um sich die Wartezeit bis zu diesem Fest zu verkürzen, stürzt die Satirikerin Ella Carina Werner beim Whisky-Tasting ab, zankt mit dem Onkel über Frauenfußball, tanzt berauscht auf dritten Hochzeiten und tritt am Ende das wagemutigste Abenteuer ihres Lebens an: ein Wellness-Wochenende mit der eigenen Mutter. In rasanten Geschichten wird gelabert, geknutscht, gesoffen, gestritten und über die großen Fragen des Lebens nachgedacht – und Ella Carina Werner «outet sich als Feministin von höchsten Komikgnaden» (Hamburger Abendblatt).

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Seitenzahl: 183

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Ella Carina Werner

Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen

Geschichten aus meinem Leben

 

 

 

Über dieses Buch

Mit den Jahren wird das Leben immer wunderbarer, vor allem als Frau: nie mehr Schulsport, kaum noch schlechte Flirts und irgendwann, halleluja, das Ende der lästigen Bluterei in der Gestalt der Menopause. Um sich die Wartezeit bis zu diesem Fest zu verkürzen, stürzt die Satirikerin Ella Carina Werner beim Whisky-Tasting ab, zankt mit dem Onkel über Frauenfußball, tanzt berauscht auf dritten Hochzeiten und tritt am Ende das wagemutigste Abenteuer ihres Lebens an: ein Wellness-Wochenende mit der eigenen Mutter. In rasanten Geschichten wird gelabert, geknutscht, gesoffen, gestritten und über die großen Fragen des Lebens nachgedacht – und Ella Carina Werner «outet sich als Feministin von höchsten Komikgnaden» (Hamburger Abendblatt).

Vita

Ella Carina Werner, geb. 1979, war Redakteurin des Satiremagazins TITANIC, inzwischen ist sie dort Mitherausgeberin und schreibt die monatliche Kolumne «Rosen in Beton». Nebenher veröffentlicht sie Satiren u.a. in der taz, dem Missy Magazine oder der Frankfurter Rundschau. Außerdem ist sie Mitglied der Lesebühne «Dem Pöbel zur Freude» im Centralkomitee in Hamburg. 2020 erschien ihr gefeierter Geschichtenband «Der Untergang des Abendkleides», über den Spiegel Online schrieb: «Wie Kafka nach einem guten Joint».

Impressum

Danke an die Stadt Hamburg für das «Zukunftsstipendium für Literatur» sowie an das Cartoonisten-Duo Hauck & Bauer, das die Autorin zu diesem Titel inspiriert hat.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Katharina Schmidt Kwittiseeds

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01420-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Ich bin gerne eine Frau

Beim Therapeuten

Das zehnte Jahr

Taxi, Taxi!

Liebe mit Hindernissen

Was ich an mir nicht mag

Torfmonster

Nur wir zwei

Schieß doch

Das Bett

Tut mir leid

Grüße aus der rollenden Gruft

Immer was zu tun

Nur geil

Gut leben

Vetternwirtschaft

Hawaii

Es geht mir gut

Die ideale Putzkraft

Pizza für alle

Wo ich herkomme

Dämonen

Schlechter Flirt

Das nächste große Fest

Mehr Drama

Mein Buch

Für Marie Marcks, in Verehrung

Ich bin gerne eine Frau

Ich bin gerne eine Frau. Als Frau kann ich Sachen machen, die ich sonst nicht machen könnte. Zum Beispiel in Frauensaunas gehen. Zum Beispiel auf Frauenparkplätzen stehen, stundenlang, auch ohne Auto.

Als Frau kann ich immer und überall in Tränen ausbrechen, etwa bei der Frage, wer den Müll rausbringt. Ich darf, nein muss mich von Hausarbeit wie Staubsaugen und Kloputzen fernhalten, um nicht in jahrtausendealte Geschlechterstereotype zurückzufallen. «Sorry, geht jetzt nicht», sage ich zu meinem Mann. «Frag mich in zweihundert Jahren noch mal.»

Als Frau wächst andauernd etwas in mir heran und wird immer größer. Und noch größer und riesengroß, zum Beispiel der Bock auf Sex.

Als Frau hat niemand, aber wirklich niemand vor mir Angst. Ich kann mit dunkler Sonnenbrille und Trenchcoat an einem Spielplatz entlangpromenieren, «Kindärr! Leckärr!» krakeelen, und niemand ruft die Polizei.

Als Frau kann ich schlüpfrige Witze erzählen. Die dümmsten und schmierigsten, zum Beispiel diesen einen mit der sprechenden Banane und der Nonne, und die Leute rollen nur ein bisschen mit den Augen. Schon okay, denken die Leute, jede gesellschaftliche Gruppe darf mal ein paar Jahrhunderte neben der Spur sein.

Ich kann mich mit Annalena Baerbock identifizieren. Ich kann mich mit Michelle Obama identifizieren. Ich kann mich mit Pippi Langstrumpf, der Loreley und sämtlichen Bond-Girls identifizieren, vor allem den bösen, die auch nie was im Haushalt machen, die auch nie den Müll rausbringen. Mit James Bond kann ich mich nicht identifizieren, den gibt’s doch nicht in echt.

Ich bin sanftmütig. Ich bin sozialkompetent. Scheiß die Wand an, bin ich sozialkompetent – so sehr, dass ich mich in jeden hineinfühlen kann. Ich kann mich in König Charles III. hineinfühlen. Ich kann mich in Gott hineinfühlen. Ich kann mich in Friedrich Merz hineinfühlen, ganz tief, bis in die hintersten Windungen seines Hirns. Bisschen gruselig ist das, sich stundenlang in Friedrich Merz hineinzufühlen, durch seine Gedankengänge zu irren wie durch eines dieser schlecht besuchten Mais-Labyrinthe im strukturschwachen Hinterland, und es wird langsam dunkel.

Als Frau bin ich an vielen historischen Verbrechen gar nicht groß schuld. Am Kolonialismus bin ich nicht groß schuld. An der Abholzung europäischer Urwälder bin ich nicht groß schuld. Am Aufstieg der NSDAP bin ich, okay, durchaus auch ganz ordentlich schuld. Am Aufstieg des Christentums aber nicht!

Den Untergang der Titanic hätte ich vermutlich im Rettungsboot überlebt. Den Ersten Weltkrieg hätte ich vermutlich auch überlebt.

Nur in Asien wäre ich vielleicht niemals geboren worden.

Unwahrscheinlich, dass ich irgendwann mal Amok laufe. Unwahrscheinlich, dass ich mal an die Front muss, mit fünfzig glatzköpfig werde oder eine cholerische Dax-Vorstandsvorsitzende mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung. Allenfalls eine cholerische Narzisstin im mittleren Management wäre realistisch.

Als Frau bin ich immer und überall Teil einer unterdrückten Minderheit. Als Frau habe ich jede Menge interessante Diskriminierungserfahrungen, auch wenn ich ansonsten weiß und privilegiert bin. Als Frau bin ich immer Opfer des jahrtausendealten Patriarchats, selbst wenn ich lediglich meine EC-Karte im Supermarkt liegen gelassen habe oder die S-Bahn verpasst.

Als Frau bin ich ein Mensch mit faszinierenden Geschichten. Die irrsten Anekdoten kann ich erzählen, wann immer meine künftigen Enkelkinder mich umringen: «Oma, erzähl noch mal von deiner Oma, die nicht Fahrrad mit Stange fahren durfte, weil das sexgeil macht», und von allen schlimmen Frauenkrankheiten wie Hysterie und Nymphomanie.

Ich habe ein Frauenherz. Ich habe Frauenhände. Ich habe einen Frauenkörper. Gott, ist der klein und zerbrechlich, man mag ihn kaum antippen. So klein, dass ich damit überall hineinklettern kann, auch an schwer erreichbare Orte: Diamantenhöhlen, Minikühlschränke in Hotels oder das Kaninchenloch im Wunderland.

Ich kann aufs Damenklo der Hamburger Staatsoper gehen. Herrlich horizonterweiternd ist es dort. Mit fünfzig, sechzig Frauen hocken wir gemütlich im Vorraum der drei Damentoiletten nach der «Carmen»-Premiere: illegales Glücksspiel, Koks, inspirierende Gespräche über Metaphysik und die großen Fragen der Vereinbarkeit, vor allem die von Stilettos und Socken.

Als Frau habe ich in den letzten Jahrzehnten unglaublich viel errungen. Ich stehe auf den Schultern anderer Frauen. Eine supersolidarische, fernsehturmhohe Pyramide sind wir, und alle sind da: Angela Merkel ist da, und Kamala Harris ist da, Miss Marple und Mutter Courage, und – nice to meet you again! – Queen Elisabeth II. ist auch wieder da, ferner Helen Mirren und Beyoncé, außer Alice Weidel und Giorgia Meloni, die sind irgendwo anders.

Mir geht es gut. Ich habe das Wahlrecht. Ich kann Auto fahren. Ich kann Hosen tragen – so super, dieses Hosentragen – und mich in einer Hose aufs Fahrrad schwingen, zu meiner Arbeitsstelle, ohne Unterschriftenzettel meines Mannes. Ich kann ins Kino gehen. Ich kann fliegen. Ich kann mich in die Erde graben, durch den glühend heißen Erdkern hindurch und am anderen Ende wieder heraus. Ich kann die Erderwärmung rückgängig machen. Mache ich aber nicht. Ist ja nicht meine Erderwärmung. War ich Kohlekraftwerksbetreiberin oder ihr? Ich kann nicht immer den Karren aus dem Dreck ziehen wie Christine Lagarde oder Andrea Nahles.

Ich kann zaubern. Ich kann Brunnen vergiften, nach Mitternacht als Katze herumschleichen und mit dem Teufel parlieren, auf Augenhöhe, zum Beispiel über den Katholizismus oder James Bond.

«Roger Moore war aber schon der beste Bond aller Zeiten», fachsimpelt der Teufel. «Und sage mal, kennst du schon den Witz mit der sprechenden Banane und der Nonne, uahahaha?»

Ich kann in die «Frauen Union» eintreten, also könnte. Ich kann mit Tieren sprechen. Ich kann einen Orgasmus haben, ohne dass es irgendwer von außen sieht. Sieht echt keiner. Zum Beispiel gerade jetzt. Und jetzt noch einen. Multipel nennt man das. Dafür muss ich mir gar nichts Erotisches vorstellen. Dafür denke ich einfach noch mal an mein Wahlrecht und schwimme in Endorphinen vor Glück.

So super, dieses Frausein. Aber mehr fällt mir jetzt nicht ein.

Ach doch, eine Sache. Als Frau kann man länger leben, also statistisch, wenn man es geschickt anstellt. Hundert, hundertzehn Jahre kann man da heute werden, wenn man viele Hülsenfrüchte, Obst und frische Sprossen isst, keinen Alkohol trinkt und nicht raucht. Also ich leider nicht. Aber anderen Frauen würde ich das von Herzen gönnen.

Beim Therapeuten

Herrlich, diese weichen Kippsessel. Wie tief man darin versinkt. Ich hänge da, den Kopf an das schwarze Leder geschmiegt, und die Sätze schwallen nur so aus mir heraus. Im Schein der hypnotischen Salzkristalllampe referiere ich meine neuerliche Angst vor dem Älterwerden. Anschließend streife ich meine Schlafprobleme und benenne alle meine Ticks in alphabetischer Reihenfolge.

Mein vollbärtiges Gegenüber, im nachtblauen Seidenhemd, die Beine im gegenüberliegenden Kippsessel übereinandergeschlagen, nickt.

«Und dann immer dieser Druck, allen Anforderungen gerecht zu werden», offenbare ich. «Alles unter einen Hut zu kriegen. Familie, Körperpflege, Karriere … na, wenn es wenigstens eine richtige Karriere wäre! Und immer wollen alle irgendwas von mir, also außer mein Mann. Vor allem die Kinder. Gott, sind das inzwischen viele, ich mag gar nicht nachzählen. Und dann …»

Ich betrachte die abwesenden Augen meines Gesprächspartners. «Ähm, Papa?»

«Ja?», sagt mein Vater und blinzelt durch seine Brillengläser.

«Was spielst du denn da eigentlich mit den Puppen herum?», erkundige ich mich. «Langweile ich dich?»

Mein Vater zuckt zusammen, lässt die Therapiepuppen Lutz und Linda blitzschnell unter der Tischplatte verschwinden. Mein Vater arbeitet als Psychotherapeut, seit 42 Jahren. Das hier ist seine Praxis.

«Nein, nein», sagt er rasch, «erzähl mir ruhig alles. Alles ist wichtig. Alles muss raus, genau wie beim Restpostenmarkt. Obwohl du das mit dem Erwartungsdruck», erinnert er sich, «auch schon letzten Sonntag beim Kaffee erzählt hast. Und am vorletzten … Egal, red einfach weiter, ich bin ganz Ohr!»

«Na gut.»

Ich lasse mich zurück in den Therapiesessel sacken, so tief, dass ich niemals mehr hinauswill. Ich rede weiter, immer weiter. Minutenlang berichte ich von meiner Furcht vor literarischer Bedeutungslosigkeit und mache einen Exkurs zum Thema Nutella-Brote nach Mitternacht. Mein Vater nickt, in immer größer werdenden Intervallen.

«Und dann dieser Druck, immer neue Texte abliefern zu müssen», sage ich. «Immer frische, freche Texte über Kultur und Politik … Und dabei ist doch alles, was ich eigentlich im Leben will, ein Hund. So ein schnuffiger, flauschiger, weißt du? Einer, der mich vergöttert. Wo die Kinder ja mit dem Thema schon durch sind. Und … Papa?»

«Hmhmhm?»

«Sag mal, bist du gerade eingenickt?»

«Was, ich?», sagt mein Vater und reißt die Augen auf, jetzt sitzt er wieder senkrecht. «Das gehört doch zu meiner Methode dazu», verteidigt er sich. «Das ist der Job des Therapeuten: komplett abzuschalten, sich in die Gedankenwelt des Patienten zu versenken, ganz tief! Quatsch mit Soße», räumt er ein, «ja, ich war eingenickt! Zieh die letzten fünf Minuten von den Therapiekosten ab, die die Krankenkasse für Angehörige eh nicht zahlt.»

«Schon okay», sage ich und nehme wieder eine gemütliche Sitzposition ein. Wo war ich noch mal?

«Und dann habe ich seit Wochen ein schlechtes Gewissen, weil ich den Jüngsten so früh in die Krippe gegeben habe. Nur wegen meiner eigenen, na, nennen wir es doch mal so: Karriere. Und dabei will ich doch eine wunderbare Mutter sein. Und erfolgreich. Oder ist mir der Erfolg egal? Und Geld verdienen will ich auch. Oder ist mir Geld egal? Ich will nicht an Geld denken, ich bin doch Marxistin!»

«Ja, was denn nun», murmelt mein Vater und schiebt seine Sessellehne ungeduldig vor und zurück. «Hü oder hott? In deinem Alter habe ich schon meine zweite Praxis aufgemacht. Mädchen, du musst doch langsam mal wissen, was du im Leben willst!»

«Du könntest mich auch mal ausreden lassen, Papa.»

«Upsi», sagt mein Vater und hebt die Hände in die Luft. «Tut mir leid. Aber du musst auch mal Entscheidungen treffen, Mäuschen!»

«Mäuschen?», frage ich spitz zurück. «Sag mal, nennst du deine anderen Patientinnen auch so? Und redest du mit denen auch in diesem unterschwellig aggressiven Ton?»

«Meine anderen Patientinnen», antwortet mein Vater, «lamentieren nicht jahrelang über immer dieselben Lappalien. Und legen, by the way, nicht ihre stinkenden Socken auf meinen Therapietisch.»

«Papa?»

«Ja?»

«Wie wäre es mal mit bedingungsloser Empathie gegenüber deinen Patient*innen?», frage ich. «Das predigst du doch immer.»

«Ja», sagt mein Vater, «aber manchmal fällt es sehr, sehr schwer.»

Wir schweigen.

«Ich glaube», sage ich, «diesem Therapiegespräch fehlt es an professioneller Distanz. Du hast gesagt, das könnte zwischen uns klappen. Du hast gesagt, so könnte ich die monatelange Warteliste auf einen Therapieplatz umgehen und so würde ich nicht deinen Berufskollegen in die Hände fallen, diesen Laberheinis und Geldmachern.»

«Und Kolleginnen!», stoßseufzt mein Vater und greift nach seinem Anti-Stress-Ball. «Da kommt mir eine Idee», schiebt er nach, jetzt wieder im sonoren Therapeutensound. «Wir können uns siezen, dann könnte es klappen.»

Warum eigentlich nicht.

«Also, was ich Ihnen noch offenbaren wollte», hole ich aus, «dieser ewige Erwartungsdruck, dieses Es-immer-allen-recht-machen-Wollen, das geht vielleicht zurück auf meine Kindheit.»

«Moooment, Ihre Kindheit war tipptopp!»

«Ich will nur sagen: Immer, wenn ich an meine Mutter denke …»

«Lass deine Mutter aus dem Spiel!»

«Wie jetzt», sage ich, «du sagst doch immer, die Weichen würden in der frühen Kindheit gestellt. Und das geht nicht ohne Mutter. Und Vater.»

Mein Vater sagt, wenn ich auf Freud anspiele: Freud sei tot, die Psychoanalyse ein Irrweg des 20. Jahrhunderts und es gebe heute ganz wunderbare Therapieansätze, die mehr die «gesellschaftliche Sozialisation» in den Vordergrund stellten. Die «Peergroup» habe ja schließlich auch noch ein Wörtchen mitzureden, «darunter deine bekloppten Schulfreundinnen».

Ich versuche, meine Fingernägel nicht in den Hals meines Vaters zu rammen, sondern in den Anti-Stress-Ball.

Es klappt.

Wir entscheiden, neutraleres Terrain zu betreten und etwas Unverfängliches zu thematisieren. Etwas Nettes, Banales, ganz und gar Harmloses. Etwas, das die Gemüter wieder herunterkühlt.

Meine Ehe. Ich finde meine Ehe eigentlich recht gut, richtiggehend nett, kann man machen. Aber ob mein Mann das auch findet?

«Ich glaube», sage ich, «er findet mich manchmal sehr anstrengend. Ich glaube, er findet, ich rede zu viel.»

«Heiliger Strohsack, das kann ich verstehen», brummelt mein Vater, «also, ich meine: Dann müsst ihr beiden wohl eine andere Kommunikationsebene miteinander finden, eure Gesprächsführung optimieren.»

«Und manchmal, aber eher selten», gestehe ich, «nervt er mich auch.»

«Ihr Mann?», fällt mein Vater plötzlich wieder ins Sie, «Ihr Mann ist ein grundsolider Kerl! Seien Sie froh, dass Sie so einen gefunden haben. Und verbeamtet ist er auch.»

Auf den Pluspunkt können wir uns einigen.

Dann endlich nähern wir uns den ganz großen, existenziellen Fragen. Wer bin ich? Wo will ich hin? Was will ich vom Leben?

«Ich möchte endlich wieder mal etwas Abenteuerliches machen», wehklage ich. «Ich will auf einem Esel durch Kirgistan reisen. Nicht immer nur auf diesen einen Campingplatz nach Dänemark!»

Ich sacke zusammen. «Ja, manchmal frage ich mich schon», seufze ich und zupfe elegisch an meinem ersten weißen Haar am Kinn, «ob das jetzt im Leben wirklich alles war.»

«Herrgott, mein Mädchen, natürlich ist das alles!», ruft mein Vater aus. «Was soll denn da noch kommen? Das himmlische Paradies voller jugendlicher Liebhaber und deinem überzuckerten Lakritzschnaps? Sag mal, Mädel, hast du keine anderen Probleme? Mach Sport, geh spazieren, kauf dir die ‹Psychologie heute› oder bequatsch dein ach so aufreibendes Leben mit deinen immer noch bekloppten Freundinnen, aber nicht mit mir!»

Ich drohe mit Abbruch der Therapie und einem vernichtenden Urteil beim Ärztebewertungsportal jameda.de.

«Dann suche ich mir eben einen anderen Therapeuten», sage ich. «Einen, der mich versteht. Vielleicht diesen einen charismatischen Psychiater aus der Bahnhofstraße.»

«Nicht den durchgeknallten Petersen!», brüllt mein Vater, seine Wangen glühen jetzt mit der Salzkristalllampe um die Wette.

Um emotional wieder runterzukommen, schlägt mein Vater eine jahrhundertealte, gut erprobte Entspannungstechnik vor: eine rauchen. Gemeinsam, auf dem Praxisbalkon.

Und dann noch eine, um ganz sicherzugehen.

Es wirkt. Mein Vater empfiehlt, wir könnten es, als letzten Versuch, mit den Therapiepuppen probieren, das brächte vielleicht doch noch die gebotene Distanz rein.

Ich denke nach. Eigentlich sind diese esoterischen Laberpuppen nicht so ganz mein Ding. Eigentlich will ich richtige, professionelle Hilfe, mit Zehn-Punkte-Plänen und Tabletten. Richtig schönen, schockfarbenen Tabletten, groß wie Kronkorken. Aber na gut. Auch wenn mich der neue Gesprächsansatz ein wenig Überwindung kostet.

Ich schiebe die linke Hand in die weibliche Klappmaulpuppe mit den rötlichen Locken und Sommersprossen. Ich räuspere mich. Sammle mich. Oh Gott, ist das albern! Dann bewege ich Daumen und Finger beherzt aufeinander zu und wieder voneinander weg. Ich stecke meine ganze Persönlichkeit, mein Innerstes, mein Es, Ich und Über-Ich in diese eine flauschige, leicht schmuddelige Stofffigur. Es klappt.

«Hallo, mein Name ist Ella», sagt die Puppe, «ich habe ein paar Probleme, und niemand kann sie lösen.»

«Haha, du musst doch die Stimme nicht verstellen wie ein Mainzelmännchen», lacht mein Vater. «Lass diese alberne Quietschestimme sein. Red einfach wie du selbst!»

Ich lege meine Stimme eine Quinte tiefer.

«Hallo, mein Name ist Ella», sagt die Puppe, «ich habe ein paar Probleme, und niemand kann sie lösen, denn mein Vater ist ein miserabler Therapeut.»

«Sooo nicht!», ruft mein Vater und hebt den zweiten Anti-Stress-Ball wie eine Handgranate vom Tisch.

«Haha, wie du dich schon nennst», spöttelt meine Puppe. «Psychologischer Psychotherapeut! Ich nenne mich doch auch nicht satirische Satirikerin. Und dann diese ganzen billigen Kunstdrucke, die hier herumhängen. ‹Der Schrei› von Edvard Munch, also stereotyper geht’s nicht. Und übrigens», empört sich die Puppe, den Mund theatralisch aufreißend, «ich müffle! Warum steckt mich keiner in die Waschmaschine? Ist bei hundert Euro Stundensatz dafür kein Geld da, wenn ich fragen darf?»

Sämtliche Therapiepuppen, auch die staubbedeckten Marionetten, auch das Böse-Träume-Monster auf dem Schrank, nicken zustimmend. Linda und Lutz melden sich und sagen, sie würden jetzt auch gerne mal eine rauchen.

Da klingelt es.

«Oh, da ist ja schon die nächste Patientin», sagt mein Vater und wieselt zur Praxistür, er wirkt ein wenig erleichtert. Auf der Fußmatte steht eine freundliche, bisschen k.o. aussehende, stark übernächtigte Frau.

«Hallo, da bin ich. Bin ich schon dran?», sagt meine Schwester. Himmel, meine Schwester braucht auch dringend eine Sitzung, so fertig, wie sie aussieht.

Na dann. Ich lasse ihr den Vortritt. Beschwingt und überraschend gut durchtherapiert radle ich nach Haus.

Das zehnte Jahr

Alle zehn Jahre gehe ich in einen Dessousladen und kaufe mir einen Satz neuer Unterwäsche. Freude habe ich nicht daran, aber es muss sein. Die alte Unterwäsche ist bereits ein wenig verschlissen. Was sage ich: zerfasert, zerlumpt, komplett am Ende. Die Ränder sind aufgeribbelt, lose Fäden hängen herab, Metallbügel ragen aus den BH-Körbchen wie Knochen aus einem Kotelett.

Die Liebe muss man lebendig halten. Der Mond schimmert durchs Wohnzimmerfenster. Mein Mann liegt auf dem Sofa, im Schein der schwachen Funzellampe, liest. Ich setze mich auf den Sofarand und spiele am Gürtel meines Bademantels. Auch der Bademantel hat schon Löcher.

«Wie wäre es … ich kaufe mir neue Unterwäsche?», raune ich durchs Halbdunkel.

«Mir egal», murmelt mein Mann, die Nase weiter im Buch, «ich mag dich auch so.»

Das ist das Problem. Er sollte mich nicht «auch so» mögen. Er sollte Druck auf mich ausüben, mich permanent im Unklaren lassen, wie diese ruchlosen Pick-up-Artists, von denen man ab und an liest. Er sollte mich zum Einkaufen animieren, ja drängen. Er sollte in seine Hose greifen und einen Zweihunderteuroschein hervorziehen oder seine Kreditkarte.

«Aus Frottee», sage ich. «Pfefferminzgrün. Könnte kratzen. Vor allem von außen.» Hat er nicht diese Acryl-Allergie?

«Mach, mach», gähnt mein Mann und liest weiter.

Ich gehe auf die Internetseite eines großen Online-Versandhauses, gebe als Suchbegriff «Slip» ein und erhalte etliche Treffer. Potzblitz, das sind ja über tausend. Dass es auf der Welt so viele verschiedene Unterhosen gibt! Das nenne ich freie Marktwirtschaft. Schwungvoll scrolle ich runter und hoch, doch die Überfülle an Möglichkeiten lässt mich bald erschaudern. So viele Schlüpfer, in allen Farben des Regenbogens, in allen Formen der Geometrie, dass ich mich wie eine Ostdeutsche fühle, zum ersten Mal im KaDeWe. Verwirrend ist auch das Vokabular. Cup? Bei meinem letzten Einkauf waren das noch Körbchen. Dazu Bralettes, Balconette-BHs, Strappy-Bras … neue, spannende Begrifflichkeiten schwirren durch meinen Kopf, gehen mit der halben Flasche Rotwein eine nie da gewesene Mixtur ein. Ich versuche, das Angebot einzugrenzen, tippe ins Suchfeld «flott», «Hauptsache robust» und «wärmt im Winter», aber das reduziert die Treffer schlagartig auf null.

Das führt zu nichts. So sitze ich übermorgen noch hier. Es gilt, das Angebot gehörig zu verknappen.

Am nächsten Tag fahre ich zum Dessousladen im Einkaufscenter, da war ich schon vor zehn Jahren. Auch die Verkäuferin war damals schon da, nur weniger alt. Ich beobachte sie durchs Schaufenster: eine energisch wirkende Endfünfzigerin in blassgelber Bluse. Kein Kunde ist im Laden. Gelangweilt nagt sie an einem Kugelschreiber. Ich betrete den Laden.

«Hallo», sage ich, «da bin ich wieder!»

Die Verkäuferin zuckt freudig zusammen. Ihre dunkelrot bepinselten Lippen öffnen sich.

«Einen wunderschönen guten Tag! Kann ich helfen?»

«Das ist lieb, aber danke», sage ich, «ich schaue mich erst mal nur um.»

Ich grüble über meine Größe, dann greife ich beherzt nach drei Sets, heißt: Unter- und Oberteil passen zusammen. So viel Bürgerlichkeit muss sein. Früher hätte ich das spießig gefunden, aber früher fand ich auch noch nicht Olaf Scholz gut.

Ich verschwinde in der Kabine. Der BH ist zu eng. Auch der Schlüpfer, genauer gesagt die «Panty», über meine alte Unterhose gezogen, sieht wenig vorteilhaft aus.

«Und? Schon was an?» Die aufgeweckte Stimme der Verkäuferin durch den Kabinenvorhang.

«Ja. Aber passt nicht so.»

«Soll ich mal gucken?»

«Nicht nötig», sage ich schnell, «ich ziehe das gleich wieder aus.»

«Da muss man immer draufgucken», sagt sie. «Professionell draufgucken. Vier Augen sehen mehr als zwei. Oder kommen Sie ruhig raus, hier ist gerade keiner im Laden.»

«Nein, nein», sage ich. «Ich bin gerade nackt, ich ziehe mir gerade das andere Set an. Das weiße.»

Zehn Sekunden vergehen.

«Und?»

«Auch nichts.»

«Das schöne von Hunkemöller? Das kann nicht sein. Ich komme jetzt doch besser mal gucken. Momentchen!»