»Man lebt sein Leben nur einmal« - Thomas Hüetlin - E-Book

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Thomas Hüetlin

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Beschreibung

September 1937. Die Filmfestspiele von Venedig sind gerade zu Ende gegangen. Auf der Terrasse des Hotels Excelsior am Lido sitzt die Hollywood-Diva Marlene Dietrich mit Josef von Sternberg, der sie als Regisseur von »Der blaue Engel« zum Weltstar gemacht hat. Dann tritt ein ganz anderer Ausnahmekünstler an den Tisch, stellt sich vor und beginnt einen charmanten Smalltalk: der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque, der mit seinem Antikriegsroman »Im Westen nichts Neues« Weltruhm erlangthat. In diesem Moment beginnt eine der wildesten Liebesaffären des 20. Jahrhunderts, eine Amour fou, die nur wenige Jahre dauert und beide fast täglich an ihre emotionalen Grenzen führt. Eine Liebesgeschichte voller Vergnügungen und Ekstasen, voller Enttäuschungen und Neuanfängen auf dem Hintergrund der heraufziehenden Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkriegs. Beide sind wie Zehntausende auf der Flucht vor dem Terrorsystem der Nazis in ihrem Heimatland, beide stecken in schmerzhaften Schaffens- und Karrierekrisen. Beide pendeln zwischen Paris, Cap d'Antibes, Ancona, Sankt Moritz und New York, Beverly Hills, zwischen der alten und der neuen Welt - getrieben von Zukunftsängsten und Selbstzweifeln, aber auch auf der ständigen Suche nach Ruhm und Anerkennung für ihre Arbeit. Auf der Basis von Tagebüchern, Briefwechseln und Erinnerungen vieler Begleiter und Zeitgenossen erzählt Thomas Hüetlin im Stil einer fesselnden Reportage die Geschichte einer Jahrhundertliebe zweier Lichtgestalten der deutschen Kultur im Angesicht des heraufziehenden Schreckens.

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Thomas Hüetlin

»Man lebt sein Leben nur einmal«

Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque – die Geschichte einer grenzenlosen Leidenschaft

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Thomas Hüetlin

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Thomas Hüetlin

Thomas Hüetlin, geboren 1961, war lange Reporter beim SPIEGEL sowie Korrespondent in New York und London. Er erhielt für seine Arbeit zahlreiche Auszeichnungen wie den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis und den Deutschen Reporterpreis. Bücher u. a. »Mein Leben am Limit/Gespräche mit Reinhold Messner« (2004), »Gute Freunde – die wahre Geschichte des FC Bayern München« (2006), »Udo« (mit und über Udo Lindenberg, 2018) und »Berlin, 24. Juni 1922/Der Rathenaumord« (2022).

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Über dieses Buch

September 1937. Die Filmfestspiele von Venedig sind gerade zu Ende gegangen. Auf der Terrasse des Hotels Excelsior am Lido sitzt die Hollywood-Diva Marlene Dietrich mit Josef von Sternberg, der sie als Regisseur von »Der blaue Engel« zum Weltstar gemacht hat. Dann tritt ein ganz anderer Ausnahmekünstler an den Tisch, stellt sich vor und beginnt einen charmanten Smalltalk: der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque, der mit seinem Antikriegsroman »Im Westen nichts Neues« Weltruhm erlangt hat.

In diesem Moment beginnt eine der wildesten Liebesaffären des 20. Jahrhunderts, eine Amour fou, die nur wenige Jahre dauert und beide fast täglich an ihre emotionalen Grenzen führt. Eine Liebesgeschichte voller Vergnügungen und Ekstasen, voller Enttäuschungen und Neuanfängen auf dem Hintergrund der heraufziehenden Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkriegs. Beide sind wie Zehntausende auf der Flucht vor dem Terrorsystem der Nazis in ihrem Heimatland, beide stecken in schmerzhaften Schaffens- und Karrierekrisen. Beide pendeln zwischen Paris, Cap d‘Antibes, Ancona, Sankt Moritz und New York, Beverly Hills, zwischen der alten und der neuen Welt - getrieben von Zukunftsängsten und Selbstzweifeln, aber auch auf der ständigen Suche nach Ruhm und Anerkennung für ihre Arbeit. Auf der Basis von Tagebüchern, Briefwechseln und Erinnerungen vieler Begleiter und Zeitgenossen erzählt Thomas Hüetlin im Stil einer fesselnden Reportage die Geschichte einer Jahrhundertliebe zweier Lichtgestalten der deutschen Kultur im Angesicht des heraufziehenden Schreckens.

Inhaltsverzeichnis

Bild von Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque

Widmung

Frankreich, 1939 

Venedig, 1937 

Paris, 1937 

Paris, 1937 

Venedig/Adria/Paris/London/Porto Ronco, 1936 

Berlin/Köln, 1936 

Porto Ronco/Beverly Hills, 1937 

Paris/Beverly Hills/Porto Ronco, 1937/38 

St. Moritz/Beverly Hills, 1938 

Berlin, 1901–1914 

Osnabrück, 1898–1914 

Berlin, 1922–1929 

Osnabrück/Ypern/Duisburg, 1916–1918 

Berlin, 1918–1933 

Berlin/Beverly Hills, 1929–1934 

Lazarett, 1918 

Beverly Hills, 1934–1935 

Osnabrück/Hannover, 1919–1925 

Beverly Hills, 1936 

Berlin, 1925–1929 

Porto Ronco/Beverly Hills, 1938 

Berlin/Porto Ronco/ Beverly Hills, 1938 

Wien/Porto Ronco, 1938 

Beverly Hills/Porto Ronco/ »Normandie«, 1938 

Paris, 1938 

Porto Ronco, 1938 

Paris, 1938 

Cap d’Antibes, 1938 

Berlin, 1938 

Cap d’Antibes/Paris, 1938 

Berlin, 1938 

Paris, 1938 

München, 1938 

Auf der »Normandie«/ Beverly Hills, 1938 

Porto Ronco/Beverly Hills, 1938 

Berlin/Prag, 1939 

Die »Queen Mary«/New York/Beverly Hills, 1939 

New York, 1939 

Berlin, 1939 

Cap d’Antibes, 1939 

Bayreuth, 1939 

Cap d’Antibes, 1939 

Berchtesgaden, Berghof, 1939 

Westwood/Beverly Hills, 1942 

Berlin/New York/Porto Ronco – nach dem Krieg

Dank

Literaturhinweise

Zitatquellen

Weitere Literatur

Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque im »El Morocco«, NY, 1940, Foto: Jerome Zerbe

Für unsere mutigen Töchter

Frankreich, 1939 

Der graue Puma, wie der Schriftsteller Erich Maria Remarque seinen geliebten Lancia nannte, spuckte und stotterte bereits hinter Cannes. Es war ein herrlicher Sommertag, tiefblau und durchsichtig wie eine Flasche Evian, der 20.August 1939.

Ein Tag, um das Tempo rauszunehmen, ruhig durchzuatmen und das majestätische Licht Südfrankreichs Ende August zu genießen.

Aber Remarque hatte es eilig.

Auf dem Beifahrersitz saß ein Teenager, die vierzehn Jahre alte Maria Sieber, einzige Tochter der deutschen Schauspielerin Marlene Dietrich. Die Diva war die Geliebte Remarques, von ihm ebenfalls zärtlich »Puma« genannt. Damit es nicht zu Verwechslungen kam, unterschied Remarque die Pumas nach Farbe. Der graue Puma, das war der Lancia. Das goldene Puma, das war der Kosename für den größten deutschsprachigen Filmstar des 20. Jahrhunderts.

Dietrich drehte gerade in Hollywood ihren ersten Western, aber ihre Gedanken kreisten um ihre Tochter und Remarque in Frankreich, die sie beide in Sicherheit bringen wollte. Die Diva hatte Tickets für die beiden auf der Queen Mary buchen lassen, einem jener Luxusdampfer mit Tanzsaal, Swimmingpool, Orchester und weißen gestärkten Tischdecken. In zehn Tagen, am 30.August, sollte die Queen Mary ablegen – von Cherbourg.

Aber jetzt spuckte und stotterte der graue Puma, und bis Paris, dem Etappenziel des folgenden Tages, waren es noch gut 900Kilometer.

Remarque versuchte, die Contenance zu wahren. Fluchen verbot sich. Was sollte Marlenes Tochter, der Teenager auf dem Beifahrersitz, denken? Die Nachrichten waren schlimm genug, die Gerüchte noch schlimmer.

Hitler war vor anderthalb Jahren in Österreich einmarschiert, vor sechs Monaten in Prag. Das Münchener Abkommen, der Höhepunkt des Wegduckens der Westmächte, war mit deutschen Panzern auf dem Wenzelsplatz obsolet. Remarque war radikaler Pazifist, aber München war Irrsinn gewesen. Dazu die aggressive Hochrüstung in Deutschland, die Umstellung der Wirtschaft in Richtung eines großen Krieges. Ein Land in Uniform, voller Wut und Fackeln. Schließlich der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin. Die beiden Diktatoren beschlossen darin in einem geheimen Zusatzabkommen, die Landkarte Polens in Stücke zu reißen. Es war wie ein Countdown. In die falsche Richtung. In die Katastrophe.

Neulich hatte der Autor des Weltbestsellers und Antikriegsromans »Im Westen nichts Neues« noch gesagt: »Als ich vor 20 Jahren im Krieg dies schrieb, wollte ich die Welt retten. Vor ein paar Wochen in Porto Ronco sah ich wieder einen Krieg heraufziehen, aber ich dachte nur daran, meine Gemäldesammlung zu retten.«

Remarque rang mit sich hinterm Steuer. Die Gemäldesammlung, bestehend auch aus all dem, was die Nazis als entartet verhöhnten und bekämpften – seinen van Gogh, den Cézanne, den Picasso –, sollte auf dem Weg nach Amerika sein, aber Maria Sieber, von Marlene »das Kind« oder »Kater« genannt, saß mit ihm in einem Auto, das den Geist aufzugeben drohte.

Um sich selbst hatte Remarque im Gegensatz zu vielen anderen Exilanten, die sich nun erneut aufmachen mussten, keine Angst. Wäre es nach ihm gegangen, wäre er noch in Europa geblieben, wäre er noch nicht nach Amerika geflüchtet. Gleich nach der Machtübernahme, 1933, war sein Haus im Tessin eine Anlaufstelle für jene geworden, die versuchten, sich vor Hitler in Sicherheit zu bringen. Einer davon, der jüdische Journalist Felix Manuel Mendelssohn, wurde in Remarques Garten getötet. Eine Verwechslung, hieß es sofort. Mit ihm, dem Hausherren. Remarque hatte weiter Flüchtlinge unterstützt. Liebe deinen Nächsten. Gerade, wenn denen das Leben um die Ohren fliegt.

Remarque schraubte am Vergaser, suchte eine Werkstatt auf, aber das Stottern und Spucken des Lancias hielt an. Schließlich hob er die Haube des Motors an der Seite an, damit der mehr Luft bekam. Die Sicht durch die Windschutzscheibe war nun schwierig, aber Remarque klagte nicht.

Übernachtung in einem Notquartier. »Dicke gestickte Puffs auf der Erde«, schrieb er befremdet und amüsiert in sein Tagebuch, »eine etwas bucklige Besitzerin. Blumentapete. Ein Kimono. Die Toilette gezeigt. Verschwunden.« Am nächsten Tag ging es weiter Richtung Paris, das Land in einer finsteren Choreografie Richtung Abgrund. »Überall Eingezogene mit ihren Köfferchen. Viele Pferdetransporte. Farbige Soldaten. Abends fast gespenstisch. Wildere Nachrichten … Im Lichte der Scheinwerfer die dunklen Kolonnen. Die unruhig ergebenen Pferde in der Nacht. An der Straßenkreuzung von Fontainebleau ein riesiges weißes Kreuz – ein kreidig weißer Schimmel im Scheinwerferlicht. Die stillen Wälder. Der Mond fast voll unter den Ebenen, Matthias Claudius. Viele Gedanken.« So beschrieb Remarque die surreale Szenerie.

Als sie Paris erreichten, wurde die Stimmung nicht besser. Gerade noch die hängenden Köpfe der Bauern, die ihre Tiere an Stricken zogen, als ginge es ins Schlachthaus. Die Agonie der ausgelieferten Provinz lag jetzt hinter ihnen. Aber auch in Paris gingen die Lichter aus. Nicht allmählich, sondern auf Befehl und plötzlich.

In der ewigen Stadt des Lichts war wegen der Kriegsgefahr Verdunklung angeordnet. Remarque versuchte Maria auf dem Beifahrersitz zu trösten. »Noch nie in der neueren Geschichte hat Paris ihre Pracht verstecken müssen. Wir werden auf sie trinken und ihr alles Gute wünschen«, sagte Remarque. Er wollte in das Künstlerlokal Fouqet’s am Champs-Élysées und dort seiner geliebten Stadt Adieu sagen. Hinter den knallroten Markisen wurden seit Jahrzehnten die Berühmtheiten jener Moderne hofiert, die die Nazis in Berlin hassten und bisweilen heimlich beneideten. Das Fouqet’s war eine Zentrale des guten Lebens, des Charmes und der Ausgelassenheit, aber auch der Melancholie, der begüterten Flüchtlinge und manchmal jener, die wenig hatten. Es war ein Ort der Liebe und der Affären. Ein riesiges Durcheinander mit einem der besten Champagnerkeller der Stadt.

Remarque genoss die Weltläufigkeit des Orts – die entschlossene Grazie, mit der sich das Restaurant dem Schicksal entgegenstemmte. Fouqet’s – das war sein Europa, ein funkelnder Platz jener Zivilisation, die nun vielleicht bald von Barbaren in feldgrauen und schwarzen Uniformen niedergewalzt werden könnte.

»Dies ist kein Friedensvertrag, es ist ein Waffenstillstand auf 20 Jahre«, hatte der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen an der Westfront, General Foch, über den Deutschland demütigenden Vertrag von Versailles im Jahr 1919 gesagt. Nun sah es so aus, als ob er recht behalten sollte.

Auf das Jahr genau.

Ausgerechnet Foch, der 1929 im Alter von 77 Jahren eines natürlichen Todes in Paris verstorben war, nachdem auch er Hunderttausende von jungen Männern in sinnlosen Massenangriffen an der festgefahrenen Westfront des Ersten Weltkriegs geopfert hatte.

Ausgerechnet Foch, einer jener arroganten und knallharten Generäle auf beiden Seiten, gegen deren eitle Gewissenlosigkeit Remarque im Jahr 1928 »Im Westen nichts Neues« geschrieben hatte – jenen Roman, dessen Erstausgabe der Verlag mit dem Satz »Remarques Buch ist das Denkmal unseres unbekannten Soldaten – von allen Toten geschrieben« beworben hatte.

Als sie mit dem lahmenden Lancia entlang der abgeernteten Äcker in Richtung Paris gefahren waren, hatte Maria die Resignation in den Gesichtern der Landbewohner bemerkt und Remarque gefragt: »Wissen sie schon, dass sie geschlagen werden?«

»Ja, sie sind alt genug, um sich an den letzten Krieg zu erinnern«, antwortete Remarque. »Schau dir die Gesichter an, Kater. Denk daran: Der Krieg kennt keinen Ruhm, nur den klagenden Ton weinender Mütter.«

Remarque trug die Melancholie jenes Künstlers in sich, der den Ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, als einer der Ersten jenseits von jeder verfälschenden Ideologie beschrieben hatte. Der blutgetränkte Boden der Westfront, die Fleischfetzen der Toten im Stacheldraht, die lauten und stummen Schreie der Schwerverletzten, deren bestmögliches Schicksal es war, den Rest des Lebens als Krüppel zu verbringen. Die Ohnmacht des Einzelnen, wenn er denn tatsächlich des Ruhmes wegen gekommen war, angesichts eines Krieges, der industriell geführt wurde.

All das erlebt und beschrieben zu haben, war bitter, gewiss. Noch bitterer aber war, dass trotz des Welterfolges seines Romans die Menschen nichts daraus gelernt hatten.

Am wenigstens, so schien es, seine Landsleute, die Deutschen. Und sollte es noch eine Steigerung von bitterer geben, dann vielleicht diese: In den Ersten Weltkrieg, argumentierten viele, seien die Deutschen noch schlafwandlerisch hineingestolpert. Aber was Hitler und seine Bande jetzt planten, war etwas ganz anderes: Nun sah es so aus, als hätte man es mit einem brutalen Überfall auf all jene fortschrittlichen Werte zu tun, die Europa in seiner Geschichte hervorgebracht hatte.

An deren Stelle sollte heimtückische Gewalt treten, für all jene, die nicht die Gnade genossen, als Deutsche oder wenigstens Arier eingeordnet zu werden. Für sie gab es nur eine Zukunft als Vasallen der Deutschen oder als deren Sklaven.

Oder den Tod.

Remarque hatte während der Monate zuvor in Paris immer wieder das Elend und die Not der Menschen gesehen (und später in seinem Roman »Arc de Triomphe« genau beschrieben), die bereits im Nachfrieden und Vorkrieg vor Hitler hatten die Flucht antreten müssen. Die Verzweiflung, in billigen Hotels mit abgelaufenen Visa auf ein Wunder zu hoffen, das einen doch noch mit einem Schiffsticket Richtung Nord- oder Südamerika die vermeintliche Rettung bringen würde. Die vollgestopften Koffer mit Büchern, Urkunden und Maßkleidung, die einmal ein bürgerliches Auskommen symbolisiert hatten. Manche hatten sogar aus den Rahmen geschnittene Kunstwerke in ihren Koffern dabei.

Als Notgroschen, wenn überhaupt nichts mehr ginge, waren sie bereit, selbst diese herzugeben für fünf Tage in einer dunklen Kammer auf der Queen Mary.

Remarque selbst hatte ein Ticket für diesen Dampfer nach New York. Mit schlechtem Gewissen blickte er auf jene, die leer ausgegangen waren bei diesem Aufbäumen der Verzweifelten auf dem Weg in die Freiheit. »Leute stehen um die Häuserblocks herum. Scheußliches Gefühl wegzufahren. Alles in einem ist dagegen. Viele Gedanken, viel Verachtung für mich«, notierte Remarque.

Die Nazis hatten, unter Führung von Joseph Goebbels, in Berlin Ende 1930 den Besuchern die Vorführung der Verfilmung von »Im Westen nichts Neues« mit Stinkbomben und weißen Mäusen verleidet.

»Schon nach 10 Minuten gleicht das Kino einem Tollhaus. Die Polizei ist machtlos. Die erbitterte Menge geht tätlich gegen die Juden vor«, hatte Goebbels in seinem Tagebuch triumphiert. Die Besucher hatten gerufen »Juden heraus« und »Hitler steht vor den Toren«. Goebbels, selbst 1 Meter 65 groß und mit einem Klumpfuß gehandicapt, notierte genüsslich weiter:

»Die Juden sind klein und häßlich. Draußen Sturm auf die Kassen. Fensterscheiben klirren. Tausende von Menschen genießen mit Behagen dieses Schauspiel. Die Vorstellung ist abgesetzt, auch die nächste. Wir haben gewonnen.«

Die Hetze des Einpeitschers hatte schnell Wirkung gezeigt. Bereits sechs Tage später wurde der Antikriegsfilm verboten: »Wegen Gefährdung des deutschen Ansehens in der Welt.«

»Ein Triumph«, hatte sich Goebbels gefreut. Und zwar einer, der ihn beliebter machte bis hinauf zu jenem Mann, den er gerne den »Chef« nannte, Adolf Hitler. »Mein Ansehen in Münchens ist durch die Remarque Sache mächtig gestiegen.«

 

Nach der Machtübernahme 1933 hatten sie Remarques Bücher verbrannt mit den Worten: »Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges! Für Erziehung des Volkes im Geist der Wehrhaftigkeit. Ich übergebe der Flamme die Schriften von Erich Maria Remarque.« Sie hatten ihn gerade offiziell aus Deutschland ausgebürgert. »Erich Remark hat mit Unterstützung durch die jüdische Ullstein-Presse in gemeinster und niederträchtigster Weise das Andenken an die Gefallenen des Weltkrieges beschimpft und sich schon dadurch aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Mit dem auf diese Weise erworbenen Geld kaufte er sich eine Villa in der Schweiz. In Porto Ronco bei Locarno unterhielt er bis in letzter Zeit einen regen Verkehr, der sich ausschließlich auf Emigranten, Juden und Kommunisten beschränkte«, berichtete Dr.Werner Best, stellvertretender Gestapochef, dem Auswärtigen Amt.

Aber selbst seine tiefe Abscheu gegen die neuen Machthaber in Deutschland konnten Remarque nicht dazu bringen, sich politisch zu engagieren. Während der gesamten 30er-Jahre gab es viele Aufrufe der Flüchtlinge gegen das Naziregime, unterschrieben von bedeutenden Kollegen wie Heinrich Mann, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger oder Bertolt Brecht. Remarque verweigerte sich in seinem Schweizer Exil diesen Listen. Sein Name tauchte nicht auf. Statt öffentlicher Kritik begnügt er sich mit privatem Gemurmel, wie am Tag des deutschen Einmarsches in Wien, als er angeekelt über die Willfährigkeit der Österreicher schrieb: »Um 11 Uhr abends Beginn der Eroberung Österreichs. Der klarste Krieg – ohne Blut –, den es seit langem gegeben hat. Am 12. Reden, Reden. Niemand hat sich gerührt – wie zu erwarten war. Es gibt in Wien bereits einen A. Hitler-Platz. Die Welt besteht aus Lakaien. Die Arbeiter ausgenommen und wenige andere. Die Magnolien blühen deshalb nicht anders. Der Privatkrieg eines Deklassierten. Damit man in Braunau gezwungen wird, anders über ihn zu denken. Dort, wo man ihm die Ehrenbürgerschaft verweigert hat seinerzeit.«

Auch im Spanischen Bürgerkrieg, ab 1936 eine Art Ouvertüre zu dem, was Europa drei Jahre später mit voller Wucht heimsuchen würde, hielt sich Remarque zurück, obwohl offensichtlich war, für wen sein Herz schlug. Schriftsteller wie George Orwell oder André Malraux kämpften in den internationalen Brigaden gegen die spanischen Faschisten und deren Unterstützer aus Italien und Deutschland. Und Remarque, dessen literarische Helden in vielen seiner Bücher keinen Zweifel lassen an ihrer republikanischen, antifaschistischen Haltung? Remarque versteckte sich. »Aus den Ebenen Spaniens Blutgeruch über Europa«, notierte Remarque im Frühjahr 1937. »Und aus der ganzen Welt der Verwesungsgestank der trägen Herzen. Verfluchtes Jahrhundert! In den Krieg mischten sich zu viele ein 1914/18 – jetzt zu wenig und die Falschen. Der Frieden der Welt, oder wenigstens Europas, hängt an zwei ehrgeizigen Hanswursten, die immer frecher werden, je weniger Widerstand sie spüren.«

Mussolini und Hitler als Hanswurste zu sehen, war eine vor allem angelsächsische Lesart der zwei faschistischen Diktatoren, die mit ihrem Gebrüll, martialischen Gefuchtel und pathetischen Drohgebärden eine manchmal auch komische Note trafen – vor allem, wenn man sie von einer Kultur aus betrachtete, die der Ironie und Selbstironie verpflichtet war.

Hanswurste hin oder her – in Spanien zerstörten Francos Truppen und die der zwei Diktatoren die Republik, und selbst da nicht dabei gewesen zu sein, nagte an Remarque schon damals. »An alles Mögliche gedacht«, schrieb er 1938, »an Spanien. Müsste hingehen.«

Seine Zweifel, die auch Selbstzweifel waren, blieben stärker. Er war fast 40, führte als Bestsellerautor ein luxuriöses Leben zwischen dem Tessin, Paris, London und New York. Immer wieder verdunkelt von einer plötzlich hereinbrechenden persönlichen Schwermut, traumatisiert auch vom Elend des Ersten Weltkriegs.

Ausgerechnet Goebbels hatte ihm, einem Starschreiber, der ein großes Publikum schnell gewinnen konnte, vor einiger Zeit signalisiert, dass er ihn gerne zurück hätte im Reich. Dass er bereit wäre, den Erfolg von »Im Westen nichts Neues« dem jüdischen Ullstein Verlag anzudichten.

Remarque hatte abgelehnt.

Aber an die politische Front wollte er nicht. Dabei blieb es. Er war Schriftsteller. Beide Berufe, so seine Überzeugung, sollte man nicht vermischen, da sonst Literatur zu Propaganda verkomme. »Politik verdirbt nur die Kunst«, fasste er seine Haltung bereits 1936 zusammen. »Man soll Schriftsteller oder Reporter sein, der Schriftsteller soll Augen haben, er soll alles sehen, aber er darf nicht politisieren. Natürlich kommt es vor, dass er dann mit seinen Büchern Politik macht, aber dies muss ohne seinen Willen erfolgen, denn eine Absicht dieser Art tötet die Kunst.«

Er war nicht Thomas Mann, der Nobelpreisträger, der von sich selbstbewusst im amerikanischen Exil sagte: »Wo ich bin, ist Deutschland.« Wenn es ums Schreiben ging, war Remarque unsicher, klagte in seinen Tagebüchern, »bin doch kein Schriftsteller«. Die hinterhältigen Angriffe nach »Im Westen nichts Neues« hatten ihn über Jahre erschüttert. Auf einem Sockel zu stehen, das war nichts für ihn. Auf einem Podium schon gar nichts.

Trotzdem war klar, wem seine Sympathie, sein Herz gehörten. Er war ein radikaler Pazifist und Humanist, nur an die Lösungen des Kommunismus glaubte er nicht. In Spanien war herausgekommen, dass die Stalinisten Anarchisten von hinten erschossen hatten. Ideologien konnte man nicht trauen, ihren Machthabern noch weniger. Wer es mit dem Humanismus ernst meinte, dem blieb nur die demokratische Zivilisation. Im Fouquet’s brannte seine Sehnsucht, auch sichtbar zu deren Verteidigern zu gehören, laut und quälend in ihm auf. »Ich will immer noch nicht fahren. Nicht ausreißen. Aber das Puma wird sich tot ängstigen u. es braucht mich. Ich saß da auf der Straße, es wurde dunkler, ich liebte die Stadt u. wollte bleiben u. wusste, dass ich es nicht tun würde – wenn das Schiff fährt.«

Seine Leidenschaft für die Diva und sein Verantwortungsgefühl für deren Kind blieben stärker. Daran änderte auch jene edle mit Staub überzogene Flasche nichts, die ihm ein Kellner im Fouquet’s später am Abend fast andächtig präsentierte. »Wir möchten nicht, dass die ›Boches‹ die bei uns finden, nicht wahr, Monsieur?«

Remarque gab ihm recht. Er ließ die Flasche entkorken.

Die mörderische Kriegsmaschine der Nationalsozialisten rollte erst einmal Richtung Osten. Frankreich hatte aber am 19.Mai mit Polen eine gegenseitige Beistandsverpflichtung im Falle eines deutschen Angriffs vereinbart. Wenn Deutschland nun ernst machte mit Polen, dann wäre auch Frankreich erneut im Krieg mit Deutschland. Eine Konfrontation, auf die es nicht wirklich vorbereitet war und die es nicht wollte.

Wenigstens der Lancia sollte solidarisch sein mit den Franzosen. Remarque hatte das Fahrzeug in einer guten Garage abgegeben, dort sollte er bleiben, auch wenn die Deutschen einmarschierten. »Wenn Sie mit Ihrer Familie aus der Stadt flüchten müssen, dann nehmen Sie ruhig mein Auto. Pumas sind gut zum Flüchten«, sagte Remarque zum Garagisten.

Nach Cherbourg, zur Queen Mary, ging es am Morgen des 30. August mit dem Zug. Das Schiff lag im Hafen, aber es war umgeben von einer strengen Stille. Besorgte Gesichter huschten über Deck. Die Musikkapelle blieb stumm. Das Wasser im Swimmingpool war ausgelassen. Im Becken standen jetzt Feldbetten. Der mondäne Speisesaal – ebenfalls ein Lager.

Die Party war zu Ende.

Die Zeit der Feldbetten und Sanitäter begann. Nach der Ankunft in New York sollte der Luxusliner grau gestrichen werden und für die nächsten sechs Jahre Großbritannien als Truppentransporter dienen.

Am 31.August, also nur einen Tag nach der Abfahrt der Queen Mary aus Cherbourg, überfiel ein kleiner Trupp der SS den grenznahen deutschen Rundfunksender Gleiwitz, wo sich die SS-Männer als polnische Freischärler ausgaben: »Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand. (…) Die Stunde der Freiheit ist gekommen.«

Wenige Stunden später, im Morgengrauen des 1.September, überfiel die Wehrmacht Polen. Hitler wetterte im Reichstag: »Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt an wird Bombe mit Bombe vergolten.« Damit die Deutschen diese gespielte Wut mitbekamen, wurde die Rede im Rundfunk übertragen.

War die Wehrmacht eingeweiht in den hinterhältigen Plan der Nazis, mit dem sie den Zweiten Weltkrieg begannen?

Zumindest einige Oberbefehlshaber der Wehrmacht kannten Hitlers Plan genau. Bereits am 22.August, als Remarque noch im Luxushotel Eden Roc in Cap D’Antibes zusammen mit solch illustren Gästen wie dem amerikanischen Botschafter in London, Joe Kennedy, die letzten friedlichen Tage des Sommers zubrachte, hatte Hitler zu ausgewählten Offizieren gesagt: »Herz verschließen gegen Mitleid. (…) Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.«

Remarque hatte es nach New York geschafft, von Ruhe oder gar Schlaf aber keine Spur. »Wie eine Bombe die Nachricht vom Einmarsch in Polen«, notierte er in seiner ersten Nacht in Amerika. »Von der Kriegserklärung Englands. Hoffnung, dass keine Feindseligkeiten. Langsam kriechender Beginn des Krieges. Die Stille in der Lounge an Bord, mit der die Nachricht aufgenommen wurde. Die stockende Rede des Königs von England. Heute Morgen Ankunft. Seit gestern Zickzackkurs wegen Unterseebooten u. Begleitung durch Kriegsschiffe. Nachricht, dass Dampfer Athenia torpediert worden ist.«

Venedig, 1937 

Es war ein hoher Himmel über Venedig, durchlässig, eine kleine Erlösung nach den stickigen Tagen im August. Ein Wind hatte das heiße Grau des Hochsommers von den Kanälen geputzt. Eine beschwingte Leichtigkeit breitete sich in der Stadt aus – auch, weil die alljährlichen Filmfestspiele nun zu Ende waren. Die Anspannung des Wettbewerbs schien fortgetragen zu werden von den Wellen des Meeres und dem kühlen Wein, der bereits zum Lunch gereicht wurde.

Vor dem Grand Hotel Excelsior am Lido saß Marlene Dietrich mit Josef von Sternberg, dem Regisseur, der sie groß gemacht hatte. Dem Künstler, der ihr erst in Berlin mit dem »Blauen Engel« einen Welterfolg geschenkt und ihr dann den Sprung ins gelobte Land der rasant wachsenden Filmindustrie ermöglicht hatte – nach Hollywood.

»Soldatentochter« hatte er sie damals genannt. Er hatte sie als sein Geschöpf betrachtet. Lange her. Sein Haar, grau geworden, fiel ihm ins Gesicht.

Sternberg war auch ein Liebhaber der Dietrich gewesen. Aber seit einiger Zeit musste er sich damit abfinden, dass sie ihn nicht mehr begehrte. Er hatte vieles versucht, um sie weiter zu beeindrucken. Sich sogar ein Haus von Richard Neutra bauen lassen, ein futuristisches Schloss aus Stahl, im ländlichen San Fernando Valley, mit einer Glaskuppel über dem Schlafzimmer.

Nur die Sterne, die Dietrich und er, das war der Plan gewesen.

»Das ist wieder einer deiner verrückten Einfälle. Warum musst du hier draußen in einem Backofen wohnen? Das kann auch nur dir einfallen, dass Beverly Hills plötzlich nicht mehr gut genug ist…Sogar Malibu ist besser als das hier. Wie willst du bloß von hier aus morgens ins Studio kommen? Und nur für sonntags hättest du dir kein Haus zu bauen brauchen. Miet dir doch einen Stall, wenn du den Einsiedler spielen willst«, hatte ihn die Dietrich geschimpft.

Liebeskrank war von Sternberg um die Welt gereist. Korea, Japan, China, Kambodscha, kaum ein Ort schien weit genug, um endlich von ihr wegzukommen. Aber oft saß, wie er ihr schrieb, »Shanghai Lily neben mir«. Shanghai Lily – auch eine jener Femmes fatales, die er der Dietrich auf den Leib inszeniert hatte. »It took more than one man to change my name to Shanghai Lily«, hatte er sie sagen lassen, hoffend, dass er die Ausnahme sein würde. Der eine. Alles umsonst. Es gab keinen Weg zurück in Marlenes Herz. Aber zum Lunch ihr ein wenig Gesellschaft leisten, das durfte er noch.

Von Sternberg litt, aber er litt selig.

Sie drehte auch keine Filme mehr mit ihm. Aber ein neuer Regisseur, der sie so zauberhaft und geheimnisvoll inszenieren konnte wie von Sternberg, war nie in Hollywood aufgetaucht. Auch nicht Ernst Lubitsch, den die Dietrich wegen seiner schlechen Manieren verachtete. Also doch noch mal mit ihrem Schöpfer zum Lunch. Selbst wenn der bei den Bossen von Hollywood inzwischen so beliebt war wie ein Krokodil auf dem Sofa.

Schließlich waren die Dietrich und er in einem Geschäft, das nur den Sieg oder die Niederlage kennt, so etwas wie alte Kriegskameraden.

Ein gut aussehender Mann trat an den Tisch der beiden. Die Haare streng zurückgekämmt, leuchteten unter einer hohen Stirn zwei blaue Augen. Lebhaft, mit einem Schuss Melancholie, strahlten sie die Weltläufigkeit und Empfindsamkeit eines Gentlemans aus, der nicht durch ein Erbe, sondern eigene Arbeit zu Wohlstand gekommen war. Ein finanzieller Rahmen, der es ihm ermöglichte, sich an Plätzen wie dem Excelsior frei und unverkrampft zu bewegen, keine Angst vor den bisweilen kostspieligen Hürden des Luxus zu haben. Das Konto von Erich Maria Remarque war so gefüllt, dass er über Geld nicht mehr nachzudenken brauchte und er seine ganze Konzentration anderem widmen konnte, zum Beispiel einer Schönheit, die dort mit dem klein gewachsenen Josef von Sternberg zu Mittag aß.

»Herr von Sternberg? Gnädige Frau?«

Die gnädige Frau hatte es eigentlich überhaupt nicht gerne, wenn Fremde ihre Konversation störten. Noch dazu war sie für jedermann sichtbar beim Lunch. Aber dieser Unbekannte hatte etwas, das eine gewisse Milde in ihr aufsteigen ließ.

Waren es die sorgsam abgestimmten mediterranen Blautöne seines Hemds, seiner Hose und seines Halstuchs, die Geschmack verrieten? Waren es die greifvogelhaften Augen, in denen auch etwas Trauriges lag? War es die Stimme, die zwar einen zurückhaltenden deutschen Klang hatte, aber souverän wirkte, als würde sie sich auch in Paris, London oder New York zurechtfinden? Es war ein anderes Deutschland, das dieser Mann verkörperte. Ein Deutschland der Großzügigkeit. Nicht des Größenwahns.

Der blendend aussehende Fremde in Blau verneigte sich tief.

»Darf ich mich vorstellen? Erich Maria Remarque.«

Die Diva streckte ihm, ohne langes Zögern, die Hand entgegen. Er nahm sie und gab ihr einen gekonnt und selbstverständlich wirkenden Handkuss. Von Sternberg, der große Regisseur, erkannte sofort, dass sich hier etwas zusammenbraute. Er wies den Kellner an, einen zusätzlichen Stuhl zu bringen.

»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«

Remarque zögerte das Zögern eines Gentlemans. Aber Marlene machte es ihm leicht und wies ihn mit einem lässigen Nicken an, Platz zu nehmen.

»Sie sehen viel zu jung aus, um eines der größten Bücher unserer Zeit geschrieben zu haben.« Ihre Aufmerksamkeit gehörte nun ihm allein. Von Sternberg wirkte wie ein Statist, der es nicht rechtzeitig geschafft hatte, das Set zu räumen.

»Vielleicht habe ich es nur geschrieben, um einmal Ihre zauberhafte Stimme diese Worte sagen zu hören«, antwortete Remarque. Das war zwar etwas hölzern und brav, aber ein leichtes Zittern angesichts einer Diva, mit deren blonden Locken die Septemberbrise behutsam spielte, kroch nun die Kehle dieses Mannes der Worte hoch. Also auf Nummer sicher gehen. Im Spiel bleiben. Der Chemie, die nun die Regie übernahm, nicht mit dummen Sprüchen in die Quere kommen.

Remarque holte sein goldenes Feuerzeug heraus und zündete ihre Zigarette an. Sie wölbte ihre blasse Hand schützend um seine braun gebrannte und inhalierte tief.

Was für eine überaus angenehme Überraschung, und das bereits zu einer Zeit, zu der andere noch die Stunden mit ihrer Morgentoilette verbrachten. Die beiden waren fasziniert. Voneinander. Von Venedig. Von Amor oder einem anderen begabten Schützen, der hier seine Pfeile elegant durch die blaue Luft schwirren ließ. Von Sternberg, der Statist, trollte sich.

Die Dietrich blickte den Fremden an. Er schien vertraut, er war Berlin, Gott sei Dank. Wer hatte ihr diesen Mann geschickt? Das war nicht einer dieser hübschen Schauspieler, mit denen sie sich sonst die Zeit vertrieb. Sie hatte fast vergessen zu atmen, als sie vor einigen Jahren sein Buch gelesen hatte. »Im Westen nichts Neues«, ergreifend wie ein großer Film, trotzdem ganz nah und aufrichtig. Sie hatte das Gefühl gehabt, als ob hier zum ersten Mal einer von jenen schlimmen Dämonen sprach, die die Besseren ihrer Generation gefangen gehalten hatten all die Jahre. Auch sie, die nicht einmal in diesem seltsamen Krieg gewesen war. Dieser Mann hatte Geist, er hatte auch eine Zartheit und einen dunklen Humor, mit dem er seine Melancholie in Schach zu halten versuchte. Ein Mann, der malen konnte. Wie von Sternberg früher. Nur mit Worten. Außerdem sah er aus wie ein Filmstar. Sie war hellwach jetzt. Es war, als ob das Wasser auf den Kanälen Charleston tanzte.

Alltäglichkeiten wie die Uhrzeit spielten keine Rolle mehr. Der Schriftsteller und die Diva vergaßen die Zwänge des Alltags, sie redeten und redeten, bis es hell wurde.

»Remarque und ich sprachen bis zum Morgengrauen! Es war wunderbar! Dann sah er mich ganz ernst an und sagte: ›Ich muss Ihnen etwas gestehen – ich bin impotent.‹ Und ich schaute zu ihm auf und sagte: ›Ach, wie wunderschön!‹ Ich sagte es mit einer solchen Erleichterung! Ich war so glücklich! Wir würden einfach nur reden und schlafen, zärtlich sein, alles so wunderbar leicht«, sagte Marlene später, hingerissen über die Begegnung, zu ihrer Tochter Maria.

Auf dem Weg zum Hotel relativiert Remarque seine kokette Selbstdiagnose in Sachen Impotenz. So ganz aufs Bett verzichten, das schien er dann freiwillig doch nicht gewollt zu haben. Er könne durchaus zu Diensten sein, wenn auch nicht im traditionellen heterosexuellen Sinn: »Wenn es gewünscht wird, kann ich natürlich eine ganz bezaubernde Lesbienne sein«, sagte er ganz im Stil der kecken Berliner Jahre. Damals war er Mitglied im Mali gewesen, einem Lesbierinnenklub, den er zum Schreiben aufsuchen durfte.

Es blieb nicht beim frivolen Geplauder. Während dieser frühen Tage der Affäre bemerkt Remarque ein Buch des Dichters Rainer Maria Rilke in den Händen von Marlene. Seine ironische Unterstellung, dies sei wohl ein normales Requisit für einen Filmstar, der auf sich halte, fand Marlene nur mäßig komisch. Rilke war ihr Lieblingsdichter. Im Sand von Venedig trug Marlene auswendig vor: »Grabmal eines jungen Mädchens«, »Leda«, »Herbsttag« und natürlich »Der Panther«.

Hier, Anfang September, in den sich allmählich dem Ende zuneigenden 30er-Jahren, begegneten sich in Venedig zwei weltberühmte Figuren, die den chaotischen modernen Geist der Berliner 20er-Jahre tief inhaliert hatten und noch immer vollkommen von ihm durchdrungen waren.

Die rasanten Umbrüche dieses Jahrzehnts. Das Tempo auf den Straßen der Metropole. Das Elend eines brutalen und verlorenen Krieges. Die Hyperinflation und Suppenküchen. Die glitzernden Bars, in denen sich Kriegsgewinnler, Spekulanten und Künstler amüsiert hatten. Die Sechstagerennen. Boxkämpfe. Charleston-Tanzveranstaltungen. Das Verschwimmen der Geschlechtergrenzen. Frauen, die für Selbstbestimmung und Gleichberechtigung kämpften.

Alles, was noch im Kaiserreich Wilhelms II. für die Ewigkeit einbetoniert schien, polterte wild durcheinander.

Frauen im Frack. Frauen mit Boxhandschuhen. Frauen hinterm Lenkrad. Frauen, die Eintänzer wie den späteren Jahrhundertregisseur Billy Wilder einfach für einen Nachmittag im mondänen Amüsiertempel Haus Vaterland mieteten – das alles hatte im Berlin der 20er-Jahre zum neuen Normal gehört.

Männer wie Remarque und Frauen wie Marlene hatten die Verhältnisse derart unter Strom gesetzt, dass Berlin in nur einem Jahrzehnt zur modernsten Metropole des Westens aufgestiegen war. Ein Paradies für die einen. Ein vollständig verkommener Sumpf des Abscheulichen für jene anderen, die sich nun daranmachten, ein ganz anderes Reich herbeizuprügeln und zu plündern.

Es zu vernichten, dieses »Südenbabel Berlin«, wie Hitler geschworen hatte.

Marlene und Remarque.

Goebbels war fasziniert von diesen beiden leuchtenden Figuren des Sündenbabels. Ihrer Strahlkraft. Ihrer Fähigkeit, einen direkten Weg in die Herzen und Köpfe der Massen zu finden. Der Propagandaminister hätte sie gerne eingespannt und missbraucht. Aber bei Remarque, das musste Goebbels bald einsehen, war er an den Falschen geraten.

Bei Marlene, fand der Einpeitscher, bestehe noch Hoffnung. Zwar hatte er den »Blauen Engel« so widerwärtig gefunden wie »Im Westen nichts Neues«. »Entsetzlich. Unrat. So sieht es im Gehirn unserer Großstadtliteraten aus«, hatte er gewütet. Dazu verdammte er die Dietrich, weil sie sich hatte ins jüdische Hollywood holen lassen. Aber er hielt sich auch für einen großen Frauenverführer und die Dietrich für eine ihm zustehende Beute.

»Heute werde ich 40 Jahre alt«, schrieb Goebbels am 29. Oktober 1937 in sein Tagebuch. »Ein scheußliches Gefühl. Das Beste ist nun dahin.«

Die Aussicht, dass er den größten Star des deutschen Films zurücklocken könnte in ein Berlin, in dem nicht mehr der Shimmy den Rhythmus vorgab, sondern das Horst-Wessel-Lied, hob seine schlechte Laune.

Paris, 1937 

Das Hotel Lancaster in Paris gehörte zu den Lieblingsadressen von Marlene Dietrich. Gelegen in einer Seitenstraße der Champs-Élysées, beschrieb Marlenes Tochter Maria später in ihren Erinnerungen das Lancaster als »eine Art Privatschloss mitten in Paris«. Das Hotel galt als geschmackvoll und diskret – Baccarat- Kronleuchter, Türen wie in Versailles und ein kleines Meer von immer neuen Blumen in Blau, Gelb, Weiß und Rosa, den Farben des Frühlings.

Marlene fühlte sich – in den Mauern des Lancaster – sicher. »Es war undenkbar und unmöglich, das Personal des Lancaster zu bestechen«, schrieb Maria. »So etwas war hier unbekannt. Hätte es jemand gewagt, wäre er bestimmt guillotiniert worden.«

Nach dem stürmischen Kennenlernen in Venedig hatten sich die beiden Eroberer, Marlene und Remarque, Richtung Paris aufgemacht, wo sie zusammen den Rest des Jahres verbringen wollten. Den Rausch der plötzlichen Verliebtheit befeuerte Remarque zusätzlich, indem er die gemeinsame Suite üppig mit weißem Flieder und Dom Pérignon ausstatten ließ. In dieser Suite ließen sie ihrer Faszination voneinander freien Lauf. Sie war tief beeindruckt von einem Schriftsteller, der Geist und Witz besaß, aber auch im Smoking noch eine gewisse Traurigkeit verströmte. Jemand, um den sie sich auch kümmern könnte.

Er sog die Aura einer Diva in sich auf – bezaubert wie ein kleiner Junge von den aufwendigen Einkleidungszeremonien, bevor sie ausgingen ins Fouquet’s oder ins La Coupole oder ins Maxim’s. Der schwarze Kamm, den sie, den Kopf ein wenig schief gelegt, durch das kurze Haar »ohne Erbarmen eifrig hindurchriss«. Die Auswahl der Abendkleider, alle von den feinsten Adressen: »Das weiße mit dem goldenen Mieder von Schiaparelli oder das schwarz-goldene von Alix (…) oder das grün-rote von Alix, vielleicht auch das hübsche Kostüm von Lanoin, das dich wieder am Halse kratzen wird«, wie Remarque notierte.

Paris, das war der Leuchtturm der Freiheit in einem Europa, in dem die Faschisten die Lichter zertrümmerten. Hier herrschte eine Regierung der Volksfront, sie ermöglichte für viele Flüchtlinge einen Ort der Hoffnung und Toleranz. Zehntausende von deutschen Juden, Künstlern und linken Politikern hatten sich in die französische Metropole gerettet. Es erschienen eine Vielzahl von deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, wo es hoch herging. Publikationen wie das »Pariser Tageblatt«, das nun nach einer überaus robusten redaktionsinternen Auseinandersetzung »Pariser Tageszeitung« hieß.

Nach der Hochzeit von Hermann Göring mit der Schauspielerin Emmy Sonnemann im Frühjahr 1935 hatte Klaus Mann im »Tageblatt« der Nazibraut persönlich gratuliert: »Ekeln Sie sich denn nie? Und wenn Sie sich schon nie ekeln: Haben Sie niemals Angst? Es kommen doch Stunden, da Sie allein sind, der Hochzeitsrummel kann nicht ewig währen, und es gibt nicht jeden Abend große Diner. Der dicke Gemahl ist unterwegs – er sitzt vielleicht in seinem Büro und unterschreibt Todesurteile oder er inspiziert Bombenflugzeuge. Es ist dunkel geworden. Sie sind einsam in Ihrem schönen Palais. Kommen da nicht Gespenster? Treten hinter den üppigen Portieren nicht die Erschlagenen der Konzentrationslager hervor, die zu Tode Geschundenen, die auf der Flucht Erschossenen, die Selbstmörder? Erscheint da nicht ein blutiges Haupt? Es ist vielleicht Erich Mühsam – ein Dichter –, und es war doch Ihr Beruf, Dichterworte zu sprechen, ehe Sie Mutter eines verdammten Landes wurden, das von seinen Dichtern die Mutigen totschlägt oder verbannt.«

Was in Deutschland schon lange nicht mehr gesagt werden durfte, das stand in Paris in der Zeitung. Mutig, brillant, in deutscher Sprache. Das Sündenbabel Berlin, es holte an der Seine noch einmal Luft, und an guten Tagen, da tanzte es sogar.

Die Nazis hatten Paris immer gehasst, aber seit jene Intelligenz, die sie auslöschen wollten, dort noch einmal aufblühte, hassten sie es noch mehr.

Anfang November fand sich Remarque im Badezimmer der Diva eingesperrt – von ihrer Majestät höchstpersönlich. Was war geschehen?

Ein erneuter Versuch von Goebbels offensichtlich, der nicht müde wurde, Marlene heimzuholen ins Reich. Zwar hatte Julius Streichers »Stürmer« Marlene einen Monat zuvor noch beschimpft, weil sie angeblich die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte: »Das Zusammensein mit Juden hat ihren Charakter völlig undeutsch werden lassen. Auf dem Bild sehen wir die Vereidigungszene in Los Angeles. In Hemdsärmeln(!) nimmt er (der Richter) Marlene Dietrich den Eid ab, auf dass sie ihr Vaterland verrate.«

Aber dann hatte Marlene ja wenig später in der deutschen Botschaft in Paris die Pässe für sich und Maria verlängern lassen und bestritten, dass sie tatsächlich amerikanische Staatsbürgerin sei. Was sie verschwieg, war, dass sie sehr wohl einen Antrag darauf gestellt hatte. Was sie außerdem für sich behielt, war die Tatsache, dass sie ein halbes Jahr zuvor einen Aufruf gegen General Franco unterzeichnet hatte, jenen spanischen Faschistenführer, den Goebbels für einen »Segen« hielt und dem er wünschte, dass er seine republikanischen Gegner mit »Stumpf und Stiel« ausrotten würde.

»Marlene Dietrich hat in Paris in unserer Botschaft eine formelle Erklärung gegen ihre Verleumder abgegeben mit der Betonung, dass sie Deutsche sei und bleiben wolle. Sie soll auch bei Hilpert im deutschen Theater auftreten. Ich werde sie nun in Schutz nehmen«, schrieb Goebbels daraufhin hoffnungsvoll in sein Tagebuch und schickte seinen Hilpert nach Paris.

In der Lobby des Lancaster fanden sich dann gleich zwei Emissäre von Goebbels ein, noch dazu in Uniform. Wenn schon Paris, dann Uniform. Wenn man schon wenig oder gar keinen Charakter hatte, dann auf diese Weise in der eleganten Metropole Halt suchen.

Der eine, Heinz Hilpert, wirkte ein wenig verkleidet. So als sei ihm der Aufzug ein bisschen unangenehm. Er war Intendant am Deutschen Theater, der direkte Nachfolger des legendären Max Reinhardt, den die Nazis vertrieben hatten. Zur Sicherheit war dem biegsamen Hilpert Joachim von Ribbentrop an die Seite gestellt worden, seines Titels nach »außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter des deutschen Reichs« mit Sitz in London. Ribbentrop trug seine Uniform mit Überzeugung. Ein Parvenu des Grauens – wie Goebbels.

Die beiden Naziuniformierten warteten auf eine Audienz mit der Diva. Der Concierge telefonierte hinauf. Marlene reagierte schnell. Wegschicken ging nicht. Raufkommen schon – aber mit dem verfemten Vaterlandsverräter Remarque in ihren Gemächern, da ging womöglich das Theater um den deutschen Pass von Neuem los. Also drehte sie kurz entschlossen den Schlüssel zum Bad um, in dem sich Remarque gerade befand. Der konnte nun nicht mehr stören.

Gegenüber den beiden Abgesandten spielte sie daraufhin die bußbereite Sünderin, die schnell zurückwolle in Hitlers Prachtreich. Große Freude bei den beiden Uniformierten. Als sie verschwunden waren, Befreiung von Remarque.

»Wage es nie wieder, mich einzusperren, nie wieder, Marlene, nie wieder, hörst du? Ich bin kein ungehorsames Kind und auch nicht so dumm, mich aus schierer Tollkühnheit echten Gefahren auszusetzen«, brüllte der.

»Mein Liebster, ich hatte doch nur Angst um dich«, antwortete die Diva. »Du weißt doch, wie sie dich hassen, weil du als Nichtjude Deutschland verlassen hast. Vielleicht sind sie nur gekommen, weil sie glaubten, dich hier zu finden. Die Geschichte, dass Hitler mich als großen Star für sein Deutsches Reich haben möchte. (…) Das stimmt doch nicht. Er schickt mir doch bloß deshalb seine hohen Offiziere auf den Hals, (…) weil er mich in ›Der blaue Engel‹ in Strapsen gesehen hat und mir ans Spitzenhöschen will.«

Remarque lachte laut wie selten. Die Nazis, sie waren nicht nur Barbaren, sie waren auch Schwachköpfe.

»Marlene Dietrich hat alle gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen entkräftet. Ich lasse sie in der Presse rehabilitieren!«, schrieb Goebbels siegesgewiss in sein Tagebuch.

Paris, 1937 

Gasrechnung 5,72 Trinkgeld 0,28 6,00

Modellhaus Becker 2673,60

Pediküre 4,00

Telefonrechung 143,60

Zoo mit Kind 3,50

Der Mann, der solche Ausgaben täglich, gewissenhaft und mit feinem Bleistift eintrug, hatte freundliche Augen, blonde zurückgekämmte Haare und hörte auf den Namen Rudi. Mit Nachnamen hieß er Sieber, aber das tat nichts zur Sache. Alle Welt nannte ihn Rudi – ein Kumpeltyp, scheinbar immer bereit, einem einen Gefallen zu tun. Und dabei tadellos gekleidet: Seidenhemden, goldene Manschettenknöpfe, Maßanzüge.

Vor einer halben Ewigkeit, im Mai 1923, hatten Marlene und Rudi geheiratet. Er war so eine Art Rudi für alles gewesen beim Film. Sie, die damals eifrig den Einstieg zum Aufstieg suchende Marlene, fand ihn bedeutend und hatte ihm in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche die ewige Treue versprochen.

Genau dieses Bekenntnis, nur einen Partner zu haben im Leben, entpuppte sich als Problem für beide Eheleute. Als Marlene entdeckte, dass auf Rudi eigentlich in fast allen Dingen Verlass war, nur eben nicht auf seine sexuelle Enthaltsamkeit außerhalb des gemeinsamen Ehebettes, beschloss Marlene, dass sie trotzdem zusammenbleiben sollten. Sie hielt sexuelle Treue ebenfalls für überschätzt. Sie nannte ihn »Papi«, er sie »Mutti«. Bald gab es auch noch »Tami«. Das war die Abkürzung von Tamara, dem Namen des Kindermädchens für Maria, der gemeinsamen Tochter, das gelegentlich neben Rudi im Ehebett von Mami und Papi schlief.

Rudi hatte die Weltkarriere von Marlene samt ihrem Umzug nach Hollywood nicht nur überstanden, ohne von der Diva gefeuert zu werden. Papi hatte sich als eine Art zweites Rückgrat Marlenes entpuppt: der wichtigste Halt in ihrem Leben. Vertrauter, Manager, Kassenwart, Heimatbeauftragter, Komplize und Alibi, wenn die Gerüchte um Marlenes Affären sich verdichteten und ihr Image zu beschmutzen drohten.

Als beispielsweise die Ex-Ehefrau von Josef von Sternberg, Riza Royce, genug hatte von der Affäre ihres Mannes und Marlene wegen »Zerrüttung der Ehe« auf eine halbe Million Dollar Schadensersatz verklagte, reiste Rudi umgehend von Berlin nach Amerika und gab entlastende Interviews. Er liebe seine Frau über alles, schwärmte er. Ein Journalist fragte Rudi daraufhin, was genau er an seiner Frau so liebe.

»Sie macht so gute Eierkuchen«, hatte Rudi geantwortet.

Rudi blieb vier Wochen, lächelte treu und sonnig in die Kameras, und als er wieder abreiste, war Marlene voll rehabilitiert. Auf dem Heimweg erreichte ihn ein Telegramm von Mutti.

»Wir denken an dich in Liebe und Sehnsucht, alles ist leer.«

Kein Zweifel, in dieser seltsamen Welt des Showbusiness war Rudi eine Konstante, auf die Verlass war. Ihn nicht zur Verfügung zu haben, machte Marlene nervös. Bereits im Herbst 1933, als Goebbels ankündigte, Deutschland trete aus dem Völkerbund aus und wünsche keine weiteren Gespräche zum Thema Abrüstung, hatte Marlene Rudi aufgefordert, zusammenzupacken, zu ihr nach Amerika zu kommen und außerdem in Sachen Reisegepäck eine umfangreichere Order zu tätigen.

»Tu mir die Liebe und kaufe morgen sofort große Koffer, in die du alles hineinschmeißen kannst. Du weißt doch, dass es immer an Koffern fehlt im letzten Moment.«

Zu wenige Koffer? Nicht mit Rudi. Selbst wenn die Diva später mit bis zu 30 Schrankkoffern reiste, wusste Rudi, wo die Koffer waren und was sich in ihnen befand.

Registrieren, abheften, den Überblick behalten, das blieb eine von Rudis Spezialdisziplinen, selbst als die Liste der Liebhaber seiner Frau länger und länger wurde. Er packte alles in seine Ordner. Auch die Liebesbriefe, die Marlene erhielt oder selbst schrieb.

»Du – nur du – der Meister – der Gebende – Grund meines Daseins – der Lehrer – der Geliebte, dem mein Herz und mein Verstand folgen müssen.«

Marlene hatte diesen Brief an von Sternberg noch einmal abgeschrieben und auch Rudi zukommen lassen. Abheften bitte. Ordnung muss sein.

Als Rudi, Beichtvater und Schalterbeamter in dieser Ehe, einmal anmerkte, die langen Telefonate, die Marlene oft brauchte, um ihr Heimweh nach Berlin und die mondäne Einsamkeit eines Hollywoodstars zu bekämpfen, würden zu teuer, bekam er eine Ansage, die nichts an Klarheit zu wünschen übrig ließ.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen. (…) Ich habe eine Menge Geld und ich gebe es dafür aus, dass ich dich und das Kind hören kann.«

Rudi, Tami und das Kind.

Marlene nannte diese Ansammlung von Menschen nicht »meine Familie«, sondern »meine Umgebung«. Und Remarque, der weit gereiste, der Höhenflüge und Katastrophen der westlichen Welt des frühen 20. Jahrhunderts so genau beobachtende und brillant beschreibende Autor, staunte nicht schlecht, als er den Anhang seines geliebten Weltstars im Hotel Lancaster in Paris kennenlernte.

»Die Umgebung« hatte sich ebenfalls in Paris einquartiert. Das 13-jährige Kind war dazu abgestellt, die Garderobe des Stars zu ordnen, wegzuräumen und säubern zu lassen. Rudi hielt die Kasse und sein Buch zusammen und kutschierte Marlene und ihren neuen Liebhaber durch die französische Hauptstadt.