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Das Lächeln als Zustand des idealen Wohlbefindens! In diesem Band erzählt mit Geschichten von Männern, die in diesen Zustand gelangen oder ganz in die Nähe kommen. Mit der unmittelbaren Teilnahme an ihren Gedanken und Gefühlen, ihren Ängsten und Nöten, die oftmals den eigenen ähneln, ist die Verbundenheit mit den Figuren gegeben. Es sind Beobachtungen, oft kleine und banal gemessen an der Größe der Welt, doch mit der Menschlichkeit, die zu Herzen geht. Mit feiner Leichtigkeit wird erzählt wie es ein Lächeln dazu bringt, Ängste zu überwinden und das nicht mühelose Miteinander hinzukriegen. Auch die Angepassten und Spießer und die Kleinen und Unauffälligen bekommen eine Stimme, mal mit Humor und immer mit Respekt. Jede Figur ist ausgefüllt mit dem passenden Klang, weder überflüssig noch aufgesetzt. Lächeln haucht Leben ein; diese Erfahrung machen die beiden älter gewordenen Männer, die seit ihrer Militärzeit Freunde sind, oder Oleg, dem diese die erste Liebe zeigt. Ein Kommunist lernt das Lächeln erneut und Herr Koch? Das Lächeln eines Kindes, eines Bettlers oder eines Sterbenden, in warmherziger Anteilnahme. MAN(N) lächelt: über einen Blumenstrauß in Afghanistan, die Stärke der Männer oder den Schneewalzer.MAN(N) lächelt über den Lottogewinn oder den Sprung vom 10-Meter Turm
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Seitenzahl: 183
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Dem Suchscheinwerfer gelingt es ein Lächeln zu finden, bei den Angepassten und Spießern, den Kleinen und Unauffälligen, dem Einen oder dem Anderen. Es breitet sich aus, berührt mit seinem Klang.
Monika Seyhan
Blumen in Afghanistan
Freunde
Seelenverwandt
Emanzipation
Schneewalzer
Emil und Else
Julio
Eine Weihnachtsgeschichte – Der Kommunist
Schwarz-Weiß
Oleg, das erste Mal
Das Märchen von starken Männern
Roadmovie
Episoden
Herr Koch
Batterie
MAN(N) lächelt
Die Autorin
Ein Blumenstrauß muss her. Wo soll er in dieser Stadt ein Blumengeschäft finden? Man hat ihn zum Essen eingeladen und ohne einen Strauß Blumen für die Dame des Hauses kann er dieser Einladung unmöglich folgen. So gehört es sich, so wurde er erzogen.
Michael Bolman ist in Kabul unterwegs. Als Referent in der Erwachsenenbildung wagt er diese Reise. Ihm liegt sehr daran, nach seiner Rückkehr in der Heimat einen Bericht über dieses interessante Land, zu präsentieren. Abenteuerlich und aufregend ist die Gegend und das Leben der Menschen für ihn ungewöhnlich. Möglichst sachlich und doch mit großer Empathie will er die Eindrücke wiedergeben.
Seit einigen Tagen irrt er jedoch eher unglücklich durch die verstaubten Straßen dieser ihm bisher nichts sagenden Stadt. Aufgefallen sind ihm ungepflegte Straßen mit viel zu hohen Bürgersteigen, deren Zweck offensichtlich darin besteht, den Kindern als Sitzplätze zu dienen. Kleine Jungen mit fast kahl geschorenen Köpfen, abstehenden Ohren und fragenden Blicken sitzen hier. Die Kinder tragen meist weit geschnittene Hosen, in denen sie wie in einer Schaukel aus Stoff hocken. Sie sehen ihn entweder frech oder verängstigt an, Je nachdem, wie mutig sie sind. Wahrscheinlich wundern sie sich über einen Mann wie ihn, mit heller Hautfarbe und glatten Haaren, einer gebügelten Hose, mit einem Hemd und einer Krawatte.
Bolman nickt allen freundlich zu. Oft ist er geneigt, den Kindern das Kleingeld, mit dem seine Finger in den Hosentaschen spielen, vor die Füße zu werfen. Weil er sich dabei vorkommen würde wie einer, der dem Hund das Stöckchen hinwirft, verbietet er letztendlich, seinem Impuls nach zu geben.
Die Geschäfte hinter den geöffneten Rollläden bieten alles, was zum täglichen Leben nötig ist. Es interessiert ihn aber nicht. Er macht sich gar nicht die Mühe genau hinzusehen, was es da eigentlich gibt. Er weiß genau, dass für ihn nichts davon in Frage kommt.
Bolman wartet sehnlichst auf den Abend und das Treffen mit Navid in dem berühmten Garten Badur, dem Garten des Kaisers. Vor allem sehnt er sich nach angenehmeren Temperaturen, die dort in den frühen Abendstunden zu erwarten sind. Dann freut er sich auf den jungen Burschen, der ihm vom Hotel quasi als Fremdenführer zur Verfügung gestellt worden war. Schon gestern hatte er das Vergnügen, Navid kurz kennen zu lernen. Der Junge besucht eine Schule, in der Deutsch unterrichtet wird; seine Umgangsformen sind höflich, eine äußerst sympathische Erscheinung. In der Gegenwart des lebhaften und hilfsbereiten Jungen hat Bolman sich gleich wohlgefühlt.
Nur kurze Zeit haben sie miteinander verbracht und sich für den heutigen Abend im Garten des Kaisers verabredet. Anschließend wollte Bolman in einem Restaurant landesüblich essen gehen, doch Navid hat ihn gleich zu einem traditionellen Essen im Hause seiner Eltern eingeladen. Nirgendwo anders konnte das Essen so gut sein wie in einer Familie. Die Mahlzeiten dort sind opulent und nicht vergleichbar mit den Essen in den Restaurants. Dort hatte es Bolman schon sehr gut geschmeckt, doch er freut sich auf den Abend bei einer Familie und findet es wunderbar, eine solche Einladung bekommen zu haben.
Es ist ihm zwar nicht ganz klar, ob er dafür zahlen muss oder ob es wirklich eine Einladung ist, so wie er es von seiner Heimat her kennt.
Nach der kurzen Bekanntschaft schon ziemlich seltsam, diese Einladung. Auf jeden Fall braucht er jetzt diesen Blumenstrauß, doch leider hat er noch kein Blumengeschäft gesehen; er nimmt sich vor, den Taxifahrer zu fragen.
Navids Elternhaus liegt etwas abseits von der Stadt. Er lebt hier mit vielen Geschwistern und Verwandten. Die Familie ist zwar nicht außergewöhnlich wohlhabend, das Geld aus dem Teppichhandel reicht jedoch für ein gutes Leben und die Ausbildung der Kinder.
Der Job als Touristen-Begleiter und Übersetzer bringt Navid zusätzliches Geld, das er für die Erfüllung seines Wunschtraums, eine Reise ins Ausland, zurücklegen möchte. Sein Lehrer hat ihn mit Herrn Bolman bekannt gemacht. Dieser Deutsche ist etwa im gleichen Alter wie sein Vater, doch unterschiedlicher können zwei Männer nicht sein. Sie sind so verschieden wie die Länder, aus denen sie kommen, was soll sie da schon miteinander verbinden?
Den Berichten über Deutschland und Europa hat Navid im Unterricht mit großer Aufmerksamkeit gelauscht. Sein Lehrer Reza Bey hatte einige Zeit in Berlin gelebt und Navid ist jedes Mal das Leuchten in seinen Augen aufgefallen, wenn er von dieser Zeit gesprochen hatte. Sein Unterricht ging über die geographischen Kenntnisse hinaus, er berichtete über Frauen, die unverschleiert auf Straßen und in Kaufhäusern unterwegs waren und von Männern, die den größten Teil des Tages in Büros verbrachten und viel Geld verdienten. Auf den Straßen herrschte Ordnung, es mussten Regeln eingehalten werden und die Menschen bewegten sich frei, ohne einander zu beobachten und zu stören.
Navids Interesse und sein Talent, schnell eine Sprache zu lernen, hat nun in Afghanistan die Begegnung mit Michael Bolman möglich gemacht.
Er nimmt sich vor, Herrn Bolman am Nachmittag den Garten des Kaisers und andere Sehenswürdigkeiten zu zeigen, bevor am Abend das Essen im Haus seiner Familie stattfinden würde.
Es ist Sommer und der Abend die schönste Zeit eines heißen Tages.
Die Luft kühlt sich ab und der leichte Wind weht die herbeigesehnte Frische von den Bergen. Die Sterne bedecken den Innenhof ihres Hauses wie ein funkelndes Dach.
Während dieser Abendstunden mit dem Vater und den Brüdern auf den Teppichen unter dem Feigenbaum zu sitzen, Tee zu trinken, Tavla oder Schach zu spielen, miteinander zu reden, hat Navid besonders gern.
Bestimmt wird es auch Herrn Bolman gefallen.
Der Garten ist großzügig mit Teppichen ausgelegt, auch auf der Terrasse und vor dem Eingang ins Haus liegen Teppiche. Auf einem der kräftig roten, mit typisch afghanischen Mustern gewebten Teppichen werden sie auch die Mahlzeit einnehmen.
Nach der größten Hitze der Mittagszeit begibt er sich auf den Weg in die Stadt, es macht Spaß, durch die Straßen zu schlendern, in die Basare zu gehen und die vielen Ausländer zu beobachten, die mit großen Augen und lächelnden Gesichtern, das fremde Leben wahrnehmen. Junge Menschen die ihre Kleider eingetauscht haben, gegen die bequemen und farbenfrohen Gewänder seiner Landsleute. Ziemlich eigentümlich schauen sie darin aus. Blonde und rothaarige Männer und Frauen passen nicht so recht in die Bekleidung der Afghanen mit weiten Hosen und den breitärmeligen Hemden. Zudem fehlen die Geschmeidigkeit und Eleganz der Bewegungen.
Oft und gerne hockt Navid in den Parks, in der Nähe der Ausländer. Er hört zu, lauscht den fremden Worten, die er so gut versteht und beobachtet wie in aller Öffentlichkeit geraucht und lebhaft miteinander umgegangen wird.
Die Blicke der jungen Mädchen aus blauen oder hellen Augen begegnen ihm oft, sie schauen ihm lächelnd ins Gesicht und es gefällt ihm, so angesehen zu werden. Die fremden Frauen sind angetan von der eleganten schlanken Figur, den pechschwarzen glänzenden Haaren, der olivfarbenen Haut und den grünbraunen Augen. Lächelt Navid, zeigt er gerade gewachsene weiße Zähne und Nasenflügel, die leicht beben. Gleichzeitig mit einem Lächeln hat er die Angewohnheit, beide Hände in die Höhe zu heben, sodass die hellen Innenflächen leuchten und seine Haltung ein wenig schüchtern wirkt.
Er ist genau der Typ, den die Reisenden, die meist auf dem Weg nach Indien sind und in Kabul den ersten großen Halt machen, bewundern.
Bei der ersten Begegnung Navids mit Bolman ist für beide sofort klar, dass es ein gutes Miteinander geben wird. Bolman, überzeugt von seinen guten Menschenkenntnissen, ist sich sicher, dass Navid ein ehrlicher Fremdenführer und wissbegieriger Student ist, dem er auch die Vorzüge seiner westlichen Welt vermitteln wird.
Navid profitiert von der Unkenntnis des Deutschen und erhofft sich nebenbei den Verkauf eines Teppichs. Geschäftssinn und Handel ist ihm in die Wiege gelegt, es ist wichtig für ihn, dass seine große Familie ein gutes Leben führen kann.
Das Haus der Familie am Rande der Stadt, umgeben von einer hohen Mauer ist das Zuhause seiner Eltern und Geschwister, der Tanten und der Onkel und Großeltern.
Kinder haben genügend Spielfläche im Garten. Wie viele Brüder und Schwestern Navid hat, interessiert ihn nicht so genau, für ihn heißen sie alle Baradar, Bruder und Karadar, Schwester; ob es Cousin oder Cousinen sind, ist ihm gleich.
Während die Frauen den hinteren Teil des Anwesens mit der Küche und den Vorratsräumen bewohnen, sind die Männer im größten Trakt des Hauses untergebracht. Dort gibt es mehrere Räume, die sich die Jungen und Alten teilen. Navid schläft gemeinsam mit den jungen Männern, Brüdern und Cousins, im gleichen Raum. Er ist es so gewohnt, sie reden viel miteinander, haben Spaß, schlafen oder bleiben wach, so wie es ihnen gefällt. Hin und wieder verspürt er den Wunsch nach einem Ort, den er allein bewohnen könnte.
Er hat darauf zu achten, was von ihm erwartet wird. Die strengen Regeln des gesellschaftlichen Lebens müssen eingehalten werden.
Lob und Anerkennung kann er nur dann erwarten, wenn er sich diesen Anforderungen unterwirft und sie befolgt. Zum Glück ist sein Vater ein gütiger Mann und seine Mutter eine warmherzige Frau. Zu ihr hat er sich schon mal unter den Rockzipfel flüchten können und die Hand des Vaters auf seinem Kopf zu spüren, gab ihm ein glückliches und sicheres Gefühl. Zu Hause spricht man mit ruhiger Stimme, die Eltern sind höflich zueinander und lieben das Zusammensein mit Allen in Harmonie.
Oft reisen Vater und Onkel in andere Städte, um Teppiche zu kaufen oder zu verkaufen.
Sind die Männer unterwegs, wird es lebhaft im Haus. Die Frauen erhalten Besuch von den Nachbarinnen und essen viele leckere Speisen und Süßigkeiten. Dann sitzen sie in gemütlicher Runde, die bunten Gewänder leicht geöffnet, die helle Haut fast bis zur Brust sichtbar. Es wird laut gesungen und gelacht. Die hübschen Frauen so frei und glücklich zu sehen, ist für Navid die Aufforderung, das Radio zu holen, die passende Musik zu finden und mit Begeisterung den Rhythmus zu klatschen. Erst sind es die Mutter und die Tanten, die ihre wohlgerundeten Hüften bewegen und kess über die genauso beweglichen Schultern lachen. Sie schnalzen mit der Zunge und stoßen Lockrufe aus, die Navid an das Geschrei von Vögeln erinnert.
Dann interessieren ihn die jungen Mädchen, die sich nach anfänglichen Hemmungen so wie die Alten bewegen. Mal sanft und anmutig, mal herausfordernd mit fragenden Blicken, die Sehnsucht nach Unbekanntem wecken.
Navid liebt diese Zeiten genauso wie die Momente, wenn die Männer mit wunderschönen Teppichen zurückkehren, diese ausbreiten und mit ehrfürchtigen Händen darüber streichen. Raue Männerhände gleiten dann zart über wunderschöne Farben auf seidigen Mustern. Der Vater erklärt die Geschichten, die abgebildet sind. Wilde Tiere oder wundersame Blumen, geschmückte Frauen und Männer, edel gekleidet wie in vergangenen Zeiten. Es sind großartige Arbeiten. Die jungen Leute empfinden Achtung und Respekt vor dem Schaffen fleißiger Hände.
Laufen die Geschäfte gut, gibt es Geschenke für die Jungen. Bestickte Westen und Kopfbedeckungen, Drachen und kleine Dolche. Die Mädchen erhalten Armbänder und Ketten mit dem blauen Lapislazuli, dem typisch afghanischen Edelstein.
Läuft es nicht so gut mit dem Verkauf, erhebt der Vater die Hände und dankt Gott für die Gesundheit und die gute Gemeinschaft seiner Familie. Die Mutter seufzt ein Amen und erhebt die Augen zum Himmel.
Heute Abend wird der Tourist aus Deutschland einen Einblick in das Leben einer afghanischen Familie erhalten.
Die Hauptmahlzeit, Kabuli Reis mit Lammfleisch, Rosinen und Pinienkernen in Safran gefärbt, dampft längst im Kessel. Viele kleine Nebenspeisen, Gemüse, Minze und Joghurt duften verführerisch. Die Süßspeisen sind angerichtet, Zimt und Nelkengeruch versprechen wahrhaftige Köstlichkeiten.
Nur Bolman ist es noch nicht gelungen, einen Blumenladen ausfindig zu machen, es ist ihm peinlich. Mit leerer Hand kann er unmöglich zu Navids Einladung gehen.
Nervös macht er sich fertig, zieht eine lange dunkle Hose und ein frisches Hemd an. Die letzte Chance, Blumen zu bekommen, erhofft er sich, gemeinsam mit Navid.
In der Hotellobby ist es kühl und dunkel, heruntergelassene Rollos klappern gegen die Fensterscheiben. Tageslicht dringt durch die breite gläserne Eingangstür. Niemand hat es bei dieser Hitze geschafft, die dicke Staubschicht von den Scheiben zu wischen, jetzt sind die Staubkörnchen hundertfach zu sehen, Bolman schüttelt den Kopf.
»Mister Bolman«, die sanfte Stimme des Mitarbeiters an der Rezeption ruft mehrmals nach ihm.
Als er sich umschaut, hätte er den Jungen gerne von dem dunklen Anzug, dem schmuddeligen Hemd und der Krawatte erlöst. Eine Klimaanlage gibt es im ganzen Haus nicht und die Hitze ist unerträglich. Der junge Mann reicht ihm einen Zettel mit einer Adresse.
Navid hat eine Nachricht hinterlassen. Es ist ihm nicht möglich, in den Park zu kommen, eine Demonstration hat das ganze Stadtviertel dort lahmgelegt.
Auf dem Zettel steht die Adresse, die ein guter Taxifahrer finden und Bolman direkt zu ihnen nach Hause bringen würde. Das Hotelpersonal würde natürlich behilflich sein; nur was ist mit den Blumen, auf die Bolman wirklich nicht verzichten will. Die Augen des jungen Mannes an der Rezeption werden immer größer, als er sein Problem vorträgt. Die Englischkenntnisse reichen nicht aus, seinen Wunsch zu verstehen. Flower und Present werden irgendwie verstanden und letztendlich zeigt der Junge mit einem Achselzucken auf eine Blume, die vor der Tür versucht, in einer Blechdose aufzublühen.
Present and Flower, wiederholt er hilflos mit Blick auf die rote Blüte, die mit kleinen gelben Staubfäden wie ein Stern aus sieht.
Sein Geschenk für die Dame des Hauses. Es finden sich noch Servietten, die die Blechdose verschönern und endlich ist Bolman bereit, ins Taxi zu steigen. Unruhen auf den Straßen lassen die Fahrt nur langsam voran gehen. Der englisch sprechende Fahrer verteidigt die Demokratie, wünscht sie herbei und stellt sich entschieden gegen die Regierung durch das Königshaus. Nur laut sagen will er das nicht. In Gedanken sieht er den Fortschritt seines Landes durch eine kommunistische Regierung, die besonders den Menschen auf dem Land zu Gute kommen würde. Nicht länger mit Politik beschäftigt hält das Taxi vor einer langen Mauer und Bolman hat das Gefühl, dass der Fahrer ihn schnell los werden will.
Vorsichtig mit der Blume in der Hand, sucht er die Eingangstür.
Auf dieser Seite vergeblich, es gibt nur eine lange Mauer und zur anderen Seite der Straße ein offenes Feld mit viel Gerümpel, Müll und ähnlichen Dingen.
In weiter Ferne sieht er noch das Gebirge, das die Stadt einzuschließen scheint. In der steinig und erdig gefärbten Gegend sucht er vergeblich etwas Frisches, Lebendiges und freut sich schließlich an dem kräftigen Blau des Himmels.
In welche Richtung soll er gehen? Irgendwo muss es doch einen Eingang geben. Vorwärts zu gehen gibt ihm ein sicheres Gefühl, vorne muss der Eingang sein.
Den Fotoapparat um die Schulter gehängt, die Ausweispapiere in der Brieftasche, mit dem Blumentopf in der Hand macht er sich auf den Weg und ist froh, dass ihm keine Menschenseele begegnet. Es mag wohl daran liegen, dass die Adresse etwas außerhalb der Stadt liegt. Hoffentlich hat der Taxifahrer ihn nicht reingelegt. Es ist noch heiß und es ärgert ihn, dass er Strümpfe und feste Schuhe anstelle von Sandalen angezogen hat. Abgemagerte, sonderlich gelb farbige Hunde, wer weiß, wo sie so plötzlich hergekommen sind, begleiteten ihn ein Stück; er hat nichts, was er ihnen hätte geben können. Weil es ihm unangenehm ist, verscheucht er sie mit zischenden Lauten.
Hoffentlich ist der Eingang bald zu sehen. An der langen Mauer hat er ein großes Tor erwartet und die ziemlich kleine Tür, die er plötzlich in dem Gemäuer wahrnimmt, enttäuscht ihn.
Weder eine Klingel noch ein Namensschild ist angebracht. Er hat keine Lust weiter zu gehen und schlägt heftig mit der Faust gegen die Tür, ruft laut Hallo und nach Navid. Dass seine Stimme zornig klingt, stört ihn nicht.
Zu seinem Glück regt sich etwas hinter der Tür. Er hört Kinderstimmen und die dazugehörigen Gesichter schauen mit fragenden Augen über die Mauer. Mehrere Jungen springen immer wieder hoch und zeigen sich kurz. Bolman grüßt freundlich und ruft immer wieder nach Navid. Die Kinder verschwinden und die Schritte Erwachsener sind zu hören.
Ein junger Mann in bequemer Kleidung öffnet vorsichtig die Tür und verbeugt sich lächelnd.
»Willkommen Bruder«, der Mann hält eine Hand vor der Brust, die andere zeigt auf den Weg in den Garten und in das Haus. Seine Frage nach Navid beantwortet er nicht, doch das »Willkommen Bruder« klingt sehr herzlich. Bolman befindet sich in einem Garten, auf dessen Boden kein Gras wächst, sich keine Wiese befindet, sondern Teppiche ausgelegt sind. So gut es geht, versucht Bolman unbemerkt Schuhe und Strümpfe auszuziehen, versteckt diese unter einem Strauch und läuft, ebenso freundlich lächelnd, weiter dem jungen Mann hinterher.
Auf der Terrasse sieht er Männer, alle in den luftig weiten Hemden und Hosen gekleidet, barfuß auf den Teppichen sitzend, die ihm freundlich zu winken. Bolman hebt die Schulter, streckt die Hände fragend in den Himmel »Wo ist Navid?«
Diese Frage wird mit viel Gerede und Handzeichen beantwortet, verstanden hat er natürlich nichts. In seiner Größe, so aufrecht stehend, kommt er sich überheblich vor. Die Blume ungeschickt in der Hand, lässt er sich ungelenk auf einem der Teppiche nieder.
Jetzt zeigt er mit dem Wort »Mutter, Madre, Mama« auf die Blume, das Wort ist international und muss doch verstanden werden. Aber Kopfschütteln und Gelächter sind die Antwort.
Frauen sind nirgendwo zu sehen.
Aber Navid kommt- endlich. Die Freude darüber ist auf beiden Seiten groß. Dass Navid sich als Dolmetscher betätigt wird mit Beifall belohnt; doch die Erklärung, die Blume sei ein Geschenk für die Mutter, ruft hochgezogene Augenbrauen und ungläubige Gesichter hervor.
Die Mutter ist im Haus, sie würde nicht herauskommen und Blumen gibt es zur Genüge. Mit einer Handbewegung zeigt Navid auf eine herrliche Blumenpracht entlang der Mauer. Blüten über Blüten, die Bolman gar nicht aufgefallen sind. Sein Erklärungsversuch über diese Sitte in Deutschland erntet versteckte Lacher. Blumen, Blumen als Geschenk für Frauen scheint unmöglich zu sein, ein Fauxpas, dem so viel Mühe vorausgegangen war.
Andere Länder, andere Sitten. Bolman streckt sich gemütlich aus, lehnt sich in die Kissen und versucht das gleiche dauerhafte Lächeln, wie er es bei seinen neuen Freunden gesehen hat.
Navid erklärt ihm die Verwandtschaftsverhältnisse in Haus und Hof. Die Geschwister des Vaters mit ihren Familien, die Brüder und Schwestern, die Großeltern, alle haben hier ihren Platz.
Die Frage nach den weiblichen Bewohnern soll er wohl lieber nicht stellen, geht es Bolman durch den Kopf. Obwohl er zu gern die Mutter und die Schwestern kennen gelernt hätte.
Ein Haus ohne Frauen ist doch nicht möglich, sie sind da, aber nicht sichtbar. Ihre Spuren zeigen sich in den Arrangements der Teppiche, der Zusammenstellung der Farben und Stickereien auf den Kissen. Duft übertragen sie auf die Speisen, eine Vielfalt an Zimt, Vanille, Koriander und Rosenwasser. Ihre Stimmen sind verhalten und kichernd hinter sich leicht bewegenden Vorhängen zu hören. Manchmal ein wenig frech, dann wieder schnurrend wie bei einer Katze. Bolman ertappt sich dabei, den Stimmen zu lauschen, es macht ihm Spaß, herauszufinden, wem sie gehören könnten. Klingen sie jung oder älter, froh oder streng.
Bequem in die Polster gelehnt lächelt Bolman genau wie die Herren des Hauses, ein Lächeln, das er allmählich versteht.
Es geschieht nicht nur aus Höflichkeit, die Männer werben mit ihrer Freundlichkeit, ihren Gesten und Bewegungen um die Beachtung der Frauen, die sie hinter den Vorhängen wissen. Sie hoffen, dass ihre Sehnsüchte und begehrenden Gedanken durch die leicht wehenden Vorhänge wahrgenommen werden. Die unterschiedlichen Laute der Frauenstimmen beflügeln ihre Fantasie.
Die Männer zeigen sich von ihrer besten Seite und genießen es, beobachtet zu werden. In dem Bewusstsein, das dies ein Geheimnis ist, das jeder kennt, aber von keinem preisgegeben wird. Es ist gleich, für welche das Herz schlägt, der Mann will der Held sein, stark und unwiderstehlich.
Bolman lächelt, er fühlt sich außerordentlich verbunden mit dieser verschworenen Männergesellschaft.
Nur eine Frage lässt ihm keine Ruhe. Zu gerne hätte er gewusst, wie die Frauen auf seine Blume im Topf reagiert hätten.
Sie sehen sich nicht mehr so oft, die beiden Männer, die zu Freunden geworden sind.
Kennengelernt haben sie sich in ihrer Heimat, wo sie das Angebot, den Militärdienst in vier Monaten hinter sich zu bringen, als große Chance gesehen und angenommen hatten.
Beide leben im Ausland, haben blonde Frauen und Kinder, Naturwissenschaften studiert und das Studium mit einem Doktortitel beendet. Lediglich ihre Statur, beziehungsweise, die Körperlänge unterscheidet sie.
Bei brütend heißer Sommersonne, eingeschlossen in das lang gezogene Kasernengebäude in einer türkischen Kleinstadt begegnen und begrüßen sie sich mit diesem erwartungsvollen Blick aller Neulinge.
Aus dem Bewusstsein, Söhne des gleichen Mutterlandes zu sein, entsteht die Bereitschaft, diesem zu dienen, wenn auch nur für vier Monate. Eine einmalige Gelegenheit für Murat, dem Professor, der jetzt in Holland lebt und Ali, dem Doktor, der mit seiner Familie in Deutschland wohnt.
Ali ist jung, noch keine dreißig, sportlich, drahtig mit geschmeidigen Bewegungen, wachem Blick, und einem unwiderstehlichen Lächeln. Der Typ, dem nichts passieren kann, dem man nichts anhaben kann, der Held.
Murat, klein von Gestalt, fünf Jahre älter, rundlich, abwartend, mit intelligenten Augen.
In einem trägen Körper steht er ein wenig hilflos im Schlafsaal. Vier Monate wird dies sein zu Hause sein und er weiß nicht, wo er schlafen soll.
Als Ali ihn sieht, wird klar, dass Murat das untere der Etagenbetten belegen wird. Schnell wirft er die zugewiesene Kleidung nach oben: »Hier liege ich, du hast unten Platz, einverstanden?«
»Aber natürlich, natürlich.«
Selbstverständlich bleiben sie zusammen, sitzen während der Unterrichtsstunden nebeneinander, robben gemeinsam über den Boden und klettern über die Barrieren. Natürlich unterstützt Ali den Kameraden, wo es nur geht. Stellt sich schützend vor oder hinter ihn, lässt nicht zu, dass eine dumme Bemerkung fällt.
Murat selbst nimmt sich nicht so ernst. »Wie soll ich mit dem dicken Bauch so schnell laufen, ich brauche eure Unterstützung.«
Sein Freund Ali schneidet ihm die spärlichen Haare und rasiert ihn, bevor sie verbotene Ausflüge in die Stadt unternehmen.