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«Manhattan Transfer» gehört zu den großen revolutionären Romanen des 20. Jahrhunderts. Durch eine Fülle von Schauplätzen und Charakteren lässt Dos Passos ein schillerndes Porträt des urbanen New Yorker Dschungels entstehen, in dem das Jagdfieber wütet: nach Arbeit, Glück und Macht. Die Figuren des Romans – ein junger Einwanderer, ein Gewerkschaftsführer, ein Mörder, ein Karrierist, eine nach Selbständigkeit strebende Frau, ein sensibler Alkoholiker und andere – scheinen aus der unbestimmbar großen Masse der Stadtbewohner herausgerissen, um irgendwann wieder in ihrem Gewühl unterzugehen. Der eigentliche Protagonist des Romans ist jedoch die Großstadt New York von den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg – eine immense, scheinbar anarchische Macht, der alle ausgeliefert sind. Der Roman ist panoramisch, filmisch, eine beeindruckende Collage modernen Lebens, voller Episoden und Brüche. Dos Passos' Kamerablick setzt das Dokumentarische neben das Erleben seiner fiktiven Figuren; er verfolgt sie durch das Dickicht der Stadt, überlässt es jedoch dem Leser, seine Schlüsse aus ihrem Lebenskampf zu ziehen. Nach Erscheinen dieses Romans rückte Dos Passos mit einem Schlag in die Riege der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. In ihm vermischen sich der Naturalismus eines Theodore Dreiser und der Modernismus eines James Joyce zu einem vibrierenden, atemlos rhythmischen Stil, der bis heute nichts von seiner schillernden Farbigkeit und leuchtenden Intensität eingebüßt hat. Zahlreiche Autoren nahmen sich Dos Passos weltweit zum Vorbild, unter anderem übte er maßgeblichen Einfluss auf Alfred Döblins berühmten Roman «Berlin Alexanderplatz» aus. Die vorliegende Neuübersetzung stammt von dem renommierten Literaturübersetzer Dirk van Gunsteren (Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle) und ersetzt die aus dem Jahr 1966 stammende von Paul Baudisch. Sie ist mit einem Nachwort von Clemens Meyer (bekannt durch seinen ebenfalls Dos Passos verpflichteten großen Leipzig-Roman «Im Stein») versehen.
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Seitenzahl: 658
John Dos Passos
Manhattan Transfer
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Ihr Verlagsname
«Manhattan Transfer» gehört zu den großen revolutionären Romanen des 20. Jahrhunderts. Durch eine Fülle von Schauplätzen und Charakteren lässt Dos Passos ein schillerndes Porträt des urbanen New Yorker Dschungels entstehen, in dem das Jagdfieber wütet: nach Arbeit, Glück und Macht. Die Figuren des Romans – ein junger Einwanderer, ein Gewerkschaftsführer, ein Mörder, ein Karrierist, eine nach Selbständigkeit strebende Frau, ein sensibler Alkoholiker und andere – scheinen aus der unbestimmbar großen Masse der Stadtbewohner herausgerissen, um irgendwann wieder in ihrem Gewühl unterzugehen. Der eigentliche Protagonist des Romans ist jedoch die Großstadt New York von den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg – eine immense, scheinbar anarchische Macht, der alle ausgeliefert sind.
Der Roman ist panoramisch, filmisch, eine beeindruckende Collage modernen Lebens, voller Episoden und Brüche. Dos Passos’ Kamerablick setzt das Dokumentarische neben das Erleben seiner fiktiven Figuren; er verfolgt sie durch das Dickicht der Stadt, überlässt es jedoch dem Leser, seine Schlüsse aus ihrem Lebenskampf zu ziehen.
Nach Erscheinen dieses Romans rückte Dos Passos mit einem Schlag in die Riege der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. In ihm vermischen sich der Naturalismus eines Theodore Dreiser und der Modernismus eines James Joyce zu einem vibrierenden, atemlos rhythmischen Stil, der bis heute nichts von seiner schillernden Farbigkeit und leuchtenden Intensität eingebüßt hat. Zahlreiche Autoren nahmen sich Dos Passos weltweit zum Vorbild, unter anderem übte er maßgeblichen Einfluss auf Alfred Döblins berühmten Roman «Berlin Alexanderplatz» aus.
Die vorliegende Neuübersetzung stammt von dem renommierten Literaturübersetzer Dirk van Gunsteren (Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle) und ersetzt die aus dem Jahr 1966 stammende von Paul Baudisch. Sie ist mit einem Nachwort von Clemens Meyer (bekannt durch seinen ebenfalls Dos Passos verpflichteten großen Leipzig-Roman «Im Stein») versehen.
John Dos Passos wurde 1896 in Chicago geboren. Er studierte in Harvard und ging nach dem Abschluss 1916 nach Europa. Als Kunststudent in Spanien begann er zu malen und zu schreiben; unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges verfasste er zwei pazifistische Romane, bevor er mit dem multiperspektivischen Großstadtpanorama «Manhattan Transfer» 1925 den amerikanischen Roman revolutionierte. Später engagierte er sich im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner. Er gilt neben Hemingway, Faulkner und Fitzgerald als einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Moderne. John Dos Passos starb 1970 in Baltimore.
Drei Möwen kreisen über den zerbrochenen Kisten, den Orangenschalen und verfaulten Kohlköpfen, die sich zwischen den rissigen Planken heben und senken, und die grünen Wellen schäumen unter der Rundung des Bugs, als die Fähre, hin und her geworfen von der Strömung, klatschend und gurgelnd das Wasser zerteilt, schlingert und gemächlich am Anleger zur Ruhe kommt. Mit Kettengeklirr wirbeln handbetriebene Winschen. Sperrgitter werden hochgefahren, Füße überschreiten den Spalt, Männer und Frauen quetschen sich durch den nach Dung stinkenden hölzernen Tunnel des Fährhauses, dicht an dicht, wie Äpfel, die durch den Trichter in die Mostpresse gedrückt werden.
Die Schwester hielt den Korb mit ausgestreckten Armen, als wäre er eine Bettschüssel, und öffnete die Tür zu einem großen, warmen, trockenen Raum mit grünlich verfärbten Wänden, wo in der von Alkohol und Jodtinktur geschwängerten Luft über anderen, an der Wand aufgereihten Körben ein leises, säuerliches, bebendes Plärren hing. Sie stellte den Korb ab und sah mit geschürzten Lippen hinein. Das Neugeborene auf dem Mullbett wand sich matt wie ein Knäuel Regenwürmer.
Auf der Fähre war ein alter Mann, der Geige spielte. Er hatte ein Affengesicht, seitlich leicht verschoben, und die Spitze seines rissigen Lacklederschuhs wippte im Takt. Bud Korpenning saß mit dem Rücken zum Fluss auf der Reling und sah ihm zu. Die Brise spielte mit dem Haar, das unter der fest anliegenden Mütze hervorragte, und trocknete den Schweiß auf seinen Schläfen. Er hatte Blasen an den Füßen und war hundemüde, aber als das Boot ablegte und bockend über die kleinen, klatschenden, kabbeligen Wellen des Flusses fuhr, spürte er mit einem Mal ein warmes Kribbeln, das ihm durch alle Glieder schoss. «Sagen Sie, wie weit is es von da, wo wir anlegen, bis in die Stadt?», fragte er einen jungen Mann mit Strohhut und blau-weiß gestreifter Krawatte, der neben ihm stand.
Der Blick des jungen Mannes glitt von Buds ausgetretenen Schuhen zu den geröteten Handgelenken, die aus den ausgefransten Jackenärmeln ragten, über den dünnen Truthahnhals und schließlich keck zu den forschenden Augen unter dem geknickten Mützenschirm.
«Kommt ganz drauf an, wo Sie hinwollen.»
«Zum Broadway … Ich will direkt dahin, wo was los is.»
«Gehen Sie einen Block nach Osten und dann den Broadway runter, und wenn Sie weit genug gehen, sind Sie da, wo was los ist.»
«Danke, Sir. Werd ich machen.»
Der Geiger ging mit dem Hut in der Hand zwischen den Leuten umher, während der Wind an den schütteren grauen Strähnen auf seinem schäbigen, fast kahlen Schädel zupfte. Bud merkte, dass das Gesicht zu ihm aufsah und die verkniffenen, wie zwei schwarze Stecknadeln wirkenden Augen in die seinen blickten. «Nix», sagte er mürrisch, wandte sich ab und sah über den breiten, hell wie Messerklingen blitzenden Fluss. Die Planken des Anlegers umschlossen sie und knarzten, wenn das Boot dagegen stieß; Ketten rasselten, und Bud wurde von der Menge durch das Fährhaus geschoben. Er ging zwischen zwei Kohlenwagen hindurch und über eine breite staubige Straße, wo ein paar gelbe Straßenbahnwagen standen. Ein Zittern erfasste seine Knie. Er vergrub die Hände tief in den Taschen.
Auf einem Imbisswagen in der Mitte des Blocks: ESSEN. Er schob sich steif auf einen der Drehhocker und studierte lange die Preisliste.
«Spiegeleier und ne Tasse Kaffee.»
«Gewendet?», fragte der rothaarige Mann hinter dem Tresen und wischte sich die kräftigen sommersprossigen Unterarme an der Schürze ab. Bud Korpenning fuhr hoch.
«Was?»
«Die Eier. Wollen Sie die gewendet oder normal?»
«Ach so, gewendet.» Bud sank, den Kopf in die Hände gestützt, wieder in sich zusammen.
«Mann, Sie sehen ganz schön fertig aus», sagte der Mann, als er die Eier über dem zischenden Fett der Bratpfanne aufschlug.
«Bin grade erst hergekommen. Seit heut morgen fünfundzwanzig Kilometer gelaufen.»
Der Mann pfiff durch die Zähne. «In der großen Stadt, weil Sie n Job suchen, hm?»
Bud nickte. Der Mann ließ die brutzelnden, mit einem bräunlichen Gespinst überzogenen Eier auf einen Teller gleiten, legte Brot und ein Stück Butter auf den Rand und schob das Ganze über den Tresen. «Ich geb Ihnen jetzt mal n Rat, und zwar ganz umsonst. Lassen Sie sich ne Rasur und n Haarschnitt verpassen und zupfen Sie sich die Strohhalme von der Jacke, bevor Sie sich umtun. Dann finden Sie eher was. In dieser Stadt kommts drauf an, wie man aussieht.»
«Ich kann gut arbeiten. Ich bin n guter Arbeiter», knurrte Bud mit vollem Mund.
«Ich sags ja bloß», sagte der rothaarige Mann und wandte sich wieder dem Herd zu.
Als Ed Thatcher die Marmorstufen des breiten Krankenhausportals emporstieg, zitterte er. Der Geruch nach Medikamenten schnürte ihm die Kehle zu. Eine Frau mit strengem Gesichtsausdruck sah ihn über einen Tisch hinweg an. Er bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen.
«Können Sie mir sagen, wie es Mrs. Thatcher geht?»
«Sie können jetzt rauf.»
«Aber bitte, Miss – ist alles in Ordnung?»
«Die Stationsschwester weiß über den Fall Bescheid. Treppe links, zweiter Stock, Entbindungsstation.»
Ed Thatcher hielt einen in grünes Wachspapier eingeschlagenen Blumenstrauß in der Hand. Die breite Treppe schwankte, als er hinaufstolperte und mit den Fußspitzen an die Messingstangen stieß, mit denen der Läufer befestigt war. Das Schließen einer Tür ließ einen gepressten Schrei verstummen. Er hielt eine Schwester an.
«Ich möchte gern zu Mrs. Thatcher.»
«Wenn Sie wissen, wo sie ist, gehen Sie einfach rein.»
«Aber sie ist verlegt worden.»
«Dann müssen Sie im Stationszimmer fragen, am Ende des Korridors.»
Er biss sich auf die kalten Lippen. Am Ende des Korridors sah ihn eine Frau mit rotem Gesicht lächelnd an.
«Alles ist gut. Sie sind der glückliche Vater eines gesunden Mädchens.»
«Das ist unser erstes Kind, wissen Sie, und Susie ist so zart», stammelte er und hielt mühsam die Tränen zurück.
«Ja, ich verstehe schon, Sie machen sich Sorgen … Sie können reingehen und mit ihr sprechen. Das Baby ist vor zwei Stunden gekommen. Sie dürfen sie aber nicht ermüden.»
Ed Thatcher war ein kleiner Mann mit einem dünnen blonden Schnurrbart und blassgrauen Augen. Er ergriff die Hand der Schwester und schüttelte sie, wobei er lächelnd all seine schiefen, gelblichen Zähne entblößte.
«Wissen Sie, es ist unser erstes.»
«Gratuliere», sagte die Schwester.
Bettenreihen unter mürrischen Gaslichtern, ein kränklicher Geruch von Bettwäsche, unter der sich ständig etwas regte, fette und abgezehrte, weiße und gelbliche Gesichter; und da war sie. Susies offenes gelbes Haar rahmte ihr kleines blasses Gesicht ein, das geschrumpft und verzerrt wirkte. Er wickelte die Rosen aus dem Papier und legte sie auf den Nachttisch. Wenn man aus dem Fenster sah, war es, als blickte man hinab in tiefes Wasser. Die Bäume auf dem Platz waren blau eingesponnen. Entlang der Avenue gingen Lampen an und erzeugten einen grünlichen Widerschein auf backsteinroten Häuserblocks; Schornsteine und Wassertanks stießen scharf in einen Himmel, so rosarot wie Fleisch. Ihre bläulichen Lider klappten hoch.
«Bist du das, Ed ..? Du meine Güte, Ed, das sind ja Rosen. Wie verschwenderisch.»
«Ich konnte nicht anders, Liebes. Ich weiß doch, wie sehr du die magst.»
Eine Schwester stand am Fußende des Betts.
«Könnten Sie uns das Baby nicht mal zeigen, Miss?»
Die Schwester nickte. Sie hatte ein graues Gesicht, ein eckiges Kinn und schmale Lippen.
«Ich hasse sie», flüsterte Susie. «Die ist mir richtig unheimlich, eine gemeine alte Jungfer.»
«Mach dir nichts draus, Schatz, es ist ja nur für ein, zwei Tage.» Susie schloss die Augen.
«Willst du sie immer noch Ellen nennen?»
Die Schwester brachte einen Korb und stellte ihn neben Susie auf das Bett.
«Ach, ist sie nicht wunderbar!», sagte Ed. «Sieh doch, sie atmet … Und sie haben sie eingecremt.» Er half seiner Frau, sich aufzurichten und auf einen Arm zu stützen; eine gelbe Strähne löste sich und fiel über seine Hand, seinen Arm. «Wie können Sie sie auseinanderhalten, Schwester?»
«Manchmal können wirs nicht», sagte die Schwester und verzog den Mund zu einem Lächeln. Susie betrachtete forschend das winzige rote Gesicht. «Sind Sie sicher, dass es meins ist?»
«Natürlich.»
«Aber es hat kein Schild.»
«Ich werde gleich eins schreiben.»
«Aber meins hatte dunkles Haar.» Susie sank mit einem Seufzer in die Kissen zurück.
«Sie hat einen entzückenden hellen Flaum, genau in der Farbe von Ihrem Haar.»
Susie reckte die Arme in die Luft und schrie: «Das ist nicht meins. Das ist nicht meins. Bringt es weg … Diese Frau hat mein Baby gestohlen.»
«Schatz, um Himmels willen! Um Himmels willen!» Er versuchte, sie wieder zuzudecken.
«Zu dumm», sagte die Schwester ruhig und nahm den Korb. «Ich werde ihr ein Beruhigungsmittel geben müssen.»
Susie richtete sich kerzengerade auf. «Bringt es weg!», schrie sie, ließ sich, ganz hysterisch, zurückfallen und wimmerte unablässig.
«Du lieber Gott!», rief Ed Thatcher und rang die Hände.
«Sie gehen jetzt besser, Mr. Thatcher … Wenn Sie weg sind, beruhigt sie sich … Ich stelle die Rosen ins Wasser.»
Auf dem letzten Treppenabsatz überholte er einen untersetzten Mann, der langsam hinunterschlenderte und sich dabei die Hände rieb. Ihre Blicke begegneten sich.
«Alles in Ordnung?», fragte der Untersetzte.
«Ja, ich glaub schon», sagte Thatcher zaghaft.
Der andere wandte sich zu ihm, übersprudelnde Freude in der belegten Stimme. «Beglückwünschen Sie mich, beglückwünschen Sie mich; meine Frau hat einem Sohn das Leben geschenkt», sagte er mit starkem deutschem Akzent.
Thatcher schüttelte ihm die fette kleine Hand. «Wir haben eine Tochter», gestand er verlegen.
«Fünf Jahre, und jedes Jahr ein Mädchen, und jetzt, stellen Sie sich vor: ein Junge!»
«Ja», sagte Ed Thatcher, als sie das Krankenhaus verließen, «das ist ein großer Augenblick.»
«Würden Sie mir erlauben, Sie zur Feier des Tages auf ein Bier einzuladen?»
«Mit Vergnügen.»
In der Bar an der Ecke der Third Avenue schwangen die Flügel der halbhohen Lamellentüren hin und her. Mit höflich kleinen, schlurfenden Schritten gingen die beiden ins Hinterzimmer.
«Ach», sagte der Deutsche, als sie sich an einen verkratzten braunen Tisch setzten, «ein Familienleben besteht aus lauter Sorgen.»
«Das stimmt, Sir. Es ist unser erstes.»
«Trinken Sie auch ein Bier?»
«Mir ist alles recht.»
«Zwei Flaschen Kulmbacher Import auf das Wohl unserer Nachkommen.» Die Flaschen wurden knallend geöffnet, und sepiafarbener Schaum stieg in den Gläsern auf. «Auf den Erfolg … Prost», sagte der Deutsche und hob das Glas. Er rieb sich den Schaum vom Schnurrbart und schlug mit der rosigen Faust auf den Tisch. «Wäre es aufdringlich, Mister …»
«Thatcher ist mein Name.»
«Wäre es aufdringlich, Mr. Thatcher, Sie nach Ihrem Beruf zu fragen?»
«Ich bin Buchhalter. Und schon bald hoffentlich staatlich geprüfter Buchhalter.»
«Ich habe eine Druckerei, und mein Name ist Zucher – Marcus Antonius Zucher.»
«Sehr angenehm, Mr. Zucher.»
Sie reichten sich über den Tisch hinweg und zwischen den Flaschen hindurch die Hand.
«Ein staatlich geprüfter Buchhalter verdient viel Geld», sagte Mr. Zucher.
«Das werde ich auch müssen, für mein kleines Mädchen.»
«Kinder fressen einem die Haare vom Kopf», fuhr Mr. Zucher mit tiefer Stimme fort.
«Darf ich Sie auch auf ein Bier einladen?», fragte Thatcher und überschlug, wie viel Geld er dabeihatte. Der armen Susie wäre es gar nicht recht, dass ich in einer Bar sitze und trinke. Aber nur dieses eine Mal, und außerdem lerne ich ja auch was, ich lerne was über Vaterschaft.
«Je mehr, desto lustiger», sagte Mr. Zucher. «Aber diese Kinder fressen einem die Haare vom Kopf … Die tun nichts als essen und aus den Kleidern rauswachsen. Wenn meine Geschäfte erst laufen … Ach, aber mit diesen Hypotheken und all den Schwierigkeiten, die man hat, wenn man sich Geld leihen will, und die Löhne gehen rauf, und dann diese verrückten Sozialisten und Bombenleger von den Gewerkschaften …»
«Tja, so ist das nun mal, Mr. Zucher.»
Zucher drückte mit Daumen und Zeigefinger den Schaum aus dem Schnurrbart. «Es passiert nicht alle Tage, dass wir einen Sohn in die Welt setzen, Mr. Thatcher.»
«Oder eine Tochter, Mr. Zucher.»
Der Barmann brachte die neuen Flaschen, wischte den Tisch ab, blieb stehen, den Lappen in den geröteten Händen, und hörte zu.
«Und ich habe im Herzen die Hoffnung, dass mein Junge, wenn er auf seinen Jungen trinkt, Champagner im Glas hat. Ach ja, so geht das in dieser großartigen Stadt.»
«Ich wünsche mir, dass meine Tochter ein ruhiges, häusliches Mädchen wird, nicht wie diese Frauen heutzutage – nichts als Fransen und Tand und Spitzen. Aber bis dahin bin ich in Pension und hab ein kleines Haus am Hudson, und abends arbeite ich ein bisschen im Garten … Downtown kenne ich welche, die mit dreitausend im Jahr in Pension gegangen sind. Man muss eben sparen.»
«Sparen bringt überhaupt nix», sagte der Barmann. «Ich hab zehn Jahre gespart, und dann is die Bank pleitegegangen, und ich saß da mit meinem Sparbuch. Lassen Sie sich n guten Börsentipp geben und gehen Sie n Risiko ein. Das ist das Einzige, was es bringt.»
«Aber das wäre ja nichts anderes als Glücksspiel», sagte Thatcher schroff.
«Tjaja, Sir, das isses – ein Glücksspiel», sagte der Barmann, kehrte hinter die Theke zurück und schwenkte dabei die beiden leeren Flaschen.
«Ein Glücksspiel. Aber er hat gar nicht mal so unrecht», sagte Zucher und starrte mit glasigem, nachdenklichem Blick in sein Bier. «Wenn man Ehrgeiz hat, muss man Risiken eingehen. Ich bin mit zwölf Jahren aus Frankfurt hierhergekommen, weil ich Ehrgeiz hatte, und jetzt, wo ich einen Sohn habe … Ich werde ihn Wilhelm nennen, nach dem großen Kaiser.»
«Mein kleines Mädchen soll Ellen heißen, nach meiner Mutter.» Ed Thatchers Augen füllten sich mit Tränen.
Mr. Zucher stand auf. «Auf Wiedersehn, Mr. Thatcher. Es freut mich, Sie kennengelernt zu haben. Ich muss nach Hause zu meinen Mädchen.»
Thatcher schüttelte ihm abermals die fleischige Hand, dachte warme, weiche Gedanken über Mutter- und Vaterschaft, über Geburtstagskuchen und Weihnachtsfeste und sah durch einen schaumigen, sepiafarbenen Nebel, wie Mr. Zucher durch die Schwingtür hinauswatschelte. Nach einer Weile reckte er die Arme. Der armen kleinen Susie wäre es gar nicht recht, dass ich hier bin … Alles für sie und das süße kleine Mädelchen.
Als er an der Tür war, rief der Barmann: «He, Sie, wie wärs mit Bezahlen?»
«Hat das der andere denn nicht schon erledigt?»
«Gar nichts hat der erledigt.»
«Aber er hat m-m-mich doch eingeladen …»
Der Barmann lachte und strich mit seiner roten Pratze das Geld ein. «Ich schätze, der Dicke schwört auf Sparen.»
Ein kleiner, bärtiger Mann mit krummen Beinen und einem Derby ging durch die Allen Street, durch den mit spekulatiusbraunen Gebrauchtmöbeln vollgestellten Tunnel aus himmelblauen, lachsroten und senfgelben Decken, in den streifiges Sonnenlicht fiel. Er hatte die kalten Hände über den Schößen seines Gehrocks gefaltet und wich Kisten und spielenden Kindern aus. Dabei biss er sich unablässig auf die Lippen, faltete die Hände und löste sie wieder. Die Schreie der Kinder oder den ohrenbetäubenden Lärm der über ihm dahinratternden Hochbahnzüge nahm er ebenso wenig wahr wie den konzentrierten, süßlich-ranzigen Geruch der vollgestopften Mietskasernen.
Vor einem gelb gestrichenen Drugstore an der Ecke Canal Street blieb er stehen und starrte gedankenverloren auf eine grüne Reklametafel mit einem Gesicht. Es war ein glatt rasiertes, distinguiert wirkendes Gesicht mit hoher Stirn, gewölbten Augenbrauen und einem buschigen, ordentlich gestutzten Schnurrbart, das Gesicht eines Mannes mit Geld auf der Bank, und es thronte über einem gestärkten Umschlagkragen und einer breiten dunklen Krawatte. Darunter stand in Kursivschrift «King C. Gillette». Über dem Kopf prangte als Motto: KEIN SCHÄRFEN KEIN ABLEDERN. Der bärtige kleine Mann schob den Hut aus der schwitzenden Stirn und sah lange in die dollarstolzen Augen von King C. Gillette. Dann ballte er die Fäuste, straffte die Schultern und ging in den Laden.
Seine Frau und seine Töchter waren ausgegangen. Auf dem Gasbrenner machte er einen Topf Wasser warm. Mit der Schere, die er auf dem Kaminsims fand, schnitt er die langen braunen Locken seines Barts ab. Dann rasierte er sich sehr sorgfältig mit dem neuen, nickelglänzenden Rasierapparat. Zitternd stand er vor dem fleckigen Spiegel und strich mit den Fingern über die glatten weißen Wangen. Er war gerade dabei, den Schnurrbart zu stutzen, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Das Gesicht, das er ihnen zuwandte, war glatt wie das von King C. Gillette, ein Gesicht, so nichtssagend wie ein Dollar. Den beiden Mädchen fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. «Mamme … es is Tate», rief die ältere. Seine Frau sank wie ein Wäschesack auf dem Schaukelstuhl zusammen und warf die Schürze über den Kopf.
«Oj-oj! Oj-oj!», klagte sie und wiegte sich vor und zurück.
«Was ist? Gefall ich euch nicht?» Er ging, den schimmernden Rasierapparat in der Hand, auf und ab und strich hin und wieder mit den Fingern über sein glattes Kinn.
Einst gab es Babylon und Ninive, erbaut aus Ziegelsteinen. Athen, das waren Säulen aus Gold und Marmor. Rom ruhte auf breiten Bruchsteinbogen. In Konstantinopel leuchten die Minarette am Goldenen Horn wie große Kerzen … Stahl, Glas, Fliesen, Beton – das werden die Materialien der Wolkenkratzer sein. Die millionenfenstrigen Gebäude werden auf der schmalen Insel dichtgedrängt und glitzernd aufragen, Pyramiden über Pyramiden, schimmernd wie der weiße Wolkenturm eines Gewitters.
Als die Tür des Zimmers sich hinter ihm schloss, fühlte Ed Thatcher sich sehr einsam, und zugleich war er erfüllt von einer kribbelnden Rastlosigkeit. Wenn nur Susie da gewesen wäre, dann hätte er ihr von dem vielen Geld erzählen können, das er verdienen würde, und dass er für die kleine Ellen jede Woche zehn Dollar auf das Sparbuch einzahlen würde; das wären dann fünfhundertzwanzig Dollar im Jahr … Und in zehn Jahren würden es – ohne Zinsen – mehr als fünftausend Dollar sein! Ich muss ausrechnen, wie viel das bei vier Prozent Zinsen sind. Erregt ging er in dem schmalen Raum auf und ab. Die Gasflamme schnurrte behaglich wie eine Katze. Sein Blick fiel auf die Schlagzeile des Journal, das neben der Kohlenschütte auf dem Boden lag, wo er es hatte fallen lassen, um eine Droschke zu holen und Susie ins Krankenhaus zu bringen.
MORTON UNTERSCHREIBT GREATER NEW YORK BILL
New York die zweitgrösste Metropole der Welt
Er atmete tief ein, faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. Die zweitgrößte Metropole der Welt … Und Dad wollte, dass ich seinen blöden Laden in Onteora übernehme. Wenn Susie nicht gewesen wäre, hätte ichs vielleicht sogar getan … Meine Herren, heute Abend, da Sie mir die außergewöhnliche Ehre erweisen, mir eine Juniorpartnerschaft in Ihrer Firma anzubieten, möchte ich Ihnen mein kleines Mädchen, meine Frau vorstellen. Ihr verdanke ich alles.
Als er sich vor dem Kamin verbeugte, stieß sein Rockschoß ein Porzellanfigürchen von dem Schränkchen neben dem Bücherregal. Er schnalzte mit der Zunge und bückte sich danach. Der Kopf des holländischen Mädchens aus blauem Porzellan war abgebrochen. «Und dabei ist die arme Susie so stolz auf ihren Nippes. Ich sollte lieber schlafen gehen.»
Er schob das Fenster hoch und beugte sich hinaus. Am Ende der Straße rumpelte ein Hochbahnzug vorbei. Der Geruch von Kohlenrauch drang ihm in die Nase. Lange stand er da und sah die Straße hinauf und hinunter. Die zweitgrößte Metropole der Welt. In den Backsteinhäusern und dem trüben Laternenlicht, in den Stimmen einer Gruppe Jungen, die auf der Treppe des Hauses gegenüber herumalberten, und den regelmäßigen festen Schritten eines Polizisten spürte er ein Stampfen wie von Soldaten, wie von einem Raddampfer, der an den Palisades vorbei den Hudson hinauffuhr, wie von einer Parade am Wahltag, die durch lange Straßen auf etwas Hohes, Weißes zumarschierte, imposant und voller Säulen. Metropole.
Plötzlich war die Straße voll rennender Menschen. Jemand stieß keuchend das Wort «Feuer» hervor.
«Wo?»
Die Gruppe der Jungen auf der Treppe gegenüber löste sich auf. Thatcher wandte sich wieder zum Raum. Die Luft war warm und stickig. In ihm kribbelte es, er wollte hinaus. Ich sollte zu Bett gehen. Vom Ende der Straße hörte er Hufgetrappel und die schrille Glocke der Feuerwehr. Nur einen kurzen Blick. Den Hut in der Hand, rannte er die Treppe hinunter.
«Wo ist es?»
«Im nächsten Block.»
«Eins von den Mietshäusern.»
Es war ein fünfstöckiges Haus mit schmalen Fenstern. Der Leiterwagen war gerade erst gekommen. Aus den unteren Fenstern drang dichter brauner Rauch, hier und da durchsetzt mit Funken. Drei Polizisten schwangen ihre Knüppel und drängten die Schaulustigen zurück bis an die Treppen und Gitterzäune der Häuser gegenüber. Auf der freien Fläche in der Mitte der Straße blinkte das Messing der Pumpe und des roten Schlauchwagens. Die Leute sahen stumm zu den oberen Fenstern, wo sich Schatten bewegten und hin und wieder Licht flackerte. Eine dünne Flammensäule wie von einem Römischen Licht erschien über dem Haus.
«Der Luftschacht», flüsterte jemand. Ein Windstoß wehte Rauch und den Gestank brennender Lumpen durch die Straße. Thatcher war plötzlich übel. Als der Qualm sich verzog, sah er, dass Menschen in einer strampelnden Traube an der Fassade hingen und sich mit den Händen an Fenstersimsen festklammerten. Auf der anderen Seite halfen Feuerwehrmänner ein paar Frauen die Leiter hinunter. In der Mitte des Hauses loderten die Flammen heller. Etwas Schwarzes fiel aus einem Fenster und blieb schreiend auf dem Gehsteig liegen. Die Polizisten schoben die Menge bis zu den Enden des Blocks. Weitere Feuerwehrwagen trafen ein.
«Fünf Wagen sind unterwegs», sagte ein Mann. «Was soll man dazu sagen? Die in den beiden obersten Stockwerken sitzen in der Falle. Das war bestimmt n Brandstifter. Irgendso ein verdammter Zündler.»
Ein junger Mann saß zusammengesunken neben der Gaslaterne auf dem Bordstein. Thatcher wurde von der Menge gegen ihn gedrückt.
«Er is Italiener.»
«Seine Frau is dadrin.»
«Die Polizisten wollen ihn nicht durchlassen.»
«Seine Frau is schwanger. Aber er kann nich genug Englisch, ums den Polizisten zu sagen.»
Der Mann trug blaue Hosenträger, die hinten mit einem Stück Schnur geflickt waren. Sein Rücken hob und senkte sich, und hin und wieder stieß er stöhnend ein paar Wörter aus, die niemand verstand.
Thatcher schob sich durch die Menge. An der Ecke stand ein Mann und sah in den Kasten mit dem Feuermelder. Als Thatcher an ihm vorbeiging, stieg ihm ein Geruch von Petroleum in die Nase, der von den Kleidern des Mannes ausging. Der Mann sah ihn lächelnd an. Er hatte bleiche Hängebacken und glänzende, leicht vorstehende Augen. Thatchers Hände und Füße fühlten sich mit einem Mal kalt an. Der Brandstifter. In den Zeitungen steht, dass sie sich in der Nähe herumtreiben und zuschauen. Er ging rasch nach Hause, rannte die Treppe hinauf und verschloss hinter sich die Wohnungstür. Er hatte ganz vergessen, dass Susie ihn nicht erwartete. Er zog sich aus. Der Petroleumgeruch in den Kleidern des Mannes ging ihm nicht aus dem Kopf.
Mr. Perry schnippte mit dem Stock ein paar Klettenblätter fort. Der Makler intonierte in einem Singsang: «Ich muss Ihnen sagen, Mr. Perry, es handelt sich hier um eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Sie kennen ja das Sprichwort: Das Glück klopft nur einmal. Ich kann praktisch garantieren, dass sich der Wert dieser Grundstücke innerhalb von sechs Monaten verdoppeln wird. Vergessen Sie nicht, Sir: Wir gehören jetzt zu New York, der zweitgrößten Stadt der Welt … Es wird eine Zeit kommen – und ich bin überzeugt, dass Sie und ich sie erleben werden –, da werden viele Brücken den East River überspannen, sodass Manhattan und Long Island ein einziges Ganzes werden, und Queens wird genauso das Herz, das pulsierende Zentrum dieser großen Metropole sein, wie es jetzt der Astor Place ist.»
«Ich weiß, ich weiß, aber ich suche etwas Todsicheres. Außerdem will ich bauen. Meiner Frau geht es seit einigen Jahren nicht sehr gut, und …»
«Aber was könnte denn noch sicherer sein als mein Angebot? Ist Ihnen eigentlich bewusst, Mr. Perry, dass ich Ihnen unter erheblichen persönlichen Verlusten Gelegenheit gebe, sich an einer der größten Immobiliensekuritäten unserer Zeit zu beteiligen? Ich biete Ihnen nicht nur Sicherheit, sondern auch Behaglichkeit, Komfort, Luxus. Wir werden von einer großen Welle getragen, Mr. Perry, ob wir nun wollen oder nicht, einer großen Welle der Expansion und des Fortschritts. In den nächsten paar Jahren wird viel geschehen. All diese Erfindungen – Telefone, die Elektrizität, Stahlbrücken, Fahrzeuge, die nicht mehr von Pferden gezogen werden – führen doch irgendwohin. Und wir sind aufgerufen, uns daran zu beteiligen, wir stehen an der vordersten Front des Fortschritts … Mein Gott! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie bedeutsam das alles sein wird …» Der Stock, mit dem Mr. Perry in dürrem Gras und Klettenblättern stocherte, stieß an einen Gegenstand. Er bückte sich und hob einen dreieckigen Schädel mit zwei spiralförmigen Hörnern auf. «Donnerwetter!», sagte er. «Das muss ein prächtiger Widder gewesen sein.»
Der Geruch von Rasierschaum, Eau de Cologne und versengtem Haar, der penetrant in der stickigen Luft des Friseursalons hing, machte Bud schläfrig; das Kinn sank ihm immer wieder auf die Brust, und die Hände hingen groß und rot zwischen seinen Knien. Trotz des Klapperns der Scheren hörte er noch immer den Rhythmus seiner marschierenden Füße auf der hungrigen Straße von Nyack hierher.
«Der Nächste!»
«Was? … Ja, ich will ne Rasur und n Haarschnitt.»
Die weichen Hände des Friseurs strichen durch sein Haar, die Schere summte hinter den Ohren wie eine Hornisse. Immer wieder fielen ihm die Augen zu; er riss sie auf und kämpfte gegen den Schlaf an. Hinter dem Saum des gestreiften, mit sandfarbenen Haarschnipseln bedeckten Umhangs hüpfte der eckige Kopf des schwarzen Jungen, der ihm die Schuhe putzte, auf und ab.
«Jawoll», brummte ein Mann auf dem Nachbarstuhl mit tiefer Stimme, «höchste Zeit, dass die Demokraten einen starken Kandidaten …»
«Soll ich den Nacken ausrasieren?» Das speckige Mondgesicht des Friseurs erschien neben dem seinen.
Er nickte.
«Shampoo?»
«Nein.»
Als der Friseur die Lehne nach hinten kippte, um ihn zu rasieren, wollte Bud den Kopf recken wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte. Gemächlich breitete sich der Schaum über sein Gesicht, prickelte in der Nase und verstopfte ihm die Ohren. Ein Federbett aus Rasierschaum begrub ihn, aus blauem Schaum, schwarzem Schaum, zerschnitten vom weit entfernten Blitzen des Messers, vom Blitzen der Hacke, die blauschwarze Schaumwolken zerteilte. Der Alte, der rücklings auf dem Kartoffelacker lag, sein Bart, der schaumig weiß und blutig rot vom Kinn abstand. Voll Blut auch die Socken, von den Blasen an den Fersen. Seine kalten, schwieligen Hände unter dem Umhang waren gefaltet wie die eines Toten. Ich will aufstehen … Er öffnete die Augen. Weiche Fingerspitzen strichen über sein Kinn. Er starrte an die Decke, wo vier Fliegen endlose Achten um eine Glocke aus rotem Krepppapier flogen. Seine Zunge fühlte sich an wie trockenes Leder. Der Friseur richtete die Lehne wieder auf. Bud sah sich blinzelnd um. «Einen halben Dollar und fünf Cent fürs Schuheputzen.»
DIE BEHINDERTE MUTTER GETÖTET …
«Was dagegen, wenn ich noch ne Minute sitzen bleibe und die Zeitung lese?», hört er sich durch das Dröhnen in seinen Ohren sagen.
«Nur zu.»
PARKERS FREUNDE SCHÜTZEN …
Die schwarzen Lettern winden sich vor seinen Augen. Russen … AUFGEBRACHTER MOB WIRFT STEINE … (vom Sonderkorrespondenten des Herald) Trenton, New Jersey
Der vierzehnjährige Nathan Sibbetts hat nach zwei Wochen hartnäckigen Leugnens gestanden, für den Tod seiner alten, behinderten Mutter Hannah Sibbetts verantwortlich zu sein und sie nach einem Streit in ihrem gemeinsam bewohnten Haus in Jacob’s Creek, zehn Kilometer von New York entfernt, ums Leben gebracht zu haben. Er wurde am Abend dem Gericht überstellt, wo eine Anklagejury über den Fall entscheiden wird.
PORT ARTHUR UNTER FEINDLICHEM BESCHUSS …
MRS. RIX VERLIERT DIE ASCHE IHRES GATTEN.
«Am Dienstag, dem 24. Mai, bin ich gegen halb neun nach Hause gekommen, nachdem ich die ganze Nacht auf der Dampfwalze geschlafen hatte», sagte er, «und bin nach oben gegangen, um noch ein bisschen zu schlafen. Ich war gerade eingeschlafen, als meine Mutter raufkam und sagte, ich soll aufstehen, sonst wirft sie mich die Treppe runter. Dann hat sie mich gepackt und wollte mich die Treppe runterstoßen, aber ich stieß sie zuerst, und sie fiel bis ganz nach unten. Ich ging runter und sah, dass ihr Kopf zur Seite verdreht war. Und dann sah ich, dass sie tot war, und hab ihr den Kopf geradegerückt und sie mit meiner Bettdecke zugedeckt.»
Bud faltet die Zeitung sorgfältig zusammen, legt sie auf den Stuhl und geht hinaus. Draußen riecht die Luft nach Menschenmengen und ist erfüllt von Lärm und Sonnenschein. Bloß eine Nadel im Heuhaufen … «Und ich bin vierundzwanzig», murmelt er. Stell dir vor – mit vierzehn … Er beschleunigt seine Schritte auf dem geräuschvollen Pflaster, wo die Sonne durch die Stahlkonstruktion der Hochbahn scheint und die blaue Straße mit warmen, flirrenden gelben Streifen markiert. Bloß eine Nadel im Heuhaufen.
Ed Thatcher saß über die Klaviatur gebeugt da und klimperte die Mosquito Parade. Sonntagnachmittägliches Sonnenlicht fiel staubig durch die schweren Spitzengardinen, schlängelte sich durch die roten Rosen des Teppichs und warf Splitter und Flecken aus Licht in das unaufgeräumte Wohnzimmer. Susie Thatcher saß matt am Fenster und sah ihm zu, mit Augen, die zu blau wirkten für ihr bleiches Gesicht. Zwischen ihnen tanzte die kleine Ellen und vermied es dabei sorgsam, auf die Rosen des sonnenbeschienenen Teppichs zu treten. Zwei kleine Hände hielten den Saum des rosarot gerüschten Kleides, und hin und wieder sagte eine Stimme mit Nachdruck: «Sieh doch, Mummy, wie ich tanze!»
«Dieses Kind», sagte Thatcher, ohne in seinem Spiel innezuhalten. «Eine richtige kleine Ballettratte.»
Ein paar Seiten der Sonntagszeitung waren vom Tisch gefallen; Ellen tanzte auf ihnen herum und zerriss das Papier mit ihren flinken kleinen Füßen.
«Ellen, Liebes, tu das nicht», sagte Susie in dem rosaroten Plüschsessel mit klagender Stimme.
«Aber ich kann das, ohne dass ich aufhöre zu tanzen.»
«Tu das nicht, hat deine Mutter gesagt.» Ed Thatcher spielte jetzt Barcarole, und Ellen tanzte dazu, schwang die Arme und zerriss mit den Füßen die Zeitung.
«Ed, Herrgott, heb sie doch hoch, das Kind zerreißt ja die Zeitung.»
Er schlug einen Akkord an. «Liebes, tu das bitte nicht. Daddy hat die Zeitung noch nicht gelesen.»
Ellen tanzte einfach weiter. Thatcher beugte sich vor, packte seine zappelnde, lachende Tochter und setzte sie auf seinen Schoß. «Ellen, du sollst immer auf deine Mutter hören, wenn sie etwas zu dir sagt, und du sollst nichts kaputt machen, Liebes. Es kostet Geld, so eine Zeitung zu machen, viele Menschen haben daran gearbeitet, und Daddy hat sie gekauft, aber noch nicht ganz gelesen. Das versteht Ellie doch, oder? Was wir in dieser Welt brauchen, sind nicht Kaputtmacher, sondern Aufbauer.» Dann fuhr er mit der Barcarole fort, und Ellen tanzte und vermied es dabei sorgsam, auf die Rosen des sonnenbeschienenen Teppichs zu treten.
Sechs Männer saßen, den Hut aus der Stirn geschoben, an dem Tisch in der Imbissstube und aßen hastig.
«Mannomann!», rief der junge Mann am einen Ende des Tischs, der in der einen Hand eine Zeitung und in der anderen eine Tasse Kaffee hielt. «Is das zu fassen?»
«Is was zu fassen?», brummte ein Mann mit einem langen Gesicht und einem Zahnstocher im Mundwinkel.
«‹Riesenschlange auf der Fifth Avenue … Kreischend rannten die Damen in alle Richtungen auseinander, als heute Morgen um 11 Uhr 30 eine große Schlange aus einem Riss im Mauerwerk des Reservoirs an der Ecke Fifth Avenue und 42nd Street kroch und sich daranmachte, den Bürgersteig zu überqueren …›»
«So n Quatsch …»
«Das is doch gar nix», sagte ein alter Mann. «Als ich n Junge war, haben wir auf den Wiesen an den Brooklyn Flats Schnepfen geschossen.»
«Ach herrje! Schon Viertel vor neun», murmelte der junge Mann, faltete die Zeitung zusammen und stürzte hinaus auf die Hudson Street, wo Männer und Frauen zielstrebig durch den rötlichen Morgen eilten. Das Kratzen der Eisen unter den vom Behang halb verdeckten Hufen der Zugpferde und das Mahlen der Räder von Fuhrwerken erzeugten einen ohrenbetäubenden Lärm und erfüllten die Luft mit feinem Staub. Eine junge Frau mit einem geblümten Hut und einer großen lavendelblauen Schleife unter dem keck gereckten Kinn erwartete ihn vor der Tür von M. Sullivan & Co, Magazin und Lagerhaus. Er sprudelte innerlich geradezu über wie eine gerade geöffnete Flasche Limonade.
«Hallo, Emily! Stell dir vor: Ich hab ne Gehaltserhöhung gekriegt!»
«Du bist ganz schön spät dran, weißt du das eigentlich?»
«Aber ehrlich jetzt: Ich krieg zwei Dollar mehr.»
Sie reckte das Kinn zur einen und dann zur anderen Seite.
«Na und?»
«Aber du weißt doch, was du gesagt hast. Wenn ich mehr verdiene.» Sie sah ihn an und kicherte.
«Und das ist erst der Anfang …»
«Was sind denn schon fünfzehn Dollar die Woche?»
«Immerhin sechzig Dollar im Monat. Und ich lerne das Importgeschäft.»
«Du hast Flausen im Kopf. Und du wirst zu spät kommen.» Unvermittelt drehte sie sich um und lief die mit Unrat übersäte Treppe hinauf. Ihr glockenförmiger Faltenrock schwang raschelnd hin und her.
«Gott, ich hasse sie. Ich hasse sie.» Er verbiss sich die Tränen, die ihm heiß in die Augen stiegen, und eilte die Hudson Street hinunter zum Büro der Firma Winkle & Gulick, Westindienimporte.
Das Deck neben der Bugwinsch war warm und feucht von der salzigen Luft. In schmutziger Arbeitskleidung lagen sie Seite an Seite und unterhielten sich halblaut und träge, in den Ohren das Zischen, mit dem der stumpfe Bug das Wasser zerteilte, während er sich durch die langen grasgrauen Wogen des Golfstroms schob.
«J’te dis mon vieux, moi j’fou l’camp à New York … Sobald wir festgemacht haben, geh ich an Land, und da bleibe ich dann auch. Ich hab dies Hundeleben satt.» Der Steward war blond und hatte ein ovales, rosiges Gesicht; als er sprach, fiel der erloschene Zigarettenstummel, den er im Mundwinkel gehalten hatte, zu Boden. «Merde!» Er griff danach, doch der Stummel rollte über das Deck, entging seiner tastenden Hand und fiel durch das Speigatt.
«Lass nur, ich hab noch jede Menge», sagte der andere, der auf dem Bauch lag und zwei schmutzige Füße ins diesige Sonnenlicht reckte. «Der Konsul wird dich einfach zurückbringen lassen.»
«Dazu muss er mich erst mal kriegen.»
«Und dein Militärdienst?»
«Die können mich mal. Und Frankreich ebenfalls.»
«Du willst Amerikaner werden?»
«Warum nicht? Jeder Mann hat das Recht, sich sein Land auszusuchen.»
Der andere rieb sich nachdenklich mit der Faust die Nase und stieß einen langgezogenen leisen Pfiff aus. «Du bist ein Schlaukopf, Emile.»
«Warum kommst du nich mit, Congo? Du willst doch nich den Rest deines Lebens mit Drecksarbeit in einer stinkenden Kombüse verbringen.»
Congo richtete sich auf, setzte sich in den Schneidersitz und kratzte sich den schwarzen Krauskopf.
«Wie viel muss man in New York für ne Frau bezahlen?»
«Keine Ahnung. Ne Menge wahrscheinlich … Aber ich geh nich an Land, um mich zu amüsieren – ich will mir ne gute Arbeit suchen. Kannst du eigentlich nur an Frauen denken?»
«Wieso? Warum denn nich?» Congo legte sich wieder hin und verschränkte die Arme über dem dunklen, rußverschmierten Gesicht.
«Ich meine, ich wills zu was bringen. Europa is verfault und stinkt. In Amerika kann man was auf die Beine stellen. Spielt keine Rolle, wer deine Eltern sind und wie lang du auf der Schule warst. Da zählt nur, was du auf die Beine stellst.»
«Aber wenn jetz hier, auf dem warmen Deck, ne scharfe kleine Frau wäre, würdest dus dann nich auch gern mit ihr treiben?»
«Wenn wir reich sind, werden wir jede Menge davon haben, jede Menge von allem.»
«Und bei denen gibts keinen Militärdienst?»
«Nein, wozu denn auch? Denen gehts nur ums Geld. Die wollen nich mit anderen Ländern Kriege führen, die wollen mit ihnen Geschäfte machen.»
Congo schwieg.
Der Steward lag auf dem Rücken und betrachtete die Wolken. Sie zogen von Westen heran, weiß und gleißend wie Stanniolpapier, hoch aufragende Gebilde, zwischen denen das Sonnenlicht grell einfiel. Er ging durch Straßen, gesäumt von hohen weißen Gebäuden, er schritt in einem Gehrock mit hohem weißem Stehkragen breite, saubere Treppen aus Stanniolpapier hinauf, trat durch ’n blaues Portal in weite marmorne Hallen, wo auf langen Stanniolpapiertischen Geld raschelte und klingelte – Banknoten, Gold- und Silbermünzen.
«Merde v’là l’heure.» Die Doppelschläge der Glocke im Krähennest drangen leise an ihr Ohr. «Also denk dran, Congo – am ersten Abend, wenn wir an Land gehn …» Er machte mit den Lippen ein ploppendes Geräusch. «Sind wir weg.»
«Ich hab geschlafen. Ich hab von einem blonden Mädchen geträumt. Wenn du mich nich geweckt hättest, hätte ich sie gekriegt.»
Der Steward stand grunzend auf und spähte nach Westen, wo die Wogen vor einem Himmel, so hart und schroff wie Nickel, in einer scharfen, gezackten Linie endeten. Dann stieß er Congos Kopf gegen die Decksplanken und rannte nach achtern; die Holzschuhe an seinen nackten Füßen klapperten.
Draußen zog der heiße Junisamstag seine ausgefransten Enden durch die 110th Street. Susie Thatcher lag unruhig im Bett, die knochigen bläulichen Hände waren auf der Bettdecke gespreizt. Durch die dünne Wand drangen Stimmen. Eine junge Frau schluchzte:
«Ich sag dir doch, Mamme, ich geh nich zu ihm zurück.»
Dann die nüchterne mahnende Stimme einer alten Jüdin: «Aber Rosie, eine Ehe ist nich bloß Wein und Knisches. Die Frau muss sich fügen und für ihren Mann da sein.»
«Das werd ich nich. Das kann ich nich. Ich geh nich zurück zu dem dreckigen Mistkerl.»
Susie setzte sich auf, konnte aber nicht verstehen, was die alte Frau darauf antwortete.
«Aber ich bin keine Jüdin mehr», schrie die junge Frau plötzlich. «Wir sind nich mehr in Russland – das hier is New York. Hier haben Frauen Rechte.» Eine Tür wurde zugeschlagen, und dann war es still.
Susie Thatcher drehte sich hin und her und stöhnte gereizt. Diese schrecklichen Leute lassen einen keinen Augenblick in Frieden. Von unten ertönte das Klimpern des Pianolas: der Walzer aus der Lustigen Witwe. Herrgott, warum kommt Ed nicht endlich nach Hause? Es ist grausam von ihnen, eine kranke Frau allein zu lassen. Egoistisch. Ihre Lippen bebten, sie begann zu weinen. Danach lag sie ruhig da, starrte an die Decke und sah den Fliegen zu, die wie im Spiel die elektrische Lampe umkreisten. Auf der Straße rumpelte ein Fuhrwerk. Sie hörte Kinder kreischen. Ein Junge rannte vorbei und schrie ebenfalls. Und wenn es nun irgendwo brannte? Der schreckliche Theaterbrand in Chicago. Oh, ich werde noch verrückt! Sie warf sich im Bett hin und her, ihre spitzen Fingernägel bohrten sich in die Handflächen. Ich nehme noch eine. Vielleicht kann ich dann etwas schlafen. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und nahm die letzte Tablette aus der winzigen Blechschachtel. Der Schluck Wasser, mit dem sie sie hinunterspülte, tat ihrer Kehle gut. Sie schloss die Augen und blieb still liegen.
Sie schrak aus dem Schlaf. Ellen sprang im Zimmer umher, die grüne Wollmütze war ihr in den Nacken gerutscht, die kupferroten Locken waren zerzaust.
«Mummy, Mummy, ich will ein Junge sein.»
«Nicht so laut, Liebes, deine Mutter fühlt sich nicht wohl.»
«Ich will ein Junge sein.»
«Ed, was hast du nur mit dem Kind angestellt? Sie ist ja ganz überdreht.»
«Wir sind nur so aufgeregt, Susie. Wir waren in einem wunderschönen Theaterstück. Es hätte dir sehr gefallen, es war so poetisch und so. Und Maude Adams war hervorragend. Ellen war ganz begeistert.»
«Ich habe dir doch schon mal gesagt, wie unsinnig es ist, mit einem so kleinen Kind ins Theater –»
«Daddy, ich möchte ein Junge sein.»
«Aber mir gefällt mein kleines Mädchen so, wie es ist. Wir müssen noch mal hingehen, und dann nehmen wir dich mit, Susie.»
«Ed, du weißt doch, dass ich dafür zu krank bin.» Sie setzte sich auf, sodass ihr verblasstes blondes Haar über ihren Rücken hing. «Ach, ich wollte, ich wäre tot … Ich wollte, ich wäre tot und keine Last mehr für euch … Ihr hasst mich, alle beide. Wenn es nicht so wäre, würdet ihr mich nicht so allein lassen.» Sie schluckte und schlug die Hände vors Gesicht. «Ach, ich wollte, ich wäre tot», schluchzte sie durch die Finger.
«Susie, um Himmels willen, so etwas zu sagen, ist Sünde.» Er legte den Arm um sie und setzte sich neben sie auf das Bett.
Leise weinend ließ sie den Kopf an seine Schulter sinken. Ellen starrte die beiden aus runden grauen Augen an. Dann hüpfte sie wieder auf und ab und sang vor sich hin: «Ellie wird ein Junge, Ellie wird ein Junge.»
Mit langen Schritten und wegen der Blasen ein wenig humpelnd ging Bud den Broadway hinunter, vorbei an unbebauten Grundstücken, wo zwischen Grasbüscheln, Sumachstauden und Unkraut das Blech von Konservendosen aufblitzte, vorbei an Plakatwänden und Reklametafeln für Bull-Durham-Tabak, an Baracken und illegal errichteten, jetzt leerstehenden Bretterbuden, an tiefen Gräben, in denen sich von Wagenrädern zerfurchte Abfallberge türmten, die mit Asche und Bauschutt bedeckt wurden, vorbei an nackten grauen, von Dampfhämmern unablässig bearbeiteten und angenagten Felsen und tiefen Ausschachtungen, aus denen sich mit Erde und Steinen beladene Wagen auf Planken mühsam zur Straße hinaufkämpften, bis er schließlich auf neu angelegten Bürgersteigen an einer Reihe Mietshäuser aus gelben Ziegeln vorbeikam, wo man in die Schaufenster von Gemüsehändlern, chinesischen Wäschereien, Imbissstuben, Blumengeschäften, Schneiderwerkstätten und Feinkostläden schauen konnte. Als er unter einem Gerüst hindurchging, das an einem der neuen Gebäude stand, fing er den Blick eines alten Mannes auf, der am Rand des Bürgersteigs saß und die Dochte von Öllampen putzte. Bud blieb neben ihm stehen, zog die Hose hoch und räusperte sich.
«Sagen Sie, Mister – Sie wissen nich zufällig, wo ne gute Gegend ist, um Arbeit zu finden?»
«Es gibt keine gute Gegend, um Arbeit zu finden, junger Mann … Arbeit gibts natürlich schon, aber … In einem Monat und vier Tagen werd ich fünfundsechzig, und ich schätze, ich hab gearbeitet, seit ich fünf war, aber so was wie gute Arbeit hab ich noch nirgends gesehn.»
«Mir ist jede Arbeit recht.»
«Haste n Gewerkschaftsausweis?»
«Ich hab gar nix.»
«Ohne Gewerkschaftsausweis gibts beim Bau keine Arbeit», sagte der Alte. Er rieb mit dem Handrücken über die grauen Bartstoppeln an seinem Kinn und beugte sich wieder über die Lampen. Bud starrte auf den nach Staub riechenden Wald aus Stahlstangen vor dem neuen Gebäude, bis er merkte, dass ein Mann mit einem Derby ihn durch das Fenster der Bude beobachtete, die man für den Wachmann dorthin gestellt hatte. Beklommen scharrte er mit den Füßen und ging weiter. Wenn ich doch nur dahin kommen könnte, wo was los is …
An der nächsten Ecke versammelte sich eine Menschenmenge um ein teures weißes Automobil, aus dessen hinterem Ende Dampfwolken quollen. Ein Polizist hatte einen kleinen Jungen unter den Achselhöhlen gepackt und hielt ihn fest. Aus dem Wagen ertönte die wütende Stimme eines Mannes mit rotem Gesicht und weißem Walrossbart.
«Ich sage Ihnen doch, Officer, er hat einen Stein geworfen … Das muss aufhören. Dass ein Polizist sich auf die Seite von Gassenjungen und Rowdys stellt …»
Eine Frau mit stramm geflochtenem Dutt drohte dem Mann im Wagen mit der Faust und schrie: «Er hat mich beinah überfahren, Officer, beinah hätt er mich überfahren.»
Bud stellte sich neben einen jungen Mann in Metzgerschürze, der seine Baseballmütze verkehrt herum aufgesetzt hatte.
«Was n los?»
«Weiß ich auch nich … Wahrscheinlich wieder so n Automobilpalaver. Lesen Sie keine Zeitung? Man kanns ihnen ja auch nich verdenken, oder? Was für n Recht haben diese verdammten Automobile, in der Stadt rumzurasen und Frauen und Kinder zu überfahren?»
«Das machen die?»
«Klar machen die das.»
«Sagen Sie … können Sie mir vielleicht n Tipp geben, wo ich Arbeit kriegen kann?» Der Metzgerbursche warf den Kopf in den Nacken und lachte.
«Ach je, und ich dachte schon, Sie wollen mich anschnorren … Sind wohl nich aus New York … Ich sag Ihnen was: Sie gehn jetz den Broadway runter bis zur City Hall …»
«Ist das da, wo was los is?»
«Klar … Und dann gehn Sie rauf zum Bürgermeister und fragen den mal … Ich hab gehört, die suchen noch n paar Stadträte …»
«So n Quatsch», knurrte Bud und ging rasch davon.
«Los, Babys … zeigt uns mal was!»
«Ja, Slats, genau – du musst mit ihnen reden.»
«Sieben!» Slats warf die Würfel und schnippte mit den verschwitzten Fingern. «Scheiße!»
«Du hast schon n tolles Händchen für Würfel, Slats.»
Schmutzige Hände legten Fünf-Cent-Münzen auf den Haufen in der Mitte des Kreises. Die fünf Jungen mit ihren geflickten Hosenbeinen hockten auf den Fersen unter einer Straßenlaterne in der South Street.
«Los, Mädels, macht schon … Rollt, ihr kleinen Scheißkerle, rollt, verdammt.»
«Wir müssen abhauen! Dahinten kommen Big Leonard und seine Bande.»
«Dem würd ich gern mal eins …»
Vier der Jungen schlichen bereits am Kai entlang davon und gingen auseinander, ohne sich noch mal umzusehen. Der kleinste, mit einem kinnlosen Gesicht, spitz wie ein Schnabel, blieb zurück und sammelte still die Münzen ein. Dann rannte er an der Mauer entlang und verschwand in einer dunklen Gasse. Er drückte sich hinter einem Kaminvorsprung an die Wand und wartete. Das Stimmengewirr der anderen Bande driftete in die Gasse und entfernte sich dann die Straße hinunter. Der Junge zählte die Münzen in seiner Hand. Zehn. «Mann, das is n halber Dollar … Den andern sag ich, Big Leonard hat das Geld eingesackt.» Weil seine Taschen Löcher hatten, knotete er die Münzen in einen Hemdzipfel.
An jedem Platz des funkelnden weißen ovalen Tischs stand ein Weinpokal neben einem Champagnerglas. Auf acht schimmernden weißen Tellern lagen acht Kaviarkanapees wie mit schwarzen Perlen bestreute Taler auf Salatblättern, flankiert von Zitronenscheiben und garniert mit einigen Zwiebel- und Eiweißstückchen. «Vergiss bloß nicht: beaucoup de soing», sagte der alte Ober und runzelte die knollige Stirn. Er war ein kleiner Mann mit einem watschelnden Gang und ein paar schwarzen Haarsträhnen, die an seinem gewölbten Schädel klebten.
«Geht klar.» Emile nickte ernst. Sein Kragen war zu eng. Er stellte eine letzte Champagnerflasche in den vernickelten Eiskübel auf dem Serviertisch.
«Beaucoup de soing, porca Madonna … Diese Mann schmeißt mit Geld, als wäre Konfetti, capisci … Gutes Trinkgeld, du verstehst? Er ist eine sehr reiche Mann. Ist ihm egal, wie viel er ausgibt.» Emile strich eine Falte im Tischtuch glatt. «Fais pas, comme ça … deine Hand ist schmutzig, macht vielleicht eine Fleck.»
Die Serviette über dem Arm, traten sie von einem Bein aufs andere und warteten. Aus dem Restaurant im Erdgeschoss drangen sahnige Düfte, das Klirren von Besteck auf Porzellan und die kreiselnden Klänge eines Walzers.
Als er sah, dass der Oberkellner sich vor der Tür verbeugte, verzog Emile den Mund zu einem ehrerbietigen Lächeln. Eine Blondine mit langen Zähnen und einem lachsroten Cape rauschte am Arm eines mondgesichtigen Mannes herein, der sich seinen Zylinder wie einen Puffer vor den Bauch hielt; dann kamen ein Mädchen mit Lockenkopf und blauem Kleid, das lachend seine Zähne zeigte, und eine stämmige Frau mit einem Diadem und einem Halsband aus schwarzem Samt, eine Säufernase, ein langes zigarrenbraunes Gesicht … Hemdbrüste, Hände, die weiße Schleifen zurechtrückten, schwarz schimmernde Zylinderhüte und Lackschuhe; ein verschrumpelter Mann mit Goldzähnen schwenkte die Arme und spuckte mit einer Krähenstimme Begrüßungen aus, in seiner Hemdbrust war ein Brillant, so groß wie eine Fünf-Cent-Münze. Die rothaarige Garderobiere nahm die Mäntel entgegen. Der alte Ober stieß Emile an. «Das ist der große Boss», sagte er aus dem Mundwinkel und verbeugte sich. Emile drückte sich an die Wand, als sich die Gesellschaft langsam raschelnd in den Raum begab. Als er Atem holte, ließ ihn ein Hauch von Patschuli bis an die Haarwurzeln erröten.
«Aber wo ist denn Fifi Waters?», rief der Mann mit dem Brillantknopf.
«Sie hat gesagt, sie kommt eine halbe Stunde später. Wahrscheinlich belagern ihre Bewunderer den Bühneneingang.»
«Tja, auch wenn es ihr Geburtstag ist – wir werden nicht auf sie warten; ich hab noch nie auf irgendjemand gewartet.» Er ließ den Blick über die am Tisch versammelten Damen schweifen, zog die Manschetten ein wenig weiter aus den Ärmeln des Fracks und setzte sich abrupt. Im Nu war das Kaviarkanapee verschwunden. «Ober, was ist mit der Rheinweinbowle?», krächzte er. «De suite, Monsieur …» Mit angehaltenem Atem und eingezogenen Wangen räumte Emile die Teller ab. Die Weinpokale beschlugen, als der alte Ober sie aus einem Kristallkrug füllte, in dem Eiswürfel, Minze, Zitronenschale und lange, dünne Gurkenstücke schwammen.
«Ah, na also.» Der Mann mit dem Brillantknopf hob das Glas an den Mund, schlürfte, setzte es ab und warf seiner Tischnachbarin einen Blick zu. Sie bestrich kleine Brotstücke mit Butter, stopfte sie in den Mund und murmelte dabei: «Ich kann nur eine Kleinigkeit essen, nur eine Kleinigkeit.»
«Aber das wird dich doch nicht vom Trinken abhalten, was, Mary?»
Sie lachte gackernd und schlug ihm mit ihrem geschlossenen Fächer auf die Schulter. «Ach, du bist mir einer.»
«Allume-moi ça, porca Madonna», zischte der Ober Emile ins Ohr.
Er entzündete die Kerzen der beiden Stövchen auf dem Serviertisch, und gleich darauf zog der Duft von heißem Sherry, Sahne und Hummer durch den Raum. Die Luft war warm und erfüllt von Gläserklingen, Parfüm und Zigarrenrauch. Nachdem er beim Servieren des Hummer à la Newburg geholfen und nachgeschenkt hatte, lehnte Emile sich an die Wand und fuhr mit der Hand durch sein nasses Haar. Sein Blick glitt von den runden Schultern der Frau vor ihm über ihren gepuderten Rücken bis zum Spitzenbesatz ihres Kleids, wo sich ein winziger silbriger Haken gelöst hatte. Der glatzköpfige Mann neben ihr hatte sein Bein um ihres geschlungen. Sie war jung, in Emiles Alter, und sah den Mann mit feuchten, geöffneten Lippen unverwandt an. Es machte Emile ganz schwindlig, aber er konnte den Blick nicht abwenden.
«Aber was ist denn jetzt mit der schönen Fifi?», krächzte der Mann mit dem Brillantknopf und kaute auf einem Bissen Hummer. «Ich schätze, sie hat heute Abend wieder mal einen solchen Bombenerfolg gehabt, dass sie unsere kleine Gesellschaft nicht so verlockend findet.»
«Tja, so was kann jeder den Kopf verdrehen.»
«Aber wenn sie denkt, wir warten auf sie, erlebt sie die Überraschung ihres Lebens, hahaha», lachte der Mann mit dem Brillantknopf. «Ich hab noch nie auf irgendjemand gewartet, und ich werd jetzt nicht damit anfangen.»
Am anderen Tischende hatte der mondgesichtige Mann seinen Teller von sich geschoben und spielte mit dem Armband am Handgelenk seiner Tischdame. «Du siehst heute Abend aus wie von Gibson gemalt, Olga.»
«Ich sitze gerade für ein Porträt», sagte sie und hielt ihr Weinglas gegen das Licht.
«Bei Gibson?»
«Nein, bei einem echten Maler.»
«Bei Gott, ich werds kaufen.»
«Vielleicht wirst du gar keine Gelegenheit dazu haben.»
Sie nickte ihm zu, und ihr blonder Pompadour wippte.
«Du bist ein ganz schlimmes Mädchen, Olga.»
Sie lachte und hielt dabei die Lippen über den langen Zähnen geschlossen.
Ein Mann beugte sich zu dem Mann mit dem Brillantknopf und klopfte mit einem dicken Finger auf die Tischplatte.
«Nein, Sir, für den Grundstücksmarkt ist die 23rd Street inzwischen vollkommen uninteressant … Das ist die einhellige Meinung … Aber ich würde mich irgendwann mal gern privat mit Ihnen unterhalten, Mr. Godalming, und zwar über das Thema: Wie sind die großen New Yorker Vermögen entstanden? Astor, Vanderbilt, Fish … Durch Grundstücksgeschäfte natürlich. Und jetzt sind wir aufgerufen, die nächste große Welle zu nutzen … Sie ist beinahe da … Kaufen Sie in der 40th …»
Der Mann mit dem Brillantknopf hob eine Augenbraue und schüttelte den Kopf. «Für eine Nacht auf der Schönheit Schoß lasst mich doch los, ihr Sorgen … oder so ähnlich … Ober, warum zum Teufel dauert das so lange mit dem Champagner?» Er erhob sich, hüstelte in die Hand und begann mit krächzender Stimme zu singen:
Ach, wär der Atlantik doch ganz aus Champagner,
Aus schäumendem kühlem Champagner …
Alle applaudierten. Der alte Ober hatte gerade das Omelette surprise serviert und mühte sich mit hochrotem Gesicht, eine Champagnerflasche zu öffnen. Als der Korken schließlich mit einem Knall davonflog, stieß die Dame mit dem Diadem einen Schrei aus. Man trank auf den Mann mit dem Brillantknopf.
For he’s a jolly good fellow …
«Wie heißt das hier eigentlich?», fragte der Mann mit der Säufernase seine Nachbarin und beugte sich vor. Das schwarze Haar der jungen Frau war in der Mitte gescheitelt; sie trug ein blassgrünes Kleid mit Puffärmeln. Er blinzelte langsam und sah dann unverwandt in ihre schwarzen Augen.
«Das hier is jedenfalls das feinste Essen, das ich je gegessen hab … Wissen Sie, junge Dame, ich komm nich oft in die Stadt.» Er trank sein Glas aus. «Und jedes Mal hab ich hinterher irgendwie die Nase voll …» Der Blick seiner vom Champagner fiebrig glänzenden Augen glitt über ihren Hals und die Schultern bis zu ihrem nackten Arm. «Aber diesmal glaub ich …»
«Es ist bestimmt aufregend, nach Bodenschätzen zu suchen», unterbrach sie ihn errötend.
«In den alten Zeiten wars ein tolles Leben. Ein raues Leben, was für Männer eben … Ich bin froh, dass ich mein Geld in den alten Zeiten gemacht hab … Heute hätt ich nich mehr so viel Glück.»
Sie sah ihn an. «Wie bescheiden, dass Sie es Glück nennen.»
Emile stand vor der Tür des Séparées. Es war nichts mehr zu servieren. Die rothaarige Garderobiere ging mit einem großen, rüschenbesetzten Cape über dem Arm vorbei. Er lächelte und versuchte, einen Blick von ihr aufzufangen. Sie schnaubte und warf den Kopf in den Nacken. Will mich nicht ansehen, weil ich bloß Kellner bin. Wenn ich erst Geld hab, werd ichs ihnen zeigen.
«Sag Charlie, noch zwei Flaschen von die Moët & Chandon, Goût américain», zischte der alte Ober ihm zu.
Der mondgesichtige Mann erhob sich. «Meine Damen und Herren –»
«Ruhe im Puff», rief jemand.
«Die Madam will was sagen», ergänzte Olga flüsternd.
«Meine Damen und Herren, infolge der bedauerlichen Abwesenheit unseres Sterns von Bethlehem, unserer Vollblutschau –»
«Gilly, keine Blasphemie», sagte die Dame mit dem Diadem.
«Meine Damen und Herren, ich bin kein Redner …»
«Gilly, du bist betrunken.»
«Ob die Strömung … ich meine: ob das Wasser nun mit uns oder gegen uns ist …»
Jemand zog an seinen Frackschößen, und plötzlich saß der mondgesichtige Mann wieder auf seinem Stuhl.
«Es ist schrecklich», sagte die Dame mit dem Diadem zu dem Mann mit dem langen, tabakbraunen Gesicht, der am Tischende saß, «schrecklich, Colonel. Wenn Gilly getrunken hat, wird er immer blasphemisch.»
Der Colonel wickelte gerade sorgfältig eine Zigarre aus dem Stanniolpapier. «Was Sie nicht sagen», brummte er. Das Gesicht über dem borstigen grauen Schnurrbart blieb ausdruckslos.
«Es gibt da diese furchtbare Geschichte von dem armen alten Atkins, Elliott Atkins, der früher bei Mansfield war …»
«Tatsächlich?», sagte der Colonel eisig, während er ein kleines Taschenmesser mit Perlmuttgriff hervorholte und die Zigarre anschnitt.
«Hast du gehört, Chester, dass Mabie Evans einen großen Erfolg gehabt hat?»
«Ehrlich gesagt, Olga, weiß ich nicht, wie sie das angestellt hat. Sie hat doch praktisch keine Figur …»
«Nun, im Wahlkampf hat er eines Abends in Kansas eine Rede gehalten, voll wie eine Strandhaubitze, Sie verstehen schon …»
«Sie kann nicht singen …»
«Der arme Kerl hat sich im Rampenlicht immer schwergetan …»
«Und sie hat nicht mal ansatzweise so was wie eine Figur …»
«Und da hat er dann eine Freidenkerrede gehalten, so eine Art Bob-Ingersoll-Rede …»
«Netter alter Bursche … In den alten Zeiten in Chicago war ich gut mit ihm bekannt …»
«Was Sie nicht sagen.» Der Colonel steckte die Zigarre sorgfältig mit einem Streichholz an.
«Und plötzlich tat es einen Schlag, und ein Feuerball fuhr zum einen Fenster herein und zum anderen hinaus.»
«Und wurde er … äh … getötet?» Der Colonel blies eine blaue Rauchwolke zur Decke.
«Was? Bob Ingersoll ist vom Blitz getroffen worden?», rief Olga schrill. «Geschieht ihm recht, diesem schrecklichen Atheisten.»
«Nein, nicht ganz, aber es hat ihm einen Heidenschreck eingejagt und zu Erkenntnissen über ein paar wichtige Dinge im Leben verholfen, und jetzt ist er Methodist.»
«Schon komisch, wie viele Schauspieler zu Predigern werden.»
«Weil sie sonst kein Publikum haben», krächzte der Mann mit dem Brillantknopf.
Die beiden standen vor der Tür und lauschten dem Lärm von drinnen. «Tas de sacrés cochons … Porca Madonna!», zischte der alte Ober. Emile zuckte die Schultern. «Diese dunkelhaarige Frau hat ganze Abend gemacht schöne Augen zu dir.» Er näherte sein Gesicht dem von Emile und zwinkerte. «Vielleicht du hast Glück bei ihr, wer weiß?»
«Mit denen und ihren schmutzigen Krankheiten will ich nichts zu tun haben.»
Der alte Ober gab ihm einen Klaps auf den Oberschenkel. «Keine jungen Männer mehr heutzutage … Als ich war jung, ich hab alles mitgenommen.»
«Die sehen einen doch nicht mal an», sagte Emile mit zusammengebissenen Zähnen. «Für die ist man nichts weiter als ein Anzug auf zwei Beinen.»
«Warte nur – du lernst schon noch.»
Die Tür ging auf. Sie verbeugten sich respektvoll vor dem Brillantknopf. Jemand hatte ihm zwei Frauenbeine auf die Hemdbrust gemalt. Seine Wangen waren gerötet. Das eine Unterlid hing etwas herab und verlieh dem runzligen Gesicht etwas Schiefes, Fragendes.
«Wasislos, Marco, wasislos?», murmelte er. «Wir ham nix mehr zu trinken … Bring uns den Atlantik und noch zwei Pullen Whiskey.»
«De suite, Monsieur …» Der alte Ober verbeugte sich. «Emile, sag Auguste Bescheid, immédiatement et bien frappé.»
Als Emile durch den Korridor ging, hörte er den Gesang.
Ach, wär der Atlantik doch ganz aus Champagner,
Aus schäumendem kühlem …
Mondgesicht und Säufernase kehrten gemeinsam von der Toilette zurück. Arm in Arm torkelten sie um die Palmen in der Halle herum.
«Diese verdammten Doofköpfe machen mich ganz krank.»
«Kann man wohl sagen. Das sind nich die Champagnerdiners, die wir in Frisco hatten, in den alten Zeiten.»
«Ach, waren das herrliche Zeiten.»
«Übrigens» – der mondgesichtige Mann stützte sich an der Wand ab –, «Holyoke, alter Freund, hastu den vorzüglichen kleinen Artikel über den Kauschukhandel gelesen, den ich in den Morgenzeitungen untergebracht hab? Da wern die Investoren aber Schlange stehn …»
«Was weiß du denn schon von Kauschuk? Das Zeug taugt doch nix.»
«Wirst sehn, Holyoke, alter Freund, du lässt dir die Gelegenheit deines Lebens entgehn … Geld kann ich riechen, ob ich nüchtern bin oder besoffen …»
«Warum hast du dann keins?» Das rote Gesicht des Mannes mit der Säufernase färbte sich dunkelrot; er beugte sich vor und lachte aus vollem Hals.
«Weil ich meine Freunde an meinen Tipps teilhaben lasse», antwortete der andere pikiert. «He, du, wo is jetz dieser private Speiseraum?»
«Par ici, Monsieur.»
Ein rotes gefälteltes Kleid wirbelte an ihnen vorbei, ein kleines ovales, von dicht anliegenden braunen Locken eingerahmtes Gesicht, ein lachender Mund mit Zähnen wie Perlen.
«Fifi Waters», riefen alle. «Komm her, meine süße Fifi, in meine Arme.»
Man hob sie auf einen Stuhl, wo sie von einem Bein aufs andere hüpfte und den letzten Schluck Champagner aus ihrem geleerten Glas tropfen ließ.
«Fröhliche Weihnachten!»
«Frohes neues Jahr!»
«Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!»