Männer-Gezeiten -  - E-Book

Männer-Gezeiten E-Book

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Beschreibung

»Von Männern – für Männer, die im Leben stehen« – das ist das Motto dieses Buchs.  Persönlich und authentisch berichten Männer von ihren Erfahrungen in den Stürmen und Ruhezeiten des Lebens, aber auch von ihren Einsichten zu Glück, Gott und Sinn. Kurze Impulse inspirieren zum Nach- und Weiterdenken. Im Mittelpunkt stehen dabei Themen wie Gefühle, Körper und Selbstliebe, aber auch Männlichkeit, Väterlichkeit und Autonomie. Ein Buch zum Lesen und Verschenken, aber auch für den Austausch in Gruppen, mit Frauen und Männern.

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Jürgen Döllmann, Andreas Heek, Hans Prömper (Hg.)

Männer Gezeiten

Jürgen Döllmann, Andreas Heek, Hans Prömper (Hg.)

Männer Gezeiten

Inspirationen für ein intensives Leben

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Darüber hinaus wurden einzelne Verse von den Autoren frei übersetzt.

Illustrationen im Innenteil: © Very Well / GettyImages

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Brent Olson/Aurora Photos/IMAGO

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print 978-3-451-39321-1

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82783-9

Inhalt

Vorwort / Einführung

Hinführung. Was will dieses Buch?

Hintergrund und Herausgeber

Lesehilfe und Nutzen

Kontext: Männlichkeiten in Politik und Gesellschaft

Motivation: Religion und Spiritualität

Kapitel 1: Krisen

Das Neue schmecken

Aufbruch ins Ungewisse

Mir selbst Freund sein

Scheitern gehört zum Leben!

Autonomie – Fragen als Wegweiser

Scherbenhaufen des Ich?

Hoffnung in Krisenzeiten

Scheitern. Anfang des Erfolges?

„Hauptsache Arbeit!?“

Nein sagen

Kapitel 2: Innehalten

„Halt an!“ – Unterbrechen und Spüren

Der Himmel ist in dir!

Versuchungen

Nichts ist unmöglich, oder?

Sein statt Wollen

Heiliger Boden

Stabilitas loci („Beständigkeit des Ortes“)

Der Hobbit in mir

Zu meiner Autonomie stehen

Kapitel 3: Körper

Höre auf dein Herz

Vom Hunger verführt werden

Mein Lebensdurst

Lebendig werden

Einfach schmecken, mit allen Sinnen

Rücken

Dank deinen Füßen

Bedenke, dass du endlich bist!

Kapitel 4: Selbstliebe

Mir selbst ein Freund sein

„Gönne dich dir selbst.“ Ein Rat gegen Überarbeitung und Burnout

„Erträge meines Lebens“

Mit dem Herzen sehen

Das Innere achten

Eine besondere Rolle spielen

Licht werden

Kapitel 5: Verwandlung

Ändern leben

Schmecke dein Leben!

Der Türsteher: „Du bist ja ein Mann, erinnerst du dich noch?“

Allmachtsphantasien oder: Die Offenheit des Findens

Ein anderer werden – der gleiche bleiben – mir selbst ähnlicher werden. Erfahrungen eines trans-Mannes

Corona. In mir zu Haus

Kapitel 6: Trotz allem: Glauben

„Etwas wagen“

Durchkreuzte Lebenswege

Berufung: Freimut zur Menschlichkeit

Auch mein Verborgenes zulassen

Mich meiner Hoffnung rühmen

Am Ende sein. Scheitern

Treue und Aggression

Leiden, Sterben und Lieben. Wo glatte Antworten nicht mehr tragen

Kapitel 7: Natur

Der Beginn des Bienenjahres

Empfangen und weitergeben

(Corona) Lebensreise: den Schatz der Verbindung zu mir selbst entdecken

Visionssuche: Klarheit gewinnen

Verbunden mit allem Lebendigen

Heiliger Ort Scheune

Aus den Gräbern steigen

Kapitel 8: Beziehungen

Herzensliebe

„Heute einmal jenseits der Standardeinstellung“ Gedanken über Alltag und Freiheit

Vater sein

„Mein Vater war ein Heimatloser“

Glück der Unsichtbarkeit

Mit dem Tod leben

Kapitel 9: Gefühle

In Tiefschlaf und Angst

Heiliger Zorn?

Mit dem Herzen sehen

Hochgejubelt und doch fallen gelassen. Der spannungsgeladene Alltag

Den eigenen Weg gehen

Herzkammer. Mein Herz achten

Kapitel 10: Verletzlichkeit

Von Krankheit berührt sein

Bejubelt und fallen gelassen

Man(n) scheitert nicht, sondern findet neue Wege zu sich selbst!

Unsterblich?

Ein schöner Tag?

Opferstätte. Auf-Hören

Kapitel 11: Rituale

„Heute, nur heute.“ In der Gegenwart leben

Asche, Burnout. Tür zu!

Scheitern ist nicht gleich Scheitern oder: die Meditation im Kartoffelsack

Fußwaschung

Com-Passion. Mit-Fühlen

Aus den Gräbern steigen. Wo Geist lebendig macht

Kapitel 12: Fastenzeit

Aschermittwoch. Asche

Erster Fastensonntag. Versuchung der Macht

Zweiter Fastensonntag. Verklärte Manner oder Männer mit verklärtem Blick

Dritter Fastensonntag. Leben in Gottes Kraft und Weisheit

Vierter Fastensonntag. Schlangen

Fünfter Fastensonntag. Wenn nichts sicher scheint

Palmsonntag. Groß rauskommen

Gründonnerstag. Brot für andere sein

Karfreitag. Männerkarfreitag

Ostern. „Aufstehen zur Begegnung“

Ostermontag. Osterspaziergang

Fachbeiträge

Alter / Altern / Älterwerden

Arbeit

Autonomie und Verbundenheit

Burnout, Depression, Erschöpfung

Fürsorgliche Männer (Caring Masculinities)

Gesundheit

Gewalt

Heroismus und Mannesmut

Homosexuelle Liebe

Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt

Männergruppe(n)

Männlichkeit(en) / Mannsein

Querdenker

Selbstoptimierung

Sexualität

Spiritualität

Sind Transmänner echte Männer?

Väter 4.0

Work-Life-Balance

Literaturhinweise für Interessierte

Internet-Links zum Thema Männer

Autoren

Herausgeber

Anmerkungsverzeichnis

Vorwort / Einführung

Hinführung. Was will dieses Buch?

Männer in den Gezeiten und Wechselbädern des Lebens. Davon handelt dieses Buch. Von Männern – für Männer. Und für alle, die sich für deren Befinden interessieren: Frauen, Söhne, Töchter, Partner, Partnerinnen, Eltern …

Das Buch versammelt authentische, erzählende, persönliche Erfahrungsberichte und Gedanken zum Leben von Männern. Es möchte anregen zu Ehrlichkeit und Offenheit sich selbst und anderen gegenüber; im besten Fall regt es zu Handlungsfähigkeit in Krisen, zu einem Mehr an Glaubwürdigkeit und Partnerschaftlichkeit etc. an.

Angesprochen werden Lebenssituationen und Themen wie Burn-out, Väterlichkeit, Krankheit, Natur, Körper, Partnerschaft, Altern, Freunde, Tod, Scheitern, Sexualität, Lebensfreude, Geborgenheit, Lebenssinn, Abenteuer, Erfolg, Einsamkeit, Pflege, Autonomie, Fühlen, Trauer, Wut, Selbstsorge, Sinn, Glauben … Ja, eben: die Gezeiten und Wechselbäder des Lebens, in denen sich Männer bewegen.

Die Texte vermitteln Impulse und Anregungen zu Besinnung, Unterbrechung und Spüren, zu Selbstreflexion, Auszeit und Neuorientierung – und allem anderen, was beim Lesen einfällt.

Kurze Fachbeiträge, eine Literaturliste und Internet-Links verorten die persönlichen Beiträge im gesellschaftlichen und fachlichen Kontext. Und sie bieten Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung mit interessanten Männerfragen.

Hintergrund und Herausgeber

Seit 2007 erscheinen jährlich zwischen Aschermittwoch und Ostern einmal wöchentlich „Fastenimpulse für Männer“ per E-Mail. Mittlerweile sind es über einhundert. Zeugnisse und Erfahrungen teils sehr unterschiedlicher Autoren aus dem Umfeld der Seelsorge, Bildungsarbeit, Beratung und Gruppenarbeit mit Männern. Texte zu Lebensfragen und spirituelle Anregungen, die sich an jährlichen Oberthemen und biblischen Texten orientieren. Jahresthemen waren z. B. „Gönne dich dir selbst“, „Höre auf dein Herz, Bruder“, „Mir selbst Freund sein“, „Scheitern und andere Sackgassen“, „Lebendigkeit und ihre Quellen“. Diese Fastenimpulse haben aktuell ca. 2.200 Abonnent*innen. Ungefähr 60 dieser Beiträge möchten wir nun als Buch veröffentlichen. Die Autoren dieser Impulse haben sich die Aufgabe gestellt, persönliche Erfahrungen menschlich und spirituell zu reflektieren. Erlebnisse haben sie in Poesie verwandelt, in der sich das Herz der schreibenden Männer zeigt. Nicht die gelackte oder teflonbeschichtete Männlichkeit erscheint, sondern eine Echtheit und Ehrlichkeit, die das Leben ihnen schenkt – oder zumutet.

Wir Herausgeber verfügen über unterschiedliche Hintergründe, Erfahrungen und Expertisen in den Feldern Erwachsenen- und Männerbildung, Beratung und Seelsorge, Hochschule und bürgerschaftliches Engagement. Unser gemeinsames Interesse liegt in unverstellten, zugewandten und kritischen Perspektiven auf Männer. Durchaus mit Humor und Witz, aber immer orientiert an der möglichen Fülle des Lebens.

Lesehilfe und Nutzen

Das Buch kann unterschiedlich gelesen werden. Nach Themen sortiert kann es, je nach Gemütszustand und Lebenslage, Anregungen geben. Es kann als persönlicher Wegbegleiter zu Urlaub, Sabbatical oder Exerzitien mitgenommen werden. Oder es liegt auf dem Nachttisch, um jeden Tag einen Impuls mit in die Nacht zu nehmen oder beim Wachwerden ein „Fest der Auf(er)stehung“ zu feiern.

Apropos Auferstehung: Aus einigen besonders prägnanten Impulsen haben wir Herausgeber eine eigene Fastenzeit zusammengestellt, die ebenfalls für die nächstkommende genutzt werden kann. Einige Fachaufsätze versuchen darüber hinaus, aktuelle Fragestellungen der Männerforschung auf den Punkt zu bringen. Das Buch lädt also bewusst zu kursorischem Lesen ein, je nach Lust und Freude.

Es richtet sich dabei an Interessierte ebenso wie an Fachkräfte in Bildung, Beratung, Seelsorge, sozialer Arbeit etc.

Kontext: Männlichkeiten in Politik und Gesellschaft

Spätestens seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts setzt sich die emanzipatorische Männerbewegung theoretisch und praktisch mit den notwendigen Veränderungen von Männlichkeiten und Geschlechterbeziehungen auseinander. Die katholische Männerarbeit und Männerseelsorge ist diesen Weg nicht nur mitgegangen, sondern hat ihn in ökumenischer Brüderlichkeit aktiv mitgestaltet. Wichtig war die Förderung einer je individuellen Männlichkeit, also die Erweiterung eines Freiheitsraums für Männer. Damit verband sich die Erkenntnis, dass nur die Eindämmung schädlicher Männerbilder und die Überwindung einseitiger und missbräuchlicher Orientierungen an den „starken Seiten“ von Männlichkeiten es Männern ermöglicht, wirklich sie selbst zu werden. Diesem Weg bleibt die katholische Männerarbeit weiterhin verbunden.

Viele sind in den letzten Monaten aus den Träumen einer entwaffneten, zivilisierten und fürsorglichen Männlichkeit herausgefallen. Sie sind erwacht in einer neuen Wirklichkeit, in der Waffengewalt zur Eroberung (und Verteidigung) eines Landes eingesetzt wurde. Männer hierzulande sehen ihre Geschlechtsgenossen, zum Teil im Alter ihrer eigenen, gerade erwachsenen Kinder, in der Ukraine kämpfen und sterben. Diese wissen oftmals nicht einmal, wofür sie ihr Leben geben. Viele Ältere erleben ein Déjà-vu der beiden letzten Weltkriege. Sie hatten sich mit den Zurichtungen der Männer für die aggressiven Ziele autoritärer und faschistischer Staatsführungen auseinandergesetzt. Sie wollten ein „Nie wieder!“ Und nun? Was wird nun aus dem anti-heroischen, den Frieden liebenden Mann, der Gewalt zutiefst ablehnt – und nun trotzdem dazu herausgefordert wird?

Dieses Buch wird darauf meist nur indirekt Antworten anbieten. Die Herausgeber möchten deshalb einen anderen Weg gehen als den des Diskurses und der Debatte. Sie wollen den geneigten Mann (und die interessierte Frau) deshalb mit an den Strand nehmen. Sie möchten auf den Horizont verweisen, der von diesem Strand aus sichtbar wird. Dieser Horizont ist der Ort Gottes und des Sinns. In der Leere und der Weite kann sich auftun, was wichtig und gleichzeitig unverfügbar ist.

Motivation: Religion und Spiritualität

Was war uns als Herausgebern in religiöser Hinsicht wichtig? Über die vielen Jahre der Redaktion der Fastenimpulse konnten wir eine Wandlung spiritueller Deutungen von Männerleben beobachten. Während anfangs ausgehend von biblischen Texten versucht wurde, die Folie der persönlichen Männlichkeit im Licht der Bibel zu betrachten, so kristallisierte sich mit den Jahren immer mehr heraus, dass das Leben selbst schon Aufschluss der göttlichen Wirklichkeit ist. Es gibt nämlich nur eine Wirklichkeit. In dieser ist der Mann schon Subjekt göttlichen Handelns, auch wenn seine Vollendung noch in den Sternen steht. Wenn nun seine Erfahrung niedergelegt und nacherzählt wird, handelt es sich um einen Teil göttlicher Offenbarung. Der Schreiber des Impulses gibt sein Bestes, Reichstes und Schönstes, um andere daran teilhaben zu lassen. Das ist vielleicht die besondere Qualität eines Buches, in dem nicht gespart wird – wie sonst mitunter im Männerleben – mit Gefühlen, Eindrücken und Subjektivität. Somit erhebt es auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder einer endgültige religiösen Deutung der Wirklichkeit. Es bekennt sich zur Vorläufigkeit und zur ständigen Bewegung. Eben so, wie die Gezeiten Ausdruck vollständiger Unvollständigkeit der Welt sind.

Unter den Füßen spürt dieser Mann beim Lesen vielleicht den warmen Sand, und wenn er lang genug bleibt, auch die Kraft der Gezeiten: Mal ist das Meer weit weg, mal umspült es seine Füße. Mal steht er vor dem Nichts, dann ist das Meer wie eine Wüste. Mal spürt er den Wind, hört die Lebendigkeit des Meeres, ahnt die mögliche Fülle des eigenen Lebens in seiner Gänze.

Wir wünschen allen Leser*innen heilsame und inspirierende Zeiten am Strand, im Fluss der Gezeiten!

Im Juni 2022

Jürgen Döllmann, Andreas Heek und Hans Prömper

Kapitel 1:

Krisen

Das Neue schmecken

Einen neuen Lebensabschnitt beginnen, an einem anderen Ort neu anfangen, eine neue Beziehung beginnen, ein neues berufliches oder privates Projekt starten. Es gibt große und kleine Neuaufbrüche während eines Lebens. Nicht immer in der Tragweite und in der Konsequenz wie bei den Menschen, die aufgrund von Flucht und Vertreibung bei uns ein komplett neues Leben beginnen wollen oder müssen. Bei mir war es vor einigen Jahren ein beruflicher Wechsel nach über zwanzig Jahren Tätigkeit auf der alten Stelle. Am letzten Tag das alte Büro noch aufgeräumt und verlassen, einen Tag später das neue bezogen und gleich mittendrin. Irgendwie übergangslos. Keine Zeit, das Neue bewusst zu beginnen. So ist das manchmal. Und für den Beruf gilt es vielleicht in besonderer Weise. Wir Männer sind im Übrigen ja auch sonst gewohnt, möglichst schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Mit meiner Frau, meinen Söhnen und einem guten Freund war ich am Ende meiner ersten Arbeitswoche auf der neuen Stelle in einem schönen Restaurant zum Abendessen. Um im wahrsten Sinne des Wortes zu schmecken: Beruflich hat für mich ein neuer Abschnitt begonnen. Dieser Abend war für mich wichtig. Im Nachhinein merke ich auch, wie sehr. Und ich denke mit Blick auf die erste Lesung des heutigen Fastensonntags: Auch die Israeliten im Land Kanaan schmecken zum ersten Mal so richtig das Neue, als sie die Erträge der ersten Ernte genießen können. Das Manna, das Gott ihnen gegeben hat und das ihr Überleben in der Wüste gesichert hat, brauchen sie nun nicht mehr. Die alte Zeit der Wüstenwanderung ist durch etwas Neues abgelöst worden.

Mir Freund sein: Für mich heißt das auch, mir die Zeit zu nehmen, Neues in meinem Leben wahrzunehmen und es nicht achtlos und unter Zeitdruck zu beginnen. Zwei Anregungen können vielleicht helfen, dass dies in dieser Fastenzeit gelingt:

Am Anfang steht ein kurzes Nachdenken: Was steht eigentlich in den nächsten Wochen bei mir an Neuem an? Habe ich mir schon Gedanken gemacht, wie ich das Neue beginnen will? Geht es mal wieder hoppla hopp, von einem Projekt ohne Atempause zum nächsten? Will ich das eigentlich so, oder brauche ich für mich mehr Zeit, um einen guten Übergang zu haben?

Dann ist es gut, mit mir eine klare Vereinbarung zu treffen: Ich schaffe mir den Raum und die Zeit zur Unterbrechung, um mich auf das Neue einzustimmen. Das muss nicht lange dauern, und dafür muss ich auch nicht weit in die Ferne reisen. Aber ich möchte bewusst schmecken, fühlen, spüren: Altes hört auf, Neues beginnt. Ja, das kann ein gutes Abendessen sein mit Menschen, die mir viel bedeuten. Vielleicht ist es auch eine Wanderung in der Natur, die ich allein unternehme, um den Kopf freizubekommen. Oder es könnte ein Aufenthalt in einem Kloster sein, das mit seinen festen Rhythmen an Gebetszeiten Raum bietet, dass das Neue bei mir ankommt.

Andreas Ruffing (2016)

Aufbruch ins Ungewisse

Ca. neun Jahre ist es her. Da verlor ich die Sicherheit für meine Lebensplanung. Meine Ehe ging auseinander, und damit brach für mich eine Welt zusammen. Ich war verwirrt, unsicher und eine ganze Zeit orientierungslos. Neben dem Grübeln, den unvermeidlichen Fragen nach dem „Warum?“ und auch Momenten der Wut war es vor allem eine Zeit der Trauer. Aber dann kamen weitere Fragen: Wo führt mich das alles hin? Was erwartet mich, und wie gehe ich damit um? Eines wusste ich, ich wollte in dem Loch nicht gefangen bleiben, ich wollte da raus. Aufbrechen!

Viele haben solche Situationen erlebt, die unerwartet und nicht geplant uns ganz woandershin führen als früher gedacht. Der Tod der Partnerin, des Partners oder eines lieben nahestehenden Menschen, schwere Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes oder andere Schicksalsschläge können das auslösen. Und es gibt auch Fälle, da treibt es uns aus ganz anderen Gründen zu einem Aufbruch, bei dem wir das Ziel nicht kennen. Eine neue Stelle zum Beispiel, Herausforderungen im Beruf oder in der Familie, ein Umzug aus vertrauter Umgebung oder Ähnliches. Wie gehen wir damit um? Gibt es etwas, das uns in einer Situation des Aufbruchs ins Ungewisse Halt gibt?

Im Alten Testament (Genesis 12,1-4a) wird von einem grundlegenden Aufbruch berichtet. Abraham, der aus seinem Land und seinem Vaterhaus wegzieht, Freunde und Verwandte verlässt, wird in der Situation des Aufbruchs von Gott gesegnet. Gott will ihn zu einem großen Volk machen, und Gott verheißt ihm: Ein Segen sollst du sein.

Bei meinem Aufbruch ins Ungewisse ist in mir das Gefühl gewachsen, Gott hört mich, er stärkt mir den Rücken und gibt mir Halt. Ich fühlte mich nicht von Gott verlassen, sondern ich habe erfahren dürfen, das Ungewisse muss mir keine Angst machen. Ich darf auf Gutes hoffen, auf guten Segen. Auf diese Sicherheit kann ich vertrauen.

Meine Impulsvorschläge für die nächste Zeit:

Sich Zeit nehmen und sich erinnern: Wo habe ich Zeiten der Veränderung, des Richtungswechsels in meinem Leben erfahren; was hat mich damals angetrieben, wie habe ich das erlebt und welche Erfahrungen habe ich gemacht?

Und es müssen ja nicht immer die großen Umbrüche sein, es gibt auch die kleineren Aufbrüche aus dem Alltag. Vielleicht einfach mal losziehen, sich treiben lassen. Vielleicht finde ich einen interessanten Ort, habe gute Begegnungen, erlebe Neues ...

Christoph Hefter (2020)

Mir selbst Freund sein

Uns selbst gegenüber freundlicher sein? Mir selbst Freund sein. Das meint auch einen Weg nach innen. Für viele Männer ein schwerer Gang. Denn unsere Herzen, die haben wir vielleicht an vieles im Außen gehängt: An die Kinder, die Partnerin, die Arbeit, an eine fixe Idee vom richtigen Leben. Oder doch eher an Auto, Haus, Aktienpaket, Fußball oder dergleichen.

In den letzten Monaten und Jahren konnten wir noch von ganz anderen Herzensangelegenheiten lesen, denen sich Männer verschrieben: Ingenieure manipulieren Abgaswerte, um nicht immer so schwach dazustehen. Banker verabreden Zinsen, um der Konkurrenz voraus zu sein. Sportfunktionäre bestechen, um Großereignisse wie eine WM oder Siege zu erzielen. Kirchenleute verweigern sich der Aufklärung von Missbrauch, weil sie um den Bestand des Systems fürchten. Meistens sind es Männer, die hier ihr Herz an eine Sache binden. Oft zu sehr an eine Sache binden.

Diese Bindung zerreißen, loslassen? Mich nicht größer machen, als ich bin. Einer unangenehmen Wahrheit ins Gesicht schauen. Mir eingestehen, dass ich mich in eine Sackgasse verrannt habe. Zu meiner Schwäche stehen. Das ist manchmal verdammt schwer.

Aber nur mit solcher Ehrlichkeit kann ich mir selbst Freund sein. Und erfahren, wer mir wirklich ein Freund ist. Und Erbarmen spüren. Das mir zum Segen werden kann. Traue ich mich das? Kann ich das? Mir selbst ein Freund sein. Mich mir selbst zuwenden. Mich mit freundlichen Augen anschauen. In allem, was mich quält. In allem, was andere nervt. Das ist manchmal leichter gesagt als getan.

Dazu drei Anregungen für die nächsten Tage. Ich nehme mir etwas Zeit für mich allein, vielleicht 15 Minuten. Optimal immer nur für eine (!) dieser drei Fragen:

Antreiber checken: Auf welche meiner inneren Antreiber oder Kritiker könnte ich gerne einmal verzichten? Wo bin ich mit mir selbst unbarmherzig, streng, bewertend? Wo hadere ich mit mir? Wo treibe ich mich weg von der Annahme meiner selbst? Weil ich zum Beispiel viel lieber auf verpasste Chancen oder alte Fehler schaue.

Ehrlich sein: Wo würde mir in meinem Leben etwas mehr Ehrlichkeit guttun? Wo will ich zum Beispiel nicht sehen, dass etwas vergangen ist: eine Lebensphase, ein Engagement, eine Beziehung …? Oder dass etwas nicht mehr zu mir passt: eine Überzeugung, ein Selbstbild, mein Stolz …?

Segen erbitten: Wofür möchte ich mir Segen erbitten? Gerade wenn ich eine Sache nicht mehr in der Hand habe! Gerade weil ich mich von etwas verabschieden muss! Gerade weil etwas zu Ende geht! Gerade weil ich mir nicht geben oder herstellen kann, was ich mir zutiefst wünsche! In welcher schwierigen Situation würde ich mich gerne gesegnet wissen? Traue ich mich, das jemandem zu sagen? Oder will ich diesen Wunsch leise, fast verschämt meinem Gott hinhalten? Traue ich mich das?

Hans Prömper (2016)

Scheitern gehört zum Leben!

Sagt man so.

Ist normal und passiert jedem.

Scheitern ist nicht normal, ist schrecklich!

… und kann die Wende zu neuem Leben bedeuten.

In meinem Fall:

Trennung. Scheidung. Mit zwei Kindern.

Nächte ohne Schlaf und

Tage ohne Ruhe.

Der Boden unter mir schwankt.

Ideale und hohe Ansprüche sind zerstört und

mein Selbstwertgefühl bedroht.

Schuldgefühle kommen hoch und

die Angst, abgelehnt zu werden.

Quälende Gedanken

Kreisen ohne Ende.

Abgründe tun sich auf und

die Furcht abzustürzen …

Und dann?

Es folgte ein unruhiger, aber auch sehr lebendiger Lebensabschnitt, dessen stabile Brennpunkte ein guter Draht zu meinen Töchtern und liebenswerte, verlässliche Kollegen und Kolleginnen waren.

Mir hat geholfen,

dass Familienangehörige, Freunde, Kolleginnen und Bekannte einfach die Ruhe bewahrt haben. Dass sie ehrlich zu mir waren, nichts beschönigt, aber mich auch nicht verurteilt haben.

dass ein älterer Kollege meinte: Kümmere dich jetzt um deine Krise, und danach wird unser gemeinsames Projekt umso besser.

dass mir mein Arzt Schlaftabletten gegeben hat – und mich dabei begleitet hat, davon wieder loszukommen.

dass meine Kinder gesagt haben: „Wir wollen aber keinen Wochenend-Papa!“ Woraufhin wir vor über 20 Jahren eine Lösung gefunden und gelebt haben, die heute viel diskutiert wird: Die halbe Zeit wohnen die Kinder beim Vater und die halbe Zeit bei der Mutter.

dass mir ein Vermieter, trotz einiger Skepsis, eine schöne Wohnung für meine Töchter und mich vermietet (und das Schlagzeug der Jüngeren toleriert) hat.

dass Freundinnen und Freunde zu mir gekommen sind und mit mir gekocht, gebacken, gespielt, Fußball geguckt haben, geradelt, gejoggt und gewandert sind. Und was man sonst so alles in einer Familie macht. Mal mit und mal ohne Kinder.

dass Kollegen mich zu neuen Projekten eingeladen haben.

dass ich viel draußen, in der freien Natur unterwegs sein konnte. Praktisch täglich. Allein und zusammen mit anderen. In Wäldern, den Bergen und auf Flüssen. Unter freiem Himmel und mit den Gefährtinnen und Gefährten fand ich leichter zu mir, zu meiner Kraft und zu den seelischen Quellen, aus denen ich leben darf.

Heute ist das, was ich damals erlebt, erlitten und geschenkt bekommen habe, ein wesentlicher und unverwechselbarer Bestandteil meines Lebens. Der mittlerweile fruchtbare Humus, auf dem Neues wachsen konnte. Zum Beispiel auch Zuwachs in der Patchwork-Familie und mittlerweile ein fröhliches Rudel von acht Enkelkindern, die auch gerne mit mir draußen unterwegs sind.

Ich bin gespannt, wie es weiter geht!

Tilmann Kugler (2019)

Autonomie – Fragen als Wegweiser

In diesem Text erzähle ich von meiner Suche nach einem ganzheitlichen Leben und der Kraft der Frage „warum eigentlich nicht?“

Jahreswechsel 2020/2021. Ich brüte über meinem Plan für das neue Jahr. Die Ziele: Vernetzung, Angst vernachlässigen, weiterbilden, Musik und Texte produzieren, Leichtigkeit. Unter den Vorhaben tummeln sich Punkte wie „Unterrichtsplan für meine Gitarrenschüler*innen“ (sehr dringend), „Zahnarzt“ (weniger dringend) oder „Konzerte spielen“ (Post-Lockdown). In den Vortagen hatte ich mit meiner Partnerin Rat gehalten. Wir mussten feststellen, dass 2020 verdammt anstrengend war. Im Februar war unser erster Sohn auf die Welt gekommen, weshalb es als schönes Jahr in unsere Geschichte eingehen wird. Doch es war auch das Jahr, in dem unsere WG zerbrach, in dem wir mit langwieriger Krankheit fertig werden mussten und meine Selbstständigkeit finanziell bröckelte. So ist es, wenn du ausgetretene Pfade verlässt: Es gibt sehr begeisterte Zeiten und sehr trübe Tage. Doch ist es nicht gerade diese Polarität, die ein lebendiges Gefühl ausmacht?

Das neue Jahr fängt super an. Ich plane Gespräche (Vernetzung), meditiere (Angst vernachlässigen), lese über Balkongärtnern (weiterbilden), bringe zwei Lieder zu Ende (produzieren) und spiele mit meinem Sohn (Leichtigkeit). Dazu gesellen sich Zweifel: Arbeite ich zu wenig oder will ich zu viel? Bin ich effizient genug, oder ist gerade „Effizienz“ der tiefere Kern des Übels? Immer neue Fragen ...

Im Jahr 2014 lautete meine Frage: Warum gibt es Naturschutz? Könnte die Landwirtschaft nicht auch gleichzeitig Naturschützer sein? Und das war das Ende meines ausgetretenen Pfades. Raus aus der Kleinstadt, raus aus den bürgerlichen Verhältnissen und freimachen vom Einserabitur. Als „Umweg“ machte ich noch einen Bachelor in Agrarwissenschaften. Dann, abgestoßen von den Realitäten der modernen (Bio-)Landwirtschaft, fragte ich mich wiederum, wie ich meinen zentralen Wert der „Fürsorge für die Schöpfung“ weitergeben und gleichzeitig mit Muße und Leichtigkeit leben könnte. Die Antwort war offenkundig, doch brauchte ich meine Freundin, die sagte: „Und warum versuchst du dann nicht einfach, Musiker zu werden?“

Ja, und genau das habe ich dann getan.

Schreibe dir einmal selbst auf:

Welche übergeordneten Themen sind dir dieses Jahr wichtig? Was sind deine Ziele?

Hänge den Zettel über deinen Schreibtisch oder klebe ihn vorne in deinen Terminkalender. Nach Möglichkeit sprichst du darüber auch mit einem Freund oder einer Freundin.

Und wenn du noch ein bisschen Mut brauchst, lies einmal das Gedicht Noch bist du da von Rose Ausländer. Du findest es auch im Internet.

Martin Prömper (2021)

Scherbenhaufen des Ich?

Ein Mann schrieb mir: „Erst muss das Ego in Scherben fallen, damit Heilung möglich wird.“ Was für eine Aussage! Viele brauchen ein halbes Leben oder noch länger, um zu so einer Aussage zu gelangen – andere vielleicht sogar mehr als ein Leben.

Im Leben des Mannes, der diesen Satz schrieb, war einiges im wahrsten Sinne in Scherben gegangen: eine Ehe, eine Familie, auch ein Beruf. Nicht alles auf einmal. Nacheinander. Er hatte sich mit Händen und Füßen gegen sein Scheitern gestemmt – im Sinne seines Satzes: Sein Ego hatte sich mit aller Kraft gegen sein Scheitern gestemmt – bis ihm nichts anderes mehr blieb, als aufzugeben. Schluss mit dem Kämpfen, es hat keinen Sinn mehr. Zum Glück hat er in dieser Notsituation seinem Leben kein Ende gesetzt. Er hat sein Scheitern ausgehalten, durchlitten, ertragen – und dann allmählich gefühlt, dass es „danach“ weitergeht. Und er hat seinen Frieden gefunden – sonst hätte er diesen Satz nicht schreiben können: „Erst muss das Ego in Scherben fallen, damit Heilung möglich wird.“

Gestern hörte ich zum ersten Mal Udo Lindenbergs König von Scheißegalien (1998) und dachte, dass es etwas geschmacklos klingt, aber offenbar genau das trifft, worum es hier auch geht: Erst wenn das Ego kaputtgeht, geschieht so etwas wie Heilung.

Udo Lindenberg höre ich, seit ich 13 bin. Dass er nun, im Alter, so ein großartiges Lied schreiben kann, respektiere ich sehr! Bitte einmal diese Lektüre unterbrechen und hineinhören.1

Im Grunde ist Lindenbergs Lied ein wunderbarer Kommentar zu dem Satz von den Scherben und von der Heilung. Richard Rohr nennt diese beiden Zustände „falsches Selbst“ und „wahres Selbst“: „Ihr falsches Selbst ist das, wofür Sie sich halten. Es ist fast vollständig ein gesellschaftliches Konstrukt … Ihr Ego-Behältnis möchte geschlossen bleiben und hasst jede Veränderung … Das falsche Selbst muss sterben, damit das wahre Selbst leben kann … Eine reife Religion hilft, den Sterbeprozess des falschen Selbst zu beschleunigen“.2 Das wirft ein völlig neues Licht auf unsere Scheiternserfahrungen: Sie können dabei helfen, unserem „Ego-Behältnis“ Risse zuzufügen.

Eine reife Religion: Jesus geht den Weg nach Jerusalem. Er wird zum König, aber zu einem gebrochenen König, zum König am Kreuz. Reife Religion erkennt gerade darin den wahren König. Und wir können uns in ihm wiedererkennen und so auch zu wahren Königen werden. Was für ein Paradox! So verhilft der Blick auf den gebrochenen Gekreuzigten zu wahrem menschlichem und männlichem Leben.

Bernd Schlüter (2019)

Hoffnung in Krisenzeiten

Ein Impuls in Zeiten voller Krisen. Positive Worte in solch problembeladenen Zeiten wie denen, die wir erleben – und dann auch noch hoffnungsvoll?

Doch, das geht!

Ähnlich scheinbar widersprüchliche Erfahrungen darf ich manchmal als Krankenhausseelsorger machen. Manchmal werde ich von Freunden oder Bekannten gefragt, ob das nicht eine belastende Aufgabe sei: Sterbende zu begleiten, leidende Menschen zu sehen, Krankheit und Tod immer wieder hautnah mitzubekommen. Ich habe in letzter Zeit oft erlebt, dass gerade in der Zeit schwerer Krankheit und auch im Durchleben von Leiden und Sterben viel Liebe, Nähe und Erfahrungen von unersetzbarem Wert da sind. Ich erlebe, dass Menschen sich sehr freuen, wenn ich sie besuche, und dass Familienmitglieder sehr dankbar sind, wenn ich zu ihrer oder ihrem kranken Angehörigen gehe oder auch sie selbst begleite. Als die meisten Besuche in Kliniken coronabedingt nicht möglich waren, war die Aufgabe von uns Krankenhausseelsorgenden umso wichtiger. Sicher ist die Aufgabe als Seelsorger ein Dienst für die Menschen: Aber ich selber fühle mich immer wieder als Beschenkter, wenn ich beispielsweise Folgendes erlebe:

Ein junges Ehepaar erwartet das erste Kind. Leider stirbt es im Mutterleib. Ich bin vor der (Tot-)Geburt bei dem Ehepaar, dann auch am Abend direkt nach der Geburt. Die Abschiedsfeier für den kleinen Stefan (Name geändert) in der Klinik ist tränenreich und so liebevoll. Ich werde nie vergessen, wie das Baby in einem „Stoffnest“ auf dem Bauch der Mutter liegt. Eine Woche später darf ich den Kleinen auf der Grabstelle für „Sternenkinder“ beerdigen. Wie nah doch Schmerz und Freude beieinanderliegen! Das junge Paar hat vorher einen Brief an seinen kleinen Stefan geschrieben und mich gebeten, ihn am Grab vorzulesen. Ich tue das mit leicht zittriger Stimme. „Der Tag deiner Geburt war für uns der bisher schönste Tag in unserem Leben“, ist ein Satz darin. Es ist im tiefsten Schmerz und in der Trauer so viel Liebe und Nähe spürbar.

Natürlich sind nicht alle Erfahrungen so intensiv und nicht jede oder jeder von uns kann so etwas erleben, aber wir alle können offen in jede Begegnung gehen. Ich weiß oft nicht, wer oder was mich erwartet, wenn ich an die Tür des Krankenzimmers klopfe. Mit dieser Haltung können wir auch im Alltag auf jeden Menschen zugehen: Vorsichtig an seine „Tür“ klopfen, offen, herzlich und mit einer gewissen „Neugier“ sehen, hören und fühlen, wem ich begegne.

Hoffnung und Leben trotz oder in der bitteren Erfahrung von Leid und Tod.

Hoffnung in Zeiten von Krisen, die die ganze Welt betreffen?

Doch, das geht!

Andreas Robin (2021)

Scheitern. Anfang des Erfolges?

Am 25. September 1974 zählte ich mich als einen Menschen, der regelrecht gescheitert war. Ich saß in Berlin in der Abschiebehaft und sollte schnell in die Türkei abgeschoben werden, da ich keinen gültigen Pass, keine polizeiliche Anmeldung und keine Aufenthaltserlaubnis hatte. Drei Tage und Nächte beschäftigte ich mich mit meinem Scheitern. Was würden die Menschen in meinem Dorf und Heimatland über mich denken? Ich war nicht nur gescheitert, sondern hatte auch noch erhebliche Schamgefühle.

Diese Erfahrung in der Abschiebehaft war für mich, nachdem ich das hinter mir hatte, der Anlass, den Begriff Scheitern als Neubeginn auf dem Weg zum Erfolg zu verstehen und dementsprechend zu handeln. Ich begann sofort, mich ehrenamtlich zu engagieren und das Leben aus einer positiven Perspektive zu betrachten.

Durch diese wunderbare Tätigkeit habe ich mehrere Zehntausend Menschen kennenlernen dürfen, die ich als Schätze dieser Erde sehe. Alle diese Menschen haben Schätze, die noch nicht entdeckt worden sind. Es wäre wunderbar, wenn wir es schaffen könnten, diese Schätze aus den Individuen herauszukitzeln. Es ist immer von großer Bedeutung, dass wir Menschen von ihren positiven Seiten her betrachten und so ihren Eigenwert wahrnehmen, dann können sie sich auf das Beste – auch für andere – hin entwickeln.

Es hängt immer davon ab, ob man das Glas als halb voll oder halb leer beschreibt. So ist es auch mit dem Begriff Scheitern. Er ist für mich die Chance, immer wieder neu anzufangen. Zuerst ein kleines Brötchen backen. Würden alle Menschen dies ausprobieren, könnten wir eines Tages das größte Brot backen. Wäre dies nicht schön?

Wichtig ist allerdings immer, dass man die richtigen Werkzeuge und Ersatzteile dabeihat, wenn man mit Menschen zusammenkommt und arbeitet.

Das wahre Miteinander statt Übereinander, Gegeneinander, Nebeneinander oder Durcheinander könnte unser Kompass sein. Vielleicht teilen wir die Sehnsucht unseres großen türkischen Dichters Nazim Hikmet, zu leben wie ein Baum: einzeln, frei und brüderlich.3

Wir sollten immer daran denken, dass wir alle Gäste auf diesem schönen Planeten sind.

Wer hätte es für möglich gehalten, dass ein Anatolier, der in Abschiebehaft saß, eine Väter- und Männergruppe für Väter und Männer mit türkischer Zuwanderungsgeschichte in Deutschland gründet und diese Gruppe gegen Gewalt demonstriert und Aktionen durchführt? Viele dieser wunderbaren Menschen fühlten sich als gescheitert und gebrandmarkt. Nun haben sie das Zepter in ihre eigenen Hände genommen und handeln. Dies ist doch eine beachtliche Entwicklung für unsere Gesellschaft und unser Land.

Kazim Erdoğan (2019)

„Hauptsache Arbeit!?“