Männerbilder -  - E-Book

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Beschreibung

Diese Ausgabe - Heft 2/2018 - begibt sich auf die Suche nach existierenden, wünschenswerten oder zu überwindenden Männerbildern in Kirche und Gesellschaft. Denn es wird um neue Sichtweisen auf und Lebensformen von "Männlichkeit" gerungen.

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InhaltsverzeichnisThPQ 166 (2018), Heft 2

Schwerpunktthema:

Männerbilder

Ines Weber

Liebe Leserin, lieber Leser!

Erich Lehner

Ringen um Identität: Männlichkeit(en) im Visier

1 Männlichkeit, Muster geschlechtlicher Handlungspraxis

2 Hegemoniale Männlichkeit

3 Sorgende Männlichkeit

Ines Weber

„Männer mit vollen Herzen“. Katholische Männlichkeitskonstruktionen in den frühen 1960er-Jahren

1 Der Mann als Ernährer

2 Der Mann als Vater

3 Der Mann als (Ehe-)Partner

4 Der Mann im Haushalt

5 Neues Menschenbild

6 Männer mit vollen Herzen

Josef Pichler

„Hegemoniale Männlichkeit“ als Analysekategorie für biblische Texte

1 „Hegemoniale Männlichkeit“ als Leitkategorie der Männerforschung

2 Römische Herrschaft und die Herrschaft der Männer: Eph 5,21– 33

3 Nicht herrschen, sondern dienen: Mk 10,35 – 45

4 Ergebnis

Wolfgang Beck

Coole Macher und softe Looser?Männerbilder in Medien und das theologische Lernfeld biografischer Identitätsheterogenität

1 Bewegung in dem kirchlichen „Paradigma der Polarität“

2 Vormoderne Geschlechterrollen halten sich

3 Ein Typ, der durchs Leben treibt: „Oh Boy“

4 Der überforderte und sprachlose Mann?

5 Das Spiel der individuellen Geschlechterbilder als ekklesiales Lernfeld

Andreas Ruffing

Männerpastoral in einer geschlechtersensiblen Kirche. Beobachtungen und Einschätzungen

1 Männer – kirchlich (noch) ein Randthema!

2 Männer – keineswegs religiös unmusikalisch!

3 Anknüpfungspunkte für eine geschlechtersensible Pastoral mit Männern

4 Die geschlechtersensible Kirche gibt es schon!

Alexander Yendell

Rechte Radikalisierungstendenzen – Reine Männersache?

1 Einleitung

2 Theorien zur Erklärung von Rechtsextremismus

3 Forschungsfragen und Methode

4 Rechtsextreme Einstellungen, Gewaltakzeptanz und -bereitschaft

5 Fazit

Abhandlungen

Christoph Theobald SJ

Christentum als Lebensstil

1 Eine Art und Weise die Welt zu bewohnen

2 Ein neues Verhältnis zur Geschichte

Christoph Theobald SJ

Christentum als Stil. Thesen zum epistemologischen Hintergrund des Ansatzes

1 Exegetischer Hintergrund

2 Philosophische Voraussetzungen

3 Historisch-kultureller Hintergrund

4 Der Fächerkanon der Theologie

5 Gastfreundschaft und messianische Heiligkeit Jesu

Literatur

Matthias Remenyi

Resonanzen. Einige Anmerkungen zu Hansjürgen VerweyensMensch sein neu buchstabieren

Mensch sein neu buchstabieren

Staunen: Einheit in Differenz

Begriff letztgültigen Sinns

Bildwerden im Ikonoklasmus

Letztbegründung?

Theologische Modellbildung

Identität und Alterität

Strukturen des Denkens

Subjektphilosophie und Alteritätsvergessenheit

Panentheismus

Historische Kritik und erstphilosophischer Evidenzanspruch

Exegese und Redaktionskritik

Nochmal: Freiburg …

Rezensionen

Eingesandte Schriften

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

Als der Soldat Richard Lubanski 1954 nach zwölf Jahren Kriegsgefangenschaft plötzlich vor der Haustür seiner Familie steht, sind seine Frau und seine drei Kinder freudig überrascht, aber auch entsetzt. Sowohl der Anblick des von Leid gezeichneten Äußeren als auch seine Einstellungen und sein ganzes Verhalten, die nicht mehr zur neuen Lebenssituation der Familie passen, erschrecken sie. Als Soldat ist Lubanski Befehl und Gehorsam gewohnt; diese will er auch weiterhin uneingeschränkt in seiner Familie umgesetzt wissen. Jedoch werden ihm sowohl von seiner Gattin, die sich als klassische Trümmerfrau im Nachkriegsdeutschland behauptet und die Familie ernährt, als auch von seinen Kindern Grenzen gesetzt. Das größte Stück Fleisch beim Essen gebührt nicht länger dem Vater, sondern dem im Wachstum begriffenen Sohn. Ohrfeigen werden ebenso in keiner Weise unwidersprochen hingenommen. Und dass deutsche Buben sehr wohl weinen dürfen, das erklärt der Sohn seinem Vater, als Letzterer am Ende eines Films selbst in Tränen ausbricht.

Was Regisseur Sönke Wortmann vor einigen Jahren im Film „Das Wunder von Bern“ überragend in Szene gesetzt hat, spiegelt die Situation unzähliger Familien nach 1945. Das alte Männerbild trug nicht mehr, ein neues musste erschaffen, adaptiert und dann auch angeeignet werden. Seither hat sich Vieles verändert. Männliche und weibliche Domänen haben sich zusehends vermischt, und Verhaltensweisen des typisch starken Mannes eignen diesem heute nicht mehr allein. Vielen Männern – auch in Führungspositionen – ist ihre Familie ebenso wichtig geworden wie ihr Beruf. Sie reduzieren ihre Arbeitszeit, um in Elternzeit zu gehen oder die eigenen hochbetagten Eltern zu pflegen. Gleichzeitig ist der Mann als Ernährer der Familie noch immer in den Köpfen vieler präsent. Befindet sich der Mann bzw. das Bild von ihm deshalb in der viel besprochenen Krise, weil alte Rollenmuster nicht mehr tragen und neue noch nicht etabliert sind? Oder führt eine solche Frage in die Irre, weil sie von falschen Vorannahmen ausgeht? Wie wenig tragfähig eindeutige Rollenbilder, wie vielfältig demgegenüber Männlichkeitskonstruktionen sind und immer schon waren, das zeigen die unterschiedlichen psychologischen, theologischen und soziologischen Beiträge unseres aktuellen Themenheftes.

Den Auftakt macht der Wiener Psychoanalytiker und Männerforscher Erich Lehner, der brillant vor Augen führt, wie vielfältig Männlichkeiten heute konstruiert werden (müssen) und wie sehr die auf einem EU-weiten Projekt beruhende „caring masculinity“ sowohl das Verhältnis der Geschlechter zueinander entlastet, als auch die Grundzufriedenheit von Männern steigert. Männlichkeiten werden nicht länger als hegemonial entlang den Kategorien von Macht und Dominanz, sondern als sorgend und auf Gleichstellung beruhend konstruiert. Dieselbe sorgende Männlichkeit forderten bereits die katholischen Autoren der 1960er-Jahre, so überraschenderweise die Linzer Kirchenhistorikerin Ines Weber. Weil Liebe, Achtsamkeit und Wertschätzung zu den Grundzügen menschlicher Existenz gehörten, müssten sie auch von Männern eingeübt und in das Familienleben eingespeist werden. Auch der Grazer Neutestamentler Josef Pichler wendet die Theorie der hegemonialen Männlichkeit auf die neutestamentlichen Texte an. Fundiert arbeitet er ein Gegenkonzept von Männlichkeit heraus, das auf Dienst und Empathie und nicht auf Dominanz, Stärke und Macht beruht. Damit wird ein großes Potenzial christlicher Theologie sichtbar. Darüber hinaus zeigen die biblischen Texte eine Vielzahl von Männerbildern, die abhängig vom Lebenskontext, der Rolle sowie der Charaktereigenschaft des jeweiligen Mannes variieren, Männlichkeiten also, die sowohl vom sozialen Kontext strukturiert als auch individuell ausgestaltet werden. Diesen Gesichtspunkt betont auch Wolfgang Beck, Juniorprofessor für Pastoraltheologie und Homiletik in St. Georgen. Exzellent führt er vor Augen, wie wenig eindeutig Männlichkeitskonstruktionen in Film und Fernsehen heute sind, wie vor allem in der Werbung das Klischee des starken, technik- und handwerksaffinen Mannes perpetuiert wird. Welch gewaltiger Handlungsbedarf deshalb in Kirche und Pastoral besteht, hebt Andreas Ruffing, verantwortlich für die diakonische Pastoral in Fulda, hervor. Wenngleich Männer in Kirche und Gemeinde weniger zahlreich vertreten sind, so erlaube dies nicht den Schluss, dieselben hätten kein Interesse an spirituellen Angeboten. Im Gegenteil: Das Bedürfnis nach Sorge um sich selbst und andere sei immens hoch. Allein ein vielfältiges, die individuellen Bedürfnisse des Mannes wertschätzendes Angebot fehle. Demgegenüber macht Alexander Yendell, Mitarbeiter in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig, anhand einer Leipziger Studie zur Gewaltbereitschaft aufschlussreich deutlich, dass rechtextreme Einstellungen keine männlichen Phänomene sind. Sie können auch nicht einfach als Reaktion auf Männlichkeitskonstruktionen verstanden werden, die weniger die Stärke und Macht von Männern betonen.

Es folgt ein freier Doppelbeitrag des bekannten Pariser Dogmatikers und Fundamentaltheologen Christoph Theobald SJ, der Einblicke in seine Theologie im Sinne eines Christentums als Lebensstil gewährt.

Das Heft schließt mit besonderen, zum Teil sehr persönlichen Resonanzen Matthias Remenyis auf Hansjürgen Verweyens „Mensch sein neu buchstabieren“.

Liebe Leserinnen und Leser!

Unsere Autorin und Autoren sind sich einig: Männerbilder sind heutzutage keineswegs eindeutig und müssen es auch nicht sein. Keinesfalls biologisch determiniert, vielmehr sozial konstruiert, werden sie im Dialog mit dem Gegenüber und dem eigenen Leben entworfen. Sie dürfen deshalb vielfältig sein und bleiben. Diese Pluralität ist aber kein Zeichen von Krise, sondern Hinweis auf die menschliche Individualität und den Reichtum des Lebens. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen im Namen der Redaktion eine anregende Lektüre.

Ihre Ines Weber

(Chefredakteurin)

Erich Lehner

Ringen um Identität: Männlichkeit(en) im Visier

♦ Wenn nach heutigem Forschungsstand „Männlichkeit“ biologisch nicht mehr so eindeutig definierbar ist, sondern auch soziale und kulturelle Faktoren eine wesentliche Rolle spielen, dann hängt – wie der Autor dieses Beitrags aufzeigt – viel davon ab, in welche Richtung Männlichkeit entwickelt wird, sodass eine Gleichstellung von Mann und Frau gefördert wird. (Redaktion)

Die Geschlechtergeschichte im Allgemeinen und die Geschichtsforschung der Männlichkeit im Speziellen1 zeigt eine Vielfalt von unterschiedlichen Formen das Mannsein zu leben auf. Diese Erkenntnisse haben wesentlich dazu beigetragen, „die Vorstellung stabiler und homogener [Geschlechts- E.L.] Identitäten zu verabschieden und den Blick stattdessen auf Prozesse der subjektiven wie kulturellen Identifikation zu lenken, die instabil, variabel und historisch zu denken sind“2. Die Autoren halten fest, dass „die Veränderlichkeit identitärer Kategorien“ diese „nicht weniger machtvoll“ macht, „da sie die Positionierung von Menschen in einem soziokulturellen Feld, deren Ein- und Ausschlüsse, Hegemonialisierungen und Marginalisierungen beeinflussen“3.

1 Männlichkeit, Muster geschlechtlicher Handlungspraxis

Die Erkenntnisse zu einer Vielfältigkeit gelebter Männlichkeiten stellen essenzialistische Konzepte von Geschlecht zutiefst in Frage. Die Annahme einer naturhaft gesehenen Differenz zwischen den Geschlechtern im Fühlen, Denken und Handeln hält einer kritischen Überprüfung nicht stand.4 Janet S. Hyde unternimmt eine kritische Durchsicht der wichtigsten Meta-Analysen zu den psychologischen Variablen in Bezug auf die Geschlechterdifferenzen und kommt zu dem Schluss: „The striking result is that 30 % of the effect sizes are in the close-to-zero range, and an additional 48 % are in the small range. That is, 78 % of gender differences are small or close to zero.“5 Im Gegensatz zu der gängigen Annahme der Verschiedenheit der Geschlechter ist eher von Ähnlichkeiten der Geschlechter – mit Janet Hyde von einer „Gender Similarities Hypothesis“6 – auszugehen. Darüber hinaus zeigen Menschen mit einem intergeschlechtlichen Körper, dass es selbst auf biologischer Ebene keine Eindeutigkeit in Bezug auf eine Festlegung auf (nur) zwei Geschlechter im Sinne von Mann und Frau gibt. Diesen Personen ist gemeinsam, dass sie einen nicht den „Geschlechternormen“ entsprechenden Körper oder Chromosomensatz haben, sondern in sich Geschlechtsmerkmale beider Geschlechter in unterschiedlicher Ausprägung vereinen. Anne Fausto-Sterling7 konnte plausibel aufzeigen, dass die Zellen mit den Genen, Chromosomen, Hormonen etc. allein nicht ausreichen, um eine männliche oder weibliche Entwicklung eindeutig vorherzubestimmen. Jedes Gen in einer Zelle braucht für seine Wirkung die systemische Kooperation mit anderen Genen im Rahmen des Organismus. Dieser wiederum ist verbunden mit der Psyche und beide sind eingebettet in menschliche Interaktionen, auf die Kultur und Geschichte einwirken. Anne Fausto-Sterling verwendet für dieses komplexe Zusammenspiel das Bild der russischen Puppe. Die Zelle, der Organismus, die Psyche, die Interaktion, die Kultur und die Geschichte stellen dann jeweils eine einzelne Puppe dar, die wie in einer russischen Puppe aufs engste miteinander verbunden sind und wechselseitig aufeinander einwirken. Sigrid Schmitz8 hält deshalb fest, dass es zwischen Sex und Gender keine Ursache-Wirkungs-Beziehung, sondern nur ein gegenseitiges Wechselspiel gibt. Beide sind untrennbar miteinander verwoben, bedingen und beeinflussen sich gegenseitig und unterliegen beständig wechselseitigen Veränderungsprozessen. Geschlecht, so lässt sich festhalten, ist in diesem Sinn als eine soziale Konstruktion zu verstehen. In ihr kommt der Biologie eine wesentliche, jedoch keine ursächliche Bedeutung zu. Anne Fausto-Sterling sagt: „Sexuality is a somatic fact created by a cultural effect.“9

Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Todd W. Reeser formulieren, dass „Männer nicht aufgrund genetischer Disposition oder einer Veranlagung im Blut männlich [agieren], sondern größtenteils, weil ihre gendered acts Handlungen zitieren oder evozieren, die bereits andere vollführt haben – Handlungen, die im Augenblick Autorität, Bedeutung und Stabilität versprechen“10. Den Bezugsrahmen, in dem diese Handlungen vollführt werden, gibt das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ der australischen Männerforscherin Reawyn Connell ab.11 Sie begreift Männlichkeit als „configuration of gender practice“12.

2 Hegemoniale Männlichkeit

Nach Connell gibt es in unterschiedlichen Kulturen, aber auch in unterschiedlichen Gruppen und Settings einer Kultur vielfältige Formen, Mannsein zu erlernen und zu leben.13 Allerdings, wie Connell betont, gelten diese verschiedenen Formen innerhalb einer Gesellschaft nicht als gleichberechtigt. Sie werden bewertet und sind hierarchisch untereinander verbunden. In Anlehnung an Antonio Gramsci nennt Connell jene Form von Männlichkeit eine „hegemonic masculinity“, die „the dominant position of man und the subordination of women“14 garantiert. Diese hegemoniale Männlichkeit dominiert gleichzeitig auch andere Formen der Männlichkeit, die untergeordnet – beispielsweise homosexuelle Männlichkeiten – oder marginalisiert – beispielsweise ethnische Männlichkeiten – sind.15 Eine weitere Form der Männlichkeit wird als „complicit masculinity“ bezeichnet. Sie erfüllt zwar nicht die Standards einer hegemonialen Männlichkeit, profitiert aber von ihr durch die „patriarchale Dividende“ und stützt sie.16 Ein Beispiel dafür wäre eine männliche Karriere, die dadurch zustande kommt, weil weibliche Mitbewerberinnen aufgrund der Möglichkeit, Kinder zu bekommen, von Vorgesetzten nicht berücksichtigt werden. Ein Großteil der Männer verkörpert diese Form der Männlichkeit.

Michael Meuser verbindet das Konzept der hegemonialen Männlichkeit mit dem Habituskonzept Pierre Bourdieus. Nach Bourdieu werden die Männlichkeitskonstruktionen habituell „konstruiert und vollendet […] in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen“17. In modernen Gesellschaften stellen Ökonomie, Politik, Wissenschaft, religiöse Institutionen, Militär, aber auch Vereine, Clubs, Freundeskreise etc.18 jene den Männern vorbehaltene Räume des Wettbewerbs dar. „Hegemoniale Männlichkeit“ ist nach Meuser „Erzeugungsprinzip eines vom männlichen Habitus bestimmten doing gender bzw. doing masculinity (Hervorhebung im Original)“19. Macht, Dominanz, Wettbewerb, Konkurrenz und Hierarchie werden so zu prägenden Elementen von Männlichkeit. Eine Eigenart männlicher Konkurrenz unter Männern ist jedoch, dass sie nicht nur trennt, sondern auch verbindet. Die Gleichzeitigkeit von Wettbewerb und Solidarität ist ein entscheidendes Kennzeichen männlicher Lebensweise.20 Nach Pierre Bourdieu drückt sich diese paradoxe Form der männlichen Bezogenheit im Gegensatzpaar „Partner – Gegner“21 aus. Zu ergänzen ist noch ein weiteres wichtiges Kennzeichen aktueller Männlichkeitskonstruktionen: männliche Berufstätigkeit. Bezahlte Erwerbsarbeit stellt ein zentrales Element für die Herausbildung männlicher Geschlechtsidentität dar.22

Männlichkeit umfasst in unterschiedlichen Bereichen eine Vielzahl von Formen, Mannsein zu verkörpern. Sie ist keine Eigenschaft individueller Personen. Sie ist vielmehr Handlungspraxis, die in sozialen Interaktionen zwischen Männern und Frauen und unter Männern (re)produziert wird und sich in Institutionen verfestigt.23 Hegemoniale Männlichkeit ist kulturelles Orientierungsmuster, das dem doing gender der meisten Männer zugrunde liegt und die Gestaltung der Beziehung zu Frauen und zu anderen Männern prägt. Männlichkeit ist vor allem als Relation zu sehen. Sie „wird konstruiert und reproduziert in einer Abgrenzung sowohl gegenüber Frauen als auch gegenüber anderen Männern“24. Michael Meuser bezeichnet dies als jene „doppelte Distinktions- und Dominanzlogik“25, auf der die soziale Konstruktion von Männlichkeit basiert.

Männliche Identitätsbildung stellt den einzelnen Mann in einen komplexen Entwicklungsprozess innerhalb eines vielfältigen Beziehungsgeflechts. Männlichkeit wird weder biologisch determiniert noch einfach von Bezugspersonen (Eltern, LehrerInnen …) anerzogen. Carrie Paechter sieht die Konstruktion einer Geschlechtsidentität von Kindern und Jugendlichen vielmehr als Ergebnis von Gruppenprozessen.26 Sie schreibt: „This process of learning to be male or female takes place within loose, overlapping, local communities of masculinity and feminity practice“27. Für Kinder und Jugendliche betont sie die Bedeutung der Familie (die hier neben der eigenen Kleinfamilie auch die weitere Verwandtschaft und nahe Freundschaft umfasst), die peer-group und die Schule.28 Aber auch für den weiteren Verlauf eines Männerlebens gilt es sich innerhalb der Vielfalt von Männlichkeitsentwürfen und in Beziehung zu Frauen und anderen Männern zu positionieren. Im Entwickeln subjektiver Identität kann ein Mann, eingebunden in von hegemonialer Männlichkeit geprägten sozialen und diskursiven Strukturen, diese durch eigene Handlungspraxis reproduzieren bzw. auch verändern.29 So kann ein Mann zum Beispiel durch die Übernahme der Sorge um Kinder sowie kranker und sterbender Familienmitglieder hegemoniale Männlichkeit verändern oder sie durch das Erzählen sexistischer und homophober Witze bestärken. Auch kann ein Mann mit einem wertschätzend partnerschaftlichen Umgang mit Frauen das Bild einer hegemonialen Männlichkeit modifizieren oder es als Chef, der Unterschiede in der Karriereförderung und Entlohnung der Geschlechter macht, bestärken.

Aufgrund der generellen gesellschaftlichen Dominanz von Männern als Gruppe kann es keine entsprechende hegemoniale Weiblichkeit geben. Auch wenn es Dominanz und Hierarchie unter Frauen gibt, so ist sie mit der männlichen nicht vergleichbar und umfasst vor allem nicht Männer. Connell spricht von einer „emphasized feminity“. Sie ist zur hegemonialen Männlichkeit insofern komplementär, als sie der Unterordnung ihr Einverständnis gibt und sich an den Interessen und Wünschen des Mannes orientiert.30

3 Sorgende Männlichkeit

Im Gegensatz zur „hegemonialen Männlichkeit“ hat sich mittlerweile „caring masculinity“ als politisches Alternativ-Modell, das hegemoniale Männlichkeit transformieren soll, etabliert. Die Wurzeln dieses Modells liegen in einem EU-weiten Projekt, das sich mit der Rolle von Männern in Prozessen der Gleichstellung von Frauen und Männern beschäftigte.31 Im Gegensatz zu einer traditionellen Sicht, die Gleichstellung in erster Linie als Frauensache ansieht, sollte dieses Projekt die Position und Rolle von Männern in Gleichstellungsprozessen erforschen. Dabei erwies sich eine „caring masculinity“ als entscheidender Schritt in Richtung Gleichstellung von Männern und Frauen. Die untersuchte Sorgetätigkeit umfasste zum einen die familiäre Sorgeaufgabe an sorgebedürftigen Familienmitgliedern wie Kindern und Kranken, zum anderen auch von Männern ausgeführte Sorge im Rahmen traditioneller Pflegeberufe, aber auch eine Selbstsorge, die sich z. B. in einer Achtsamkeit für die eigene Gesundheit und das eigene Gefühlsleben, auf vertiefte Freundschaften oder auch in dem Bemühen, weniger (sportliches, gesundheitliches, berufliches …) Risiko in Kauf zu nehmen, ausdrückt.32 Es konnte auch aufgezeigt werden, dass diese Art von Sorge von einer wachsenden Zahl von Männern in ihrem Alltag gegenwärtig verrichtet wurde.33

Karla Elliott34 betont, dass „caring masculinities“ als männliche Identitätskonzepte gelten können, die Dominanz über Frauen und andere Männer ausschließen. Die Orientierung an der Gleichstellung macht den Kern dieser Konzepte aus. Gleichzeitig verwirklichen diese Männer Qualitäten von Sorge, wie sie beispielsweise in der feministischen Care-Ethik beschrieben wurden: Bezogenheit, wechselseitige Abhängigkeit und Affektivität.35 Eine derartige Praxis von Männlichkeit zeigt naturgemäß positive Auswirkungen auf Frauen, aber sie bringt ebenso viele Vorteile für Männer. Øystein Gullvag Holter hat in einer Studie nach dem Nutzen von Gleichstellung für Männer gefragt. In dieser Untersuchung wurden Daten aus den einzelnen Staaten der USA und Europas – insgesamt 81 Staaten – analysiert. Gemessen wurde die Orientierung der Männer zur Gleichstellung an ihrem Engagement in unbezahlter Sorgearbeit in der Familie. Diese enge Verbindung von Sorge und Gleichstellung stellte eine erste wesentliche Einsicht dieser Studie dar. Darüber hinaus zeigte sich, dass Gleichstellung in Verbindung mit Sorgearbeit die Lebensqualität von Männern erhöht, das Risiko der Depression halbiert und das Risiko eines gewaltsamen Todes um 40 % reduziert. Verstärktes Engagement von Männern in der Gleichstellung geht auch einher mit weniger Scheidungen und mit einer geringeren männlichen Suizidrate.36

Das oben zitierte EU-Projekt zur Rolle der Männer in Gleichstellungsprozessen zeigt auch recht deutlich, dass die Entwicklung einer caring masculinity nicht das Projekt von Einzelpersonen sein kann. Es bedarf der unterstützenden Umwelt wie Familie, sozialer Netzwerke und Öffentlichkeit, wie es beispielsweise eine nachhaltige öffentliche Kinderbetreuung darstellt. Großen Einfluss auf die Entscheidung von Männern, sich verstärkt der Sorgetätigkeit zu widmen, haben Arbeitsorganisation und Arbeitskultur der jeweiligen Arbeitsstelle. Schließlich sind auch staatliche Gesetzgebungen als wesentliche Einflussfaktoren zu nennen.37 Mit Blick auf die aktuelle Situation in Österreich erweist sich gerade diese strukturelle Stütze als entscheidender Mangel auf dem Weg zu caring masculinities. Zahlreiche Untersuchungen belegen den Wunsch vieler Männer nach vermehrtem Engagement in Sorgearbeit. So waren in einer eigenständigen repräsentativen Untersuchung in Österreich zwei Drittel (62 %) der Männer bereit, in Karenz zu gehen und drei Viertel (75 %) konnten sich vorstellen, zugunsten von Kinderbetreuung Teilzeit zu arbeiten.38 Die österreichische Männerstudie 2002 zeichnet bereits ein ähnliches Bild. Hier wurde nach der Bereitschaft von Männern gefragt, „Pflegedienste (Kinder, Alte, Kranke) [zu] leisten“. Immerhin 81 % der Männer erklärten sich bereit, ihre Arbeit zugunsten von pflegerischer Tätigkeit zu reduzieren.39 Die Bereitschaft zu Care von Männern gilt es mit politischen Prozessen zu stützen. Dazu bedarf es neben strukturell-legistischen Regelungen auch öffentlicher Diskurse in Religion, Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft, um Männer (und somit auch Frauen) zu unterstützen, die diesen Weg gehen möchten.

Der Autor:Erich Lehner, Mag. Dr., Psychoanalytiker in freier Praxis, Männlichkeits- und Geschlechterforschung sowie Palliative Care am Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik an der IFF Wien, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Wien, Graz: Publikationen: Männer im Alter. Aktuelle Perspektiven sozialwissenschaftlicher Forschung, in: Ulrike Vedder / Elisabeth Reitinger (Hg.): Alter und Geschlecht, im Erscheinen, 56–81; Männlichkeit und Sorge – spannungsreich und widersprüchlich, in: Claudia Mahs / Barbara Rendtorff / Anne-Dorothee Warmuth (Hg.), Betonen – Ignorieren – Gegensteuern? Zum pädagogischen Umgang mit Geschlechtstypiken, Weinheim 2015, 75–89; zusammen mit Josef Pichler, Jesus und die starken Männer. Von der Relevanz der Männerforschung für die Exegese, in: Irmtraud Fischer (Hg.): Genderforschung vernetzt. 20 Jahre Frauen- und Geschlechterforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz, Innsbruck–Wien 2016, 9–32.

Weiterführende Literatur:

– Nadja Bergmann / Christian Scambor / Elli Scambor, Bewegung im Geschlechterverhältnis? Zur Rolle der Männer in Österreich im europäischen Vergleich, Wien 2014.

– Regine Gildemeister / Katja Herricks, Geschlechtersoziologie. Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen, München 2012.

– Sylka Scholz, Männlichkeitssoziologie. Studien aus dem sozialen Feldern Arbeit, Politik und Militär im vereinten Deutschland, Münster 2012.

1 Vgl. exemplarisch Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeit vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M. 2005; Ernst Hainisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2003; Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), Wien 2003; Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeit, Frankfurt a. M. 2008.

2Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz / Daniel Albrecht, Geschichtswissenschaft, in: Stefan Horlacher / Bettina Jansen / Wieland Schwanebeck (Hg.), Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, 104 –126, hier: 106.

3 Ebd., 106.

4Harald A. Euler / Karl Lenz, Geschlechterunterschiede zwischen Biologie und sozialer Konstruktion – ein Streitgespräch, in: Detlev Lück / Waltraud Cornelißen (Hg.), Geschlechterunterschiede und Geschlechterunterscheidungen in Europa. Stuttgart 2014, 29 – 52, hier: 29.

5Janet S. Hyde, The Gender Similarities Hypothesis, in: American Psychologist 60 (2005/6), 581–592, hier: 582 f.

6 Ebd., 581.

7Anne Fausto-Sterling, Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality, New York 2000, 254.

8Sigrid Schmitz, Geschlechtergrenzen. Geschlechtsentwicklung, Intersex und Transsex im Spannungsfeld zwischen biologischer Determination und kultureller Konstruktion, in: Smilla Ebelling / Sigrid Schmitz (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden 2006, 33 – 56, hier: 54.

9Anne Fausto-Sterling, Sexing the Body (s. Anm. 7), 21.

10Todd W. Reeser, Englischsprachige Männlichkeitsforschung, in: Stefan Horlacher / Bettina Jansen / Wieland Schwanebeck (Hg.), Männlichkeit (s. Anm. 2), 26 – 42, hier: 36.

11Robert W. Connell, Masculinities, Oxford 1995, 76 ff. An das Konzept der hegemonialen Männlichkeit wurden mittlerweile zahlreiche kritische Anfragen gestellt, mit denen sich Raewyn W. Connell und James W. Messerschmidt, Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept, in: Gender & Society 19 (2005), 829 – 859 auseinandergesetzt haben. Für den deutschen Sprachraum hat die Zeitschrift Erwägen, Wissen, Ethik (Heft 3, 2010) der kritischen Diskussion dieses Konzepts ein Heft gewidmet. In Aufarbeitung der Anfragen bestätigt Michael Meuser, Geschlecht, Macht, Männlichkeit – Strukturwandel von Erwerbsarbeit und hegemoniale Männlichkeit, in: Erwägen, Wissen, Ethik 21/3 (2010), 325 – 336, hier: 333, dass es eine „geeignete Heuristik dar[stellt], die aktuellen Herausforderungen und Neuformierungen von Männlichkeitspositionen begrifflich-analytisch zu erfassen“.

12Robert W. Connell, Masculinities (s. Anm. 11), 77.

13Raewyn W. Connell, The Men and the Boys, Berkeley 2000, 10.

14Robert W. Connell, Masculinities (s. Anm. 11), 75

15James W. Messerschmidt, Masculinities in the Making. From the Local to the Global, London 2016, 10; Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Wiesbaden 32010, 101; Raewyn W. Connell, The Men and the Boys (s. Anm. 13), 10.

16Robert W. Connell, Masculinities (s. Anm. 11), 79

17Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling / Beate Krais, Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M. 1997, 153 –217, hier: 203.

18Michael Meuser, Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer, in: Nina Baur / Jens Luedtke (Hg.), Die soziale Konstruktion von Männlichkeit: Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland, Opladen 2008, 33 – 44, hier: 33

19Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit (s. Anm. 15), 123.

20Michael Meuser, Ernste Spiele (s. Anm. 18), 34.

21Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005, 83

22Nina Baur / Jens Luedtke, Männlichkeit und Erwerbsarbeit bei westdeutschen Männern, in: dies. (Hg.), Die soziale Konstruktion von Männlichkeit: Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland, Opladen 2008, 81–103, hier: 87.

23Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit (s. Anm. 15), 105.

24Michael Meuser, „Doing Masculinity“ – Zur Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns, in: Regina-Maria Dackweiler / Reinhild Schäfer, Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt, Frankfurt a. M. 2002, 53 –78, hier: 64

25 Ebd., 64.

26Carrie Paechter, Being Boys, Being Girls: Learning Masculinities and Feminities, New York 2007, 1.

27 Ebd., 6.

28 Ebd., 2.

29James W. Messerschmidt, Masculinities in the Making (s. Anm. 15), 181.

30Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit (s. Anm. 15), 101.

31Elli Scambor / Katarzyna Wojnicka / Nadja Bergmann (Hg.), The Role of Men in Gender Equality – European Strategies & Insights, Luxembourg u. a. 2013.

32Elli Scambor / Nadja Bergmann / Katarzyna Wojnicka / Sophia Belghiti-Mahut / Jeff Hearn / Øystein Gullvag Holter / Marc Gärtner / Majda Hrzenjak / Christian Scambor / Alan White, Men and Gender Equality: European Insights, in: Men and Masculinities 17 (2014), 552 – 577, hier: 555.

33 Vgl. dazu ausführlicher Erich Lehner, Männlichkeit und Sorge – spannungsreich und widersprüchlich, in: Claudia Mahs / Barbara Rendtorff / Anne-Dorothee Warmuth (Hg.), Betonen – Ignorieren – Gegensteuern? Zum pädagogischen Umgang mit Geschlechtstypiken, Weinheim 2015, 75 – 89.

34Karla Elliott, Caring Masculinities: Theorizing an Emerging Concept, in: Men and Masculinities 19 (2016/3), 240 – 259, hier: 251.

35 Vgl. Elisabeth Conradi, Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt a. M. 2001, 233.

36Øystein Gullvag Holter, „What’s in it for Men?“ Old Question, New Data, in: Men and Masculinities 17 (2014/5), 515 – 548, hier: 532.

37Marc Gärtner, Men are Gendered, not Standard. Scientific and Political Implications of the Results, in: Ralf Puchert / Marc Gärtner / Stephan Höyng (Hg.): Work Changes Gender. Men in the Transition of Labour Forms, Opladen 2005, 176 ff.; Christian Scambor / Klaus Schwerma / Paco Abril, Towards a New Positioning of Men, in: ebd., 117–173, hier: 146 ff.

38Erich Lehner / Susanne Matkovits / Nora Heger, Projektergebnisse: Elternorientierte Personalpolitik mit Focus auf Väter in Niederösterreich, St. Pölten 2010, 16.

39 Paul M. Zulehner, MannsBilder. Ein Jahrzehnt Männerentwicklung, Ostfildern 2003, 88 f.

Ines Weber

„Männer mit vollen Herzen“

Katholische Männlichkeitskonstruktionen in den frühen 1960er-Jahren

♦ Auch in katholischen Kreisen wurde schon in den 1960er-Jahren um Männlichkeitskonstruktionen gerungen. Nach den Erfahrungen von Krieg und Verfolgung war ein strenges und autoritäres Verhalten des Mannes weder gegenüber seiner Frau noch seinen Kindern nicht mehr denkbar. Jetzt war der liebende Vater und partnerschaftliche Ehemann, der Mann mit Herz und Seele gefragt, der sich im Beruf genauso engagierte wie in Haushalt und Familie. (Redaktion)

Der Blick in eine der führenden katholischen Männerzeitschriften des 20. Jahrhunderts, nämlich „Mann in der Zeit“1 einschließlich der von den einzelnen Diözesen herausgegebenen Beihefte, fördert für die frühen 1960er-Jahre, was die Männlichkeitskonstruktionen angeht, ein zumindest auf den ersten Blick erstaunliches Ergebnis zutage: Männliche Verhaltensweisen und Denkmuster werden hier genauso breit, neu und anders diskutiert, wie es auch in anderer bundesrepublikanischer Literatur zum gleichen Zeitpunkt geschieht.2 Ebenso scheinen diese ersten Jahre des neuen Jahrzehnts für die Zeitschrift so etwas wie Wendejahre, eine Art Achsenzeit und damit Jahre des Umbruchs gewesen zu sein. Innerhalb von nur wenigen Monaten hatten sich die Akzente der schon länger diskutierten Männlichkeitskonstruktionen deutlich verschoben. Wie das geschah, um welche Konstruktionen es sich handelte und mit welchen Wertvorstellungen diese verbunden waren, soll im Folgenden untersucht werden. Akzentverschiebungen und Entwicklungslinien können jedoch nur rudimentär und nahezu ohne Vergleichsfolie beschrieben werden, weil kirchenhistorische Forschungen im Hinblick auf Geschlechterbilder im Allgemeinen und Männlichkeitskonstruktionen im Besonderen nach wie vor Mangelware sind.3

1 Der Mann als Ernährer

Im Jahr 1960 erschien in „Mann in der Zeit“ ein Artikel, dessen erklärtes Ziel es war, dem katholischen Mann „St. Joseph“ als „ein Vorbild für unsere Zeit“ vor Augen zu führen.4 Dieser Befund ist kirchengeschichtlich betrachtet keineswegs ungewöhnlich, galt der Heilige doch von jeher und über alle Jahrhunderte hinweg als Identifikationsfigur für den männlichen Katholiken. In dieser Weise sollte er auch im Jahr 1960 „ein eindrucksvolles Vorbild für alle Männer“ sein, „die mitten im Leben stehen und sich in Ehe, Familie und Beruf bewähren müssen.“5 Was bedeutete das konkret?

Der heilige Josef hätte seinerzeit, als er „kaum mehr als dreißig Jahre“ alt war, ein „bewegtes Leben mit vielen schwierigen und strapaziösen Reisen“ geführt, das „unruhig“ und „angefüllt mit Krisen und Stürmen“ gewesen wäre. Demnach unterschied sich sein Leben damals, so der Autor, nicht wesentlich von dem der Männergeneration der 1960er-Jahre. Im Gegenteil: Die Lebensbedingungen des historischen Josef wären ganz ohne „Überbrückungskredite und Erwerbslosengeld“ noch viel prekärer gewesen als die heutigen. Josef aber hatte den widrigen Verhältnissen getrotzt. Obwohl er „[d]reimal […] von vorne anfangen“ und „immer wieder neu sich seine Existenz aufbauen“ musste, „meistert“ er „die ihm gestellte Lebensaufgabe“ mit Bravour. Als von Gott eingesetzter „Ernährer und Beschützer“ Marias und Jesu sorgte „Joseph der Arbeiter“ als „Haupt der Heiligen Familie“ deshalb gehorsam für ihre „Existenzsicherung“.6

An diesem Verhalten sollten sich auch jetzt im Jahr 1960 die katholischen Männer ein Beispiel nehmen. Sie sollten ihre Aufgaben in gleicher Weise gottergeben erfüllen, was zu allererst bedeutete, für das Auskommen ihrer Familien zu sorgen. Dabei ginge es nicht darum, „möglichst viel Geld verdienen zu können, um sich dadurch über den notwendigen Lebensunterhalt hinaus eine möglichst ausgedehnte und mit Vergnügungen reichlich durchsetzte Freizeit gestatten zu können“. „Freizeit“ sei eben nicht die „Hauptsache“ des Lebens und „Berufsarbeit“ nur die „Nebensache“, so dass „das eigentliche Leben“ erst nach „Beendigung“ der Arbeitsstunden beginnen würde. Der Einzelne könnte mit einer solchen Haltung niemals Zufriedenheit erlangen oder menschliches Glück erfahren. Vielmehr spalte er dadurch sein Leben auf mit dem Ergebnis, ein unerfülltes Dasein mit leerer Seele zu fristen. Wenn der Mann jedoch nach dem Vorbild Josefs Arbeit als „Gottesdienst“ und den Beruf als „Berufung“ verstehe, seine Erwerbstätigkeit also als erste Pflicht ansehe und mit ganzer Hingabe erfülle, könne er in sich ruhen und habe überdies an der „Erfüllung“ des „göttlichen Auftrages an den Menschen“ mitgewirkt.7 Mit dieser Argumentation griff der Autor zwei Linien auf, welche über die gesamte Christentumsgeschichte hinweg eine große Rolle spielen: zum einen gilt nicht nur das meditative Gebet, sondern jeder Handgriff des Tages, auch und gerade jener bei der Berufsarbeit, als Gebet, er geschieht zur Ehre Gottes, ist Gottesdienst. Zum anderen gilt das Streben nach Luxus von jeher als verwerflich, wird als Laster und damit als Sünde deklariert. Beide Ideen waren einem katholischen Leser 1960 sehr wohl bekannt, und das Aufgreifen dieser Ideen führte in Zeiten des Wirtschaftswunders dazu, dass der Mann im katholischen Denken zwar nach wie vor als Ernährer angesehen wurde, jedoch in der Weise, dass er es zum Wohl der Familie und als Gottesdienst tat und nicht, um sich selbst mit dem Verdienten Luxus zu gönnen oder die Freizeit zu gestalten.

2 Der Mann als Vater