Marcia aus Vermont - Peter Stamm - E-Book

Marcia aus Vermont E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Stellen wir uns nicht alle manchmal diese Fragen: die nach dem eigenen Leben und der wahren Liebe. Wir warten auf das echte Gefühl. Wir sind allein unterwegs. Wir suchen den Ort unserer Sehnsucht. So geht es den Figuren von Peter Stamm. Sie blicken zurück und staunen, dass das Leben sich so entwickelt hat und nicht anders. Oder sie haben es vergessen. Und wir mit ihnen. Nicht allein sein, Nähe herstellen, eine Liebe gelingen lassen. Oft trauen wir uns nicht. Wir denken darüber nach, ob es so, wie es ist, richtig ist, und wir träumen vom Glück. Peter Stamm erfindet für uns einen graden Strich durch die ungefähre Landschaft unseres Lebens, so dass wir die Stille genießen können, die dabei entsteht. Weihnachten ist nur die Zeit, in der wir dafür besonders empfänglich sind. Peter Stamm erzählt aus dieser Mitte der Existenz heraus, seine Figuren sind zum Greifen nah. Wer seine Bücher liest, kann zu sich selbst finden. Und es ist plötzlich Weihnachten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 64

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Peter Stamm

Marcia aus Vermont

Eine Erzählung

 

 

Über dieses Buch

 

 

Peter ist in New York, wollte sich dort befreien von den Eltern, von dem Leben das er bis dahin geführt hat. Es sind seine letzten Tage dort. Auf der Straße wird er von einer Frau angesprochen. Ob er eine Zigarette für sie habe, er gibt ihr Feuer, sie hält ihre Hände schützend um seine, dann geht er mit ihr nach Hause. Es ist der Weihnachtsabend und Weihnachten ist der traurigste Abend des Jahres. Das ist dreißig Jahre her. Woran erinnert er sich noch? Was geschah wirklich in dieser Nacht? Und wie veränderte diese Nacht sein Leben? Peter weiß es nicht mehr, er weiß nur noch, dass Marcia immer lachte, wenn sie über traurige Dinge sprach. Dann begegnet er ihr wieder.

Peter Stamm ist ein Meister der kleinen Zeichen, die alles in einem anderen Licht erscheinen lassen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u. a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land« und »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« sowie unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« seine Bamberger Poetikvorlesungen. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für Oliver Vogel

Es war keine Flucht, aber ich muss zugeben, dass ich erleichtert war, das enge Tal nach zwei Monaten endlich zu verlassen. Am Anfang war ich noch ein paarmal auf die Hügel der Umgebung gestiegen, um etwas Aussicht zu haben, aber selbst von da oben sah man nur noch höhere Hügel und bewaldete Berge. Und nachdem Anfang Dezember das Wetter umgeschlagen und der Schnee gekommen war, war ohnehin nicht mehr daran zu denken, abseits der gepflügten Straßen vorwärtszukommen. Selbst auf dem Gelände der Stiftung waren nur die Wege zwischen den Gebäuden begehbar, die von irgendeiner unsichtbaren Hilfskraft geräumt worden waren.

Einen Wagen zu mieten hätte ich mir sparen können, ich hatte ihn die ganze Zeit kaum gebraucht, aber ich hätte nicht gewusst, wie ich sonst von New York in diese gottverlassene Gegend hätte kommen sollen. Am Morgen meiner Rückreise hatte ich auf dem großen Parkplatz hinter dem Hauptgebäude lange suchen müssen, bis ich den Wagen endlich wiederfand. Er war von einer dicken Schneeschicht bedeckt, und ich brauchte fast eine Stunde, bis ich ihn befreit und den Schnee so weit weggeräumt hatte, dass ich fahren konnte. Als ich in mein Zimmer zurückkam, um mein Gepäck zu holen, waren meine Hände rot und geschwollen von der Kälte. Ich ging ins Bad und hielt sie unter fließendes kaltes Wasser. Es fühlte sich an, als würden sie von hundert Nägeln gestochen.

 

Ich fuhr los, ohne noch jemanden gesehen oder mit jemandem gesprochen zu haben. Die meisten waren ohnehin schon abgereist, und ich hatte mit niemandem viel zu tun gehabt, auch nicht mit dem Personal, das seine Arbeit tat, aber uns sonst so gut wie möglich aus dem Weg ging. Das junge Mädchen, das jeden Morgen das Frühstücksbüfett aufbaute und das meinen Gruß jeweils nur mit einem undeutlichen Murmeln und einem Nicken erwiderte, hatte ich in der ganzen Zeit noch nie reden gehört. Nur manchmal sah ich, wie es mit einer der Köchinnen tuschelte und dabei ein Gesicht machte, als habe es eben etwas Schreckliches gesehen oder erfahren.

Mein Auto schlingerte auf der vereisten Ausfahrt, aber die Straße war glücklicherweise schneefrei. Nur einmal, hinter einer Kurve, lag Schnee auf der Fahrbahn, der wohl über Nacht vom steilen Abhang herabgerutscht war. Ich musste scharf bremsen und dann auf die Gegenfahrbahn ausweichen, um die Stelle zu umfahren.

Ich hatte vorgehabt, im ersten Coffeeshop am Weg zu frühstücken, aber die Lokale, an denen ich vorbeikam, sahen wenig einladend aus, und ich war schon eine Stunde gefahren, als ich endlich einen Ort fand, der einigermaßen zivilisiert aussah. Aber auch dort gab es nur wässrigen Kaffee und in Plastik eingeschweißte Donuts. Die Bedienung fragte, woher ich käme, und ob ich hier Ferien mache, aber ich war nicht zum Reden aufgelegt oder hatte es verlernt in den vergangenen Wochen des Schweigens. Dabei hatte ich mich auf den Aufenthalt in der Stiftung gefreut, hatte mir genau das erhofft, was ich dann auch gefunden hatte, einen Ort außerhalb der Zeit.

Im Radio plapperten zwei Männer über Autoreparaturen, ein Thema, das sie sehr zu belustigen schien. Ich wechselte die Kanäle, bis ich einen Sender fand, auf dem Jazz lief, unterbrochen nur von gelegentlichen Wetter-Updates und Werbespots für Wasserbetten und Landmaschinen. Ich musste an Marcia denken, daran, wie ich sie vor vielen Jahren an Weihnachten kennengelernt hatte. Ich war damals noch sehr jung und voller Ambitionen nach New York gekommen. Aber nach einem Jahr war mir das Geld ausgegangen, ohne dass ich irgendetwas erreicht oder sich auch nur etwas geklärt hätte, und ich hatte meine Eltern bitten müssen, mir Geld für den Rückflug vorzustrecken. Sie hatten sich gewünscht, dass ich schon für die Feiertage heimkomme, aber wohl aus Trotz hatte ich einen Flug Anfang Januar gebucht. Weihnachten feierte ich mit einem befreundeten brasilianischen Ehepaar und ihren Kindern in Queens, die ich, ohne es zu ahnen, an jenem Tag zum letzten Mal sah. Ich erinnere mich nicht an die Feier, aber sie muss am Mittag stattgefunden haben, denn als ich das Haus meiner Freunde verließ, war es noch nicht dunkel.

Ich war etwas beschwipst und entschied mich, zu Fuß zu gehen. An einer Straßenkreuzung hielt ich an, um mich zu orientieren. Ich nahm mir eine Zigarette, da sprach mich eine junge Frau an und fragte, ob ich für sie auch eine hätte. Als ich ihr Feuer gab, hielt sie ihre Hände schützend um meine, eine zärtliche kleine Geste, die mich berührte. Sie schaute mir in die Augen und lächelte. Heute sei ihr Geburtstag, sagte sie, wenn ich zwanzig Dollar hätte, könnten wir ein paar Sachen kaufen und eine kleine Feier machen.

»Es tut mir leid«, sagte ich, »ich habe nicht so viel bei mir.«

Sie sagte, das sei egal, ich solle hier auf sie warten. Sie gehe einkaufen und komme gleich wieder.

»Seltsam, dass du Weihnachten Geburtstag hast.«

»Ja«, sagte sie, als habe sie daran nicht gedacht, »das ist wahr.«

Sie ging die Straße hinunter, und ich wusste, dass heute nicht ihr Geburtstag war und dass sie nicht zurückkommen würde. »Warte«, rief ich und war mit ein paar schnellen Schritten wieder bei ihr.

 

Sie kaufte ein wie jemand, der hungrig ist, kalorienreiche Lebensmittel, immer die billigsten Marken, dafür große Packungen, kein Gemüse, keine Früchte. Am Anfang zählte sie noch die Preise zusammen, nannte die Summe und schaute mich an. »Ist schon o.k.«, sagte ich schließlich, »ich habe noch ein paar Travellerschecks.« Ich legte eine Flasche billigen Whisky in den Einkaufswagen. »Ein bisschen Spaß muss sein.«

Die Wohnung lag in einem heruntergekommenen Haus in einer düsteren Seitenstraße. Wir mussten vier Stockwerke hochgehen. Es roch seltsam im Treppenhaus, aber noch seltsamer war die Stille im Haus. Nicht einmal die Geräusche von der Straße waren zu hören, nur das Knarren der Holztreppe, das so laut war, als könne sie jeden Moment einbrechen.