Weit über das Land - Peter Stamm - E-Book
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Weit über das Land E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Ist es ein neuer Anfang, wenn man alles hinter sich lässt? Der neue große Roman von Peter Stamm. Ein Mann steht auf und geht. Einen Augenblick zögert Thomas, dann verlässt er das Haus, seine Frau und seine Kinder. Mit einem erstaunten Lächeln geht er einfach weiter und verschwindet. Astrid, seine Frau, fragt sich zunächst, wohin er gegangen ist, dann, wann er wiederkommt, schließlich, ob er noch lebt. Jeder kennt ihn: den Wunsch zu fliehen, den Gedanken, das alte Leben abzulegen, ein anderer sein zu können, vielleicht man selbst. Peter Stamm ist ein Meister im Erzählen jener Träume, die zugleich locken und erschrecken, die zugleich die schönste Möglichkeit und den furchtbarsten Verlust bedeuten. ›Weit über das Land‹ ist ein Roman, der die alltäglichste aller Fragen stellt: die nach dem eigenen Leben.

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Seitenzahl: 214

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Peter Stamm

Weit über das Land

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto][Widmung][Weit über das Land, Teil 1][Weit über das Land, Teil 2]

Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns.

Markus Werner, Zündels Abgang

Für Jaume Vallcorba Plana

Tagsüber bemerkte man die Büsche kaum, die das Grundstück von jenen der Nachbarn trennten, sie gingen unter im allgemeinen Grün, aber wenn die Sonne sank und die Schatten länger wurden, war es, als wüchsen sie zu einer Mauer, die immer unüberwindbarer wurde, bis schließlich das letzte Licht aus dem Garten verschwunden war und die ganze quadratische Rasenfläche im Schatten lag, ein dunkles Verlies, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Dann wurde es, jetzt, Mitte August, schnell kühl, die Kühle und die Feuchtigkeit schienen aus dem Boden zu dringen, in den sie sich während der Sonnenstunden zurückgezogen hatten, ohne jemals ganz daraus zu verschwinden.

Thomas und Astrid hatten die Kinder ins Bett gebracht, sich mit einem Glas Wein auf die Holzbank vor dem Haus gesetzt und die Sonntagszeitung geteilt. Nach einer Weile war durch das offene Fenster Konrads weinerliche Stimme zu hören gewesen, und Astrid hatte ihren Teil der Zeitung mit einem Seufzer auf die Bank gelegt, hatte ihr Weinglas geleert und war wortlos hineingegangen und nicht wieder herausgekommen. Thomas hörte ein beruhigendes Murmeln und sah kurze Zeit später, wie das Licht im Wohnzimmer anging. Dann wurde das Fenster geschlossen, ein entschiedenes Zuklappen, das den Tag beschloss, das Wochenende, die Ferien. Das Licht ging wieder aus, und Thomas stellte sich vor, wie Astrid sich im Flur auf den Boden kniete und den großen Koffer auspackte, den sie nach ihrer Rückkehr am späten Nachmittag dort abgestellt hatten. Es musste auch hier heiß gewesen sein während ihrer Abwesenheit, im Haus war es warm, die Luft war abgestanden und dicht, als herrsche im Inneren ein erhöhter Druck. Thomas blätterte die Post durch, die die Nachbarn auf den Tisch im Wohnzimmer gelegt hatten. Astrid stand dicht hinter ihm, ohne sie zu sehen, spürte er ihre Präsenz, ihre Aufmerksamkeit. Nichts Wichtiges, sagte er und setzte sich an den Tisch. Astrid öffnete die Fenster und sagte, während sie hinausging, sie werde das Abendessen machen. Sie hatten in einem Tankstellenshop ein paar Sachen gekauft, Brot, Milch und Käse und einen Beutel Mischsalat. Die Kinder waren in den oberen Stock verschwunden, Thomas hörte sie über irgendetwas streiten. Als er und Astrid sie nach dem Abendessen ins Bett gebracht hatten, war Konrad beim Zähneputzen fast eingeschlafen, und Ella hatte nicht einmal gefragt, ob sie noch lesen dürfe.

Thomas stellte sich vor, wie Astrid zwei Stapel machte mit der sauberen und der schmutzigen Wäsche. Die schmutzige trug sie in die Waschküche im Keller, die saubere verstaute sie im Kleiderschrank im Elternschlafzimmer, jene der Kinder legte sie ordentlich zusammengefaltet auf die Treppe, um sie morgen hochzutragen. Am Fuß der Treppe blieb sie einen Moment lang stehen und hörte von oben leise Geräusche, die Kinder drehten sich in ihren frisch bezogenen Betten hin und her, in Gedanken oder in Träumen noch am Strand oder schon wieder in der Schule.

Das Licht im Schlafzimmer von Astrid und Thomas ging an, durch die Fensterläden wurde ein Streifenmuster auf den Rasen geworfen, der in der anbrechenden Dunkelheit schon alle Farbe verloren hatte. Astrid ging ins Bad, dann noch einmal in den Flur, um den Waschbeutel aus dem Koffer zu holen. Sie betrachtete sich im Spiegel mit jenem ausdruckslosen Blick, mit dem sie auch Thomas manchmal ansah. Wenn er sie dann früher gefragt hatte, woran sie denke, hatte sie jedes Mal gesagt, an nichts, und über die Jahre hatte er angefangen, ihr zu glauben, und sie nicht mehr nach ihren Gedanken gefragt.

Thomas bündelte die Zeitung und legte sie auf die Bank. Er nahm sein Glas in die Hand, um es zu leeren, zögerte, schwenkte den Wein hin und her, dann stellte er das Glas, ohne getrunken zu haben, neben Astrids leeres. Es war weniger ein Gedanke als ein Bild: die verlassene Bank im Morgenlicht, darauf die Zeitung, das Papier vom Tau gewellt, und die zwei Gläser, im halbvollen einige ertrunkene Fruchtfliegen. Die Sonne schien durch die Gläser und projizierte einen roten Fleck auf das hellgrau gebleichte Holz. Die Kinder kamen aus dem Haus, reihten sich ein in die verstreute Kolonne anderer Kinder auf dem Weg zum Kindergarten, zur Schule. Kurze Zeit darauf ging Thomas zur Arbeit. Er grüßte die alte Frau aus der Nachbarschaft, deren Namen er einmal gekannt und wieder vergessen hatte. Er sah sie fast jeden Morgen mit ihrem Hund, trotz ihres Alters hatte sie einen forschen Schritt und eine laute, sichere Stimme, mit der sie ihn zurückgrüßte, als sei alles in Ordnung, als würde alles immer so weitergehen. Wenn er am Mittag nach Hause kommen würde, wären die Zeitung und die Weingläser verschwunden.

Thomas stand auf und ging auf dem schmalen Kiesweg am Haus entlang. An der Ecke angelangt, zögerte er einen Augenblick, dann bog er mit einem erstaunten Lächeln, das er mehr wahrnahm als empfand, zum Gartentor ab. Er hob das Tor beim Öffnen etwas an, damit es nicht quietschte, wie er es schon als Jugendlicher getan hatte, wenn er spät von einem Fest heimgekommen war und die Eltern nicht hatte wecken wollen. Obwohl er vollkommen nüchtern war, kam es ihm vor, als bewege er sich wie ein Betrunkener, langsam und den Untergrund vor jedem Schritt prüfend. Er ging die Straße entlang, vorbei an den Häusern der Nachbarn, die ihm mit zunehmender Entfernung immer weniger vertraut waren. In manchen Fenstern war Licht, es war noch nicht zehn, aber niemand war mehr in den Gärten oder auf der Straße. Vor ihm wuchs der Schatten, den die letzte Straßenlampe ihm nachwarf, verging im Licht der nächsten, die hinter ihm einen neuen Schatten warf, der kürzer wurde, ihn überholte und ihm wachsend vorauseilte, eine gespenstische Stafette körperloser Wesen, die ihn begleitete, hinaus aus dem Quartier, über die Umgehungsstraße und in die Gewerbezone, die sich weit in der Ebene vor dem Dorf erstreckte.

Das Tor der großen Halle des Recyclingunternehmens stand offen, und ein monotones Summen drang heraus. Thomas duckte sich, als sei er dadurch weniger gut sichtbar. Als er den alten Industriekanal erreicht hatte, drehte er sich zum ersten Mal um und schaute zurück, aber niemand war zu sehen, nur das leiser gewordene Summen der Maschinen war noch immer zu hören.

Die Straße führte ein Stück am Kanal entlang und dann über eine schmale Brücke. Thomas ging jetzt schneller, es war ihm, als habe er das Gravitationsfeld des Dorfes verlassen und bewege sich ungebremst durch den Raum, hinein in das unerforschte Gebiet der Nacht. Die Wiesen links und rechts der Straße gehörten zu einer Pferdezucht und waren von hohen Zäunen umgeben. Ganz hinten auf einer der Weiden standen einige Pferde so dicht beieinander, dass ihre Körper in der Dunkelheit zu einem einzigen vielköpfigen Wesen verschmolzen. In den Gebäuden des Hofes war kein Licht zu sehen. Kurz bevor Thomas sie erreichte, hielt er an und lauschte. Als die Kinder kleiner gewesen waren, waren Astrid und er oft mit ihnen hier vorbeispaziert, aber er konnte sich nicht erinnern, ob die Besitzer einen Hund hatten. Schnell lief er an den Gebäuden vorbei. Noch immer war nichts zu hören, nur plötzlich ging ein Halogenstrahler an und beleuchtete den Vorplatz und einen Teil der Straße.

Thomas war erleichtert, als er den Waldrand erreichte. Der Mond war nicht zu sehen, und im Waldesinneren war der Kiesweg nur noch eine helle Ahnung. Die Leere der Nacht schien ihn vorwärtszuziehen. Der Weg führte immer am Hochwasserdamm entlang und dann über den Damm und zum anderen Rand des schmalen Waldstreifens. Hier war etwas mehr Licht. Aus der Ferne waren Autos zu hören und einmal ein Zug. Thomas schaute auf die Uhr und entzifferte mit Mühe die Zeit. Es war halb elf, der Zug war pünktlich. Für einen Moment dachte er daran, wie die kurze Wagenfolge in den hellerleuchteten Bahnhof einfuhr, wie die wenigen Passagiere, die ausstiegen, durch die Unterführung gingen und zum Fahrradständer, ihre Räder aufschlossen und in alle Richtungen verschwanden.

Jetzt, wo Thomas stillstand, bemerkte er erst, wie still es im Wald war. Vielleicht hatte er gerade deshalb das Gefühl, nicht allein zu sein. Es war ihm, als lauere etwas in der Dunkelheit, kein Mensch, kein Tier, eine Art allgemeiner Lebendigkeit, die den ganzen Wald umfasste.

Er ging den Weg weiter, bis er endete. Von hier waren es keine hundert Meter mehr bis zur Stelle, an der der Industriekanal in einem spitzen Winkel in den Fluss mündete. Thomas ging über die Wiese zu der Feuerstelle, wo sie sich als Jugendliche manchmal abends getroffen hatten. Der Kanal schien mehr Wasser zu führen als der Fluss, dessen Bett vor der Einmündung fast ausgetrocknet war. Trotzdem wäre es schwierig gewesen, auf die andere Seite zu gelangen. Thomas setzte sich auf die rohen Steinquader, mit denen die Stelle befestigt war. Vom Flussbett herauf stieg ein modriger Geruch. Er zog seine Zigarettenpackung heraus und ertastete mit den Fingern die Zigaretten, elf, zählte er. Er zündete eine an und schaute in den Himmel, der jetzt ganz dunkel war. Obwohl es klar war, waren nicht viele Sterne zu sehen. Er prüfte in seinen Hosentaschen seine Habseligkeiten: ein Schlüsselbund mit einer winzigen Taschenlampe, ein kleines Messer, Zahnseide, ein Feuerzeug und ein Stofftaschentuch. Im Licht der Taschenlampe zählte er sein Geld, etwas mehr als dreihundert Franken. Er fröstelte und überlegte kurz, ein Feuer zu machen. Dann entschied er sich weiterzugehen, zurück bis zur kleinen Fußgängerbrücke über den Kanal und dann dem Tal folgend nach Westen.

Die Holzplanken der schmalen Brücke waren feucht und glitschig, Thomas musste sich am Geländer festhalten, um nicht auszurutschen. Er kam auf einen Pfad, der so schmal war, dass es ihm vorkam, als würde er in der vollkommenen Dunkelheit vom Gebüsch links und rechts gestützt und vorwärtsgeschoben bis zu einer Kiesstraße, die in gerader Linie einen halben Kilometer durch den Wald führte und dann noch einmal so weit über Weideland. Vor sich sah er, wie zwei Autos mit übersetzter Geschwindigkeit die Straßenbrücke überquerten, wie die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer die Häuser des Dorfes jenseits des Flusses streiften und kurz darauf hinter dem Hügel verschwanden. An der Landstraße angelangt, hörte er aus der Ferne ein weiteres Auto. Er versteckte sich im hohen Gras der Böschung und wartete. Das Auto näherte sich und fuhr vorbei. Als nichts mehr zu hören war, sprang Thomas auf und lief im Laufschritt über die Brücke. Noch vor dem Dorf verließ er die Hauptstraße wieder und folgte einer schmaleren, die den Fluss entlang zum Segelflugplatz und weiter führte. Als Kinder waren sie manchmal mit den Rädern hierhergefahren, um den Fliegern zuzuschauen, aber der Flugbetrieb hatte Thomas nie wirklich interessiert, er war nur seinen Freunden zuliebe geblieben, die davon geträumt hatten, selbst einmal zu fliegen.

Am Rand der Graspiste war ein langer Hangar, dahinter und von einer Hecke verborgen, standen ein gutes Dutzend Wohnwagen, von denen Thomas nur die Umrisse erkennen konnte. Nirgends brannte Licht oder war ein Geräusch zu hören. Er fühlte sich sehr müde. Er ging zum vordersten Wohnwagen, tastete nach dem Türgriff und drückte ihn vorsichtig hinunter. Die Tür war verschlossen. Auch die anderen Wagen waren verriegelt, aber einer hatte ein Vorzelt, das sich leicht öffnen ließ. Als Thomas hineintrat, spürte er, dass der Boden mit einem Holzrost bedeckt war. Die Luft war abgestanden, es roch nach Gras und altem Plastik und leicht säuerlich nach Essen. Im schwachen Licht der kleinen Taschenlampe sah er einen Campingtisch und vier Stühle und eine improvisierte Küche mit einem zweiflammigen Gaskocher und einer Spüle. In einer Ecke lag eine Plane aus steifem, beschichtetem Stoff. Thomas wickelte sich hinein und legte sich auf den Boden, aber auch so war ihm noch kalt. Er konnte nicht einschlafen auf dem harten Boden und dachte an zu Hause, fragte sich, ob Astrid seine Abwesenheit schon bemerkt hatte. Sie ging oft vor ihm schlafen und erwachte nicht, wenn er ins Bett kam.

 

 

Wenn Astrid am Morgen bemerken würde, dass Thomas nicht neben ihr lag, würde sie denken, er sei schon aufgestanden, obwohl fast immer sie zuerst auf war. Schlaftrunken würde sie in den oberen Stock gehen und die Kinder wecken und dann wieder herunterkommen. Zehn Minuten später würde sie frisch geduscht und im Morgenmantel aus dem Bad kommen und nach den Kindern rufen, die bestimmt noch in ihren Betten lagen. Konrad! Ella! Macht vorwärts! Wenn ihr jetzt nicht aufsteht, kommt ihr zu spät. Die immer gleichen Sätze, und darauf die immer gleichen Antworten. Nur noch eine Minute. Ich bin schon aufgestanden. Ich komme gleich. Auf dem Weg zur Küche würde Astrid einen Blick ins Wohnzimmer werfen und sich kurz wundern, dass Thomas auch hier nicht war. Aber diese erste Dreiviertelstunde am Morgen verlief nach einem so festen Plan, dass sie keine Zeit hatte, an etwas anderes zu denken als an das, was zu tun war. Die Kaffeemaschine einschalten, Wasser nachfüllen, den Tisch decken, Brot, Butter, Konfitüre und Honig, Milch und Kakaopulver. Sie rief noch einmal nach den Kindern, lauter und mit einem ärgerlichen Unterton, und ließ sich einen ersten Kaffee aus der Maschine, den sie im Stehen trank. Dann kamen die Kinder endlich heruntergepoltert, setzten sich an den Tisch. Konrad blinzelte verschlafen, Ella legte ein geöffnetes Buch neben ihren Platz, und Astrid musste sie zweimal ermahnen, bis sie es mürrisch schloss und sich ein Brot strich. Mit vollem Mund fragte Konrad endlich, wo ist Papa? Er musste heute früh raus. Astrid wusste nicht, weshalb sie das sagte. Es war die einfachste Erklärung, und indem sie sie aussprach, wurde sie beinahe zur Realität. Er musste früher ins Büro. Die Kinder fragten nicht weiter, obwohl Thomas kaum je vor dem Frühstück aus dem Haus ging. Astrid dachte kurz nach, ob Thomas etwas von einem Termin gesagt hatte, aber dann erhoben sich die Kinder schon, und sie musste schauen, dass sie nichts vergaßen. Geht ihr heute schwimmen? Zieh doch die Sandalen an. Doch, du brauchst einen Pullover, es ist noch kühl draußen. Das Buch bleibt hier. Los jetzt! Sie küsste die Kinder auf die Wangen und schob sie aus der Tür. Einen Moment lang blieb sie in der offenen Tür stehen, sah ihnen nach, wie sie um die Ecke verschwanden, hörte das vertraute Quietschen des Gartentors und dann, wie es zuknallte. Die Luft roch schon ein wenig nach Herbst.

Während Astrid ins Bad ging, um sich die Haare zu föhnen, überlegte sie, ob sie heute ins Freibad gehen sollte. Sie musste die Wäsche waschen, die Koffer fertig auspacken, einkaufen. Sie legte sich einen Plan zurecht. Erst als sie aus dem Bad trat, dachte sie wieder an Thomas. Sie rief im Büro an. Die Sekretärin sagte, er sei noch nicht da, und fragte, ob sie schöne Ferien gehabt hätten. Wunderschön, ja. Können Sie mal in seinen Terminkalender schauen? Nein, sagte die Sekretärin nach einer kurzen Pause, da steht nichts. Erst am Nachmittag hat er einen Termin mit einem Kunden. Sagen Sie ihm bitte, er soll mich kurz anrufen, wenn er kommt, sagte Astrid.

Sie fuhr mit dem Fahrrad einkaufen, hängte die Wäsche draußen auf und räumte die Koffer fertig aus. In einem war eine Plastiktüte mit Muscheln, die die Kinder am Strand gesammelt hatten. Als Astrid sie auf den Tisch kippte, rieselte Sand aus der Tüte. Sie legte die Muscheln und Schneckenhäuschen in einen flachen Korb und wischte den Sand vorsichtig zusammen, damit es auf dem Tisch keine Kratzer gab. Dann verstaute sie die Koffer auf dem Dachboden. Oben war es heiß, die Luft hatte eine fast wattige Konsistenz. Etwas wehmütig dachte Astrid an die zwei Wochen, die sie am Meer verbracht hatten, an die Hitze, die sie liebte, die spanischen Markthallen, das wunderbare Gemüse, die Früchte, die unzähligen Sorten Fisch, die man dort kaufen konnte. Wir bleiben einfach hier, hatte Thomas an einem der letzten Tage im Scherz gesagt. Sie hatte gelacht, und dann hatten sie sich alle gemeinsam ausgedacht, wie es wäre, das ganze Jahr über am Meer zu wohnen. Es war ein Spiel, aber Astrid sah in Thomas’ Augen und in den Augen der Kinder ein begeistertes Leuchten. Und wie würden wir Geld verdienen? Wir basteln Schmuck aus Muscheln und verkaufen ihn auf der Strandpromenade. Und die Schule? Papa ist unser Lehrer. Schließlich sagte Astrid, zu Hause ist es doch auch schön. Das Meer wäre gar nichts Besonderes mehr, wenn es immer vor der Tür wäre. Und im Winter gibt es bestimmt Stürme hier und es ist feucht im Haus, es gibt ja nicht einmal eine richtige Heizung. Sie war immer die Stimme der Vernunft in ihrer Beziehung, in der Familie gewesen. Manchmal fragte sie sich, ob Thomas ein anderes Leben gewählt hätte, wenn sie kein Paar geworden wären.

Thomas rief nicht an. Vielleicht hatte er es probiert, während sie einkaufen gewesen war, und hatte keine Nachricht hinterlassen wollen. Oder er hatte es einfach vergessen. Bestimmt hatte er viel um die Ohren nach den Ferien und musste an hundert andere Dinge denken. Es wäre Astrid peinlich gewesen, noch einmal mit der Sekretärin zu sprechen. Sie entschloss sich, doch kurz ins Schwimmbad zu gehen. In den Ferien hatte sie sich vorgenommen, sich mehr zu bewegen, zu schwimmen, solange das Wetter es zuließ, und danach wieder mit Joggen anzufangen.

Im Radio hatten sie für den Nachmittag Regenschauer und fallende Temperaturen angekündigt, aber noch war vom Wetterumschwung nichts zu merken. Trotzdem war das Schwimmbad fast leer. Astrid empfand es als Privileg, mitten am Tag schwimmen gehen zu können, zugleich fühlte sie sich ausgeschlossen aus der geschäftigen Welt, in der Thomas sich bewegte und sogar die Kinder, die jetzt in der Schule saßen und über Rechenaufgaben grübelten oder einen Aufsatz schrieben über ihre Ferienerlebnisse. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, aber dieses leichte Gefühl von Schuld hatte auch etwas Befriedigendes.

Die Umkleidekabinen waren schmutzig, überall lagen Abfälle herum, und der hellblau gestrichene Betonboden fühlte sich klebrig an. Gestern war bestimmt viel los gewesen hier, der letzte Ferientag, vielleicht der letzte Hitzetag des Jahres. Nach zwei Wochen Schwimmen im Salzwasser fühlte sie sich schwer im Becken, als werde sie hinuntergezogen. Sie schwamm nur zehn Bahnen und legte sich dann kurz in die Sonne, bis ihr Badeanzug einigermaßen trocken war. Um halb zwölf war sie wieder zu Hause.

Sie leerte den Briefkasten und warf einen kurzen Blick in die Zeitung, dann hängte sie die letzte Wäsche auf. Sie hatte den Kindern ihr Lieblingsessen versprochen, Pfannkuchen mit Apfelmus und Nutella. Während sie das Essen zubereitete, ließ sie das Radio laufen, obwohl sie sich immer über die munteren Sprecher ärgerte, die nur Unsinn redeten und die Hörer, die anriefen, um irgendeine Quizfrage zu beantworten, wie Schwachköpfe behandelten.

Die Kinder kamen spät. Fünf Wochen lang hatten sie ihre Freunde nicht gesehen, bestimmt hatten sie sich auf dem Nachhauseweg viel zu erzählen gehabt. Ella grüßte nur kurz und verschwand sofort ins Wohnzimmer. Als Astrid den Tisch deckte, saß sie auf dem Sofa und las. Wie war die Schule? Ella murmelte etwas Unverständliches. Zurück in der Küche, erwischte Astrid Konrad dabei, wie er ein kleines Stück vom Rand eines Pfannkuchens abriss und es sich in den Mund stopfte. Finger weg!, rief sie. Kannst du nicht warten? Wo ist Papa?, fragte Konrad. Er kommt heute nicht zum Essen, sagte Astrid, er hat viel zu tun. Dann gibt es für uns mehr Pfannkuchen, sagte Konrad.

Beim Essen erzählten die Kinder, wo ihre Klassenkameraden die Ferien verbracht, was sie erlebt hatten. Astrid hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie überlegte, was mit Thomas los war. Sie beruhigte sich selbst. Was sollte schon passiert sein? Am Abend zuvor war er gewesen wie immer. Auch in den Ferien war nichts Besonderes vorgefallen, im Gegenteil, es waren zwei ungewöhnlich harmonische Wochen gewesen. Die meiste Zeit hatten sie am Strand verbracht oder im Ferienhaus. Die Rückfahrt im Auto war anstrengend gewesen, in Frankreich hatten sie zweimal lange im Stau gestanden, aber Thomas neigte nicht dazu, sich über solche Dinge aufzuregen. Er war überhaupt ein sehr ausgeglichener Mensch, ein Durchschnittsmensch, wie er selbst manchmal sagte. Bestimmt gab es eine ganz banale Erklärung für seine Abwesenheit. Astrid war noch nicht einmal besorgt.

Die Kinder hatten am Nachmittag Schule, und Astrid beschäftigte sich mit Gartenarbeit. Nach zwei Wochen ohne Pflege war der Garten verwildert, das Unkraut stand knöchelhoch, und die Tomatenstauden bildeten ein richtiges Dickicht. Astrid jätete und band die Tomaten hoch und geizte sie aus. Von Westen her zogen dunkle Wolken heran und verdeckten die Sonne. Astrid mähte den Rasen. Das Geräusch des Rasenmähers war ungewöhnlich laut und hallte, als befände sie sich in einem geschlossenen Raum. Sie war noch nicht ganz fertig, als sie die ersten Regentropfen spürte. Schnell hängte sie die Wäsche ab und brachte sie ins Haus. Der Regen wurde nur ganz allmählich stärker. Astrid trug den Rasenmäher in den Keller, sie öffnete überall im Haus die Fensterläden. In Konrads Zimmer blieb sie stehen und schaute hinaus in den Regen, der behutsam und fast geräuschlos fiel. Es war kühl geworden, sie fröstelte und schloss das Fenster. Im Haus war es immer noch warm, aber weniger drückend.

Mit dem Wetter hatte sich auch Astrids Stimmung verändert. Während sie die Treppe hinunterging, dachte sie an die Kinder, die bald von der Schule heimkommen würden, und daran, dass sie ihnen Regenjacken hätte mitgeben sollen. Sie empfand ihre Schutzlosigkeit als Schuld. So oft hatte sie das Bedürfnis, Ella und Konrad zu beschützen, vor gemeinen Mitschülern, fordernden Lehrern, ganz banalen Dingen, die zum Leben jedes Kindes gehörten, und vermochte es nicht. Das Telefon klingelte. Es war Thomas’ Sekretärin, sie sagte, sie habe es schon ein paarmal versucht. Sie klang aufgeregter, als Astrid es war. Er hatte um zwei einen Termin mit einem Kunden, sagte sie. Ich war im Garten, sagte Astrid. Und dann, sie wusste nicht, weshalb, er ist krank, es tut mir leid, ich hätte anrufen sollen. Die Sekretärin schien sich nicht zu wundern, dass Astrid sich noch am Morgen nach Thomas erkundigt hatte und jetzt behauptete, er sei zu Hause. Die Einfachheit der Erklärung schien alle Bedenken aus dem Weg zu räumen. Als könne sie die Lüge damit wahrer machen, erklärte Astrid, dass Thomas eine starke Erkältung habe. Vielleicht die Klimaanlage im Auto oder einfach die Anstrengung der langen Fahrt. Ich hatte vor zwei Wochen einen schlimmen Schnupfen, sagte die Sekretärin und lachte, als habe sie einen Witz gemacht. Kommt er morgen wieder? Ich glaube nicht, sagte Astrid. Dann soll er sich gut von den Ferien erholen, sagte die Sekretärin und lachte wieder, wünschen Sie ihm gute Besserung.

Astrid versuchte, sich abzulenken, indem sie an das Abendessen dachte, daran, was sie kochen würde und wie sie zusammensitzen würden im warmen Esszimmer, während draußen der Regen fiel. Aber plötzlich war sie sicher, dass Thomas auch zum Abendessen nicht kommen würde und auch morgen nicht. Das Gefühl nahm ihr den Atem, sie machte sich keine Sorgen, sie empfand eine lähmende Angst, als wüsste sie schon, was geschehen würde.

 

 

Thomas musste trotz des unbequemen Lagers geschlafen haben. Sein Rücken schmerzte und ihm war kalt. Im Vorzelt war es immer noch stockdunkel, obwohl er den Arm mit der Uhr dicht vor die Augen hielt, konnte er die Zeit nicht ablesen. Eine Weile lang blieb er liegen und versuchte, wieder einzuschlafen, aber die Kälte war so durchdringend, dass er schließlich aus der Plane kroch und aufstand. Draußen war es etwas heller. Der Mond stand jetzt am Himmel, er war fast voll, aber er schien weit entfernt zu sein. Thomas lief am Hangar vorbei auf die Graspiste, über der dünne Nebelschleier schwebten. Hier war die Sicht freier, und er konnte im Osten schon einen ersten Schimmer Licht sehen. Er machte ein paar Kniebeugen, bis ihm wärmer wurde, dann ging er zurück zu den Wohnwagen. Es wurde jetzt schnell heller. Aus dem Wald war ein wildes Konzert von Vogelstimmen zu hören und aus der Ferne Kuhglocken und dann und wann ein Auto von der Landstraße jenseits des Flusses.

Thomas hatte Hunger. Er prüfte noch einmal die Türen der Wohnwagen, alle waren abgeschlossen. Kurz dachte er daran, eine Tür aufzubrechen, aber dafür hätte er Werkzeug gebraucht, und er hatte nur sein kleines Taschenmesser, das zu nicht viel mehr taugte, als sich die Fingernägel zu reinigen oder einen Brief zu öffnen. Als er schon aufgeben wollte, entdeckte er an einem der Wagen ein Schiebefenster, das einen Spaltbreit offen stand. Mit einiger Mühe konnte er einen Arm hineinzwängen und die Verriegelung lösen. Das Fenster war sehr klein, er war überrascht, dass er es schaffte, sich hindurchzuwinden.

Im Inneren des Wohnwagens war es eng und es roch muffig. Das Fenster, durch das Thomas hereingeklettert war, befand sich über einer Art Bettsofa. Nach einigem Herumtasten fand er den Lichtschalter. Eine schwache Sparlampe erleuchtete das Innere des Wagens mit grauem Licht. Die Wände und Schränke waren mit billig wirkendem Nussbaumimitat verkleidet, der Stoff, mit dem die Polster bezogen waren, war weinrot und beige und hatte ein altmodisches Rautenmuster, vor den Fenstern hingen gehäkelte Gardinen. Thomas öffnete alle Schränke. In einem gab es klebrige Flaschen mit Öl und Essig, eine fast leere Tube Senf, alle möglichen Gewürze, Teebeutel und Instantkaffee, in einem anderen Nudeln und Reis, Dosentomaten, Beutelsuppen. Schließlich fand er zwei Schachteln Kekse und eine halbe Tafel Schokolade. Nachdem er die Kekse gegessen hatte, war ihm ein wenig übel, aber wenigstens hatte er keinen Hunger mehr. Er löschte das Licht und öffnete die Tür. Er erschrak, wie hell es draußen schon war.