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Otto heißt richtig Otto von Irgendwas, weil seine Familie mal irgendwas gewesen war. Geblieben sind ihm nur das Schloss, in dem er lebt – und im Ballsaal die vielen Gemälde von all den Ottos vor ihm. Otto wächst allein auf. Er trägt Knickerbocker und ein Monokel, und Angestellte sorgen dafür, dass alles bleibt, wie es immer war, ganz nach Otto'scher Familientradition – bis sich doch etwas ändert. Eines Tages taucht die Enkelin des Schlossgärtners auf. Otto lernt Ina und bald auch ihre Freunde kennen. Zusammen erkunden sie die Welt außerhalb des Schlosses. Als Ottos Personal doch mal Urlaub machen will, entschließen sich Ottos neue Freunde, ihre Ferien im Schloss zu verbringen. Ohne Angestellte? Zuerst ist Otto ratlos. Aber die anderen Kinder durchstöbern die Räume und pirschen durch Geheimgänge und Bibliotheken. Am Ende der Ferien muss sich Otto entscheiden: Soll alles wieder so sein, wie früher? Oder ist Nichtwissen-was-kommt nicht auch ein Glück?
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Seitenzahl: 82
Peter Stamm
Mit Bildern von Ole Könnecke
Atlantis
Otto hieß nicht nur Otto. Er hieß Otto von Irgendwas, weil seine Familie mal irgendwas gewesen war. Aber daran erinnerte sich Otto nicht oder er hatte es nie gewusst. Schon sein Vater hatte Otto von Irgendwas geheißen, sein Großvater auch und ebenfalls sein Urgroßvater und immer so weiter, bis in die dunkle Vergangenheit der Urururottos. Von seiner Familie war nicht viel mehr übrig geblieben als das Schloss, in dem Otto wohnte, und er selbst. Und im Ballsaal ganz viele Gemälde von allen alten Ottos vor ihm, sie trugen Fantasieuniformen mit goldenen Tressen und Knöpfen und bunte Orden. Irgendwann würde dort auch ein Bild von ihm hängen.
Otto wohnte allein im Schloss. Früher hatten auch seine Eltern hier gewohnt, aber das war lange her. Otto hatte vergessen, weshalb sie nicht mehr hier wohnten oder er hatte es nie gewusst. Jedenfalls wohnte er allein im Schloss, seit er sich erinnern konnte. Bis auf sein Personal natürlich.
Das Schloss hatte alles, was es brauchte (und auch ein paar Sachen, die es nicht brauchte), einen Spiegelgang, den Ballsaal mit den vielen Ottos, mindestens zehn Schlafzimmer, eine Bibliothek und einen Rauchsalon, ein Musikzimmer, eine riesige Küche mit gusseisernem Herd und Kupferpfannen und eine geräumige Speisekammer voller Vorräte. Es gab auch ein Audienzzimmer, in dem Otto Gäste empfangen hätte, wenn er Gäste empfangen hätte, und ein Kontor. Das war das Büro, in dem Otto jeden Tag sein Geld zählte. Das Geld lag in einem großen Tresor, zusammen mit dem Silberbesteck und dem Familienschmuck und alten Dokumenten über seine Familie und dem Kassenbuch, in das Otto alle Ausgaben eintrug. Einnahmen gab es leider keine, weshalb er jeden Tag etwas weniger Geld zählen musste. Aber vorläufig und noch für eine ganze Weile würde es reichen.
Das Schloss war von einem weitläufigen Park umgeben mit Wasserbecken und Hecken, Skulpturen von Engelchen und künstlichen Felsen, kleinen Grotten, einem Labyrinth und einem Küchengarten.
Andere Kinder gingen in die Schule, gingen ins Schwimmbad, waren bei den Pfadfindern oder besuchten das Fußball- oder das Handballtraining. Für all diese Dinge hatte Otto keine Zeit. Das Schloss machte viel Arbeit und das Personal machte noch mehr Arbeit, auch wenn es eigentlich dazu da war, Otto die Arbeit abzunehmen.
Jeden Morgen außer am Sonntag wurde Otto von Frau Lämmle, seiner Haushälterin oder besser Schlosshälterin, um sieben geweckt. Frau Lämmle war der gute Geist des Schlosses, und wie das bei Geistern so üblich ist, war sie überall und nirgends zugleich. Sie war immer da, wenn man sie brauchte, sei es am Tag oder in der Nacht. Otto musste nur sagen: »Frau Lämm…«, und schon stand sie vor ihm und fragte, was er wolle oder brauche.
»Die Sonne scheint«, sagte Frau Lämmle, während sie die schweren Gardinen aufzog, »die Temperatur beträgt achtzehn Grad Celsius. Gegen Nachmittag könnte leichte Bewölkung aufziehen. Die Niederschlagswahrscheinlichkeit beträgt null Prozent. Hast du gut geschlafen?«
»Ich hatte einen seltsamen Traum«, sagte Otto, »in dem alles durcheinandergeraten ist.«
»Na, glücklicherweise ist das nicht passiert«, sagte Frau Lämmle, »alles ist so, wie es immer gewesen ist …«
»… und das ist gut so«, beendete Otto den Satz von Frau Lämmle, denn sie sagte das fast jeden Morgen.
»Jetzt musst du dich aber beeilen«, sagte sie und schlug die Bettdecke zurück.
Noch vor dem Frühstück hatte Otto eine Fechtlektion bei Jenö, seinem Fechtlehrer. Der wohnte in einem der zwei Türme des Schlosses in einem großen Zimmer, das wie eine Turnhalle aussah. Es hatte Fenster nach allen Seiten, durch die man die Landschaft sehen konnte, die Wiesen und Felder, die bewaldeten Hügel und in einiger Entfernung das Dorf.
Jenö kam aus Ungarn und war einmal ein berühmter Fechter gewesen. Leider verstand Otto nur die Hälfte von dem, was er sagte, aber es schien alles sehr lustig zu sein, denn Jenö lachte die ganze Zeit und Otto nickte und lachte auch und machte, was Jenö ihm sagte, Schritt vorwärts, Schritt rückwärts, Sprung vorwärts, Sprung rückwärts.
Obwohl es noch früh am Morgen war, war es schon warm, denn die Sonne schien durch die großen Fenster des Fechtzimmers. Es war die Zeit der Sommerferien, aber im Schloss machte niemand Ferien. Alles war so wie immer. Und wie immer sagte Jenö etwas Unverständliches und Otto bedankte sich und rannte die Wendeltreppe hinunter und zurück in sein Zimmer, um sein tägliches Bad zu nehmen.
Nach der Fechtlektion und dem Bad zog Otto sich an. Er trug immer dasselbe, Knickerbocker und karierte Wollstrümpfe, ein Hemd mit dem aufgestickten Wappen seiner Familie (ein Eichhörnchen, das eine Birne in den Pfoten hielt), eine gestreifte Krawatte und, wenn er nach draußen ging, ein Barett, eine Art Schirmmütze ohne Schirm. Es waren dieselben Kleider, die schon sein Vater als Kind getragen hatte und sein Großvater und vermutlich all die anderen Ottos vor ihnen bis zu Adam und Eva, die nichts getragen hatten, bevor jene dumme Geschichte mit dem Apfel passiert war.
Jens, sein Koch und Vorkoster, wartete schon mit dem Frühstück auf ihn. Jens kam aus Schweden, sprach mit einem lustigen Akzent und immer, wenn er nicht wusste, was er sagen sollte, sagte er: »Jaha!« Das war Schwedisch und konnte so ziemlich alles bedeuten.
Die Arbeit von Jens war ganz einfach. Bevor Otto irgendetwas aß, musste Jens ein kleines Stück davon probieren. Dann warteten sie drei Minuten, Jens hatte eine Stoppuhr, und wenn es ihm immer noch gut ging, aß Otto den Rest. Wenn Jens Bauchweh bekam, aß Otto etwas anderes, eine Orange oder ein Stück Kuchen. Weil Jens auch der Koch war, wusste er immer, was im Essen drin war, und kriegte fast nie Bauchweh. Und wenn er Bauchweh kriegte, war es nicht wegen des Essens. Aber Otto aß dann trotzdem etwas anderes. Lieber einmal zu viel Kuchen essen als einmal zu wenig.
Jens war verliebt in Britta, Ottos Friseuse.
Einmal im Monat kam nach dem Frühstück Britta zum Haareschneiden. Britta hatte eine ganze Tasche voller Werkzeuge, Scheren und Messer, Kämme und Bürsten und seltsamerweise auch einen Fuchsschwanz, Schraubenzieher und eine Beißzange, die sie aber nie benutzte. Otto ließ sich gern die Haare schneiden, am liebsten wäre es ihm gewesen, Britta wäre jeden Morgen gekommen.
»So schnell wachsen Haare nicht«, sagte Britta, »höchstens zwei oder drei Millimeter pro Woche.«
Britta schnitt auch allen Angestellten die Haare und sogar sich selbst vor dem Spiegel. Einmal hatte sie Jens rasiert und danach seine Wangen gestreichelt, um zu schauen, ob alle Stoppeln weg waren. Da hatte Jens ganz glücklich ausgeschaut. Vielleicht hatte er sich damals in sie verliebt?
Britta kamen immer neue Sachen in den Sinn, die sie mit Ottos Haaren anstellen konnte. Sie probierte alle möglichen Frisuren aus, manchmal färbte sie seine Haare blau oder erdbeerblond oder machte ihm ganz viele kleine Löckchen oder Zöpfchen.
Jens hatte beim Frühstück herumgetrödelt, er wusste genauso gut wie Otto, dass Britta heute kommen würde, aber als sie schließlich klopfte und ins Zimmer trat, wurde er ganz verlegen und wusste nicht mehr, was sagen, und sagte nur: »Jaha!«
»Servus Otto!«, sagte Britta. »Servus Jens!«
Otto war sich nicht sicher, ob Britta auch in Jens verliebt war. Wenn er sie danach fragte, lachte sie nur und sagte: »Jens ist ein guter Mann« oder: »Jens könnte mehr aus seinen Haaren machen.« Aber als sie jetzt sah, dass er noch da war, wurde sie ein wenig rot im Gesicht, packte ihre Sachen aus und sagte: »Heute mache ich dir einen Coup Hardy. Den schneidet man nur mit dem Messer.«
»Tut das weh?«, fragte Otto.
»Das wirst du gleich sehen«, sagte Britta.
Sie zog ein Rasiermesser aus ihrer Tasche, aber Otto hatte keine Angst, obwohl das Messer ziemlich gefährlich und sehr scharf aussah.
»Deine Haare müssten wir auch wieder mal schneiden«, sagte Britta und fuhr mit der Hand durch Jens’ Haar, das aber ganz kurz war. Jens’ Haare waren immer sehr kurz, weil Britta sie ihm mindestens einmal pro Woche schnitt.
»Jaha«, sagte Jens.
Den Rest des Morgens hatte Otto Unterricht bei Herrn Roscoe, seinem Hauslehrer. Der wohnte im zweiten Turmzimmer im anderen Turm. Sein Zimmer sah ein bisschen aus wie ein Museum voller alter Möbel und dicker Teppiche und seltsamer Dinge, die er nach und nach überall im Schloss gefunden und auf sein Zimmer gebracht hatte. Am Fenster stand ein Teleskop, mit dem Herr Roscoe nachts den Mond und die Sterne betrachtete und nach Spuren von außerirdischem Leben suchte.
»Haben Sie schon etwas entdeckt?«, fragte Otto jeden Morgen.
Herr Roscoe machte ein geheimnisvolles Gesicht und sagte: »Du wirst dich noch wundern.«
Manchmal fragte sich Otto, wie es wäre, mit anderen Kindern in die Schule zu gehen. Bestimmt wäre das sehr laut und unordentlich. Alle seine Vorfahren hatten Hauslehrer gehabt. »Semper idem« war der lateinische Sinnspruch seiner Familie, der über dem Eingang des Schlosses stand. Das hieß ungefähr »Alles soll so bleiben wie immer«, wenn Otto sich recht erinnerte.
Von den meisten Dingen, die Herr Roscoe Otto hätte beibringen sollen, hatte er selbst keine große Ahnung. »Mathematik ist etwas für Erbsenzähler«, sagte er. »Außerdem zählst du jeden Tag dein Geld und das wird immer weniger. Also wird das Rechnen immer einfacher.«
»Chemie und Physik funktionieren auch, wenn man nicht versteht, weshalb«, sagte Herr Roscoe. »Das sind Naturgesetze, die brauchst du nicht zu verstehen.« Und Geographie und Geschichte? »Die werden überschätzt«, sagte Herr Roscoe. »Die Geographie ist weit weg und die Geschichte schon lange vergangen. Kümmere dich lieber um das, was hier und jetzt geschieht.«
Sportunterricht fand Herr Roscoe viel zu anstrengend. Musikunterricht war ihm zu laut und Zeichnen und Malen zu schmutzig. »Bilder gibt es ja schon genug im Schloss«, sagte er und verschränkte die Arme.