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Mark Aurel (121–180 n. Chr.) war der sechzehnte römische Kaiser und einer der mächtigsten, aber auch klügsten Männer seiner Zeit. Seine »Selbstbetrachtungen«, die nie zur Veröffentlichung bestimmt waren, haben sich als unerschöpfliche Quelle der Weisheit und als eines der wichtigsten Werke der stoischen Philosophie erwiesen. In eindrücklicher Sprache verfasst, reichen die Einträge von einzeiligen Aphorismen bis zu Essays, die von Menschenliebe, Besonnenheit, aber auch Melancholie geprägt sind. Diese kommentierte Ausgabe von Robin Waterfield, einem weltbekannten Experten antiker Philosophie, bietet einen neuen Einblick in die Gedankenwelt des Philosophenkaisers des antiken Roms. Sie enthält eine völlig neue Übersetzung seines Klassikers mit ausführlichen Anmerkungen und einer aufschlussreichen Einleitung über Leben und Werk Mark Aurels. Ein Genuss sowohl für Einsteiger als auch für Kenner des Stoizismus.
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Seitenzahl: 491
Veröffentlichungsjahr: 2022
MARK AUREL
DIE KOMMENTIERTE EDITION VON ROBIN WATERFIELD
MARK AUREL
DIE KOMMENTIERTE EDITION
VON
ROBIN WATERFIELD
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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2. Auflage 2024
© 2022 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Copyright der engl. Originalausgabe © 2021 by Robin Waterfield. Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Meditations: The Annotated Edition by Marcus Aurelius, Translated, Introduced, and Edited by Robin Waterfield bei Basic Books, Hachette Book Group, New York.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Elisabeth Liebl
Redaktion: Karla Seedorf
Korrektorat: Anja Hilgarth
Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Omeris
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Satz: Daniel Förster
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-548-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-041-8
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Vorwort
Einführung
Selbstbetrachtungen
Erstes Buch
Zweites Buch
Drittes Buch
Viertes Buch
Fünftes Buch
Sechstes Buch
Siebtes Buch
Achtes Buch
Neuntes Buch
Zehntes Buch
Elftes Buch
Zwölftes Buch
Menschen und Götter in den Selbstbetrachtungen
Anmerkungen zur Textgestalt
Weiterführende Literatur
Über den Autor
Die Selbstbetrachtungen des Marcus Aurelius oder nach gängiger deutscher Schreibung Mark Aurel1 gehören zu den meistgelesenen und bekanntesten philosophischen Werken weltweit. Sie wurden häufig übersetzt, aber da Marcus’ Griechisch an vielen Stellen so schwer zu interpretieren ist, ist immer Raum für eine neue Version. Das Buch, das Sie in Händen halten, versteht sich nicht nur als verbesserte Übersetzung, sondern legt vor allem Wert auf ausführliche Erklärungen. Die Absicht hinter der Einführung und den Anmerkungen ist es, dem Leser ein tieferes Verständnis von Marcus’ Werk zu ermöglichen, ohne ihn jedoch mit philosophischen Fachkommentaren zu überfrachten. In der Einführung geht es um allgemeine Themen, die das Buch als Ganzes in einen verständlichen Kontext rücken. Wann immer ich das Gefühl hatte, dass die Bedeutung hinter Marcus’ Worten dem Leser unklar sein könnte, habe ich eine Anmerkung gemacht. Die Annotationen dienen also dem unmittelbaren Verständnis der Textpassagen während des Lesens, wohingegen die Einführung eher über den allgemeinen Hintergrund informiert.
Der Stoizismus ist ein uraltes philosophisches System, das in jüngster Zeit neu entdeckt wurde. Viele Menschen betrachten sich selbst als Stoiker und versuchen, diese Gedanken in die Praxis umzusetzen. Meine Bekanntschaft mit dem modernen Stoizismus ist recht oberflächlich. Das ist auch so gewollt, denn ich möchte Marcus Aurelius aus seiner Sicht und seiner Zeit heraus verstehen. Doch die Selbstbetrachtungen sind ein zentraler Text auch des modernen Stoizismus. Und tatsächlich sind die Stoiker von heute in gewisser Weise genau das Publikum, für das dieses Buch gedacht ist.
Ich möchte James Romm danken, der mich auf dieses Projekt angesetzt hat. Und Dan Gerstle bei Basic Books, der mich damit beauftragt hat. Claire Potter hat seine Fertigstellung begleitet und Alex Colsten und Christina Palaia haben es umsichtig und zweckdienlich lektoriert. David Fideler (stoicinsights.com) hat sich in vielerlei Hinsicht als hilfreich erwiesen, u. a. indem er sein Wissen über Seneca mit mir geteilt hat. John Sellars hat mir dankenswerterweise noch vor der Veröffentlichung ein Exemplar seines Buches über Marcus Aurelius zur Verfügung gestellt. Vor allem aber bin ich all meinen alten und neuen Freunden dankbar: meiner Frau Kathryn, die wie immer meine Erstleserin war; Brad Inwood und John Sellars, zwei ausgewiesene Stoa-Experten, haben die Fahnen gelesen und wichtige Hinweise gegeben. Ich habe allen Rechnung getragen, um das Buch besser zu machen.
Die berühmte Marcussäule erhebt sich heute noch 30 Meter hoch mitten in Rom. Sie wurde kurz nach dem Tod von Marcus Aurelius errichtet, als Erinnerung an seine um das Jahr 170 herum erzielten militärischen Triumphe an der Donau. Ein Relieffries windet sich spiralig an der Außenseite nach oben und zeigt 116 verschiedene Szenen der sogenannten Markomannen-Kriege, die die Römer gegen eine Reihe germanischer Völker führten, zu denen eben auch die Markomannen gehörten. Marcus selbst ist etwa in der Hälfte dieser Szenen zu sehen. Zwei Episoden stellen berühmte »Wunder« dar. Bei einer Gelegenheit lenkt ein heftiger Regenschauer den Feind ab, sodass eine eingeschlossene römische Einheit fliehen kann. Die andere Wunderszene zeigt, wie ein Gewitter einem eingeschlossenen Römerlager zu Hilfe kommt und eine Belagerungsmaschine des Gegners zerstört.
Viele Reliefs zeigen brutale Szenen, nicht nur mörderische Schlachten, sondern auch Handlungen, die heute als Kriegsverbrechen gelten würden: enthauptete Gefangene; Marcus, der abgetrennte Hände in Empfang nimmt; Massaker an der Zivilbevölkerung und unbewaffneten Gegnern; Entführung von Frauen und Zerstörung von Dörfern; eine unbewaffnete Frau, durchbohrt vom Schwert eines römischen Soldaten. Die Szenen spiegeln die Grausamkeit des Krieges ungeschminkt wider. Der Historiker Cassius Dio, der zu Beginn des 3. Jahrhunderts schrieb, berichtet, dass Marcus wenigstens eines der feindlichen Völker ausmerzen wollte. Er habe jedem, der ihm einen der feindlichen Führer oder seinen Kopf brachte, eine großzügige Belohnung versprochen.1
Und doch gilt der Marcus der Selbstbetrachtungen als Mann des Friedens, als nachdenklicher Philosoph, der kluge Ratschläge zur Selbstverbesserung und zur täglichen Lebensführung gibt. Die Moral, die wir aus diesem Widerspruch ziehen können, ist eine, auf die Marcus selbst in seinen Schriften häufig verweist: Jeder, auch und vor allem ein Kaiser, muss mit den Karten spielen, die er in der Hand hat. Oder wie sein Freund und Lehrer Marcus Cornelius Fronto ihn zu Beginn seiner Herrschaftszeit warnte: »Selbst wenn du die Weisheit eines Cleanthes oder Zenon erwerben kannst, so wirst du doch gegen deinen Willen den Purpurmantel tragen müssen, nicht die grobwollene Tunika des Philosophen.«2 Und der Purpurmantel des Herrschers musste eben häufig gegen die Rüstung ausgetauscht werden. Marcus mochte es vorgezogen haben, mehr Zeit für Lektüre und für seine Weiterentwicklung auf dem Pfad des Stoikers zu haben, aber eben als solcher musste er das ihm zugedachte Los akzeptieren und das Beste daraus machen.
Marcus ist berühmt für die Verbindung von kaiserlicher Macht und Philosophie. Man nannte ihn sogar den Philosophen-Kaiser und betrachtete ihn als jene Art aufgeklärten Herrscher, den uns Platon als Ideal hinstellt.3 Doch das ist aus zwei Gründen falsch. Erstens wird aus den Selbstbetrachtungen klar, dass Marcus sich nicht für einen Philosophen hielt (siehe Abschnitt 30 und 37 in Buch 4 [4,30 und 37] sowie Abschnitt 1 in Buch 8 [8,1]). Und zweitens wäre es sinnlos, sein Handeln als Kaiser daraufhin zu untersuchen, ob es von seiner Philosophie beeinflusst war. Zweifellos versuchte Marcus, sein Handeln an seiner Philosophie auszurichten (wie er in 9,29 sagt), doch im Großen und Ganzen sind seine Entscheidungen eher als Fortsetzung der Politik seiner Vorgänger zu betrachten denn als Versuch, das kaiserliche Amt mit einer neuen, philosophischen Dimension zu versehen.4 Politische Führer unserer Zeit wie Bill Clinton bewundern Marcus weniger als Philosophen-Herrscher, sondern als Mann, der akzeptierte, dass er als Kaiser seine Pflicht zu tun hatte, ohne größenwahnsinnig zu werden und sich zum Tyrannen zu entwickeln (6,30).5 Marcus war bei Weitem der reichste und mächtigste Mann seiner Zeit, aber Selbstdisziplin und Philosophie hielten ihn davon ab, seine Stellung auszunutzen.
Die Selbstbetrachtungen zeigen einen Mann, der sich danach sehnte, das Gute zu tun und die Menschen zu lieben. Die Marcussäule hingegen weist uns darauf hin, wie sein Stand als Kaiser ihn daran hindert, diese Ziele zu erreichen. So scheint Marcus zu Beginn von 10,9 zu erkennen, dass der Krieg ihn daran hinderte, seine weniger weltlichen Hoffnungen zu erfüllen. Aus dem gleichen Grund ist der Tonfall der Selbstbetrachtungen der eines Lernenden, der sich verbessern und als Philosoph leben will, aber ständig von den Ereignissen und persönlichen Schwächen daran gehindert wird. Aber ebendies ist auch der Grund, warum die Selbstbetrachtungen noch heute ein so breit gefächertes Publikum finden: weil kein Mensch vollkommen ist und wir uns in Marcus’ Fehlern und Bestrebungen wiedererkennen.
Marcus Aurelius Antoninus war vom 7. März 161 bis zu seinem Tod am 17. März 180 Kaiser von Rom. Er kam als Marcus Annius Verus am 26. April 121 zur Welt, unter der Herrschaft von Kaiser Hadrian.6 Seine Eltern waren ungeheuer reich und standen dem Kaiserhof nahe. Sein Vater starb, als Marcus noch ein Kind war. Daher wurde er von seinem Großvater erzogen, einem Vertrauten des Kaisers. Er erhielt die übliche Erziehung eines jungen Römers von Stand. Seine weitere Ausbildung, für die sage und schreibe 18 Hauslehrer engagiert wurden, bestand hauptsächlich aus Rhetorik und Philosophie. Einige der Briefe, die er mit Fronto, einem seiner Rhetoriklehrer, austauschte, sind in Teilen überliefert und zeigen Marcus als leidenschaftlichen, offenen und gelehrten jungen Mann. Für jemanden, der eine Rolle im öffentlichen Leben Roms übernehmen sollte, gehörte die Rhetorik zum unverzichtbaren Rüstzeug. Die Philosophie aber hatte er sich selbst zum Lieblingsfach erkoren, und zwar schon als junger Mann (1,6).
Schon als Kind war Marcus einer der Favoriten von Kaiser Hadrian. Dass auf Marcus eine brillante Zukunft wartete, wurde klar, als der Kaiser den Fünfzehnjährigen mit der Tochter seines Adoptivsohns Lucius Aelius Caesar, des intendierten Thronerben, verlobte. Einige Jahre später, als Aelius Caesar an Tuberkulose verstarb, befahl Hadrian Titus Aurelius Fulvus Boionius Arrius Antoninus, seinem zweiten Erben, dem späteren Kaiser Antoninus Pius (dessen Frau Marcus’ Tante war), sowohl Marcus als auch Lucius, den Sohn des Aelius, zu adoptieren. Hadrian sah vermutlich Lucius als künftigen Kaiser, aber nach Hadrians Tod zog Antoninus Marcus dem Lucius vor. Lucius schien das nicht weiter gestört zu haben, er zeigte ohnehin mehr Interesse an Partys als an der kaiserlichen Herrschaft.
Die frühen Antoninus-Kaiser blieben alle kinderlos. Vermutlich war das politisch gewollt, um familiäre Konflikte zu umgehen. Sie wählten ihre Nachfolger durch Adoption. Antoninus Pius herrschte von 138 bis 161, aber er war schon über fünfzig, als er den Thron bestieg. Vielleicht hatte Hadrian nicht erwartet, dass er so lange leben würde, und hatte ihn daher eher als »Zwischenschritt« gesehen, bis Lucius (oder Marcus) seinen Platz übernehmen konnte. Dann aber stellte sich heraus, dass die Adoptivbrüder 23 Jahre lang die designierten Erben bleiben sollten. Als Antoninus ihn adoptierte, hatte Marcus angeblich einen Traum: Darin hatte er Schultern aus Elfenbein und war stark genug, um diese neue Verantwortung tragen zu können.7
Hadrian hatte das Zeitliche gesegnet, bevor Marcus Aelius Caesars Tochter ehelichen konnte. Und so heiratete Marcus im Jahr 145 stattdessen die Tochter des Antoninus Pius, Annia Galeria Faustina (die seine Cousine war). Von nun an war er Teil des kaiserlichen Haushalts. Es gibt gehässige Geschichten über die zahllosen Affären der Faustina, andererseits aber sind solche Gerüchte rund um die Mitglieder des kaiserlichen Haushalts gang und gäbe, sodass sie ebenso gut falsch oder übertrieben sein können. Auf jeden Fall widersprechen sie Marcus eigenen Worten über seine Gattin (1,17). Sie gebar ihm 13 oder 14 Kinder (darunter zwei Zwillingspaare), doch von diesen verstarben viele sehr jung, was zu jener Zeit normal war, selbst im kaiserlichen Haushalt. Bei Marcus’ Tod lebten noch fünf Töchter, aber nur ein Sohn, der künftige Kaiser Commodus (von 177 bis 180 Marcus’ Mitkaiser und von 180–192 alleiniger Herrscher).
Unter Hadrian und später unter Antoninus durchlief Marcus schnell die Ränge der politischen Hierarchie. Er lernte alles, was er wissen musste, um die Stadt Rom und das Kaiserreich zu führen. Und als Antoninus an Altersschwäche starb, übernahm er am 7. März 161 dessen Amt. Er legte den Namen Verus ab – bzw. übergab ihn Lucius, der von nun an Lucius Aurelius Verus hieß – und nahm den seines Adoptivvaters an, sodass er nun Marcus Aurelius Antoninus war. Sein offizieller Name lautete ab da: Imperator Caesar Marcus Aurelius Antoninus Augustus, 16. Kaiser von Rom. Seine erste Amtshandlung war es, seinen Adoptivbruder zum Mitkaiser zu ernennen, was dieser bis zu seinem Tode blieb. Danach war Marcus Aurelius für die letzten elf Jahre seiner Herrschaft alleiniger Kaiser. Es war dies das erste Mal, dass zwei Kaiser herrschten, wobei Marcus immer deutlich machte, dass er in der Rangordnung über seinem Adoptivbruder stand – u. a. dadurch, dass er Lucius mit seiner Tochter Lucilla verheiratete und ihn so zu seinem Schwiegersohn machte.
Marcus hatte den Kaiserthron für 19 Jahre inne. Wir wissen wenig über die vielen Aspekte seiner Herrschaft. Er baute die Hilfen für die Kinder armer Familien auf der italienischen Halbinsel aus und ließ eine alte juristische Regel wieder aufleben, der zufolge nicht alle Rechtsfälle, die in Italien zur Verhandlung standen, in Rom entschieden werden mussten. Er richtete eine neue Behörde ein, die speziell für die Korrespondenz mit dem griechischsprachigen Osten des Reiches zuständig war, da es eine solche für die lateinischsprachigen Regionen schon gab. Er verstärkte die Rechtsprechungskompetenzen des Senats und wusste die Senatoren auf seine Seite zu ziehen, da er ihren Rat berücksichtigte und sogar einen Teil seiner Macht an sie abgab. Marcus war als Herrscher bekannt, der ein großes Arbeitspensum absolvierte. In Rom saß er mitunter zwölf bis dreizehn Tage einer Gerichtsverhandlung vor, bevor er eine Entscheidung traf. Während seiner Herrschaft breitete sich die »Soldatenreligion«, d. h. die Verehrung des Gottes Mithras, weiter aus. Die Christenverfolgung ging indessen unvermindert weiter. Die Anhänger des »gekreuzigten Sophisten«8 hielten ihre Riten geheim, was stets Gerüchte über unheilvolle Praktiken wie Kannibalismus und Inzest zur Folge hatte. Marcus führte ein Gesetz wieder ein, welches das Schüren von Aberglauben unter Strafe stellte. Dies zwang die Christen noch weiter in den Untergrund und führte 177 in Lyon zum bis dahin schlimmsten Massaker an den Anhängern der neuen Religion.
Die Christen hatten also allen Grund, Marcus zu hassen, allen anderen aber galt er als guter Kaiser. Seine philosophischen Neigungen waren bekannt, und seine Höflinge gaben sich in Kleidung und Haartracht deutlich bescheidener als die des Lucius. Allerdings war Marcus’ Hofhaltung nicht auf Rom beschränkt. Während seiner Amtszeit hielt der Kaiserhof sich die meiste Zeit in Zentraleuropa auf. Dass das Reich so lange Zeit nicht von der kaiserlichen Hauptstadt aus regiert wurde, lag daran, dass die Regierungszeit von Marcus in erster Linie von Pest und Krieg gezeichnet war.
Als Kaiser hatte Marcus zahlreiche Herausforderungen zu meistern. Städte in den östlichen Provinzen wurden von Erdbeben zerstört und mussten wiederaufgebaut werden. Bald nach seiner Thronbesteigung trat der Tiber über die Ufer und bescherte Rom massive Verluste an Vieh, Ernten und Eigentum. Krankheiten breiteten sich über die gesamte Stadt aus. Doch Marcus’ größte Sorge und die größte Belastung für das Staatssäckel war zweifellos der Krieg.
Nach Antoninus’ Tod gab es Probleme an den Reichsgrenzen. Der Krieg in Britannien und der Kampf gegen einige germanische Stämme in Mitteleuropa bzw. gegen die Parther im Osten dauerten auch während eines Großteils von Marcus’ Herrschaft fort. Die Rebellion in Britannien wurde schnell niedergeschlagen, mit den Parthern war dies schon schwieriger. Man schickte Lucius Verus in den Osten, um der Krise Herr zu werden, doch dieser war in militärischen Dingen genauso unerfahren wie Marcus Aurelius.9 Er hatte gute Ratgeber und konnte auf erfahrene Generäle setzen, doch dauerte es von 161 bis 166, bis die Parther aus den östlichen Provinzen Roms vertrieben waren.
Trotzdem blieb der Osten für Marcus ein Problem. Die dortigen Truppen waren durch eine Epidemie geschwächt (vermutlich die Pocken) und konnten ihren Triumph nicht in einen endgültigen Sieg über die Parther, die Erzfeinde Roms, verwandeln. Die Soldaten aber, die aus den Partherkämpfen zurückkehrten, brachten die Seuche mit, die sich bald zu einer echten Pandemie entwickelte. Sie wütete in Rom, auf der italienischen Halbinsel und unter den Armeen der Römer in den Provinzen. Marcus musste seinen Plan aufgeben, mit Lucius an die Donau zu ziehen, die nördliche Reichsgrenze, die nach vielen Jahren des Friedens von den Markomannen und ihren Verbündeten in großer Zahl überschritten wurde. Diese handelten auf Druck der nördlicher lebenden germanischen Stämme, doch die römischen Truppen vor Ort waren kaum in der Lage, sie aufzuhalten.
Als Marcus und Lucius endlich aufbrachen, kamen sie nicht weiter als bis in die nordöstlichen Gebiete der italienischen Halbinsel. Doch ihre Ankunft genügte, um die Germanenstämme zum Rückzug zu veranlassen. Dann aber mussten sie nach Rom zurück, da die Seuche – mittlerweile bekannt als Antoninische Pest10 – unter ihren Truppen wütete. Als sie im Januar 169 auf dem Rückweg waren, starb Lucius unerwartet, vermutlich an einem Schlaganfall, obwohl er noch keine 40 Jahre alt war. Nach seinem Tod war Marcus nun alleiniger Kaiser. Die Staatsschatulle war leer, größtenteils aufgrund der Seuche. Also verkaufte Marcus kaiserliche Schätze, statt die Steuern zu erhöhen. Ende des Jahres gelangte er mit seinen Truppen endlich an die Donau. Er würde Rom lange Zeit nicht wiedersehen.
Wir können nur raten, welche Schritte unternommen wurden, um die Seuche einzudämmen. Man wusste damals kaum etwas über die Übertragung von Krankheiten. Die Behandlung bestand weitgehend aus Gebeten und Kräutern, jedenfalls gab es keine Gegenmittel, wie wir sie heute verwenden würden. In manchen Vierteln hieß es, die Plage sei göttliche Vergeltung für die Zerstörung eines Apollotempels während der Partherkriege. Letztlich aber war u. a. das beengte Zusammenleben in den römischen Städten und Armeelagern für die Ausbreitung der Krankheit verantwortlich. Abstand zu halten war damals einfach unmöglich.
In Rom brachte man Leichen auf Karren und Wagen weg … Die Kaiser erließen strikte Gesetze, betreffend die Bestattung der Toten und die Art der Gräber: Grabmäler auf den Landgütern wurden für ungesetzlich erklärt … Die Seuche riss viele Tausende mit sich fort, darunter nicht wenige hochgestellte Persönlichkeiten. Marcus ließ für die bekanntesten Statuen errichten. Seine Güte war so groß, dass er selbst für die einfachen Leute Bestattungszeremonien durchführen ließ, für die der Staat aufkam … Marcus ließ Priester aus dem ganzen Land zusammenrufen und auch religiöse Riten aus der Fremde durchführen und die Stadt auf jede nur erdenkliche Weise reinigen.11
Man gab den Christen die Schuld, die angeblich den Zorn der Götter auf die Stadt herabbeschworen hätten. Einige ihrer Anführer ließ Junius Rusticus – Stadtpräfekt von Rom und enger Freund von Marcus – hinrichte (1,7). Keine der Maßnahmen erwies sich als hilfreich. Die Seuche wütete weiter und verursachte viele Jahre lang unendliches Leid. Ich schreibe dies im Jahr 2020, und es sieht so aus, als könnten wir die langfristigen sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Antoninischen Pest in Rom bald am eigenen Leib nachfühlen.
Die Markomannenkriege an der Donau (oder die verschiedenen Phasen eines Krieges) dauerten 13 Jahre an, von 167 bis 180. Für Marcus und das Kaiserreich war dies eine ernste Krise. Einmal drangen die Markomannen bis nach Norditalien vor, und andere Stämme nutzten die Gunst der Stunde, um in die Provinzen auf dem Balkan einzufallen. Die Mauren kamen aus Nordafrika und überfielen spanische Städte und Dörfer. Doch mit diesen Problemen wurden die römischen Kräfte vor Ort fertig, sodass Marcus sich auf die drei wichtigsten Gegner konzentrieren konnte: die Markomannen, die Quaden und die jazygischen Sarmaten, ein Skythenvolk, das sich mit den Germanen verbündet hatte, um Rom anzugreifen. Zuerst schlug Marcus sein Heerlager in Carnuntum, im heutigen Österreich, auf (zwischen 169 und 172), später in Sirmium und Viminacium, im heutigen Serbien.12 Es war ein harter Kampf, und die erste Phase wurde 175 nicht durch den Sieg der Römer beendet, sondern durch einen Friedensvertrag, wenngleich dieser für Rom günstig ausfiel.
Marcus musste sich auf diesen Vertrag einlassen, weil er mittlerweile eine Rebellion im Inneren zu bekämpfen hatte. Die römischen Truppen in Syria und Ägypten hatten nämlich Gaius Avidius Cassius, einen der Helden des Partherkrieges und Marcus’ Gouverneur in der Provinz Syria, zum Kaiser ausgerufen. Jede der beiden Provinzen – vor allem die grenznahe – war ein eigenes Machtzentrum, weil dort Truppen in enormer Stärke lagen. Ansprüche wie der des Cassius wurden von Provinzgouverneuren gar nicht so selten erhoben.13 Marcus war bereits auf dem Marsch nach Osten, doch Cassius wurde von einigen seiner höchsten Offiziere ermordet, noch bevor Marcus die Provinz erreicht hatte. Nichtsdestotrotz setzte Marcus seine Expedition fort, auf die er seinen Sohn Commodus mitgenommen hatte. Dem Kaiser war klar, dass seine Anwesenheit in der Provinz, verbunden mit einiger Freigebigkeit, die Neigung zur Rebellion eindämmen würde.
Im Jahr 176 machte er sich wieder auf nach Rom und besuchte dabei Athen, wo er u. a. Lehrstühle für die vier größten Philosophie-Schulen gründete: die Stoiker, die Epikureer und die Schüler des Aristoteles bzw. des Platon. Ende 176 war er wieder in Rom, zum ersten Mal seit sieben Jahren. Und er feierte dort seinen Sieg über die Germanen.14 Doch die Lage an der Donau verschlechterte sich zusehends. Tatsächlich hatte es nie wirklichen Frieden gegeben. Marcus wusste, dass er in den Norden zurückkehren musste. Also machte er im Jahr 177 seinen Sohn Commodus zum Mitkaiser und zog mit ihm erneut an die Donaugrenze.
Marcus starb im Jahre 180, vermutlich in Sirmium, einige Wochen vor seinem 59. Geburtstag. Seine Gesundheit war ja nie besonders gut gewesen.15 Möglicherweise litt er an der Schwindsucht (Ende von 1,17), außerdem hatte ihm die Seuche, die das ganze Land erfasste, zu schaffen gemacht. Als Marcus starb, hatten die Römer die Oberhand über die rebellischen Stämme erlangt. Eine der ersten Amtshandlungen von Kaiser Commodus war es, den Feldzug zu einem friedlichen Ende zu bringen. Die Vereinbarung legte die Donau als verbindliche Grenze fest, was vermutlich nicht im Einklang mit Marcus’ Wünschen war. Dieser hatte eine Reihe von zeitweiligen Heerlagern auf dem anderen Donauufer errichten lassen, vermutlich in der Absicht, die Reichsgrenzen entsprechend zu verschieben. So wie er es im Osten beabsichtigt hatte, bevor die Seuche ihn vertrieb.16 Ohnehin wäre Marcus mit Commodus’ Taten als Herrscher kaum einverstanden gewesen.17 Er scheint tatsächlich der unangenehme Charakter gewesen zu sein, als den der Film Gladiator aus dem Jahr 2000 ihn zeichnet.18 Seine Herrschaft endete im Jahr 192 mit seiner Ermordung.
Das Buch, das Sie hier in Händen halten, ist einzigartig: Es gibt kein vergleichbares in Altgriechisch oder in irgendeiner anderen Sprache. Das soll nun nicht heißen, dass es nicht von anderen literarischen Strömungen inspiriert gewesen wäre. Es gibt gerade in der griechischen Literatur Vorläufer dieser Art Monolog zur moralischen Erbauung, in den auch Aphorismen und moralische Ermahnungen Eingang fanden. Keiner dieser Texte liegt jedoch in Buchform vor. Und Marcus dachte beim Schreiben sicher nicht an diese Vorläufer. Der bedeutendste Einfluss war sicher die stoische Praxis der Selbsterforschung und Ermahnung zum Besseren. Sollte irgendein anderer Stoiker ein solches Tagebuch geführt haben, so ist uns dies zumindest nicht überliefert. Das mag daran liegen, dass Marcus Kaiser war, weswegen man seine Worte für wertvoller und ungewöhnlicher hielt. Oder es wurde schlicht noch nie zuvor so akribisch Tagebuch geschrieben.
Das Buch ist auch deshalb einzigartig, weil es zutiefst persönlich ist. Bestünde es nur aus philosophischen Überlegungen, könnte man es mit Nietzsches Also sprach Zarathustra vergleichen, mit Wittgensteins Tagebücher, den Pensées von Pascal oder Khalil Gibrans Der Prophet. Kierkegaards Tagebücher kommen ihm vielleicht am nächsten: Hier sind viele Einträge genauso persönlich, nachdenklich und sich selbst ermahnend wie bei Marcus Aurelius. Für Marcus war die Philosophie ein Weg der Selbstverbesserung. Was ihn dabei in der Hauptsache interessiert, ist der Effekt, den sie auf ihn hat. Das Buch dreht sich um die göttliche Ordnung der Welt und die Rolle, die der Mensch darin zu spielen hat, im Besonderen Marcus selbst. Er spricht von sich manchmal in der ersten Person, meist aber in der zweiten. Das »Du«, das er ermahnt und berät, ist immer er selbst. 300 von 488 Einträgen beziehen sich direkt oder indirekt in dieser Weise auf ihn, und im Rest geht es um allgemeine Prinzipien oder Lebensregeln, immer noch ausschließlich für seine Person. Er schreibt nicht anderen Menschen vor, was sie tun oder wie sie leben sollen. Er schreibt auch kein Philosophiebuch. Tatsächlich finden wir immer wieder Indizien, dass diese Texte nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, vor allem dort, wo er sich auf Menschen und Ereignisse bezieht, die nur er allein kennen konnte. Sein Ziel war nicht die Kommunikation. Und da er selbst sein einziges Publikum war, musste er seine Sätze nicht verschleiern. Dieses Buch ist zutiefst aufrichtig.
Sehen wir einmal vom ersten Notizbuch ab, das von ganz eigener Art ist,19 so enthalten die Selbstbetrachtungen keine Hinweise auf datierbare Ereignisse, keine Anspielungen auf seine Erfahrungen (ausgenommen vielleicht in 10,10), keine Erwähnung von Szenen oder Orten oder privaten Erlebnissen, die ihm wichtig waren. Die Dinge dieser Welt finden nur nebenbei Erwähnung, und dies meist voller Verachtung. Das Buch konzentriert sich fast ausschließlich auf sein Innenleben, und das verleiht ihm eine unglaubliche Intensität.
Deutet die Tatsache, dass Marcus die Selbstbetrachtungen auf Griechisch verfasst hat, wo seine Muttersprache doch das Lateinische war, etwa darauf hin, dass es doch zur Veröffentlichung gedacht war? Als gebildeter Römer war er ohnehin mehr oder weniger zweisprachig. Aber man möchte doch annehmen, dass Marcus seine Muttersprache verwendet hätte, wenn er zu sich selbst sprach. Warum also entschied er sich für das Griechische, um seinen Gedanken schriftlich Ausdruck zu verleihen? Nun, diese Wahl ist weniger rätselhaft, als sie uns heute scheinen mag: Das Griechische war nun mal die Sprache der Philosophie, und der Stoizismus verwendete eine Reihe von Begriffen, die nur schlecht ins Lateinische zu übertragen waren. Nur wenige Philosophen schrieben damals auf Latein. Einer von Marcus’ großen Vorgängern, der Stoiker Seneca der Jüngere (der ungefähr 100 Jahre früher schrieb), war hier die große Ausnahme. Aber die Philosophen, die Marcus am stärksten beeinflussten, waren alle griechischsprachig, von den frühen Stoikern bis zu Epiktet, dem ehemaligen Sklaven, der sich in der Generation vor Marcus zum großen Lehrer des Stoizismus aufschwang – ein einstiger Sklave, der den Kaiser von Rom beeinflusste!
Aber selbst wenn die Selbstbetrachtungen, wie wir sie kennen, nicht zur Veröffentlichung gedacht waren: Könnte Marcus nicht vorgehabt haben, sie eines Tages aufzupolieren, die unklaren Stellen zu streichen oder zu erklären und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Viele der Einträge in den einzelnen Büchern wurden als Notizen verfasst. Nicht wenige sind literarisch geschliffener. In manchen Fällen haben wir es mit flüssiger Prosa zu tun. Sind dies nicht Zeichen, dass Marcus sein Schreiben am Herzen lag? Welchen Sinn hätten diese Niederschriften, wenn er sie nicht irgendwann anderen hätte zeigen wollen?
Meiner Ansicht nach ist die Antwort auf diese Frage ein klares Nein. Marcus war ein intelligenter Mensch und ausgesprochen gebildet. Jeder, der selbst schon mal den Stift zur Hand genommen hat, weiß, dass manche Sätze einfach von selbst eine ansprechende Form finden. Und das ist meiner Ansicht nach als Erklärung ausreichend für die eleganteren Passagen dieses Buches. Außerdem ist vieles von dem, was Marcus schreibt, einfach zu freizügig: sein Kampf mit Ärger und Verbitterung, seine Attacken auf andere Menschen, vor allem auf Hofangehörige. Einmal bezeichnet er die Höflinge als »Lügner und Geizhälse« (6,47). Niemand – und schon gar nicht ein Kaiser, dessen Stellung größtenteils von der Wahrnehmung abhängt, die andere Menschen von ihm haben – hätte diese Seite seiner selbst offenbar werden lassen. Das Buch ist genau das, was es zu sein scheint: ein unglaublich privates Tagebuch, geschrieben zu dem Zweck, sich selbst zu erforschen und zu verbessern.
Eine ganze Reihe von Faktoren signalisiert, dass die Notizbücher in Marcus’ letztem Lebensjahrzehnt entstanden sind – u. a. die Überschriften des zweiten und dritten Buches sowie Marcus’ häufige Anspielungen auf seinen Tod. Genaueres lässt sich leider nicht sagen. Die Experten sind sich einig, dass die Bücher zwischen 172 und 180 entstanden sind, Letzteres ist Marcus’ Todesjahr. Man geht davon aus, dass das erste Buch zwischen 176 und 180 entstand, das zweite und dritte Buch zwischen 170 und 175. Wie auch immer: Als Marcus im Jahr 180 starb, während er auf Feldzug in Mitteleuropa war, begleiteten ihn seine Notizbücher.
Angesichts der persönlichen und privaten Natur des Werkes ist es kein kleines Rätsel, wie und wann er für andere zugänglich wurde. Denn es hätte genauso gut verloren gehen können.20 Ich denke, die Sammlung der Notizbücher ist uns als Ganzes zugekommen (obwohl Notizbücher anderer Art verloren gingen, siehe 3,14), weil der letzte Eintrag des letzten Buches einfach ein perfektes Ende ist, niedergeschrieben von jemandem, der unmittelbar vor dem Tod stand. Die Zeilen wurden vermutlich auf Pergament niedergeschrieben und in Buchform aneinandergeheftet. Jemand, der Marcus nahestand – und ihn auf seinem Feldzug begleitete –, muss die Notizbücher bei seinem Tod an sich gebracht haben, zufällig oder absichtlich, wir wissen es nicht. Und wir wissen auch nicht, was in den folgenden Jahrhunderten damit geschah. Andere Autoren erwähnen dieses Buch in den folgenden Jahrhunderten nur selten oder in unklarer Form. Es wurde gelesen und kopiert – so fügte jemand in 11,3 den Verweis auf die Christen hinzu –, doch wir können seinen Weg nicht nachzeichnen. Die erste absolut sichere Erwähnung findet sich bei Arethas von Caesarea, einem christlichen Bischof des späten 9. oder frühen 10. Jahrhunderts. Er schreibt über das Buch in einem seiner Briefe, wo er sagt, er hätte dafür gesorgt, dass die alte Version in seinem Besitz neu kopiert würde. Und dieser Auftrag hat dem Buch vermutlich neues Leben eingehaucht.
Keine der frühen Erwähnungen nennt einen richtigen Titel. Schließlich war es ja nur eine Sammlung von Notizbüchern, die Marcus für sich selbst geschrieben hatte. Er hatte keinen Grund, ihm einen Titel zu geben. Arethas schreibt von »einem ethischen Werk, das an und für sich selbst verfasst wurde«. Manche Experten empfinden dies als den richtigen Titel: An sich selbst. Denn genau das hat Marcus gemacht: Er schrieb an und für sich selbst. In der heutigen Zeit aber hat sich im deutschsprachigen Raum der Titel Selbstbetrachtungen durchgesetzt (er wurde 1879 in der Übersetzung von Albert Wittstock erstmals gebraucht). Im Englischen sind es Meditations – ein Titel, der von Meric Casaubon erfunden wurde, als er die erste englische Übersetzung im Jahr 1634 erstellte.
Manche der Gedankengänge in diesem Werk sind quasi Mini-Essays, aber meist drückt der Autor sich eher kurz und prägnant aus. Mitunter handelt es sich nur um knappe Notizen oder sogar nur Stichwörter, ungrammatisch formuliert, achtlos hingeworfen oder bis zur Unverständlichkeit verknappt. Marcus selbst wusste ja, was er meinte, für uns Nachgeborene aber ist es nicht immer leicht, die Bedeutung zu entschlüsseln.21 Manche Einträge bestehen nur aus Zitaten oder Aphorismen, die Marcus offensichtlich zu schätzen wusste. Nichtsdestotrotz ist der Schreibstil in der Regel höchst lebendig. Marcus setzte auf sprachliche Bilder: Das Leben zum Beispiel wird verglichen mit einem Spiel, einem Schlachtfeld, einer Reise, einem Strom. Die Vernunft ist für ihn Zuflucht und Festung, eine von Wellen überspülte Landzunge, ein Licht, das erleuchtet, worauf es fällt, ja, sogar eine vollkommene Kugel. Lob hingegen ist nicht mehr als »das Schnalzen von Zungen« (6,16). Was dem Text dagegen weitgehend fehlt, ist Humor. Das Leben war für Marcus eine ernste Angelegenheit. Den allgemeinen Ton kann man wohl als melancholisch bezeichnen, angesiedelt zwischen Tiefgang und Trauer. Und mitunter äußert Marcus sich gar verbittert und unverhohlen sarkastisch, was die Welt und ihre Bewohner angeht, wobei sein Ton häufig herablassend und ironisch ist (z. B. in 11,14).22
In einem Werk wie diesem, dessen Ideen ohne erkennbare Ordnung aufgeschrieben wurden, sind Wiederholungen und Widersprüche unvermeidlich. Man liest dieses Buch nicht von der ersten bis zur letzten Seite in einem Zug. Die meisten schlagen es einfach irgendwo auf, lesen ein wenig darin und denken über das Gelesene nach.23 Der Leser stößt auf Themen, die bei allen Menschen eine Saite anschlagen – die Unvermeidbarkeit des Todes oder die Frage nach Sinn und Bedeutung des eigenen Lebens auf dieser Erde. Das Buch macht deutlich, was es heißt, ein Leben nach den Prinzipien der Stoa zu führen. In seinem Nachwort zu Die Kreutzersonate schreibt Tolstoi, Ideale seien ein Licht am Ende einer langen Stange, die jeder Mensch selbst trägt: Es wird nie erreicht, geleitet uns aber durch die Finsternis. Marcus’ Selbstbetrachtungen zeigen uns einen Mann, der auf ebendiese Weise lebt.
In dem Text, der uns überliefert ist, finden wir immer wieder schnelle Themenwechsel zwischen den einzelnen Einträgen, ja mitunter sogar innerhalb eines Abschnitts. Mitunter bündeln sich gewisse Ideen, wenn Marcus sich über etwas Sorgen macht, aber im Allgemeinen wirkt die Anordnung eher zufällig. Ideen werden nur selten weiter ausgeführt, denn Marcus schrieb – wie bereits gesagt – für sich selbst und musste sich daher nicht von Dingen überzeugen, die für ihn feststanden. Aber all diese Eigenheiten, so verwirrend sie für den Leser auch sein mögen, sind ein eindeutiger Beleg dafür, dass uns die Notizbücher auf die Weise überliefert sind, wie Marcus sie hinterlassen hat. Ein Herausgeber hätte sie sicherlich besser geordnet.24
Der Wiederholungscharakter des Textes – die Art, wie Marcus immer wieder auf die gleichen grundlegenden Themen zurückkommt – hat nicht nur damit zu tun, dass Marcus’ Notizen über viele Jahre hinweg entstanden sind. Dies ist vielmehr ein wesentliches Merkmal dieser Art von Texten. Etwas aufzuschreiben ist immer eine gute Möglichkeit, um es im Bewusstsein zu behalten, und eben das tat Marcus. Ideen wieder und wieder niederzuschreiben war eine gängige Praxis im Stoizismus, weil die Inhalte sich so noch stärker verfestigten.25 Eine Übung, die Marcus von Epiktet übernommen hat: Er ermahnt sich selbst immer wieder, seine wichtigsten Grundprinzipien stets im Kopf zu haben, und zwar in möglichst knapper und einprägsamer Form, damit sie den Geist mit ihrer ganzen Kraft treffen können. Die Anmerkungen in den Selbstbetrachtungen 6,54; 7,29; 9,7 und 9,20 sind dafür ein gutes Beispiel.
Das ist es auch, was die stilistischen Eigenheiten der Selbstbetrachtungen am besten erklärt: Der Großteil der Einträge, vor allem die kurzen, sind Marcus’ Art, »seinen Geist zu färben« (5,26) mit den Ideen und Lehren, die ihm dazu verhalfen, ein besserer Mensch und besserer Herrscher zu werden. Die Einträge sind gewissermaßen Fragmente eines Dialoges zwischen Lehrer und Schüler, in dem Marcus beide Rollen übernimmt. Für ihn hatten die Notizbücher eine therapeutische Funktion: Sie sollten, wenn nötig, jene moralischen Regeln, die er als wahr akzeptiert hatte, bekräftigen und zu neuem Leben erwecken, damit er sie umso besser in die Praxis umsetzen konnte. Jeder einzelne Eintrag ist sozusagen eine Dosis dieser Medizin.
Namensgeber für Stoizismus war die bemalte Stoa in Athen – eine lange Säulenhalle auf der Agora, dem Marktplatz. Unter dieser traf sich gegen Ende des 4. und zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. der Begründer der Schule – Zenon von Kition (das heutige Larnaka in Zypern) – mit seinen Schülern, um philosophische Gespräche zu führen.
Einige Jahrhunderte später, gegen Ende der römischen Republik und zu Beginn des Kaiserreiches, übernahmen Angehörige der gebildeten Herrscherklasse in Rom deren Gedankengut. Viele zogen zwar die rivalisierende Schule der Epikureer vor, aber die Strenge der stoischen Moral sprach das stark militaristische Ethos der Römer an. Darüber hinaus ermutigte die Stoa einen Mann zu einer öffentlichen Laufbahn, was man von den Römern der Oberschicht auch erwartete. Ein Stoiker hatte vor allem eine Pflicht sich selbst gegenüber, sich zu einem tugendhaften Menschen fortzubilden. Ein Aspekt der Tugend war, anderen Gutes zu tun – was sich gut mit einem öffentlichen Amt vertrug.26
Das war sicher ein Grund, weshalb Marcus sich von der Stoa angezogen fühlte. So konnte er seine beiden Hauptziele vereinen: ein guter Mensch zu werden und ein guter Kaiser. Allerdings fühlte er sich nicht von diesem Gedankengut angezogen, weil er Kaiser war. Ebenso wenig wie Epiktet sich der Stoa zuwandte, weil er Sklave war. In beiden Fällen kommen wir der Wahrheit näher, wenn wir davon ausgehen, dass die beiden trotz ihres jeweiligen Status zum Stoizismus fanden. Der Stoizismus hatte einfach das Potenzial, ihre wichtigsten persönlichen Fragen zu beantworten. Für diese beiden Männer war die Stoa, was für andere das Christentum, der tibetische Buddhismus, der Humanismus oder was auch immer war bzw. ist. Sklaven und Kaiser sind gleich, wenn sie die Rollen annehmen können, die das Schicksal ihnen zugedacht hat, und in ihrer jeweiligen Rolle ihr Bestes tun, vor allem für ihre Mitmenschen.
Doch zu Marcus’ Zeit existierten eigentlich keine stoischen Schulen mehr – es gab keinen Lehrer, der einer solchen Schule vorgestanden wäre, und keine Stadt, in der man den Stoizismus hätte studieren können. Seine stoische Ausbildung war also mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Seine Hingabe an stoische Prinzipien ist unübersehbar, aber letztlich war Marcus als Philosoph ein Amateur.27 In seiner Jugend wurde er durch Rusticus und andere (1,6 bis 1,9) in diese Denkweise eingeführt, aber nachdem seine formelle Erziehung abgeschlossen war, musste er sich auf die Lektüre28 verlassen, obwohl er durchaus Gelegenheit hatte, hin und wieder Vorlesungen29 zu hören. So musste er sich immer wieder selbst versichern, ob er noch auf dem richtigen Weg war. Wie gesagt: Die Gewohnheit der Selbsterforschung und Selbstermahnung erklärt die Natur vieler Einträge in den Selbstbetrachtungen.
Obwohl die Schule der Stoa sich nicht in allen Fragen einig war, gab es doch einen klar erkennbaren gemeinsamen Kern, sodass man von orthodoxen und heterodoxen Gedanken sprechen kann. Marcus war im Wesentlichen ein orthodoxer Stoiker,30 und es wäre unmöglich für uns, ihn und seinen Ausgangspunkt zu verstehen ohne einige grundlegende Kenntnisse über den Stoizismus.31 Damit soll aber nicht gesagt werden, dass der Leser aus Marcus’ Buch nur Nutzen ziehen kann, wenn er im Stoizismus gut bewandert ist, denn Marcus behandelt allgemeine Lebensfragen, die jeden Leser ansprechen. Doch Marcus’ Denken und sein geistiger Hintergrund sind im Wesentlichen stoisch geprägt. Die Lehren der Stoa sind im Buch auf jeder Seite ganz selbstverständlich präsent. Man geht mitunter davon aus, dass Marcus die platonische Zweiteilung in Körper und Geist akzeptierte (z. B. in 3,6; 3,17; 5,16; 6,32; 10,1 und 11,3), aber auch das ist letztlich durch und durch stoisch. Für die Stoiker sind Luft und Feuer, die Bausteine der Seele, aktive Elemente, während Wasser und Erde, die Bausteine des Körpers, passiv sind. Die platonische Unterscheidung setzt auf den Unterschied von körperlicher Materie und immaterieller Seele auf. Doch soweit wir dies erkennen können, ist für Marcus die Seele niemals immateriell.
Die Stoiker teilten die Philosophie in drei Hauptgebiete ein: Logik, Physik und Ethik. In der Logik geht es um die Regeln korrekter Argumentation, aber auch um Grammatik, Linguistik, theoretische Rhetorik, Epistemologie und all jene Werkzeuge, die gebraucht werden, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Physik beschäftigt sich mit der Natur der Welt und den Gesetzen, die sie lenken. Daher gehören Ontologie und Theologie ebenso hierher wie das, was wir als Physik, Astronomie und Kosmologie bezeichnen. Die Ethik fragt danach, wie wir Glück erlangen oder als Menschen ein erfülltes Leben führen können. Von einem stoischen Weisen erwartete man, dass er in allen drei Bereichen vollkommen war.
Für manche Stoiker waren diese drei Disziplinen gleichrangig, während andere zwar ihre Wechselbeziehung bejahten, aber Logik und Physik als der Ethik untergeordnet betrachteten. Und sie fanden dafür einprägsame Bilder.32 Wenn die Logik die Mauer ist und die Physik der Acker, den diese schützt, dann ist die Ethik die Frucht, die sich darauf ernten lässt. Oder wenn die Logik das Skelett ist, die Physik das Fleisch und Blut, dann ist die Ethik die Seele. Es ist klar, dass Marcus zur zweiten Gruppe gehört. Er gesteht, dass er in Logik und Physik kein Experte ist (Ende von 1,17 und 8,1).33 Doch er betrachtet dies nicht als Hinderungsgrund, um ein guter Mensch zu sein (7,67). Der ganze Ton der Selbstbetrachtungen ist ein ethischer, weil es darin um Marcus’ Streben nach Tugend geht.
Ganz sicher waren Marcus bestimmte Aspekte der Physik und Logik bekannt, zumindest so weit, um seiner Ethik ein eindeutig stoisches Fundament bzw. Format zu verleihen.34 Aber es ist ebenso klar, dass er sich nicht weiter dafür interessierte. Ihm ging es eher darum, inwieweit sie auf die tägliche Praxis der Selbstverbesserung Einfluss hatten. So finden sich in den Selbstbetrachtungen keine ausführlicheren Diskussionen logischer oder physikalischer Phänomene, wohingegen ethische Probleme durchaus genauer untersucht werden. So können Sie beispielsweise an die Vollkommenheit des Universums glauben und an die Bedeutung, die dieser Glaube für Sie persönlich hat, ohne zu wissen, wie es genau entstanden ist. Sie vertrauen einfach den größeren Geistern, die Ihnen diese Vorstellung vermittelt haben. In 10,16 spottet Marcus sogar über das ethische Philosophieren. Und in den Notizbüchern finden sich auch keine ausführlichen Diskussionen der stoischen Moralphilosophie, obwohl diese Marcus’ Interessen sicher näherstand.
Ein weiteres Kennzeichen jener Art von Philosophie, die Marcus ansprach, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Philosophie in der Antike war etwas ganz anderes als in der heutigen Zeit. Heute wird die Philosophie in Klassenzimmern und Seminaren gelehrt. Sie wird durch das geschriebene Wort vermittelt und besteht hauptsächlich darin, abstrakte Ideen und Argumente zu analysieren. Die Philosophie der Antike – und vor allem Marcus’ Stoizismus – beschäftigte sich aber in erster Linie mit der Bewältigung des Alltags. Sie sollte niedere Triebe beseitigen und uns zu besseren Menschen machen. Das Ideal bestand darin, diese Kunst zu meistern und ein stoischer Weiser zu werden.35 Diese praxisorientierte, therapeutische Stoßrichtung sprach Marcus besonders an.36 Er beschreibt die Philosophie als gute Begleiterin und sicherer Hafen (2,17 und 4,3), als Arznei und Quelle persönlicher Erleichterung (3,13; 5,9 und 6,12).
In den Jahrhunderten vor Marcus’ Zeit hatte die Philosophie zwei verschiedene Richtungen gekannt. Die hohe Philosophie, wie man das nennen könnte, war die unpersönliche Präsentation häufig sehr subtiler Ideen und Argumente. Die Gedanken einiger Stoiker zur Epistemologie und Logik sind so komplex wie die hohe Philosophie jedes Zeitalters. Die niedere Philosophie hingegen stellt den Versuch dar, die Philosophie praxisorientiert zu gestalten, sodass sie auch Normalsterblichen zugänglich war. Berufsphilosophen präsentierten sich der Öffentlichkeit meist als arme oder zumindest genügsame Menschen, um so den Erfolg ihrer Lehren zu unterstreichen: Sie hatten die oberflächlichen Werte dieser Welt hinter sich gelassen und konnten andere lehren, es ihnen gleichzutun. Sie wünschten sich Schüler, die in gewisser Weise mit der Welt im Konflikt lagen.37 Wenn man von Marcus’ häufigen Klagen über die Welt und die Menschen seiner Umgebung ausgeht, war er dafür ein perfekter Kandidat.
Marcus fühlte sich vom Stoizismus angezogen wegen seiner Nüchternheit (1,6) und wegen der Eigenschaften all jener, die sich zu Stoikern erklärten (1,6 bis 1,9). Ein Aspekt des Stoizismus, auf den er immer wieder zurückkommt, vor allem dort, wo er ihn mit den Epikureern vergleicht, ist dessen Bild vom geordneten Universum. Hier hat nicht nur jeder seinen Platz in der hierarchischen Ordnung der Dinge, sondern die ganze Welt wurde von einer gütigen Gottheit geschaffen und wird erhalten durch die fürsorgliche Vorsehung ebenjener Gottheit.
Alle Erfahrungen, die ein Mensch macht, sind speziell für ihn bestimmt. Was heißt, dass die Welt Sinn hat. Die Epikureer hingegen sahen die Welt als zufällig zusammengewürfeltes Sammelsurium von Atomen und unteilbaren Materiehaufen. Sie leugneten die Existenz von Göttern, so sie nicht bloß spezielle Atomhaufen waren, die sich weder für die Menschen noch für irgendeinen Aspekt der Welt interessierten. Und sie leugneten, dass es in der Natur des Menschen liegt, sich um andere zu kümmern.
Obwohl die Stoa und die Epikureer vieles gemeinsam hatten – ihren kompromisslosen Materialismus, die Dominanz der Vernunft in der menschlichen Seele, das Streben nach innerer Ruhe –, war für Marcus klar, dass die Epikureer auf diesem Fundament das falsche Gebäude errichtet hatten. Er zog die stoische Enthaltsamkeit und Selbstdisziplin der epikureischen Vorstellung vor, dass das Gute im Menschen eine Form der Lebensfreude sei. Die von der Stoa proklamierten Tugenden schienen ihm den traditionellen römischen Werten näher. Er sah keinen Sinn darin, in einer Welt ohne Götter zu leben. Und wo die Epikureer glaubten, geistiger Friede könne nur entstehen, wenn man sich von der Welt zurückziehe, sahen die Stoiker ihn im richtigen Umgang mit der Welt begründet. Vor allem in der Erkenntnis, dass alle Gedanken und Gefühle, die die innere Ruhe stören, vom eigenen Geist geschaffen werden und daher auch von ihm aufgelöst werden könnten.
Marcus beginnt Buch 2 der Selbstbetrachtungen, mit dem der Text erst eigentlich seinen Anfang nimmt, mit einem grundlegenden Lehrsatz der Stoa: Das einzig Gute ist moralische Tugend, und das einzig Schlechte besteht im moralischen Laster oder in der Unvollkommenheit.38 Alles andere fällt unter die Kategorie des Gleichgültigen. Der Versuch, diese indifferenten Dinge als gut oder böse zu beschreiben, erübrigt sich. Das ist ein ziemlich radikaler Gedanke, denn er beschuldigt nahezu ohne Ausnahme einen jeden von uns wie auch unsere Gesetze und Institutionen, in der Einschätzung von Gut und Böse falschzuliegen.
Trotzdem lassen sich viele dieser »gleichgültigen Dinge«, auch wenn man sie nicht direkt als gut oder böse bezeichnen kann, auf einer Wertskala verorten.39 Ihr moralischer Wert hängt davon ab, ob sie einem Strebenden den Weg zur Tugend ebnen. Das Nachdenken über den Wert der Dinge erlaubt uns also, in der unendlichen Klasse solcher Gleichgültigkeiten Unterschiede zu machen und herauszufinden, welche vorzuziehen oder abzulehnen sind. Ein Beispiel: Gesundheit ist an sich weder gut noch schlecht, da sie weder tugendhaft noch untugendhaft ist. Trotzdem ist die Gesundheit der Krankheit vorzuziehen, da die Krankheit dem Menschen den Pfad zur Tugend versperren kann.40
An sich gleichgültige Dinge, die vorzuziehen sind und mit denen wir angemessenen Umgang pflegen können, stehen im Einklang mit unserer Natur: Es ist absolut normal, Gesundheit der Krankheit vorzuziehen, einen gewissen Wohlstand der Armut und so weiter. Warum aber kann man sie dann nicht einfach als gut bezeichnen? Hauptsächlich, weil sie nicht verlässlich gut sind. Sie können auch missbraucht werden und sind daher nicht immer gut für uns. Ein anderer, subtilerer Grund ist, dass wir Dinge wollen sollen, die gut sind, nicht aber gleichgültige Dinge, auch wenn wir uns für sie »entscheiden« können. Das zieht einen weiteren Gedanken nach sich: Wenn wir etwas wollen, empfinden wir Freude, wenn wir es bekommen. Andererseits sollen wir Freude an sich vermeiden und sie ist auf jeden Fall eine unangemessene Reaktion auf etwas Gleichgültiges. Freude ist an sich indifferent. Wenn wir an etwas Vergnügen finden, das nicht an sich gut ist, dann verstärkt dies nur unsere Anhaftung an die Dinge dieser Welt. Natürlich ist tugendhaftes Handeln in gewisser Weise auch freudvoll, wie die Stoiker anerkennen, doch sollten wir uns dabei einzig auf den tugendhaften Akt konzentrieren und nicht auf die mit ihm auftretende nebensächliche Freude.
Im Anschluss an Sokrates gingen auch die Stoiker davon aus, dass Tugend Wissen sei.41 Sie kannten vier grundlegende Tugenden – vernunftbetonte Weisheit, Mut, Mäßigung und Gerechtigkeit. Jede dieser vier Tugenden war in ihren Augen eine Form des Wissens. Weisheit ist das Wissen um Gut und Böse. Mut ist das Wissen darum, was man fürchten sollte und was nicht. Mäßigung ist das Wissen, wonach wir streben sollten und was wir besser vermeiden. Gerechtigkeit ist das Wissen darum, was wir anderen zuteilen sollen und was nicht.42 Tugend ist zum einen das Ziel, zum anderen das vernunftgeleitete Wissen. Und Vernunft ist die einzige grundlegend menschliche Qualität, die wir mit keinem anderen Geschöpf teilen, sondern nur mit den Göttern.43 Ein vernunftbegabter, tugendhafter Mensch ist einer, der sein Potenzial als Mensch erfüllt hat. Und diese Erfüllung ist die unabdingbare Voraussetzung für das Glück, das, wie alle philosophischen Schulen übereinstimmend erklären, das Ziel des Lebens ist.44 Fortschritt heißt für einen Stoiker nicht, dass er neue Fähigkeiten oder Einflussmöglichkeiten erwirbt, sondern dass er lernt, seiner Vernunft vollkommen zu vertrauen.
Da Tugend Wissen ist und Vernunft eine grundlegend menschliche Fähigkeit, lenkt uns irrationales Verhalten automatisch vom Weg der Tugend ab. Da wir in jeder Minute des Lebens mit unzähligen gleichgültigen Dingen konfrontiert sind, sollten wir unsere Vernunft gebrauchen, um unter ihnen eine Auswahl zu treffen, um zu erkennen, welchen der Vorzug zu geben und welche auszusortieren sind. Epiktet verglich dies mit einem Brettspiel: »Die Steine sind gleichgültig, die Würfel sind gleichgültig. Woher kann ich wissen, was fallen wird? Aber von dem, was fällt, einen sorgfältigen und spielgemäßen Gebrauch zu machen, das ist schon meine Aufgabe.«45
Wenn Tugend Wissen ist, so folgt daraus, dass untugendhaftes Verhalten Resultat von Unwissenheit ist. Dies ist die gängige Argumentation, und Marcus greift auf dieses Argument auch oft zurück (4,8; 5,19; 7,22; 7,62; 7,64; 8, 14; 8,55; 9,4 und 12,12). Alle Menschen wollen, was gut für sie ist. Die Stoiker gehen davon aus, dass sich dieses Begehren sofort nach der Geburt zeigt und ein grundlegend menschlicher Impuls ist, den wir allerdings mit den Tieren teilen. Selbst Menschen, die sich untugendhaft verhalten, denken, dass ihr Tun gut für sie ist. Damit liegen sie allerdings objektiv falsch, weil das, was sie tun, ihnen als Menschen keine Erfüllung schenkt (d. h. sie glücklich macht). Sie verleugnen ihr Potenzial, weil sie etwas Falsches glauben. Da alles Handeln von Überzeugungen abhängt, ist es lebenswichtig, die eigenen Anschauungen zu läutern. Daher zur Wiederholung: Genau dies tut Marcus, wenn er in den Selbstbetrachtungen grundlegende stoische Lehrsätze durch Wiederholen verfestigt.
Den Stoikern zufolge ist Vernunft der Funke oder Splitter der Göttlichkeit in uns.46 Nicht nur, dass die Götter ebenfalls rationale Wesen sind, tatsächlich ist die Vernunft der Gott, der das ganze Universum lenkt. Die Stoiker folgen auch hierin Sokrates und entwickeln ein Argument, das auf einen absichtsvollen Plan hinausläuft: Die Ordnung des Universums sowie die Tatsache, dass es in vielerlei Hinsicht für die Menschheit eingerichtet zu sein scheint, zeigen, dass es von einer kosmischen Vernunft geschaffen und erhalten wird. Wie Marcus des Öfteren anführt (z. B. in 5,16; 5,30 und 7,55),47 ist die Welt hierarchisch strukturiert: von den unbelebten Dingen wie Steinen über die Pflanzen und die Tiere hin zu den Menschen als rationale Wesen. Alle niederen Ränge sind dazu da, den höheren zu dienen. Wenn die Welt aber einem derartigen Programm folgt, dann muss es auch einen Programmierer geben.
Es war stoischer Usus, den Marcus in den gesamten Selbstbetrachtungen beibehält (in 1,9; 1,17; 2,9; 3,4; 7,56; 9,1; 10,15; 12,1), das Ziel des Lebens in einem »Dasein im Einklang mit der Natur« zu sehen.48 Dabei ist der letzte Begriff zweideutig, denn mit »Natur« kann sowohl die Natur als Ganzes wie auch die Natur des Menschen gemeint sein, weil beides auf dasselbe hinausläuft (5,3). Da die universelle Natur rational ist und das Herzstück des Menschen ebenfalls die Ratio ist, heißt Leben im Einklang mit der eigenen Natur gleichzeitig Leben im Einklang mit der Natur im Allgemeinen. Korrekt beobachtet und verstanden geben die allgemeine und die eigene Natur die Trittsteine vor, auf denen wir uns auf Tugend und Glück hinbewegen können.
Ob eine Handlung tugendhaft ist, entscheidet sich daran, ob sie in Einklang mit der Natur steht. Alle Handlungen, die sich auf uns selbst beziehen, wie der Selbsterhaltungstrieb, sind den Stoikern zufolge moralisch, wenn sie im Einklang mit der Natur geschehen. Aber es liegt auch in unserer Natur, für andere Menschen zu sorgen: Auf der allerursprünglichsten Ebene ist dies zum Beispiel die Art, wie eine Mutter sich um ihre Kinder kümmert. Der traditionelle Stoizismus betont die Eigenständigkeit und das unabhängige moralische Urteil des Einzelnen. Das gilt auch für Marcus (der in 4,29 Abhängigkeit ganz klar als Bettelei betrachtet). Doch die römischen Stoiker und Marcus als Kaiser ganz besonders legten Wert darauf, dass der Mensch ein soziales Wesen ist (7,55 und 8,12), dass wir alle miteinander verwandt sind (3,4; 3,11; 7,13; 7,22 und 9,22) und dass es nur natürlich und förderlich für uns ist, anderen Menschen Gutes zu tun und einander zu dienen (5,16 und 7,55). Daher bringt Marcus immer wieder Tugenden zur Sprache, die anderen zugutekommen, wie Güte, Nachsicht und Mildtätigkeit.
Alle Tugenden entspringen natürlichen menschlichen Neigungen. Wir sind grundlegend gut. Warum aber gibt es dann so viele schlechte Menschen auf der Welt? Den Stoikern zufolge liegt dies an ihrer Erziehung: Sie sind nie dem kindischen Denkfehler entwachsen, alles, was ihnen widerfährt, unter »Lust« oder »Schmerz« einzuordnen. Und so ist ihr einziges Lebensziel, Freude zu suchen und Schmerz zu vermeiden. Obwohl es ein ganz natürlicher menschlicher Trieb ist, das zu wollen, was für uns selbst gut ist, denken die meisten fälschlicherweise, das Gute bestünde einzig im Lustempfinden. Und das verleitet sie zu untugendhaftem Verhalten. Sie gehen also von falschen Annahmen aus.
Die Stoiker waren Deterministen, und wie Marcus’ häufige Verweise auf die Vorsehung und das Schicksal verdeutlichen, war er in dieser Hinsicht orthodox. Der rationale Geist Gottes, die Natur oder die Vernunft (Begriffe, die durchweg dasselbe bezeichnen) verfolgen einen Plan für das Universum und setzen ihn um. Ein tugendhafter Mensch – jeder noch so kleine tugendhafte Akt – trägt dazu bei, diesen Plan zu verwirklichen. Alles, was geschieht, weist unzählige kausale Verknüpfungen auf (die »tausend Abwandlungen des Warum«, 5,23), von denen eine jeweils die nächste anstößt (4,10; 5,8; 9,1; 9,29; 10,5). Natürlich stößt ein solcher Determinismus auf Kritik. Welchen Raum lässt er uns denn für freies Handeln? Wieso sollten wir versuchen, rational und moralisch zu handeln, wenn wir ohnehin keinen freien Willen haben? In dem eben erwähnten kurzen Zitat aus den Unterredungen des Epiktet geht es um die aktive, sinnvolle Gestaltung unseres Lebens. Aber welchen Sinn sollte das haben, wenn unser ganzes Leben schon vorbestimmt ist? Fördert der Determinismus nicht die Faulheit, wenn doch nichts, was wir tun, einen Unterschied macht?
Die Stoiker haben auf diesen Einwand eine recht gute Antwort gefunden.49 Sie gehen davon aus, dass zwar alles, was ist, aus Ursachen hervorgegangen ist, diese Ursachen die Folgen jedoch nicht notwendig bedingen. So besitzt ein Zylinder die Eigenschaft, den Berg hinunterzurollen. Jemand kann ihn anstoßen und zum Rollen bringen, doch dieser Jemand hat dem Zylinder nicht die Fähigkeit zum Rollen gegeben. Diese ist einfach ein Merkmal dessen, was es heißt, ein Zylinder zu sein. Wenn sich also bei uns ein Eindruck einstellt (eine Sinneswahrnehmung oder ein im Innenleben entstehender Gedanke), wird er eine Spur hinterlassen. Doch wir müssen dem Eindruck ja nicht auf eine Weise zustimmen, die zu einer Handlung führt. Der Anblick einer schönen Frau löst bei einem Mann, der keine Selbstkontrolle hat, Lust aus. Ihre Schönheit ist die vorhergehende Ursache, aber über seine Reaktion bestimmt er letztlich selbst, weil sie Teil seiner Verfasstheit ist, nicht Teil der vorhergehenden Ursache.
Tatsächlich gibt es zwei Arten von Ursachen, äußere und innere. Die äußere Ursache ist die Person, die den Zylinder anstößt. Die innere Ursache ist die Natur des Zylinders.50 Die äußere Ursache ist der Eindruck, der sich bei mir einstellt. Die innere Ursache ist meine individuelle Natur, mein Charakter, und die Art, wie ich mein Vermögen der Zustimmung einsetze. Obwohl das, was uns widerfährt, durch und durch vorbestimmt ist, gilt dies nicht für unsere Reaktion darauf. Sie ist das, »was in unserer Macht steht« (5,5; 5,33; 6,32; 6,41; 7,2; 7,54; 8,17; 8,34; 9,40; 10,32; 11,37; 12,22). Alle Dinge, die unsere Aufgabe sind, in unserer Macht stehen oder unserem Willen unterworfen sind, bilden das weite Feld von Moral und Schuld. Eine wichtige Konsequenz der Zylinder-Analogie ist, dass sich unsere Art zu reagieren verändert, wenn sich unser Charakter verändert: Der Ursprung der Tugend liegt also in uns.
Ich habe hier mehrfach den Begriff »Zustimmung« gebraucht. Im Stoizismus ist dies ein Schlüsselbegriff und Marcus verwendet ihn mehrfach (3,9; 5,10; 7,55; 8,7 und 11,37).51 Wenn ein reifer, rationaler Mensch einen Sinneseindruck empfängt, wird dieser vom »leitenden Prinzip« geprüft – ein stoischer Begriff für die Fähigkeit zur Vernunft, die Eindrücke verarbeitet und das Handeln einleitet.52 Der Sinneseindruck enthält vorgeblich Informationen über die Welt und hat die Gestalt einer Aussage wie: »Eine Katze sitzt auf der Küchenanrichte.« Das leitende Prinzip hat nun die Wahl, ob es zustimmt oder nicht. Es könnte beispielsweise die Zustimmung zu der Aussage verweigern, wenn es merkt, dass das, was auf den ersten Blick eine Katze zu sein schien, in Wirklichkeit ein zusammengeknülltes Handtuch ist. Zustimmung löst einen Impuls zum Handeln aus.53 Dass wir die Katze aus der Küche scheuchen. Daraus wird auch unmittelbar deutlich, dass die Zustimmung für die Moral zentral ist: Rationales, tugendhaftes Verhalten entsteht aus der Zustimmung zu Eindrücken, die den Wert vom Ausgangspunkt des Eindrucks korrekt einschätzen. Jede der Tugenden ist ein Seelenzustand, der, da er materiell (wenn auch aus subtilerer Materie bestehend) ist, den Körper zum Handeln anregen kann. Tugendhaftes Verhalten findet dann statt, wenn die Seele korrekten Aussagen zustimmt, was zu Impulsen führt, die in der realen Welt eine Handlung auslösen.
Die Stoiker waren damals wie heute bekannt dafür, dass ihr Ideal der Zustand der apathēia war, der vollkommenen Freiheit von Leidenschaften (1,9; 6,16 und 11,18).54 Wir benutzen den Begriff »stoisch« ja heute noch für eine rationale Ruhe im Angesicht einer Situation, die normalerweise eine emotionale Reaktion auslösen würde.55 Leidenschaften sind eine Form von Impulsen, die wir kontrollieren sollten. Wir sollten uns von ihnen nicht fortreißen lassen. Aus stoischer Sicht ist das Problem bei Leidenschaften, der stärksten Form des Impulses, dass sie nicht nur die kühlen Vorgänge der Ratio stören56 und uns so vom Pfad der Tugend abbringen (siehe 2,5; 2,13; 3,4; 8,48 und 12,19). Sie sind vielmehr falsche Überzeugungen vom Wert dessen, wonach die Leidenschaft strebt, oder gehen mit dieser einher. Sie sind eine Form überhasteter Zustimmung zu einer falschen Überzeugung.57 Kurz gesagt sind Leidenschaften Werturteile, die Dingen Bedeutung beimessen, die gleichgültig (11,37) sind. Daher lehnt Marcus Leidenschaften im Allgemeinen ab (z. B. 12,19), aber auch ganz bestimmte Leidenschaften wie Angst, Wut und sexuelles Verlangen.
Wenn Sie vor etwas Angst haben, dann glauben Sie, dass es Ihnen schaden wird, doch da es weder Tugend noch Laster ist, ist es weder gut noch schlecht.58 Selbst der Tod Ihres Kindes gehört zu den gleichgültigen Dingen und sollte so behandelt werden (9,40). Ihr Kind ist ein Geschenk des Universums an Sie (12,26). Es gehört Ihnen also nie wirklich. Sein Tod wurde vom Universum beschlossen, und das Universum ist grundlegend gut. Die genannten Ideen dergestalt zu ersetzen hilft, der Neigung zur Leidenschaft entgegenzuwirken. Ein Stoiker ist sich, wenn er oder sie nicht gerade ein vollkommener Weiser ist, der Leidenschaft bewusst und der Art und Weise, wie sie sich sprachlich zum Urteil formt. (»Der Tod meines Kindes wird mich erschüttern.«) Doch er verweigert Letzterem die Zustimmung und ersetzt sie durch ein rationaleres Urteil.59 So zumindest scheint Marcus diese Lehre verstanden zu haben, denn in 1,9 lobt er einen seiner Lehrer nicht, weil er niemals Leidenschaft empfand, sondern weil er sie nie erkennen ließ.
Bestimmte Gefühle allerdings wurden akzeptiert. Die Vorstellung, dass etwas Gleichgültiges gut oder schlecht sei, ist falsch. Ein Weiser, der keine falschen Überzeugungen hegt, sondern nur Wissen besitzt, empfindet keine Leidenschaft. Die drei »guten Gefühle« (eupatheiai) allerdings verspürt auch er: den Willen (das rationale Streben nach etwas), die Zurückhaltung (das rationale Vermeiden von etwas) und die Freude (rationales Glücksgefühl).60 Jedes dieser drei Gefühle hat seine Unterarten, die ebenfalls akzeptiert waren: Güte/Wohlwollen galten, was Marcus immer wieder betont, als Form des Willens, wie auch die Freundlichkeit. Bescheidenheit und Ehrerbietung waren Formen der Zurückhaltung, wohingegen Humor und Heiterkeit als Arten der Freude betrachtet wurden. Ein leidenschaftsloser Mensch im stoischen Sinne ist kein gefühlloser Zombie, sondern ein Mensch, der sich von distanzierter Vernunft leiten lässt und nur gesunde Leidenschaften kennt.
Was machte nun Marcus aus all diesen Ideen? Wie gesagt verfasste er kein Handbuch des Stoizismus. Keine der Ideen, die ich im vorherigen Abschnitt erläutert habe, wird in den Selbstbetrachtungen