Mary's Hope: Wo das Glück beginnt - Rosmarie Schärer - E-Book

Mary's Hope: Wo das Glück beginnt E-Book

Rosmarie Schärer

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Beschreibung

Angela Thompson führt seit dem frühen Tod ihres Mannes mit viel Liebe das kleine Hotel Mary's Hope. Hier treffen verschiedenste Menschen aufeinander: zum Beispiel der Hotelmanager David Ross, der Buchautor Jonathan Collins oder die junge alleinerziehende Mutter Annabelle Wilson. Durch einen schlimmen Zwischenfall wird Angela schmerzhaft mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und muss sich ihr endlich stellen. Aber auch das Leben ihrer Gäste verläuft nicht ohne Komplikationen. Während die Gäste im Auf und Ab des Alltags versuchen, ihren Weg zu gehen, sich finden und trennen, behält Professor Powell, der Dauergast in Mary's Hope, den Überblick.

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Rosmarie Schärer studierte katholische Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. und arbeitete mehrere Jahre in der Seelsorge. Nach einer zusätzlichen Ausbildung zur Journalistin arbeitet sie als Fachredaktorin.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

1

»So ein Mist!« Wütend knallte David Ross die Motorhaube zu und trat gegen den Reifen des weißen Vauxhall Corsa. Das durfte doch nicht wahr sein. Er drehte sich um und schrie seinen Ärger und Frust in Richtung des nahen Waldes. Jetzt fühlte er sich zwar besser, an seiner Situation hatte sich aber nichts geändert.

Der Tag hatte unter keinem guten Stern gestanden. Bereits am Morgen war er wegen des Verkehrs in London zu spät zu einer geschäftlichen Besprechung gekommen. Mr. Morgan hatte die Verspätung zwar kommentarlos hingenommen, doch irgendwie war das Gespräch von Anfang an zäh verlaufen und hatte nicht zum erwarteten Vertragsabschluss geführt. Im Büro hatte ihm dann einer der neuen Assistenten versehentlich Kaffee über das Hemd geschüttet. Zum Glück war dieser nicht mehr heiß genug gewesen, um ihn zu verbrühen, doch dunkel genug, um einen großen braunen Fleck auf seinem blauen Hemd zu hinterlassen. An der Sitzung am Nachmittag in Reading hatte niemand der Teilnehmer etwas Brauchbares beigesteuert. Wieder sinnlos verschwendete Zeit. Danach war er völlig verschwitzt gewesen, da der Saal durch die großen Panoramafenster übermäßig aufgeheizt war und er wegen des Kaffeeflecks die ganze Zeit sein Jackett anbehalten musste. Er hatte einen Koffer mit Kleidern im Auto, doch zwischen den Besprechungen und Autofahrt keine Zeit gefunden, das Hemd zu wechseln. Entsprechend genervt war er anschließend in sein Auto gestiegen, nur um festzustellen, dass die Batterie den Geist aufgegeben hatte. Er hatte nicht warten wollen, bis die Batterie ausgewechselt worden war und auf einem Ersatzauto bestanden. Dass er seinen Koffer in seinem Auto vergessen hatte, realisierte er erst kurz vor Oxford. Und dass er anscheinend sein Smartphone in der Autobahnraststätte hatte liegenlassen, stellte er erst fest, als der Motor des Ersatzwagens nach einigem Röcheln ganz ausgestiegen war und er die Pannenhilfe anrufen wollte.

Nun stand er neben dem kaputten Auto und hatte keine Ahnung, wo er war. Das Radio hatte einen Stau auf der Autobahn gemeldet, dem er hatte ausweichen wollen, indem er über Land fuhr. Das hatte er nun davon. Und natürlich weit und breit kein Haus, nicht einmal ein Bauernhof. Und zu allem Überfluss hatte er unbemerkt seine ölverschmierten Hände an seinen Hosen abgewischt. Was er sich dabei gedacht hatte, die Motorhaube zu öffnen, wusste er selbst nicht. Er hatte keine Ahnung von Technik. »So ein verdammter Mist«, schimpfte er und versetzte dem Auto erneut einen Tritt. »Okay, was jetzt?«, fragte er sich laut. Ein Motorgeräusch ließ ihn in die Richtung schauen, aus der er gekommen war.

Ein klappriger blauer Lieferwagen, dessen Motor ähnliche Geräusche von sich gab wie sein Ersatzwagen kurz vor dem Zusammenbruch, kam langsam näher. Bevor er auf einer Höhe mit ihm war, stellte der Fahrer den Blinker und hielt hinter seinem Wagen. Ein älterer Mann in einem blauen Arbeitsoverall öffnete die Fahrertür und kletterte erstaunlich geschmeidig aus dem Lieferwagen. Unter der blauen Schirmmütze, die zum Overall passte, quollen graue lockige Haare hervor. Der Mann war unrasiert und eine Zigarette hing aus seinem Mundwinkel. Er schaute den Vauxhall mit Kennerblick an.

»Liegen geblieben?«

David nickte genervt. So ein Blödmann. Es durfte wohl klar sein, dass er nicht wegen der Aussicht hier angehalten hatte.

»Charlie angerufen?«

»Wen?«

»Charlie.« Der Mann schaute ihn einen Moment wortlos an. »Von der Garage in Desford.«

David schüttelte den Kopf. »Kein Smartphone.«

Der alte Mann nickte und kratzte sich am Kopf. »Wohin müssen Sie?«

»Leeds.«

»Ziemlich weiter Weg.«

Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte David, dass es schon nach 19 Uhr war. »Gibt es in der Nähe ein Hotel?«

Der alte Mann schaute ihn von oben bis unten an, dann schien er eine Entscheidung gefällt zu haben. »Mary’s Hope.«

»Was?«

»Mary’s Hope. Angela wird Sie aufnehmen.« Er drehte sich um und ging zu seinem Lieferwagen.

David war zu müde und zu genervt, um weiter mit diesem wortkargen Mann zu reden. Er stieg nun ebenfalls in den Lieferwagen und schloss müde die Augen.

Er erwachte durch das Zuschlagen einer Tür. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war, doch beim Anblick des mit Werkzeug und zerknülltem Papier übersäten Innenraums des Lieferwagens kamen die Erinnerungen zurück. Er stöhnte auf. Ging denn dieser Tag nie zu Ende?

Er erschrak, als jemand an die Scheibe klopfte. Der alte Mann stand draußen und winkte ihm. David öffnete die Tür und stieg aus.

»Angela wartet auf Sie.« Dabei zeigte der Mann nach links, wo hinter einer halbhohen Hecke ein Hotel lag. »Charlie holt den Wagen.« Dabei deutete er nach rechts. Vermutlich die Richtung, in der das Auto stand. Er hielt die offene Hand hin. »Schlüssel.«

David brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass der Mann seinen Autoschlüssel wollte. Er griff in die Hosentasche und ließ den Schlüssel in die Hand fallen. Der alte Mann nickte, ging um den Lieferwagen herum, stieg ein, startete den Motor und fuhr weg.

David stand einen Moment ratlos da, unschlüssig, was er jetzt machen sollte. Er schaute sich suchend nach seinem Gepäck um, doch da war kein Koffer und auch kein Aktenkoffer. »Das gibt es doch nicht«, stöhnte er auf. Der Aktenkoffer! Der lag auf dem Rücksitz des Ersatzwagens. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei der Verzweiflung aus. Müde schloss er einen Moment die Augen, dann drehte er sich um und ging in Richtung Hotel.

Er öffnete die Tür aus dunklem Holz und trat ein. Links gegenüber der Tür war die Rezeption. Hinter dem Empfangstresen stand eine Frau, die ihre langen braunen Haare im Nacken zusammengebunden hatte.

»Guten Abend.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und schob ihm das Anmeldeformular und einen Stift rüber. Er füllte die notwendigen Angaben aus und schob es zurück.

»Dürfte ich bitte noch Ihren Ausweis sehen, Mr. Ross?«

Er wollte in die Innentasche seines Jacketts greifen – doch er trug gar kein Jackett! Das durfte doch jetzt nicht wahr sein! Er stützte sich mit den Armen auf den Tresen und vergrub den Kopf in den Händen.

»Gibt es ein Problem?«

David richtete sich müde auf. »Sie werden es mir nicht glauben, doch mein Koffer liegt im Kofferraum meines Wagens in Reading, mein Smartphone habe ich in einer Autobahnraststätte vergessen, mein Aktenkoffer ist im Ersatzauto, das irgendwo in der Nähe am Straßenrand steht und meine Brieftasche mit allen Ausweisen steckt in meinem Jackett, das auf dem Rücksitz desselben Wagens liegt.«

»Gut, dann muss es heute einmal ohne gehen.«

Verblüfft schaute David die Braunhaarige an. Diese hatte sich bereits umgedreht und nahm einen Schlüssel aus einem Fach hinter ihr.

»Zimmer 5 im ersten Stock.« Lächelnd hielt sie ihm den Schlüssel mit dem dicken Schlüsselanhänger hin. »Wann möchten Sie morgen geweckt werden?«

David überlegte einen Moment. »Ich habe um 10 Uhr eine Sitzung in Leeds, doch das schaffe ich auf keinen Fall. Sie müssen mich also nicht wecken.« Er nahm den Schlüssel und ging zur Treppe.

»Wenn Sie mir Ihre Kleider hinlegen, werde ich sie waschen.«

Er drehte sich um. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, doch das ist reine Wolle. Kann nur chemisch gereinigt werden.«

Als er die Zimmertür öffnete, fiel sein Blick auf den Spiegel. Beim Anblick seines Spiegelbildes erschrak er. Seine schwarzen Haare standen wirr vom Kopf ab, auf seiner Stirn glänzte ein Ölfleck, das Hemd war zerknittert und neben dem alten Kaffeefleck prangten nun auch noch Schweißflecken unter seinen Armen. Die Hose war ebenfalls zerknittert und wies Ölspuren auf, da, wo er seine Hände abgewischt hatte. Als er sich so ansah, wunderte er sich, dass man ihm ein Zimmer gegeben hatte – und das auch noch ohne Ausweis und Geld. Er sah aus wie ein Landstreicher.

Langsam zog er seine Kleider aus und warf sie achtlos auf den Boden. Danach ging er ins Badezimmer und ließ sich ein Bad ein. Er fügte großzügig Badeöl hinzu.

Eine gute halbe Stunde später verließ er das Badezimmer wieder und fühlte sich jetzt sauber, aber auch sehr müde. Als er zum Doppelbett gehen wollte, fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Dort lagen sorgfältig aufgereiht ein Pyjama, ein elektrischer Rasierapparat, Rasierschaum, ein Nassrasierer sowie eine Zahnbürste, noch in der Folie eingepackt, und eine kleine Tube Zahnpasta. Sogar ein Kamm lag da. David war erleichtert. So würde er morgen wenigstens wieder wie ein Mensch aussehen, auch wenn die Kleider noch schmutzig waren. Als er sich nach seinen Kleidern umsah, merkte er, dass sie verschwunden waren. Super, jetzt würden sie die Hose waschen und damit ruinieren. Doch darüber würde er sich morgen Gedanken machen. Jetzt wollte er einfach nur noch schlafen.

Das Klingeln des Telefons riss David aus dem Schlaf. Er drehte sich stöhnend in Richtung der Lärmquelle. Durch die Fenster fielen bereits die ersten Sonnenstrahlen und erhellten das Zimmer genug, um das Telefon ausfindig zu machen. Er hob den Hörer ab und legte ihn noch immer im Halbschlaf ans Ohr.

»Guten Morgen, Mr. Ross«, erklang eine freundliche Stimme. »Es ist 5:45 Uhr.«

Er stutzte, dann antwortete er relativ barsch: »Ich habe doch ausdrücklich gesagt, dass ich nicht geweckt werden will. Ich schaffe es nicht, bis um 10 Uhr in Leeds zu sein.«

»Ihr Auto ist repariert und steht vor dem Hotel. Ihre Kleider sind gereinigt und hängen außen an Ihrer Türe. Ab 6 Uhr können Sie frühstücken. Wenn sie dann um 6:30 Uhr hier losfahren, sollten Sie es noch zu Ihrer Sitzung schaffen.«

David brauchte einen Moment, um diese Informationen zu verdauen. Bevor er antworten konnte, hatte die Person am anderen Ende schon aufgelegt. Er setzte sich an den Bettrand und streckte sich ausgiebig. Dann ging er zur Zimmertür und öffnete sie. Draußen hingen wirklich seine Kleider. Sein Anzug inklusive Krawatte steckte noch in der Plastikhülle der chemischen Reinigung, sein Hemd hing gebügelt auf einem Kleiderbügel, die restliche Wäsche in einem Wäschesack des Hotels.

Zehn Minuten später stand er frisch geduscht und rasiert vor dem Spiegel. Da schaute ihn zweifellos ein anderer Mann aus dem Spiegel an als gestern Abend. Er war mittelgroß, hatte schwarze kurze Haare und grüne Augen. Seine römische Nase stand in einem seltsamen Gegensatz zu seinem breiten Mund. Abgesehen von einem kleinen Bauchansatz war David mit seiner Figur zufrieden. Das Jackett wollte er erst nach dem Frühstück anziehen und ließ es auf dem Bügel. Er war schon fast zur Tür hinaus, als er sich nochmals umdrehte und das Jackett anstarrte. Hatte er es nicht im Auto gelassen? Wie kam es ins Hotel? Und dann auch noch gereinigt?

Der verführerische Duft von frisch gemahlenem Kaffee erreichte seine Nase und er ging mit schnellen Schritten die Treppe hinunter. Der Kaffeeduft führte ihn an der Rezeption vorbei in einen Speiseraum. Die großen Fenster gaben den Blick frei auf einen Sitzplatz und eine grüne Landschaft. Direkt am Fenster standen auf einem Tisch ein Krug mit Kaffee, ein Kännchen mit warmer Milch, ein Schälchen mit weißem und braunem Zucker sowie ein kleiner Teller mit Butterstücken.

Als er sich setzte, kam die Braunhaarige von gestern Abend an seinen Tisch und stellte einen Teller vor ihn hin. Darauf lagen knusprig gebratener Speck, samtiges Rührei, geschmorte Tomaten, zwei Würstchen und Champignons. Beim Anblick dieser Köstlichkeiten lief ihm das Wasser im Mund zusammen und er begann sogleich zu essen. Kurz darauf kam die Bedienung zurück und stellte ihm noch Toast hin sowie verschiedene Gläschen mit Marmelade. Er genoss jeden einzelnen Bissen dieses fantastischen Frühstücks. Der Kaffee schmeckte so gut wie er duftete. Nach der dritten Tasse schaute er auf seine Uhr und erschrak. Schon 6:25 Uhr! Er wischte sich den Mund mit der Stoffserviette ab und eilte auf das Zimmer, um sich noch die Zähne zu putzen. Er schnappte sich sein Jackett und schaute sich um, was er noch mitnehmen musste. Erstaunt stellte er fest, dass es nichts gab, was ihm gehörte. Ein seltsames Gefühl von Freiheit stellte sich bei ihm ein.

Beschwingt ging er die Treppe hinunter. Die gleiche braunhaarige Frau, die ihn beim Frühstück bedient hatte, stand an der Rezeption bereit. Scheint die Nachtschicht zu sein, ging es David durch den Kopf. Sie legte ihm seine Brieftasche und die Autoschlüssel hin.

»Charlie wird die Rechnung für die Reparatur direkt der Garage schicken, die Ihnen das Auto zur Verfügung gestellt hat.« Sie nahm einen weißen Zettel in die Hand. »Diese Quittung über einen Kaffee auf einer Raststätte war in Ihrer Jackentasche. Ich habe dort angerufen und gefragt, ob ein Smartphone abgegeben wurde. Sie haben wirklich eines gefunden.«

Sie streckte ihm einen weiteren Zettel hin. »Ist das die Telefonnummer Ihres Smartphones?«

David las die Ziffern und nickte.

»Gut, dann werde ich dort anrufen und ausrichten, dass man Ihnen das Smartphone an Ihre Wohnadresse schicken soll.« Dabei deutete sie auf das Anmeldeformular.

Er überlegte einen Moment. »Nein, ich werde die nächsten Tage in Leeds sein. Bitte richten Sie aus, dass man mir das Smartphone ins Excelsior Hotel schicken soll.«

Sie notierte sich die Angaben. Zuletzt legte sie ihm die Rechnung für die Übernachtung hin. David traute seinen Augen kaum. Dass es noch so günstige Hotels gab, hätte er nicht gedacht. Als er die Rechnung genauer anschaute, stellte er fest, dass nur die Kosten für die chemische Reinigung seines Anzuges aufgeführt waren. Die restliche Wäsche war nicht vermerkt. Als er die Rezeptionistin auf den Fehler aufmerksam machte, winkte diese ab. »Das gehört zum Service.«

Er bezahlte mit Kreditkarte, verabschiedete sich schnell und ging nach draußen, wo sein Auto stand. Er stieg ein und betätigte den Anlasser. Der Motor schnurrte wie ein Kätzchen. Erleichtert legte er den Sicherheitsgurt an, fuhr, wie ihm die Rezeptionistin noch geraten hatte, nach rechts auf die Hauptstraße und nahm gut gelaunt den Weg nach Leeds unter die Räder.

***

»Entweder du machst, was ich dir sage, oder ich prügle dich so lange, bis nicht einmal mehr deine Mutter dich wiedererkennen wird!« Mark verstärkte seinen Griff, um seine Drohung zu unterstreichen. Benni wimmerte vor Schmerzen und wand sich unter seinem eisernen Griff.

Nein, er konnte nicht schon wieder das Wort Griff benutzen. Sein Lektor würde ihm das nicht durchgehen lassen. Jonathan Collins schloss erschöpft die Augen und ließ seine Finger auf die Tastatur seines Laptops sinken. Er durfte jetzt nicht aufgeben. Er musste seiner Schreibblockade die Stirn bieten, sonst würde er das Buch nicht rechtzeitig zum Termin fertigstellen. Kaffee. Er brauchte mehr Kaffee. Er stand auf und nahm die leere Kaffeekanne mit in die Küche. Als er den Schrank öffnete, in der er das Kaffeepulver aufbewahrte, fiel sein Blick auf die leere Packung auf der Küchenkombination. Mist! Er hatte ganz vergessen, dass er das Pulver mit dieser letzten Kanne aufgebraucht hatte. Gut, dann musste wieder die Kaffeemaschine her. Nein, er hatte ja keine Kapseln mehr, deswegen war er ja auf den Pulverkaffee umgestiegen. Er knallte die Schranktür zu, die durch den Schwung wieder aufsprang und ihn an der Stirn traf. »So ein verfluchter Mist!« Er hielt sich die Hand an die schmerzende Stirn und taumelte rückwärts, bis er an den Küchentisch stieß und sich dort anlehnte. Er konnte nicht mehr klar denken. Dieses verfluchte Buch! Es raubte ihm noch die letzten Kräfte.

Die Klingel seiner Wohnungstür meldete sich.

»Nein! Um Gottes willen, lasst mich in Ruhe!« Entsetzt merkte Jonathan, dass er kurz davor war, auszurasten. Er ertrug im Moment einfach niemanden.

»Ich hoffe, du meinst nicht mich.« Unbemerkt von ihm war Michael in die Küche gekommen. »Deine Tür war offen«, erklärte er sein Eindringen. Dann schaute er seinen Klienten genauer an. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«

»Geschlafen?« Jonathan runzelte die Stirn, was eine Welle von Schmerz auslöste. Irgendwie wollte sein Gehirn beim Denken nicht mitmachen.

»Es war höchste Zeit, dass ich bei dir vorbeigeschaut habe. Du brauchst Ruhe«, stellte Michael entschieden fest.

Doch Jonathan schüttelte den Kopf, wenn auch mit wenig Energie. »Ich muss arbeiten. Ich habe noch keine zwanzig Seiten geschrieben. Ich muss arbeiten«, wiederholte er.

»Das Einzige, was du brauchst, ist Schlaf und Ruhe«, erklärte sein Agent.

»Nein.« Jonathan blieb störrisch.

Michael stellte sich mit verschränkten Armen hin. »Das geht jetzt schon seit Wochen so. Es reicht. Du hast die Wahl. Entweder du gehst freiwillig ein paar Tage weg oder ich lasse dich in eine Klinik einweisen. Du hast dein Leben im Moment nicht im Griff.«

Jonathan öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Irgendwo tief in seinem Kopf, wo anscheinend noch ein Teil seines Gehirns arbeitete, sagte ihm eine Stimme, dass Michael recht hatte. »Okay, du hast gewonnen. Ich muss nur …«

»Du musst gar nichts«, unterbrach ihn Michael. »Hier hast du meinen Autoschlüssel. Du setzt dich jetzt ins Auto und wartest, bis ich den Koffer für dich gepackt habe. Dann fahre ich dich in ein Hotel.«

Jonathan nickte gehorsam, nahm den Schlüssel entgegen und wankte Richtung Wohnungstür. Michael überlegte einen Moment, ob er ihm nachgehen sollte. Doch die Wohnung war im Erdgeschoss und somit war die Wahrscheinlichkeit, dass Jonathan in seinem Zustand eine Treppe hinunterfiel, äußert gering.

Michael öffnete zunächst alle Fenster, um besser atmen zu können. Die Wohnung stank nach abgestandenem Kaffee, Schweiß und ungewaschenem Körper. Es musste Tage, wenn nicht sogar Wochen her sein, dass Jonathan zum letzten Mal die Wohnung aufgeräumt hatte. Als er im Badezimmer die notwendigen Utensilien zusammensuchte, wurde ihm klar, dass Jonathan auch schon länger nicht mehr gebadete hatte. So schnell als möglich packte er den Koffer fertig, schloss die Fenster, steckte alle elektrischen Geräte aus und floh aus der Wohnung. Als er zum Wagen kam, war Jonathan bereits auf dem Beifahrersitz eingeschlafen.

***

»Wenn du nicht machst, was ich dir sage, prügle ich dich windelweich!«

Annabelle versuchte sich kleinzumachen. Immer wieder hoffte sie, wenn sie sich in Gedanken nur klein genug machte, dann würde er sie nicht finden und könnte sie nicht schlagen. Doch er fand sie immer.

»Ich habe dir gesagt, du sollst mir ein Bier holen«, schrie Franklin und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht.

Der Schlag warf sie zu Boden. Bevor sie sich wieder aufrichten konnte, trat er ihr mit voller Wucht in den Bauch. Der Tritt schleuderte sie bis zur Wand.

»Jetzt bist du schon bei der Küche. Jetzt brauchst du nur noch zum Kühlschrank zu gehen«, höhnte er.

Annabelle stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und richtete sich langsam auf. Dabei versuchte sie ein Stöhnen zu unterdrücken. Sie wusste, dass ihn das nur noch wütender machen würde. Im Kinderzimmer hörte sie Toby weinen. Das war der Grund für Franklins Wutausbruch gewesen. Sie hatte nur schnell nach ihrem kleinen Sohn schauen wollen, der aufgewacht war und weinte. Doch Franklin wollte sein Bier haben. Und er wollte es jetzt.

Seit ein paar Monaten fing er bereits frühmorgens mit dem Trinken an. Sie schleppte sich zum Kühlschrank und holte ein Bier heraus. Sie öffnete das Bier. Franklin hasste es, das Bier selbst öffnen zu müssen. Dann trocknete sie den feuchten Film an der Bierflasche ab. Franklin hasste es, wenn die Flasche feucht war. Sie blieb einen Moment stehen, um ihr Zittern in den Griff zu bekommen. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und hielt ihrem Mann die Bierflasche hin. Er riss ihr die Flasche aus der Hand und stürzte das Bier in großen Schlucken hinunter.

Annabelle überlegte, ob sie es wagen konnte, kurz nach Toby zu sehen. Doch Franklin hatte das Bier bereits ausgetrunken und warf ihr die Flasche an die Brust.

»Hol mir nochmals eine Flasche!«

Gehorsam ging sie in die Küche und holte ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank. Es waren noch genügend Flaschen da. Eigentlich bestand der Inhalt des Kühlschranks nur noch aus Bier. Sie öffnete die Flasche und trocknete sie ab. Dann näherte sie sich wieder vorsichtig ihrem Mann.

Er war schon bei der Heirat korpulent und stark gewesen. Als Bauarbeiter musste er das auch sein. Damals hatte sie seine Muskeln und die damit verbundene Kraft bewundert. Heute fürchtete sie sich davor. Durch das viele Bier und das ungesunde Essen in den letzten zwei Jahren hatte er Übergewicht, doch dieses machte ihn nicht langsamer. Er setzte sein Gewicht gezielt gegen sie ein, um sie gefügig zu machen.

Sie sah, wie er das Bier nun in kleineren Schlucken trank und nutzte die Gelegenheit, um ins Kinderzimmer zu gehen und nach Toby zu schauen. Er hatte im Bettchen die Decke auf die Seite geworfen und warf sich verzweifelnd hin und her. Sein Gesicht war bereits ganz rot vor Weinen. Vermutlich hatte er einen schlechten Traum gehabt.

Behutsam nahm sie ihn aus dem Bettchen und drückte ihn sanft an sich. »Pscht, alles gut, mein kleiner Liebling. Alles gut.« Die Atemzüge ihres Sohnes beruhigten sich. »Hast du schlecht geschlafen, mein kleiner Liebling?«, flüsterte sie ihm leise ins Ohr. »Jetzt ist ja alles wieder gut.« Sie streichelte ihm zärtlich über den Kopf und küsste ihn auf die dicke Pausbacke. Er sah aus wie ein Engel auf einem Gemälde von Rubens.

»Annabelle, noch eine Flasche!«

Erschrocken legte sie Toby schnell zurück in sein Bettchen, was ihn wieder zum Weinen brachte. »Nicht weinen«, flüsterte sie verzweifelt. »Mami kommt gleich wieder.«

»Annabelle!«

Sie hörte an seinem Ton, dass Franklin wütend war. Sie eilte zurück ins Wohnzimmer. Franklin stand neben dem Sessel und zu ihrem Entsetzen sah sie, wie er den Ledergürtel aus den Schlaufen seiner Hose zog.

***

Angela Thompson nahm die letzte Tasse aus dem Geschirrspüler und trocknete sie ab. Sie war froh, jetzt für ein paar Minuten eine Pause machen zu können. Der unerwartete Gast hatte sie die halbe Nacht wachgehalten. Zunächst hatte sie mit Charlie wegen des Autos Kontakt aufgenommen und ihn gebeten, das Jackett bei Daisy in der Reinigung abzugeben. Dann hatte sie die Hose und die Krawatte ebenfalls zu Daisy gebracht. Zum Glück war diese eine herzensgute Frau und immer bereit, anderen einen Gefallen zu tun. Dann hatte sie die Unterwäsche und das Hemd gewaschen und war anschließend nochmals in die Reinigung gegangen, um die Kleidung zu holen. Vor dem Schlafengehen hatte sie in der Raststätte wegen des Smartphones angerufen. Nach ihrem üblichen Kontrollgang durchs Hotel war sie endlich ins Bett gekommen. Heute früh war sie um fünf aufgestanden, hatte das vorbereitete Brot gebacken, das Hemd gebügelt und das Frühstück vorbereitet. Nachdem der Gast das Hotel verlassen hatte, hatte sie das Frühstücksbüffet für die anderen Gäste vorbereitet und war bis jetzt mit Servieren und Abräumen beschäftigt gewesen.

Sie schenkte sich eine große Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Während sie einen Schluck trank, strich sie mit den Fingern über eine Kerbe in der Tischplatte. Diese stammte noch aus der Zeit, als sie als Kind bei ihrer Tante Mary in den Ferien gewesen war. Eigentlich war sie nicht ihre richtige Tante gewesen, sondern eine Cousine ihres Vaters. Sie hatte ihr beim Brotbacken helfen wollen und dabei die schwere Keramikschüssel mit dem Teig auf den Tisch fallen lassen. Statt mit ihr zu schimpfen, wie es ihre Mutter getan hätte, hatte sich ihr Tante besorgt erkundigt, ob ihr etwas geschehen sei. So war ihre Tante gewesen. Sie hatte für alle immer nur gute Worte gefunden, nie über andere gelästert oder getratscht. Angela konnte sich nicht erinnern, dass ihre Tante je mit ihr geschimpft hätte. Sie vermisste ihre Tante. Wie gern hätte sie mit ihr über die Gäste geredet und manches Mal um Rat gefragt. Doch ihre Tante war vor acht Jahren gestorben. In ihrem Bett friedlich eingeschlafen. Und zu ihrer Überraschung hatte Angela erfahren, dass sie ihr alles vererbt hatte. Das Hotel und ihr ganzes Vermögen. Die Erbschaft war mit einer Bedingung verbunden gewesen: Sie durfte nie einen Gast abweisen.

2

Das Krankenhaus mit seinem Geruch nach Desinfektionsmittel und Krankheit löste in DC Watson jedes Mal Übelkeit aus. Er liebte seine Arbeit bei der Polizei, doch leider führte sie ihn oft in Krankenhäuser oder zumindest in deren Notaufnahmen. Er atmete erleichtert auf, als er Eliza kommen sah. Er war froh, dass der Sozialdienst Eliza geschickt hatte und nicht eine der anderen Sozialbeamtinnen.

Eliza sah nicht nur mütterlich aus, sie war es auch. Wie immer trug sie einen geblümten Rock und dazu eine einfache unifarbene Bluse. Im Winter war es umgekehrt: Dann war der Rock grau oder schwarz und dafür der Pullover bunt gemustert. Sie war eher klein und ein bisschen füllig und ihre kurzen blonden Haare waren bereits mit zahlreichen grauen Strähnen durchzogen. Die vielen Jahre hatten sie an Erfahrung reich gemacht, aber nicht verhärtet. Sie hatte ihn entdeckt und kam auf ihn zu.

»Hallo John«, begrüßte sie ihn herzlich.

Im Laufe der Jahre waren sie beim Du gelandet, doch gaben sie sich heute noch nicht die Hand zur Begrüßung.

»Hallo Eliza, schön, dass sie dich geschickt haben.«

»Schön, weil wir uns so wieder einmal sehen oder schön, weil es ein besonders schlimmer Fall ist?«

»Beides«, antwortete er knapp.

Sie schaute ihn an. »Gut, dann setzen wir uns erst einmal hin und du erzählst mir, was ich wissen muss.«

Sie gingen in eine Ecke des Warteraums, wo sie einigermaßen ungestört sein würden, und nahmen auf den unbequemen grauen Plastikstühlen Platz.

»Wir bekamen heute einen Anruf wegen häuslicher Gewalt«, begann Watson. »Es stellte sich heraus, dass der Anruf von einer Nachbarin kam, die neu im Haus wohnt. Die anderen Nachbarn fanden anscheinend, dass es sie nichts anginge.«

Eliza nickte. Sie hatte in ihrer über zwanzigjährigen Arbeit als Sozialarbeiterin immer wieder Fälle erlebt, in denen Frauen oder Kinder jahrelang misshandelt worden waren, ohne dass jemand von den Nachbarn die Polizei gerufen hätte.

»Auf unser Klingeln reagierte niemand, doch wir hörten ein Kind weinen. Außerdem sagte die Nachbarin, dass die Frau noch da sein müsse. Sie hätte nur den Mann das Haus verlassen sehen. Also haben wir uns Zugang zur Wohnung verschafft.«

Er atmete tief durch. »Sie lag auf der Schwelle zum Kinderzimmer. Anscheinend hatte sie noch versucht, zu ihrem Kind zu gelangen.«

Wieder atmete er tief durch. Das half ihm, die Emotionen in den Griff zu bekommen. Ein Trick, den ihm sein langjähriger Partner und Mentor gezeigt hatte.

»Er hatte sie mit den Fäusten und einem Ledergürtel verprügelt. Den blauen Flecken und Narben nach zu urteilen, war es nicht das erste Mal.«

»Das Kind?«

»Keine Spuren von Gewalt. Anscheinend hatte bisher nur die Frau als Punchingball für ihren Mann herhalten müssen.«

»Wenigstens etwas.«

Watson wusste, dass Elizas Aussage nicht sarkastisch gemeint war, sondern aus tiefstem Herzen kam. Schlimm genug, dass die Frau verprügelt worden war.

»Sie war zwar damit einverstanden, dass wir sie ins Krankenhaus bringen, doch sie wollte sich nicht von ihrem Kind trennen. Anscheinend hat sie große Angst davor, dass man ihr das Kind wegnehmen könnte.«

»Oder, dass das Kind allein bei ihrem Mann ist«, ergänzte Eliza trocken. »Gut.« Sie stand auf. »Dann werde ich Suzanne anrufen. In welchem Zimmer liegt die Frau und wie heißt sie?«

»Ihr Name ist Annabelle Wilson. Sie liegt in Nummer 218. Ihr Sohn heißt übrigens Toby.«

Sie lächelte ihn dankbar an. Da sie wusste, wie sehr er Krankenhäuser verabscheute, nahm sie es nicht persönlich, als er schnurstracks zum Lift ging. Sie öffnete ihre Tasche und suchte nach ihrem Telefon, um Suzanne anzurufen.

Sie schob vorsichtig den Vorhang zur Seite, durch den die Betten in der Notaufnahme voneinander getrennt waren. Annabelle lag still im Bett. Ihr Gesicht war bleich, mit Ausnahme der blauen Flecken auf der Wange und am Kinn. Eliza setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Die junge Frau öffnete die Augen und schaute sie ängstlich an.

»Guten Tag, Annabelle. Ich hoffe, ich darf Sie Annabelle nennen. Ich bin Eliza. Ich komme vom Sozialdienst.«

Die Augen zeigten nun große Angst.

»Ich sehe, Sie sind hier gut versorgt.« Eliza schlug bewusst einen ruhigen Ton an, um die Frau nicht noch mehr zu ängstigen. »Sie haben ein paar gebrochene Rippen, Quetschungen und Blutergüsse, aber zum Glück keine inneren Verletzungen. Die Ärzte meinen, dass Sie in ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen werden können.«

»In ein paar Tagen?«, fragte Annabelle entsetzt. »Das geht nicht, ich muss … mein Sohn … ich muss …«

Eliza legte sanft ihre Hand auf den Arm der jungen Frau. »Es ist alles in Ordnung. Toby ist auch hier im Krankenhaus und es geht ihm gut.«

Sie lächelte die Frau aufmunternd an. »Er ist der Liebling auf der Notaufnahme.«

Nun zeigte sich auf dem Gesicht der Patientin ein leichtes Lächeln.

»Annabelle, ich bin schon lange Sozialarbeiterin und Sie sind nicht die erste Frau, die von ihrem Mann misshandelt wurde.«

Als Annabelle unterbrechen wollte, schüttelte Eliza den Kopf. »Ihr Mann hat Sie misshandelt. Ihr Körper spricht für sich. Und fangen Sie gar nicht erst an, mir zu erzählen, dass es eine einmalige Sache gewesen sei und er normalerweise ein mustergültiger Ehemann sei. Auch da sagt Ihr Körper etwas anderes. Und Sie müssen auch gar nicht erst versuchen, mir weiszumachen, dass es allein Ihre Schuld war.«

Sie schaute die junge Frau streng an. »Selbst wenn Sie eine schlechte Ehefrau wären, gäbe das Ihrem Mann kein Recht, Sie zu schlagen.«

Sie wartete einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Sie können wieder zu Ihrem Mann zurückgehen und sich weiterhin von ihm schlagen lassen. Oder Sie können sich vorübergehend von ihm trennen und sich überlegen, wie es mit Ihrer Ehe weitergehen soll. Da sie Toby haben, dürfte meines Erachtens die Entscheidung klar sein. Außer natürlich, Sie wollen so lange weitermachen, bis Ihr Mann anfängt, auch Toby zu schlagen.«

Annabelle wurde bei diesen Worten noch bleicher und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber es geht doch nicht. Ich meine, wo soll ich denn hin?«, schluchzte sie.

»Da finden wir schon eine Lösung«, versicherte ihr Eliza. »Haben Sie entfernte Verwandte, von denen Ihr Mann nichts weiß?«

Annabelle schüttelte den Kopf. Eliza überlegte einen Moment. Das Frauenhaus war nicht das richtige für diese junge Frau, das spürte sie. Sie brauchte eine enge Begleitung und viel Fürsorge. Das war wieder einmal ein Fall für Angela. Hoffentlich hatte sie ein Zimmer frei.

»Ich habe eine gute Bekannte, die Sie und Toby vielleicht aufnehmen könnte. Ich werde sie gleich anrufen.«

»Toby, ich möchte Toby sehen!«, rief Annabelle und fing an zu weinen.

Wie aufs Stichwort öffnete sich der Vorhang, und eine Frau kam mit Toby auf dem Arm in das kleine Abteil. »Da ist ein kleiner Junge, der dringend zu seiner Mama möchte.«

Sie setzte Toby vorsichtig aufs Bett und passte auf, dass der Junge in seiner Freude, seine Mutter zu sehen, ihr nicht wehtat.

»Annabelle, das ist Suzanne. Sie wird sich um Toby kümmern, solange Sie im Krankenhaus bleiben müssen. Und jetzt gehe ich, um den Anruf zu machen.«

***

Der Blick auf die Stadt war fantastisch. Er liebte die Aussicht aus seinem Hotelzimmer auf den Fluss Aire, der durch Leeds floss. David Ross war mit sich zufrieden. Am Morgen war er pünktlich zur Sitzung im Hotel gewesen und hatte sogar noch Zeit gehabt, in der Empfangshalle einen Kaffee zu trinken und die Leute zu beobachten.

Er liebte das Leben, das im Eingangsbereich eines Hotels herrschte: Gäste, die ein- oder auschecken wollten, Touristen, die eine Auskunft wünschten, Reisegruppen, die auf ihren Reiseleiter warteten, Geschäftsleute, die ihre Unterlagen durchgingen, bevor sie von ihrem Wagen abgeholt wurden.

Die Sitzung war zufriedenstellend verlaufen wie auch das Gespräch mit dem Hotelmanager. Jetzt stand er an der Fensterfront seines Hotelzimmers, ein Glas Whisky in der Hand und genoss die Abendstimmung über der Stadt. Er nahm noch einen Schluck des Lagavulin, dessen rauchige Note er liebte. Sanft wie Öl rann der Whisky seinen Hals hinunter, das sprach für seine Qualität. Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz in der Brust. Er hörte für einen Moment auf zu atmen und versuchte, den Schmerz in den Griff zu bekommen. So schnell wie der Schmerz gekommen war, so schnell war er auch wieder weg. Vorsichtig nahm David das Atmen wieder auf und fasste sich an die Brust. Doch es schien alles wieder gut zu sein.

Er warf nochmals einen Blick auf die Stadt, dann ging er zum Schreibtisch, stellte das Glas ab und nahm die Unterlagen aus seinem Aktenkoffer, um sie zu sortieren. Ein Stapel umfasste die Akten, die abgelegt werden konnten, ein zweiter Stapel jene, die er noch bearbeiten musste, ein dritter Stapel die Unterlagen, die er für morgen brauchte und auf einem vierten Stapel landeten die Quittungen. David war gewissenhaft in allen Dingen, auch in der Abrechnung seiner geschäftlichen Spesen. Er schaute die Quittungen durch.

Als er die Abrechnung der Raststätte in die Hand nahm, verzog er sein Gesicht zu einem Lächeln. Das Smartphone war im Verlaufe des Morgens an der Rezeption abgegeben worden. Er hätte zu gern gewusst, wie das so schnell gegangen war. Er warf die Quittung in den Abfalleimer. Dann fiel sein Blick auf die Rechnung des Hotels. Mary’s Hope, was für ein seltsamer Name! Der Service war aber tadellos gewesen. Bei der Erinnerung an das fantastische Frühstück begann sein Magen zu knurren.

Er griff zum Telefon und wählte den Room Service. »Ich hätte gern eine Omelette mit Käse und Pilzen, dazu ein Glas Rotwein.« Er legte wieder auf. Eine Weinsorte musste er nicht angeben. Sie kannten ihn hier im Hotel und wussten, was er trank. Schließlich gehörte ihm das Hotel. Die Rechnung von Mary’s Hope warf er zu den anderen Abrechnungen.

***

Jonathan erwachte, als die Strahlen der grellen Morgensonne auf sein Gesicht trafen. Stöhnend drehte er sich auf die andere Seite.

»Guten Morgen«, erklang eine fröhliche Frauenstimme.

Er stutzte. Was machte eine Frau bei ihm in der Wohnung? Er öffnete vorsichtig ein Auge, dann das andere. Das war definitiv nicht seine Wohnung. Er wollte sich aufsetzen, doch ein stechender Kopfschmerz ließ ihn stöhnend wieder auf sein Kissen sinken.

»Sie sind dehydriert. Trinken Sie viel Wasser, das hilft. Ein Krug steht neben Ihnen auf dem Nachttisch.«

Inzwischen war es noch heller im Zimmer geworden. Jonathan realisierte, dass die unbekannte Frau die Vorhänge vollständig geöffnet hatte. Immer noch gegen das helle Licht blinzelnd suchte er den Krug. Er goss sich ein Glas Wasser ein und richtete sich vorsichtig im Bett auf. Dann lehnte er sich an die Wand und trank langsam ein paar Schlucke. Als er merkte, wie gut das tat, goss er sich nochmals ein und trank das Glas in einem Zug, nur um es ein drittes Mal zu füllen und das Wasser gierig hinunterzustürzen. Erleichtert atmete er auf. Jetzt ging es ihm erheblich besser.

Er merkte, dass die Frau mit verschränkten Armen am Bettende stand und ihn amüsiert beobachtete. Sie war mittelgroß, hatte lange braunes Haar, das sie im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte, blaue Augen, eine schmale, gerade Nase und schmale Lippen. Die leichten Lachfalten zeugten davon, dass diese Frau viel Humor hatte. Sein Blick wanderte nach unten. Das einfache Sommerkleid konnte ihre gute Figur nicht verbergen.

»Zufrieden mit der Musterung?«

Er hatte den Anstand, rot zu werden. »Entschuldigung», murmelte er, »die Macht der Gewohnheit.«

Sie nickte und ging zur Tür. Inzwischen war ihm klar geworden, dass er in einem Hotelzimmer sein musste. Das Zimmer war einfach und modern eingerichtet. Er lag in einem Doppelbett mit einer hellen, einfachen Holzumrahmung. Die Nachtkästchen waren aus dem gleichen Holz gemacht, genau wie der Schreibtisch rechts daneben an der Wand und der kleine Tisch auf der gegenüberliegenden Wand. Zwei gemütliche Sessel mit braunen Bezügen und der obligate Fernseher vervollständigten die Einrichtung.

Jonathan versuchte sich daran zu erinnern, wie er hier gelandet war. Hatte er gestern Abend zu viel getrunken und sein Auto stehen lassen? Das würde zumindest seine Kopfschmerzen erklären.

»Ihr Agent hat Sie gestern hergebracht«, informierte ihn die Frau, als ob sie seine Gedanken erraten hätte. »Er sagte, sie hätten seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen und gegessen und bräuchten ein paar Tage Ruhe und Erholung.«

Die Erinnerung kam zurück. Ja, er musste doch das Buch fertig schreiben. Wo war sein Laptop? Er richtete sich ruckartig auf, um nach seinem wichtigsten Arbeitsgerät zu suchen, doch der Schmerz in seinem Kopf machte ihm deutlich, dass das eine dumme Idee war. Er griff mit seinen Händen an den Kopf, in der Hoffnung, so den Schmerz lindern zu können.

»Mr. Richards lässt Ihnen ausrichten, dass er den Laptop bei sich aufbewahrt, bis es Ihnen besser geht.« An der Tür drehte sie sich nochmals um. »Ich würde Ihnen vorschlagen, ein langes Bad zu nehmen und dann hinunter zum Frühstück zu kommen. So wie es in diesem Zimmer riecht, haben Sie schon länger kein Badezimmer mehr gesehen.«