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18. April 1800 in Port Mahon, einem Seehafen der britischen Marine auf Menorca. Jack Aubrey, Leutnant der Royal Navy, ist überglücklich: Er hat sein erstes Kommando erhalten. Zwar ist die altmodische kleine Kriegsslup Sophie mit ihren zwei Masten und vierzehn Kanonen nicht gerade das, was man ein Schiff ersten Ranges nennen würde, aber der frischgebackene Kapitän liebt sie vom ersten Augenblick an. Was ihm noch fehlt, ist ein Schiffsarzt, und den beschert ihm das Schicksal: Als Jack sich nach einer ersten unheilvollen Begegnung mit dem Naturforscher und Philosophen Dr. Stephen Maturin, die fast in einem Duell geendet hätte, beim Abendessen versöhnen will, entdecken die beiden ihre gemeinsame Liebe für die Musik, und Aubrey macht Maturin das Angebot, als Mediziner an Bord zu kommen. Der zweiflerische Maturin ist eine ausgesprochene Landratte, aber wer könnte ihn besser in die Seefahrt einführen als ein taktisch so versierter und talentierter Seemann wie Jack Aubrey? Und so sticht die Sophie mit den beiden neuen Freunden und einer tapferen Mannschaft in See, um einen Handelskonvoi zu begleiten. Doch die Gemütlichkeit währt nicht lange: Das Kriegsschiff steuert auf ehrenvollere - und auch weit gefährlichere - Abenteuer zu …
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Seitenzahl: 702
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Patrick O’Brian
Master und Commander
Das erste Abenteuer für Aubrey und Maturin
Roman
Aus dem Englischen von Jutta Wannenmacher
Kampa
mariae lembi nostri
duci et magistrae
do dedico
Wenn man über die Royal Navy des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts schreibt, lassen sich Untertreibungen kaum vermeiden; der britischen Kriegsmarine jener Zeit voll gerecht zu werden fällt schwer, denn die Realität ist häufig derart unwahrscheinlich, dass sie jede Fiktion weit in den Schatten stellt. Selbst wenn sich ein Autor der wärmsten und eifrigsten Phantasie befleißigte, könnte er nur schwer die schmächtige Gestalt Kommodore Nelsons vor dem Auge des Lesers wieder heraufbeschwören, wie er von seiner zusammengeschossenen Captain, einem Linienschiff mit vierundsiebzig Kanonen, durch die Fensterscheiben ihrer Heckgalerie auf die mit achtzig Kanonen bewaffnete San Nicolas springt und sie erobert; wie er gleich darauf über ihr Deck eilt, um die turmhohe San Josef von einhundertzwölf Kanonen zu entern … »Worauf ich«, schreibt Nelson, »an Deck eines Spaniers erster Klasse, so extravagant dies scheinen mag, tatsächlich die Degen der besiegten Spanier entgegennehmen konnte. Ich reichte sie an William Fearney weiter, einen meiner Bootsgasten, der sie sich mit der größten Kaltblütigkeit unter den Arm klemmte.«
Die Berichte von Beatson, James und des »Naval Chronicle«, die Admiralitätsakten im Staatsarchiv und die Biographien von Marshall und O’Byrne sind voll anderer Aktionen, die vielleicht nicht ganz so spektakulär waren (schließlich gab es nur einen Nelson), aber gewiss nicht weniger mutig – Aktionen, die so nur von wenigen Schriftstellern erfunden und vielleicht von niemandem restlos überzeugend präsentiert werden können. Deshalb bin ich für die Kampfszenen dieses Buches direkt zu den Quellen gegangen. Aus der großen Fülle brillant geschlagener, aber trocken geschilderter Gefechte habe ich einige ausgewählt, die ich besonders bewundere. Wenn ich also eine Schlacht beschreibe, so kann ich jede Kampfhandlung darin mit Logbüchern, offiziellen Depeschen, zeitgenössischen Berichten oder den Memoiren der Beteiligten belegen. Dennoch fühlte ich mich nicht sklavisch an die genaue zeitliche Abfolge gebunden. Dem Marinehistoriker wird beispielsweise auffallen, dass ich Sir James Saumarez’ Gefecht in der Straße von Gibraltar auf die Zeit nach der Traubenlese verlegt habe; und er wird bemerken, dass mindestens ein Gefecht meiner Sophie von einer ganz anderen, allerdings gleich starken Brigg ausgetragen wurde.
Zugegeben, ich habe mir große Freiheiten herausgenommen. Ich habe Dokumente, Briefe und Gedichte ausgewertet, kurz: J’ai pris mon bien là où je l’ai trouvé, und habe nach Bedarf für meine Geschichte Namen, Orte und kleinere Ereignisse geändert – allerdings stets im Rahmen der historischen Genauigkeit.
Was ich damit sagen will: Die bewundernswerten Männer jener Zeit, die Cochranes, Byrons, Falconers, Seymours, Boscawens und die vielen weniger bekannten Seeleute, aus deren Charakterzügen ich meine Figuren bis zu einem gewissen Grad zusammengesetzt habe, ehren wir am besten durch die Wiedergabe ihrer eigenen heldenhaften Taten und nicht durch erfundene Kämpfe. Authentizität ist kostbar. Und das Echo ihrer Worte hat bleibenden Wert.
Gleichzeitig danke ich für den Rat und die Unterstützung, die mir von den geduldigen, belesenen Beamten des britischen Staatsarchivs und des Maritimen Nationalmuseums in Greenwich zuteilwurden; ebenso gilt mein Dank dem kommandierenden Offizier der HMS Victory. Niemand hätte zuvorkommender und hilfreicher sein können.
Die sieghaften Klänge des ersten Satzes von Locatellis C-Dur-Quartett füllten das Musikzimmer der Gouverneursresidenz von Port Mahón, einen geschmackvoll ausgestatteten, achteckigen Raum mit hohen Halbsäulen. Die italienischen Musiker, von den vielen Reihen vergoldeter Barockstühlchen fast an die Wand gedrückt, geigten sich mit wachsender Intensität dem vorletzten Crescendo und der dramatischen Pause entgegen, nach der sich die ganze Leidenschaft in einem tiefen, befreienden Schlussakkord auflöst. Mit ähnlicher Begeisterung gab sich zumindest ein kleiner Teil der Zuhörer auf den zierlichen goldenen Stühlen der wachsenden Spannung hin. Dies galt besonders für zwei Männer in der dritten Reihe links, die nur zufällig nebeneinandersaßen. Der Zuhörer links außen war ein Hüne zwischen zwanzig und dreißig Jahren, der das Stühlchen mit seiner Masse förmlich unter sich begrub, sodass nur hier und da ein wenig vergoldetes Holz hervorschimmerte. Er trug die Ausgehuniform – den blauen Rock mit weißen Aufschlägen, dazu die weiße Weste, Kniehose und Strümpfe – eines Leutnants der Royal Navy; die silberne Medaille für die Teilnahme an der Schlacht von Abukir schmückte seine breite Brust. Sein Unterarm in der hohen weißen Manschette mit Goldknöpfen schlug den Takt, während sich die leuchtend blauen Augen in einem Gesicht, dessen Teint ohne die tiefe Sonnenbräune gewiss die typisch englische hellrosa Farbe gehabt hätte, am Bogen der ersten Geige förmlich festsaugten. Die hohe Note kam, dann die Pause und schließlich die Auflösung. Und mit der Auflösung krachte die Faust des Seemanns wie befreit auf sein rechtes Knie nieder. Mit einem glücklichen Seufzer warf er sich zurück, wobei die Rückenlehne des Stühlchens endgültig unter Marineblau verschwand, und wandte sich mit breitem Lächeln seinem Nachbarn zu. Die Worte »Sehr schön gespielt, Sir, meinen Sie nicht auch?«, formten sich schon in seiner Kehle, kamen ihm aber nicht über die Lippen, als er den kalten, ja feindseligen Blick des Mannes gewahrte und ihn flüstern hörte: »Falls Sie wirklich unbedingt den Takt klopfen müssen, Sir, dann flehe ich Sie an, dies doch wenigstens richtig zu tun und nicht immer einen halben Schlag zu früh.«
Jack Aubreys Miene verlor sofort die freundliche, aufgeschlossene Gesprächsbereitschaft des Genießers und drückte verblüffte Feindseligkeit aus. Er gestand sich ein, dass er tatsächlich den Takt geschlagen hatte. Und obwohl das ganz gewiss mit perfekter Akkuratesse geschehen war, stellte sein Benehmen an sich schon einen Fauxpas dar. Röte stieg ihm in die Wangen. Er starrte seinem Nachbarn in die blassen, hellen Augen, holte tief Luft und begann: »Ich denke doch …« Da brachten ihn die ersten Töne des langsamen Satzes zum Schweigen.
Das grüblerische Cello gab zwei Solophrasen von sich und begann dann seinen Dialog mit der Bratsche. Doch diesmal folgte nur ein Teil von Jack Aubreys Aufmerksamkeit den Melodien, der Rest beschäftigte sich mit dem Mann neben ihm. Ein heimlicher Seitenblick zeigte ihm einen dunklen, bleichen Mickerling in speckigem schwarzem Gehrock – einen Zivilisten. Sein Alter ließ sich kaum schätzen, denn er hatte nicht nur die Art von Gesicht, die nichts verriet, sondern trug auch eine Perücke, ein struppiges Ding, anscheinend aus Draht gefertigt und ohne jedes Puderstäubchen. Er mochte zwanzig, aber genauso gut auch sechzig Jahre alt sein. Trotzdem sind wir wahrscheinlich gleichaltrig, dachte Jack. So ein mieser Kerl – sich derart aufzuspielen. Nach dieser Feststellung widmete er sich wieder ganz der Musik, fand den richtigen Anschluss und folgte nun den Harmonien durch alle Variationen und reizvollen Arabesken bis zu ihrem befriedigenden, logischen Schluss. An seinen Nachbar dachte er erst wieder am Ende des Satzes, und dann vermied er es peinlich, in seine Richtung zu schauen.
Das Menuett mit seinem beharrlichen Rhythmus verführte Jacks Kopf zum Mitwackeln, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Doch als er spürte, dass sich seine Rechte auf dem behosten Knie wieder selbstständig machen wollte und mit Luftsprüngen drohte, klemmte er sie in der Kniekehle fest. Das Menuett war einfallsreich und leicht eingängig, mehr nicht. Aber ihm folgte ein seltsam komplizierter, fast harscher letzter Satz mit einem Motiv, das anscheinend kurz davorstand, etwas von allergrößter Wichtigkeit auszusagen. Die Klangfülle verebbte zum einsamen Flüstern einer Geige, das von den nie ganz verstummten Hintergrundgeräuschen im Raum verschluckt zu werden drohte; ein eruptives Gähnen wurde zu spät erstickt, und Jack blickte sich ärgerlich nach dem Übeltäter um, natürlich einem Infanteristen. Aber dann schloss sich der Rest des Quartetts der Geige an, und alle zusammen arbeiteten sich zu dem Punkt vor, an dem die Aussage formuliert werden sollte. Jack musste sich sofort wieder in die Melodie einklinken, und als das Cello sein vorhersehbares und absolut notwendiges Pom, pom-pom-pom, puum anstimmte, drückte er das Kinn auf die Brust und brummte in schöner Übereinstimmung mit dem Cello: »Pom, pom-pom-pom, puum.« Da bohrte sich ein Ellbogen in seine Rippen, und ein wütendes »Pssst!« zischte ihm ins Ohr. Erst jetzt merkte er, dass seine Rechte hoch in der Luft hing und mitdirigierte. Er ließ sie sinken, klappte den Mund zu und starrte auf seine Füße, bis die Musik verstummte. Er hörte die noble Auflösung am Schluss und begriff, dass sie die geradlinige Entwicklung, mit der er gerechnet hatte, weit übertraf, konnte aber keine Freude daran empfinden. Während des anschließenden Beifalls und allgemeinen Stühlerückens sah er sich den Blicken seines Nachbarn ausgesetzt, die mehr Abneigung ausdrückten als Verachtung, etwas wie totaler, abgrundtiefer Abscheu. Keiner von beiden sagte ein Wort. Sie saßen nur steif und verlegen da, sich der unangenehmen Gegenwart des anderen sehr bewusst, während Mrs Harte, die Gattin des örtlichen Marinebefehlshabers, auf ihrer Harfe eine lange und technisch schwierige Etüde zu Gehör brachte. Jack Aubrey starrte durch die hohen, eleganten Fenster in die Nacht hinaus: In Südsüdost ging gerade der Saturn auf, ein glühender Ball am Himmel von Menorca. Der Leutnant überlegte: Mit dem Ellbogen so absichtsvoll und bösartig angerempelt zu werden, das kam doch einer Ohrfeige gleich? Eine Beleidigung konnte er nicht hinnehmen, das duldete weder sein persönliches Temperament noch seine Offiziersehre. Und welche Beleidigung wäre gravierender als ein Schlag?
Da er seine Wut im Augenblick nicht abreagieren konnte, verwandelte sie sich in Melancholie. Er dachte daran, dass ihm kein Schiff gegeben wurde, sondern nur halbe Versprechungen, die meisten davon längst gebrochen; er erinnerte sich an die vielen gescheiterten Pläne, zu denen ihn bloßes Wunschdenken inspiriert hatte. Er stand tief in der Kreide bei dem Prisenagenten, der seine Geschäfte wahrnahm, schuldete ihm ganze einhundertzwanzig Pfund. Jetzt wurden auch noch die fünfzehn Prozent Zinsen fällig. Dabei betrug sein Monatssold lediglich fünf Pfund und zwölf Shilling. Aubrey dachte an Kameraden – jünger als er, aber erfolgreicher oder nur berechnender –, die als Leutnants eine Kanonenbrigg oder einen Kriegskutter befehligten, falls sie nicht schon zum Kapitänleutnant befördert waren. Und alle scheffelten Prisengeld, erbeuteten Trabakeln in der Adria, Tartanen im Löwengolf, Schebecken und Settien an der spanischen Küste – ganz abgesehen von dem Ruhm, den sie dafür ernteten, und ihren guten Aufstiegschancen.
Anschwellender Beifall verriet ihm, dass Mrs Hartes Vortrag beendet war; eifrig schlug er die Hände zusammen und verzog den Mund zu einem entzückten Grinsen. Molly Harte knickste lächelnd, fing seinen Blick auf und lächelte wärmer. Er klatschte noch lauter; aber sie erkannte, dass er entweder nicht restlos hingerissen war oder unaufmerksam zugehört hatte, und ihr Wohlwollen für ihn erkaltete merklich. Dennoch nahm sie weiter mit strahlendem Lächeln die Komplimente ihrer Zuhörerschaft entgegen: ein reizender Anblick in blassblauem Satin mit doppeltem Perlencollier um den Hals. Erbeutete Perlen von der Santa Brigida, wie er nur zu gut wusste.
Jack Aubrey und sein Nachbar im speckigen schwarzen Gehrock erhoben sich beide gleichzeitig und blickten einander an. Jack setzte eine Miene kalten Widerwillens auf – die letzten Reste seiner geheuchelten Begeisterung wurden ihm immer widerlicher, je mehr sie schwanden – und sagte leise, aber drohend: »Mein Name ist Aubrey, Sir. Ich wohne in der ›Crown‹.«
»Und meiner, Sir, ist Maturin. Sie finden mich vormittags in Joselitos Kaffeehaus. Aber jetzt treten Sie bitte zur Seite.«
Plötzlich verspürte Jack den übermächtigen Drang, sein vergoldetes Stühlchen hochzureißen und diesen bleichen Mann damit in den Boden zu rammen. Doch dann machte er ihm mit halbwegs glaubhafter Höflichkeit Platz – ihm blieb auch nichts anderes übrig, falls er nicht umgerannt werden wollte – und drängte sich anschließend durch den dichten Kreis blauer und roter Uniformröcke, nur vereinzelt von zivilem Schwarz unterbrochen, der sich um Mrs Harte versammelt hatte und aus dem gelegentlich Rufe wie »bezaubernd«, »großartig«, »wundervoll gespielt« laut wurden. Er winkte ihr zum Abschied nur kurz zu und verließ den Raum. Auf dem Weg durchs Vestibül tauschte er einen Gruß mit zwei anderen Marineoffizieren. Der eine, der ihm zurief: »Du siehst ja so trübsinnig aus, Jack!«, war ein früherer Kamerad aus der Offiziersmesse der Agamemnon, und der andere, ein hochgewachsener Fähnrich, dem die Wichtigkeit des Ereignisses und die Maisstärke in seinem Rüschenhemd das Rückgrat steiften, hatte als Kadett zu seiner Wache auf der Thunderer gehört. Schließlich machte er noch einen Kratzfuß vor dem Schreiber des Oberbefehlshabers, der seine Verbeugung mit einem Lächeln, hochgezogenen Brauen und vielsagendem Blick erwiderte.
Möchte nur wissen, was diese heimtückische Krähe wieder ausbrütet, dachte Jack und machte sich auf den Weg zum Hafen hinunter. Während er dahinschritt, gab er sich der quälenden Erinnerung an des Schreibers Doppelzüngigkeit hin und an seine eigene beschämende Liebedienerei vor dieser einflussreichen Persönlichkeit. Ein hübscher kleiner, gerade erbeuteter und frisch mit Kupferblech beschlagener französischer Freibeuter war ihm praktisch schon zugesagt worden. Aber dann war in Mahón des Schreibers Bruder aus Gibraltar aufgetaucht – leb wohl, eigenes Kommando. »Küss mich achtern«, sagte Jack laut, dem wieder eingefallen war, mit welch zahmer Verbindlichkeit er die Absage aufgenommen hatte, während ihn der Schreiber mit den Beteuerungen seiner besten Absichten und dem Versprechen künftiger guter Dienste überhäufte. Und zuletzt erinnerte er sich wieder an sein eigenes Benehmen an diesem Abend, insbesondere an seinen Rückzug vor dem kleinen schwarzen Mann, an seine Unfähigkeit, sofort schlagfertig und ebenso vernichtend wie elegant mit einer passenden Erwiderung zu kontern; dieses Versäumnis deprimierte ihn vollends. Er war zutiefst zerfallen mit sich selbst, mit dem Mann in Schwarz und mit der Marine. Und er verabscheute die samtene Wärme der Aprilnacht, den Chor der Nachtigallen im Orangenhain und die aufdringlich funkelnde Masse der Sterne, die scheinbar so tief standen, als wollten sie gleich in die Palmwedel fallen.
Die Crown, wo Jack abgestiegen war, ähnelte in mancher Hinsicht ihrer berühmten Namensvetterin in Portsmouth. Über der Tür hing ein gleich großes rot-goldenes Wirtshausschild, Überbleibsel einer früheren Besetzung durch die Briten. Die Herberge war 1750 ganz im englischen Stil erbaut worden, ohne jedes Zugeständnis an den mediterranen Geschmack, wenn man von den Keramikfliesen absah. Weiter ging die Gemeinsamkeit allerdings nicht. Der Herbergsvater kam aus Gibraltar und das Gesinde aus Spanien, genauer gesagt von Menorca. Im Haus roch es nach Olivenöl, Sardinen und Rotwein; wer sich hier eine Blakewell-Torte, einen Eccles-Kuchen oder gar einen anständigen Nierenpudding erhoffte, der wurde enttäuscht. Andererseits hätte keine englische Herberge jemals mit einem Kammerkätzchen aufwarten können, das so sehr einem süßen, überreifen Pfirsich glich wie Mercedes. Sie kam in den halbdunklen Flur gehüpft, füllte ihn mit ihrer glühenden Vitalität und rief ihm nach, die Treppe hinauf: »Ein Brief, teniente, ich bringen …« Im nächsten Augenblick stand sie vor ihm und lächelte mit unschuldigem Entzücken zu ihm auf. Aber er wusste nur allzu gut, was jeder an ihn adressierte Brief enthalten konnte, und reagierte lediglich mit einem zerstreuten Scherz und einem halbherzigen Griff nach ihrem Busen.
»Und Captain Allen, er fragt nach Ihnen«, berichtete Mercedes.
»Allen, Allen? Zum Teufel, was will der von mir?« Jack kannte Captain Allen als einen ruhigen, älteren Amerikaner aus Englands früheren Kolonien, der loyal geblieben und für sein gesetztes Benehmen bekannt war. »Ach, wahrscheinlich wollte er eine Spende«, sagte er. »Wegen der Beerdigung von Bradby.«
»Traurig, teniente, sehr traurig.« Mercedes verschwand den Korridor hinunter. »Armer teniente.«
Jack nahm eine Kerze vom Wandtisch und ging in sein Zimmer. Ehe er sich mit dem Brief beschäftigte, warf er zunächst den Uniformrock ab und lockerte seine Halsbinde. Danach betrachtete er misstrauisch den Umschlag. Er war in einer ihm unbekannten Handschrift adressiert an Captain Aubrey, Royal Navy. Stirnrunzelnd brummte Aubrey: »Verdammter Narr« und drehte ihn um. Der schwarze Schellack war unter dem Aufdruck zerlaufen, deshalb konnte er das Siegel nicht erkennen, obwohl er es schräg ans Licht der Kerze hielt.
»Ich kann’s nicht erkennen«, wiederholte er laut. »Aber wenigstens ist es nicht von Old Hunks. Seines hat ein Waffelmuster.« Hunks war sein Agent, sein Gläubiger, sein Menetekel.
Endlich überwand er sich, öffnete den Brief und las:
Im Auftrag Seiner Hochwohlgeboren Lord Keith, Ritter des Bath-Ordens, Admiral der blauen Territorien und Oberkommandierender der Flotten und Geschwader Seiner Majestät im Mittelmeer etc. etc. etc.
Sintemal Captain Samuel Allen von Seiner Majestät Kriegsslup Sophie, infolge des Todes von Captain James Bradby, auf die Pallas versetzt wird …
… Werden Sie durch Selbiges instruiert und angewiesen, sich an Bord der Sophie zu begeben und das Kommando über besagtes Schiff zu übernehmen; außerdem allen Offizieren und Mannschaftsgraden der fraglichen Kriegsslup dies zur Kenntnis zu bringen und sie aufzufordern, Ihnen als ihrem Kommandanten mit allem gebotenen Respekt und Gehorsam auf ihren jeweiligen Stationen zu dienen; während Sie Ihrerseits die Allgemeinen Dienstvorschriften ebenso wie alle Befehle und Direktiven, die Sie von einem vorgesetzten Offizier in Seiner Majestät Diensten erhalten mögen, zu befolgen haben. Vorstehendem haben Sie und alle Ihre Untergebenen zu gehorchen, wobei Sie im Fall der Zuwiderhandlung Gefahr laufen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Hiermit erlangt obiger Befehl Rechtsgültigkeit.
Ausgefertigt an Bord der Foudroyant,
Auf See, den 1. April 1800.
An den Ehrenwerten John Aubrey, Esq.,
Kommandant Seiner Majestät Slup Sophie
im Geschwader von Admiral Thos. Walker.
Jack Aubreys Augen hatten den Brief im Nu überflogen, aber sein Verstand weigerte sich, den Inhalt zu begreifen oder zu glauben. Mit hochroten Wangen und seltsam abweisender, strenger Miene zwang er sich, noch einmal Zeile für Zeile zu lesen. Beim zweiten Mal ging es schneller, bis zuletzt eine mächtige Welle der Freude in seiner Brust emporstieg, sein Gesicht mit noch dunklerem Rot überzog und seine Kinnlade aufklappen ließ. Laut lachend tippte er sich mit dem Brief an die Stirn, faltete ihn zusammen, entfaltete ihn wieder und las ihn mit gespannter Aufmerksamkeit zum dritten Mal – aus Sorge, er könnte die gedrechselten Formulierungen des dritten Absatzes vergessen haben. Eine eiskalte Sekunde lang drohte der Schreck über das unglückliche Datum ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen, er wähnte diese neue herrliche Welt schon wieder verloren und fürchtete einen grausamen Aprilscherz. Aber dann hielt er den Briefbogen vors Licht, und da war es, trutzig, tröstlich und unumstößlich wie der Felsen von Gibraltar: das Wasserzeichen der Admiralität, der höchst ehrenwerte, wenn auch unklare Anker der Hoffnung. Jetzt konnte Jack Aubrey nicht mehr still sitzen. Er tigerte im Zimmer umher, warf sich den Rock über, riss ihn wieder herunter, schmunzelte, kicherte und stieß unzusammenhängende Sätze aus wie: »Und da hab ich mir Sorgen gemacht … Haha! … So eine schmucke kleine Brigg … Kenne sie gut … Hätte mich schon glücklich geschätzt, eine Kranhulk zu kriegen oder die Vulture mit der Kleiderkammer … Hauptsache, irgendein Schiff … Wundervoller Kupferbeschlag – fast die einzige Slup in der Navy mit Hüttendeck … Hat zweifellos ’ne bequeme Achterkajüte … Herrliches Wetter – so warm … Haha! … Wenn ich nur genug Leute finde, das ist der Pferdefuß …« Er merkte plötzlich, dass er völlig ausgehungert und halb verdurstet war, stürzte zum Klingelzug und riss ungeduldig daran. Noch ehe die Glocke ganz verstummt war, steckte er schon den Kopf auf den Korridor und brüllte nach dem Kammermädchen. »Mercy! Mercy! Ach, da bist du ja, mein Schatz. Was kannst du mir zu essen bringen – manger, mangiare? Pollo? Kaltes Brathuhn? Und eine Flasche Wein – vino. Nein, zwei Flaschen. Und, Mercy, willst du noch etwas für mich tun, ja? Ich möchte, désirer, ich bitte dich um einen Gefallen: Näh mir, cosare, einen Knopf an.«
»Aber gern, teniente«, versicherte Mercedes mit lustig geweiteten Augen und weißen Zähnen, die im Kerzenlicht blitzten.
»Nix tenientel«, rief Jack und drückte ihren vollen, weichen Leib so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb. »Jetzt Capitán! Endlich Capitano, hahaha!«
Am nächsten Morgen fuhr er aus erfrischendem Tiefschlaf auf und war sofort hellwach. Noch ehe er die Augen öffnete, erfüllte ihn bereits das freudige Bewusstsein seiner Beförderung.
Natürlich ist sie kein Schiff ersten Ranges, jedenfalls nicht ganz, sagte er sich, aber wer in aller Welt wünscht sich denn ein riesiges, schwerfälliges Linienschiff, das an den Schürzenzipfeln der Flotte hängt? Wo liegt die Sophie überhaupt? Ach ja, hinter der Ausrüstungspier, gleich neben der Rattler. Nachher laufe ich hinunter und sehe sie mir an – keine Minute ist zu verlieren … Oder doch nicht – es wäre unfair, ich muss ihnen Zeit zur Vorbereitung lassen. Richtig, als Erstes muss ich die Runde machen und mich bei den zuständigen Stellen bedanken, muss mich auch mit Allen treffen – der gute alte Allen … Muss ihm unbedingt gratulieren.
Aber dann lief er als Erstes doch nur über die Straße zum Marineausrüster und belastete seinen jetzt beträchtlich gestiegenen Kredit mit dem Preis für eine wuchtige, schwere, goldbetresste Epaulette, das äußere Zeichen seines neuen Dienstranges. Er ließ das gute Stück vom Ladendiener sofort auf seiner linken Schulter befestigen und musterte sich dann höchst zufrieden in einem hohen Spiegel, wobei ihm der Verkäufer mit ehrlicher Freude über die Schulter schaute.
Als Jack die Ladentür hinter sich zuzog, gewahrte er auf der anderen Straßenseite, nicht weit vom Kaffeehaus, den Mann im schwarzen Gehrock.
Die Erinnerung an den letzten Abend kehrte zurück, er hastete hinüber und rief schon von Weitem: »Mr – Mr Maturin, da sind Sie ja, Sir. Ich muss mich tausendmal bei Ihnen entschuldigen. Ich fürchte, gestern Abend war ich Ihnen ein lästiger Nachbar. Hoffentlich können Sie mir verzeihen. Aber wir Seeleute kriegen so selten Musik zu hören – wir sind die feine Gesellschaft so wenig gewohnt –, da geht die Begeisterung leicht mit uns durch. Bitte aufrichtig um Vergebung.«
»Aber, mein Bester«, beteuerte der Mann im schwarzen Gehrock, wobei ihm eine unerklärliche Röte in die leichenblassen Wangen schoss, »Sie hatten ja auch allen Grund, sich so mitreißen zu lassen. Ich habe in meinem ganzen Leben kein besseres Quartett gehört – dieses Feuer, dieses Zusammenspiel! Darf ich Sie zu einer Tasse Schokolade oder Kaffee einladen? Sie würden mir eine große Freude machen.«
»Sehr freundlich, Sir, nichts wäre mir lieber. Offen gestanden bin ich heute in einer solchen Hochstimmung, dass ich ganz vergessen habe zu frühstücken. Ich wurde nämlich befördert«, fügte er mit verlegenem Lachen hinzu.
»Tatsächlich? Da gratuliere ich aber von ganzem Herzen. Bitte nach Ihnen …«
Als der Kellner Maturins ansichtig wurde, hob er den rechten Zeigefinger und bewegte ihn hin und her wie ein aufrechtes Pendel: die entmutigende Geste mediterraner Verneinung. Aber Maturin zuckte nur die Achseln, meinte zu Jack: »Die Post ist dieser Tage ganz schön langsam«, und befahl dem Kellner ungerührt, wobei er ins Katalanische der Einheimischen verfiel: »Bring uns eine Kanne Schokolade, Jep, gut schaumig geschlagen und mit Sahne.«
»Sie beherrschen das Spanische, Sir?«, fragte Jack und nahm Platz, wobei er die Rockschöße so auseinanderschlug, dass sein Säbel sichtbar wurde und Marineblau plötzlich den Raum dominierte. »Es muss ein großer Vorteil sein, Spanisch zu können. Ich habe es oft versucht, auch mit Französisch und Italienisch; aber mir will es nie gelingen. Die meisten Leute verstehen mich zwar, aber sie antworten so schnell, dass ich nicht mitkomme. Der Fehler liegt hier oben, fürchte ich.« Damit tippte er sich an die Stirn. »Als Kind ging es mir mit dem Lateinischen genauso. Wie mich mein Hauslehrer dafür geprügelt hat!«
In der Erinnerung lachte er so herzhaft, dass der Kellner, der ihnen die Schokolade brachte, ebenfalls lächelte und bemerkte: »Schöner Tag heute, Captain und der Herr, sehr schöner Tag.«
»Ein ganz erstaunlich schöner Tag.« Mit überströmendem Wohlwollen blickte Jack dem Kellner in sein Frettchengesicht. »Bello soleil, gar keine Frage. Aber«, und damit spähte er vorgebeugt durch die obere Fensterscheibe, »wenn mich nicht alles täuscht, kommt bald eine Tramontana auf.«
»Mich wundert, dass Ihnen Fremdsprachen so schwerfallen, Sir«, sagte Mr Maturin, der zum Wetter nichts beizusteuern wusste. »Denn man sollte doch annehmen, dass ein musikalisches Gehör das Erlernen einer fremden Sprache erleichtert – eines begünstigt logischerweise das andere.«
»Da haben Sie gewiss recht, jedenfalls vom philosophischen Standpunkt aus«, antwortete Jack. »Aber so bin ich nun mal. Außerdem könnte es durchaus sein, dass auch mein musikalisches Gehör nicht gerade berühmt ist, obwohl ich die Musik über alles liebe. Gott weiß, dass es mir manchmal höllisch schwerfällt, mittendrin den richtigen Ton zu treffen.«
»Sie spielen ein Instrument, Sir?«
»Ich kratze ein wenig herum, Sir, ja. Von Zeit zu Zeit quäle ich meine Geige.«
»Ich auch, ich auch! Sooft ich Zeit finde, versuche ich mich auf dem Cello.«
»Ein edles Instrument«, bestätigte Jack. Danach wandte sich ihr Gespräch der Kunst Boccherinis zu, dem besten Kolophonium für den Bogen, dem sauberen Kopieren von Partituren und der rechten Pflege der Saiten; jeder genoss mit großer Genugtuung die Gesellschaft des anderen, bis die brutale Wanduhr des Cafés, besonders aufdringlich wegen ihres lyraförmigen Pendels, die Stunde schlug. Jack leerte seine Tasse und schob den Stuhl zurück. »Sie werden mich jetzt gewiss entschuldigen. Ich muss eine ganze Reihe offizieller Besuche machen und mich mit meinem Vorgänger treffen. Allerdings hoffe ich, dass Sie mir die Ehre geben – oder mir vielmehr die Freude machen, die große Freude –, mir beim Abendessen Gesellschaft zu leisten?«
»Mit dem größten Vergnügen.« Maturin verbeugte sich.
Schon unter der Tür, schlug Jack vor: »Sagen wir, um drei Uhr in der Crown? Bei der Marine halten wir uns nicht so strikt an die modernen Tischzeiten, und bis abends hätte ich bestimmt einen solchen Wolfshunger, dass ich übler Laune wäre. Deshalb bitte ich um Ihr Verständnis für die frühe Stunde. Wir wollen meinen neuen Schwabber tüchtig begießen, und wenn der Pegel hoch genug steht, können wir ja ein bisschen musizieren, falls es Ihnen recht ist.«
»Haben Sie den Wiedehopf gesehen?«, rief Maturin plötzlich.
»Was ist ein Wiedehopf?« Jack blickte sich verwirrt um.
»Ein Vogel. Ein zimtbrauner Vogel mit gestreiften Flügeln. Upupa epops. Da, da, über dem Dach!«
»Wo, wo? Welche Peilung?«
»Jetzt ist er weg. Seit ich auf Menorca bin, hoffe ich, einen Wiedehopf zu sehen. Und heute, endlich – noch dazu mitten in der Stadt. Glückliches Mahón, solche Bewohner zu haben! Aber ich bitte um Vergebung, Sie sprachen davon, einen Schwabber zu begießen.«
»Ach so, ja – das ist nur so eine Redensart bei uns in der Marine. Der Schwabber ist dies«, er tätschelte seine neue Epaulette, »und wenn wir sie bekommen, begießen wir sie. Das heißt, wir trinken eine Flasche Wein darauf – oder zwei.«
»Aha.« Höflich neigte Maturin den Kopf. »Also ein Rangabzeichen, ich verstehe. Es schmückt Sie ungemein, das versichere ich Ihnen. Aber mein Bester, haben Sie nicht etwas vergessen? Ich meine die zweite Epaulette.«
»Na ja«, lachte Jack, »ich darf wohl sagen, dass ich die auch noch bekommen werde, wenn’s so weit ist. Aber nun – besten Dank für die ausgezeichnete Schokolade und einen angenehmen Tag. Freut mich sehr, dass Sie Ihren Hopf gesehen haben.«
Als Erstes musste Jack beim Chef der Marinebasis Port Mahón vorsprechen, dem dienstältesten Kapitän am Ort. Captain Harte wohnte in einem weitläufigen, geräumigen Haus, das er von einem spanischen Kaufmann namens Martínez gemietet hatte, und seine Diensträume lagen in dem Flügel auf der anderen Seite des Innenhofes. Als Jack den Patio überquerte, hörte er die Kadenzen einer Harfe, wenn auch zu einem Klimpern gedämpft, durch die Fensterläden perlen, die wegen der zunehmenden Hitze bereits geschlossen waren; schon huschten Geckos über die sonnenwarmen Mauern.
Captain Harte war von kleiner Statur und besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Lord St Vincent, die er nach besten Kräften noch hervorhob, indem er sich gebeugt hielt und seine Untergebenen mit hemmungsloser Grobheit und unerbitterlicher Pedanterie behandelte. Außerdem konnte er Jack nicht leiden, vielleicht weil dieser hochgewachsen war – oder weil er ihn verdächtigte, eine Liebschaft mit seiner Frau zu unterhalten. Wie dem auch war, die beiden Männer verabscheuten einander aus tiefster Seele, und das schon seit Langem.
Hartes erste Worte waren: »Na endlich, Mr Aubrey! Wo zum Teufel haben Sie gesteckt? Ich habe Sie schon gestern Nachmittag erwartet – auch Allen hat gestern mit Ihnen gerechnet. Aber zu meiner Verblüffung musste ich erfahren, dass er Sie nicht finden konnte. Natürlich gratuliere ich Ihnen«, sagte er ohne jedes Lächeln, »aber bei Gott, Sie haben eine seltsame Methode, Ihr neues Kommando anzutreten. Bestimmt ist Allen inzwischen zwanzig Meilen von Menorca entfernt und hat alle tüchtigen Seeleute von der Sophie mitgenommen, ganz zu schweigen von seinen Offizieren. Und was die Logbücher, Musterrollen und Inventarlisten betrifft, so mussten wir die recht und schlecht ohne Sie abschließen. Höchst irregulär. Alles höchst irregulär.«
»Die Pallas ist schon ausgelaufen, Sir?«, rief Jack entsetzt.
»Um Mitternacht, Sir«, bestätigte Captain Harte schadenfroh. »Die Erfordernisse des Dienstes richten sich eben nicht nach unseren Vergnügungen, Mr Aubrey. So war ich gezwungen, die noch im Hafen anfallenden Geschäfte für Sie zu erledigen.«
»Ich habe erst gestern Abend von meiner Beförderung erfahren – vielmehr erst heute Morgen, zwischen eins und zwei.«
»In der Tat? Wie erstaunlich. Da bin ich aber sehr verwundert. Der Brief ist jedenfalls rechtzeitig an Sie abgegangen. Die Schuld liegt zweifellos bei den Leuten in Ihrer Herberge. Auf Ausländer kann man sich eben nicht verlassen. Natürlich wünsche ich Ihnen viel Glück mit Ihrem neuen Schiff, aber wie Sie es ohne Leute jemals aus dem Hafen bringen wollen, ist mir ein Rätsel, muss ich gestehen. Allen hat seinen Leutnant mitgenommen, seinen Bordarzt und die tüchtigeren Fähnriche. Und ich kann Ihnen bestimmt keinen einzigen Mann abgeben, jedenfalls keinen mit zwei gesunden Armen und Beinen.«
»Na ja, Sir«, sagte Jack, »dann muss ich eben das Beste daraus machen.« Allens Verhalten war ihm nur zu verständlich: Natürlich wechselte jeder Offizier, dem die Chance dazu geboten wurde, gerne von einer kleinen, langsamen alten Brigg auf eine so glückhafte Fregatte wie die Pallas über. Und von alters her war es Brauch, dass ein Kommandant bei der Versetzung seinen Bootssteurer samt Crew und gewisse Gefolgsleute mitnehmen durfte; falls man ihm dabei nicht streng auf die Finger sah, nützte er das natürlich schamlos aus, indem er den Kreis beträchtlich erweiterte.
»Ich kann Ihnen höchstens einen Kaplan überlassen.« Damit streute Harte genüsslich Salz in die Wunde.
»Kann er aufentern, reffen und Ruder gehen?« Jack war fest entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. »Andernfalls würde ich lieber auf ihn verzichten.«
»Dann leben Sie wohl, Mr Aubrey. Ihre Befehle lasse ich Ihnen am Nachmittag zukommen.«
»Guten Tag, Sir. Mrs Harte ist doch hoffentlich zu Hause? Ich muss ihr noch meine Aufwartung machen und ihr gratulieren – ihr danken für den Genuss, den sie uns gestern Abend bereitet hat.«
»Waren Sie denn auch beim Gouverneur«, fragte Captain Harte, obwohl er es ganz genau wusste; sein schmutziger kleiner Trick mit dem verzögerten Brief beruhte schließlich auf diesem Wissen. »Tja, wenn Sie dort nicht den Lebemann gespielt hätten, wären Sie rechtzeitig an Bord Ihrer Slup gewesen, wie es sich für einen Kommandanten geziemt hätte. Mein Gott, was sind das für haarsträubende Unsitten, wenn ein junger Bursche sich lieber mit italienischen Fiedlern und Eunuchen abgibt, als pünktlich sein erstes Schiff zu übernehmen!«
Der sonnige Tag kam Jack nicht mehr ganz so heiter vor, als er diagonal über den Patio schritt, um Mrs Harte seinen Besuch abzustatten. Trotzdem war ihm ziemlich heiß in seinem Uniformrock, weshalb er schnell dem Schatten zustrebte und im Sturmschritt die Treppe erklomm, wobei die schwere Epaulette ungewohnt, aber angenehm auf seiner Schulter wippte. Ein Leutnant, den er nicht kannte, und der steife Fähnrich vom letzten Abend waren ihm zuvorgekommen, denn in Port Mahón galt es allgemein als schick, Mrs Harte einen Morgenbesuch abzustatten. Sie saß höchst dekorativ an ihrer Harfe und unterhielt sich mit dem Leutnant; als Jack eintrat, sprang sie auf, reichte ihm beide Hände und rief: »Captain Aubrey, wie schön, Sie zu sehen! Meinen allerherzlichsten Glückwunsch! Kommen Sie, wir müssen den Schwabber begießen. Parker, haben Sie die Güte zu klingeln.«
»Ich gratuliere ebenfalls«, sagte der Leutnant, erfreut durch den bloßen Anblick der Epaulette, nach der es ihn so sehr gelüstete. Der Fähnrich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, im Zweifel darüber, ob er in so vornehmer Gesellschaft überhaupt das Wort ergreifen durfte; dann, als Mrs Harte gerade die Herren einander vorzustellen begann, platzte er überlaut heraus: »Gratuliere, Sir« – und wurde puterrot.
»Mr Stapleton, Dritter Offizier auf der Guerrier«, fuhr Mrs Harte mit einem Wink ihrer Hand fort. »Und Mr Burnet von der Isis. Carmen, bring uns Madeira.« Sie war eine temperamentvolle, attraktive Frau; ohne wirklich hübsch oder gar schön zu sein, erweckte sie doch diesen Eindruck, allein durch ihre elegante Haltung. Sie verachtete den Gnom, mit dem sie verheiratet war und der vor ihr kroch; aufs Harfenspiel war sie verfallen, um sich seiner wenigstens zeitweise zu entledigen. Aber die Musik allein schien ihr als Ausweg nicht zu genügen, denn sie schenkte sich nun ein großes Glas Wein ein und leerte es mit einer Routine, die von langer Praxis zeugte.
Wenig später verabschiedete sich Mr Stapleton, und nach fünfminütigem Gespräch über das Wetter – zauberhaft, selbst mittags nicht zu heiß, kühlende Brise, der Nordwind zwar ein bisschen lästig, aber gesund, fast schon Sommer im April, ganz im Gegensatz zum verregneten Frühling Englands, warmes Wetter immer angenehmer als kaltes – bat Mrs Harte: »Mr Burnet, ob ich Sie wohl um einen kleinen Dienst ersuchen dürfte? Ich habe gestern beim Gouverneur mein Ridikül vergessen.«
»Wie reizend du gespielt hast, Molly«, sagte Jack, sobald sich die Tür hinter dem Fähnrich geschlossen hatte.
»Jack, ich bin sehr froh, dass du endlich ein Schiff bekommen hast.«
»Ich auch. Nie im Leben war ich glücklicher. Noch gestern fühlte ich mich derart unnütz und deprimiert, dass ich mich am liebsten erhängt hätte, aber dann kam ich in die Crown zurück und fand dieses Schreiben vor. Ist es nicht großartig?«
In ehrfürchtigem Schweigen lasen sie gemeinsam Lord Keiths Brief.
»Wobei Sie im Fall der Zuwiderhandlung Gefahr laufen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden«, zitierte Mrs Harte. »Jack, ich flehe dich an, nimm keine Neutralen als Prisen. Diese Bark aus Ragusa, die uns der arme Willoughby nach Mahón geschickt hat, wurde nicht als Prise anerkannt, und nun will der Reeder ihn verklagen.«
»Keine Sorge, liebste Molly«, beruhigte Jack sie. »Ich versichere dir, dass ich noch eine ganze Weile nicht zur Jagd auf Prisen kommen werde. Dieser Brief hat mich mit Verspätung erreicht – mit einer verdammt seltsamen Verspätung –, und Allen hat sich mit meinen besten Leuten davongemacht; er wurde mit unchristlicher Hast auf See geschickt, ehe ich ihn sprechen konnte. Und dein Mann macht einen Riesenwirbel um die Dinge, die ich noch zu erledigen habe; er kann mir angeblich keinen einzigen Ersatzmann stellen. Wie es aussieht, könnte ich das Schiff nicht mal auf See bringen. Ich darf wohl sagen, dass wir noch lange im Hafen schmoren werden, ehe wir auch nur den Schwanz einer Prise zu sehen bekommen.«
»Oh, wirklich?« Mrs Harte errötete vor Empörung.
In diesem Augenblick trat Lady Warren ein, begleitet von ihrem Bruder, einem Hauptmann der Marineinfanterie. »Liebste Anne«, rief Molly Harte ihr entgegen, »komm her und hilf mir, ein ganz entsetzliches Unrecht wiedergutzumachen. Dies ist Captain Aubrey – du kennst ihn doch?«
»Ihr Diener, Madam«, sagte Jack und machte einen besonders tiefen Kratzfuß, denn Lady Warren war immerhin die Frau eines Admirals.
»Ein ausnehmend tapferer, verdienter Offizier«, fuhr Mrs Harte fort, »außerdem ein anständiger Tory und General Aubreys Sohn. Ihm ist ganz abscheulich mitgespielt worden …«
Während sich Jack bei Molly Harte aufgehalten hatte, war der Tag draußen immer wärmer geworden, und als er jetzt auf die Straße trat, schlug ihm die Hitze wie aus einem Backofen ins Gesicht. Dennoch war die Luft weder stickig noch drückend, sondern von so leuchtender Brillanz, dass sie eher anregend wirkte. Jack bog um einige Ecken, bis er die Allee erreicht hatte, die nach Ciudadela führte und dabei den hoch gelegenen Platz überquerte, der wie eine Terrasse Aussicht auf die Bucht bot. Er wechselte auf die schattige Seite hinüber, wo die typisch englischen Häuser mit Schiebefenstern, Lamellentüren und gepflasterten Vorplätzen überraschend gut zu ihren Nachbarn passten, der barocken Jesuitenkirche und einigen spanischen Villen mit abweisend geschlossenen Fensterläden und großen steinernen Familienwappen über den Portalen.
Auf der anderen Straßenseite schlenderte ein Trupp Matrosen vorbei; einige trugen breit gestreifte Hosen, andere einfaches Segelzeug; manche leuchtend rote Westen waren darunter und mehrere simple blaue Jacken; gegen die Sonne schützten sie sich mit einer Vielfalt von Kopfbedeckungen: schwarze, geteerte Hüte, breite Strohsombreros oder nur ein buntes Taschentuch mit Knoten an allen vier Ecken. Aber auf jedem Rücken baumelte ein langer Zopf, und alle strahlten die selbstsichere Unbekümmertheit der Kriegsmarine aus. Es waren Leute von der Bellerophon. Jack beobachtete neidisch, wie sie lachend vorbeimarschierten, den Passanten gutmütige Spottworte auf Englisch oder Spanisch zubrüllend. Als er sich dem Platz näherte, sah er durch das hellgrüne frische Laub die Mastspitzen und Bramrahen der Généreux emporwachsen, die am Kai liegend ihre Segel in der grellen Sonne trocknete. Die belebte Straße, die grünen Bäume und der blaue Himmel darüber boten ein Bild, bei dem jedermanns Herz vor Freude gehüpft wäre. Auch Jacks Herz jubilierte, allerdings nicht bis in den letzten Winkel. Ein kleiner Teil blieb erdenschwer, denn darin nistete die Sorge um eine Besatzung. Schon in seinen ersten Tagen bei der Royal Navy hatte er den Fluch des chronischen Personalmangels schmerzhaft am eigenen Leibe zu spüren bekommen: Seine erste ernsthafte Wunde brachte ihm eine Frau mit einem heißen Bügeleisen bei, die ihren Mann nicht der Pressgang überlassen wollte. Aber er hatte nicht damit gerechnet, sich schon so früh, in so krasser Form und ausgerechnet im Mittelmeer mit dieser Crux auseinandersetzen zu müssen.
Dann stand er auf dem Platz mit seinen alten Bäumen und der großen geteilten Freitreppe, die in zwei schwungvollen Bögen zum Kai hinunterführte – einer Treppe, die unter britischen Seeleuten seit hundert Jahren als Pigtail Steps bekannt war und die Ursache für manchen gebrochenen Knochen und angeknackten Schädel. Jack ging bis zu der niedrigen Mauer, die beide Treppen oben trennte, und blickte auf die weite, geschützte Bucht hinaus, die sich links bis zum fernen Hafen und rechts an der Hospitalinsel vorbei bis zur engen, vom Fort bewachten Einfahrt erstreckte. Links unter ihm lagen die Kauffahrer: Dutzende, ja wahrscheinlich Hunderte von Feluken, Tartanen, Schebecken, Pinken, Pollaccas, Houaris und Schwammfischerbarken – so gut wie alle mediterranen Takelungsarten waren vertreten und dazu noch einige aus den nördlichen Meeren: See-Tjalken, Katschiffe und Heringslogger. Ihm gegenüber und zu seiner Rechten lagen die Krieger: zwei Linienschiffe, beide mit vierundsiebzig Kanonen; eine schnittige Achtundzwanzig-Kanonen-Fregatte, die Niobe, der die Besatzung gerade einen roten Streifen unter dem gewürfelten Band der Stückpforten verpasste, wohl nach dem Vorbild eines Spaniers, der ihrem Kommandanten gefallen hatte; dazu eine ganze Reihe Truppentransporter und Tender. Und zwischen allen Ankerliegern, dem Kai und der Treppe hasteten unzählige Boote hin und her – Pinassen, Barkassen, Schaluppen, Kutter, Jawls und Gigs, bis hinunter zur kleinen Jolle der Bombarde Tartarus, die unter dem enormen Gewicht ihres dicken Zahlmeisters fast versank. Noch weiter rechts strebte der prächtige Kai in weitem Bogen der Werft, dem Versorgungs- und Proviantpier sowie der Quarantäne-Insel zu. Dahinter lagen noch mehr Schiffe. Hoffnungsvoll beugte sich Jack weit vor, um wenigstens einen Blick auf das Objekt seiner Liebe zu erhaschen, aber die Sophie war nicht zu sehen. Widerstrebend wandte er sich nach rechts, wo Mr Williams’ Büro lag. Mr Williams war in Mahón der Repräsentant der höchst respektablen Firma Johnstone & Graham, seines Prisenagenten in Gibraltar. Diese Kanzlei musste Jack als Nächstes aufsuchen, denn es schien ihm lächerlich, klimperndes Gold auf der Schulter, aber keines in der Tasche zu tragen; außerdem brauchte er eilends Bargeld für eine ganze Reihe drängender Verpflichtungen – Kulanzgeschenke, Trinkgelder und Ähnliches –, deren er sich unmöglich auf Kredit entledigen konnte.
Mit dem größten Selbstvertrauen, als hätte er persönlich die Schlacht von Abukir gewonnen, betrat er die Kanzlei und wurde ausnehmend höflich empfangen. Als sie das Geschäftliche erledigt hatten, fragte der Agent: »Ich nehme an, Sie haben schon mit Mr Baldick gesprochen?«
»Dem Ersten Offizier der Sophie?«
»Ebendiesem.«
»Aber er ist doch mit Captain Allen ausgelaufen – an Bord der Pallas.«
»Da irren Sie, Sir, wenn ich das sagen darf. Er liegt im Hospital.«
»Das überrascht mich.«
Lächelnd zog der Agent die Schultern hoch und hob entschuldigend die gespreizten Hände: Er war im Besitz der Wahrheit und Jack im Irrtum, deshalb musste er für seine Überlegenheit um Pardon bitten. »Mr Baldick wurde gestern am späten Nachmittag mit einem leichten Fieber ins Hospital eingeliefert – ins kleine Hospital oben bei den Kapuzinern, nicht in das auf der Insel. Um die Wahrheit zu sagen«, der Agent hielt als Zeichen der Verschwörung die Hand vor den Mund und sprach jetzt leiser, »er konnte den Bordarzt der Sophie nicht leiden, und die Aussicht auf eine Reise unter seinen Händen widerstrebte Mr Baldick. Zweifellos wird er sich, sobald er wiederhergestellt ist, in Gibraltar an Bord zurückmelden. Und nun, Captain«, fuhr der Agent mit gezwungenem Lächeln und schiefem Blick fort, »möchte ich mir mit Ihrer Erlaubnis die Freiheit herausnehmen, Sie um einen Gefallen zu bitten. Eine Cousine meiner Frau hat einen Sohn, der zur See fahren möchte – er will später einmal Zahlmeister werden. Er ist ein heller Junge mit einer sauberen Handschrift und einem Talent für Zahlen; das weiß ich genau, weil er seit Weihnachten hier im Büro gearbeitet hat. Falls Sie also noch niemanden zu Ihrem Schreiber bestimmt haben, Sir, stünde ich für immer in Ihrer Schuld …« Das Lächeln fiel dem Agenten schwer, denn er war es nicht gewohnt, einen Gefallen zu erbitten, jedenfalls nicht von einem Marineoffizier, und er fühlte sich beim Gedanken an eine Absage äußerst unbehaglich.
Jack überlegte. »Genau genommen habe ich für die Stelle noch niemanden vorgesehen. Sie bürgen natürlich für ihn? Also, dann sage ich Ihnen was, Mr Williams: Sie besorgen mir zusätzlich einen Vollmatrosen, dann nehme ich den Jungen.«
»Ist das Ihr Ernst, Sir?«
»Ja … Ja, eigentlich schon. Doch, es ist mein Ernst.«
»Also abgemacht.« Der Agent hielt ihm die Rechte hin. »Sie werden es nicht bedauern, Sir, mein Wort darauf.«
»Da bin ich ganz sicher, Mr Williams. Aber vielleicht sollte ich ihn mir trotzdem mal ansehen.«
David Richards war ein simpler, farbloser Junge – farblos auch im wörtlichen Sinne, bis auf einige violette Pickel –, aber seine nur mühsam unterdrückte Aufregung und sein verzweifeltes Bemühen, Jack zu gefallen, hatten etwas Rührendes.
Jack musterte ihn freundlich. »Mr Williams behauptet, Sie hätten eine gut leserliche Handschrift, Sir«, sagte er. »Würden Sie gleich mal eine Botschaft für mich niederschreiben? Sie geht an den Segelmeister der Sophie. Wie war noch sein Name, Mr Williams?«
»Marshall, Sir, William Marshall. Ein erstklassiger Navigator, wie man hört.«
»Umso besser.« Jack erinnerte sich an seinen eigenen Kampf mit den nautischen Tafeln und an die bizarren Standorte, die er bisweilen errechnet hatte. »Also an Mr William Marshall, Segelmeister auf Seiner Majestät Slup Sophie: ›Captain Aubrey empfiehlt sich Mr Marshall und teilt mit, dass er gegen ein Uhr mittags an Bord zu kommen gedenkt.‹ Das sollte ihm genug Zeit zur Vorbereitung geben. Ja, sehr hübsch geschrieben. Sie sorgen dafür, dass er die Nachricht bekommt?«
»Ich bringe sie sofort persönlich hin, Sir«, rief der Junge eifrig, wobei ihm hektische Röte in die Wangen stieg.
Sapperlot, sagte sich Jack, als er zum Hospital hinaufstieg und das weite, dürre, abweisende Land zu beiden Seiten der belebten See überblickte, Sapperlot, wie gut es doch tut, ab und zu mal den lieben Gott zu spielen.
»Mr Baldick?«, fragte er. »Mein Name ist Aubrey. Da wir beinahe Bordgenossen geworden wären, komme ich vorbei, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. Ich hoffe, Sie sind auf dem Wege der Besserung, Sir?«
»Sehr freundlich von Ihnen, Sir.« Leutnant Baldick mochte um die fünfzig sein; silbrige Bartstoppeln bedeckten den unteren Teil seines blauroten Gesichts, obwohl sein Kopfhaar noch schwarz war. »Überaus freundlich. Danke, Captain, vielen Dank. Freut mich, Ihnen sagen zu können, dass es mir schon viel besser geht, seit ich den Klauen dieses bösartigen Quacksalbers entronnen bin. Würden Sie das glauben, Sir? Ich bin jetzt siebenunddreißig Jahre bei der Marine, neunundzwanzig davon als Offizier, und da will er mich mit einer Wasserkur und mit Fasten behandeln. Wards Pillen und Tropfen taugen angeblich nichts mehr, sollen sogar das reine Gift sein. Und doch hab ich mich das ganze letzte Jahr in Westindien damit kuriert, als wir in zehn Tagen zwei Drittel der Backbordwache durch das gelbe Fieber verloren. Ich schwör’s, sie haben mich vorm Fieber gerettet, ganz zu schweigen von Skorbut, Ischias, Rheuma und der verdammten Ruhr. Aber jetzt heißt es plötzlich, sie taugen nichts. Ach, sollen sie doch schwadronieren, diese aufgeblasenen Milchbübchen von der Universität, auf ihrer Approbation ist ja noch nicht mal die Tinte getrocknet! Ich bleibe bei meinen Tropfen.«
Und bei Gevatter Grog, dachte Jack, denn Boswicks Bett stank wie die Rumlast eines Linienschiffs. »Also hat die Sophie auch ihren Arzt verloren«, sagte er, »nicht nur die besten Seeleute.«
»Der ist kein großer Verlust, Sir, da kann ich Sie beruhigen. Obwohl die Besatzung nichts auf ihn kommen ließ – sie schworen auf ihn und seine Tinkturen, diese Hornochsen. Waren ganz verzweifelt über sein Abmustern. Wie Sie hier im Mittelmeer einen Ersatz für ihn finden wollen, ist mir schleierhaft. Sind seltene Vögel, diese Quacksalber. Aber egal, was die Leute reden, es ist nicht schade um ihn. Eine Schatulle mit Wards Tropfen tut’s genauso, nein, besser. Und der Zimmermann bei Amputationen. Darf ich Ihnen einen Schluck anbieten, Sir?« Jack schüttelte dankend den Kopf. »Was den Rest betrifft, so war Captain A. noch recht bescheiden. Die Pallas hatte ja eine fast vollzählige Besatzung, da hat der Kommandant nur seinen Neffen und den Sohn eines Freundes mitgenommen. Und natürlich die Amerikaner, abgesehen von seinem Bootssteurer und seinem Steward. Und seinen Schreiber.«
»Viele Amerikaner?«
»O nein, nicht mehr als ein halbes Dutzend. Alles Landsleute von ihm, aus der Umgebung von Halifax.«
»Na, da bin ich aber erleichtert. Man hat mir gesagt, die Brigg sei so gut wie entvölkert.«
»Wer hat das gesagt?«
»Captain Harte.«
Mr Baldick presste die Lippen zusammen und schnaubte verächtlich durch die Nase. Er zögerte, nahm einen Schluck aus seinem Henkelbecher und knurrte: »Ich kenne Captain Harte jetzt gut und gern dreißig Jahre. Es macht ihm großen Spaß, die Leute hereinzulegen. So was hält er für einen guten Witz.« Während sie gemeinsam über Captain Hartes tückischen Humor nachdachten, leerte Mr Baldick seinen Becher bis zur Neige. »Nein«, sagte er dann und knallte ihn auf den Nachttisch, »wir haben Ihnen genug Leute dagelassen, fast ’ne komplette Crew. Ein oder zwei Dutzend erstklassige Toppgasten, und vom Rest ist bestimmt die Hälfte auf Kriegsschiffen groß geworden, das ist mehr, als man heutzutage von den meisten Kreuzern sagen kann. In der anderen Hälfte sind ein paar heillose Lumpen, aber die gibt’s in jeder Crew … Übrigens, Captain A. hat Ihnen über einen davon eine Notiz hinterlassen, er heißt Isaac Wilson, Leichtmatrose. Wenigstens haben Sie keine verdammten Aufwiegler an Bord. Außerdem sind die Deckoffiziere dageblieben, größtenteils erfahrene Salzbuckel von altem Schrot und Korn. Watt, der Bootsmann, versteht sein Geschäft besser als jeder andere in der Flotte. Und Lamb, der Zimmermann, ist ein ordentlicher, verlässlicher Kerl, höchstens ein bisschen langsam und ängstlich. Auch George Day, der Stückmeister, ist ein guter Mann, wenn er gesund ist; er hat nur die dumme Angewohnheit, ab und zu krank zu werden. Der Zahlmeister Ricketts ist ganz erträglich für seinesgleichen. Die Mastersgehilfen Pullings und der junge Mowett sind brauchbare Wachführer: Pullings hat schon vor Jahren das Leutnantsexamen bestanden, aber nie ein Patent gekriegt. Und von den jungen Herrchen haben wir Ihnen nur zwei dagelassen, Ricketts’ Sprössling und Babbington. Holzköpfe alle beide, aber keine Strolche.«
»Und was ist mit dem Master? Er soll ja ein guter Navigator sein.«
»Marshall? Doch, das ist er wohl.« Baldick schnaubte abermals verächtlich; inzwischen musste er einen Viertelliter Rum intus haben. Wohl deshalb meinte er vertraulich: »Ich weiß ja nicht, was Sie von den warmen Brüdern halten, Sir. Aber ich sage, sie sind unnatürlich.«
»Na ja, da ist was dran, Mr Baldick.« Jack merkte, dass Mr Baldick damit noch nicht zufrieden war, und fügte hinzu: »Kann nicht sagen, dass sie mir gefallen – mein Bier ist das nicht. Aber ich muss gestehen, ich sehe es ungern, wenn ein Mann dafür gehenkt wird. Sie sprechen von den Schiffsjungen, nehme ich an?«
Mr Baldick schüttelte gewichtig den Kopf. »Nein«, antwortete er schließlich. »Nein. Ich meine ja nicht, dass er’s praktiziert. Jetzt nicht mehr. Aber nun Schluss damit, ich rede nicht gern schlecht über jemanden hinter seinem Rücken.«
»Zum Nutzen der Navy …«, begann Jack und beendete den Satz nur mit einer vagen Geste. Bald danach verabschiedete er sich, denn der Kranke war in kalten Schweiß ausgebrochen und delirierte erbärmlich. Die immer noch zunehmende Tramontana peitschte die Palmwedel mit einer Kraft, die zwei Reffs in den Bramsegeln erfordert hätte. Der Himmel strahlte von Kimm zu Kimm in wolkenlosem Blau. Draußen vor dem Hafen hatte sich ein kurzer, steiler Seegang aufgebaut, und die Luft schmeckte scharf nach Salz oder Wein. Jack drückte sich den Hut fester auf den Kopf, nahm einen tiefen Atemzug und sagte laut: »Bei Gott, das Leben ist schön!«
Er hatte sich seine Zeit gut eingeteilt. Als Nächstes ging er zur Crown und sorgte dafür, dass sein Abendessen mit Dr. Maturin geziemend üppig ausfallen würde; danach konnte er noch seinen Uniformrock ausbürsten und ein Glas Wein trinken. Seine Bestallung musste er nicht erst suchen – er hatte sie die ganze Zeit bei sich getragen: Sie stak in seiner Brusttasche und raschelte leise bei jedem seiner Atemzüge.
Als er um Viertel vor eins zum Kai hinunterging, fühlte er sich seltsam eng um die Brust. Und als er im Übersetzboot saß, sagte er nur »Sophie« zu dem Fährmann, denn sein Herz schlug heftig, und das Schlucken fiel ihm schwer. Fürchte ich mich etwa? fragte er sich und blickte auf seinen Säbelknauf nieder, ohne zu merken, wie behände das Boot durch den Hafen glitt, zwischen den dicht an dicht liegenden Schiffen hindurch, bis sich Sophies Bordwand vor ihnen erhob und der Fährmann mit seinem Bootshaken zu hantieren begann.
Unwillkürlich ließ er den Blick schnell über die Brigg schweifen und fand die Rahen mit den ordentlich aufgetuchten Segeln schön parallel gebrasst, die Seitenpforte besetzt, den Bootsmann mit blitzender Silberpfeife an den Lippen und die Schiffsjungen mit weißen Handschuhen beim Ausbringen der Jakobsleiter. Dann legte sich sein Boot mit leisem Knarren gegen die Bordwand der Slup, und er kletterte daran empor, begleitet vom gellenden Zwitschern der Bootsmannspfeife. Als sein Fuß das Seitendeck berührte, erklang ein heiserer Befehl, die Seesoldaten klopften ihre Griffe, präsentierten die Musketen, und die Offiziere rissen sich den Hut vom Kopf. Als er das Achterdeck betrat, lüftete Jack den seinen ebenfalls und grüßte die Flagge.
Die Deckoffiziere und Fähnriche in ihren besten Uniformen bildeten auf dem weiß gescheuerten Deck eine lockere, blau-weiße Gruppe; daneben stand das rote Karree der Seesoldaten. Aller Augen hingen gespannt an dem neuen Kommandanten. Der blickte ernst drein, sogar streng, und nach einer kurzen Pause, in der man den Bootsmann drohend murmeln hörte, befahl er: »Mr Marshall, stellen Sie mir bitte die Offiziere vor.«
Jeder trat einzeln vor, der Zahlmeister, die Mastersgehilfen, die Fähnriche, der Stückmeister, der Zimmermann und der Bootsmann; alle machten, von der Besatzung kritisch beobachtet, ihre Diener.
Schließlich sagte Jack: »Mein Herren, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mr Marshall, rufen Sie bitte alle Mann nach achtern. Da wir keinen Ersten haben, werde ich der Besatzung meine Bestallung selbst vorlesen.«
Niemand musste erst von unten heraufgerufen werden, denn die Neugier hatte alle, sauber geschrubbt und glänzend, an Deck gelockt. Dennoch pfiffen der Bootsmann und seine Gehilfen eine gute halbe Minute lang das Signal Alle Mann nach achtern in die Luken hinunter. Dann verstummten die Pfeifen, Jack trat vor den Aufbau des Hüttendecks und zog seine Bestallung heraus. Sowie das Dokument sichtbar wurde, erklang der Befehl Hüte ab, und Jack begann mit fester, aber etwas gezwungener und monotoner Stimme zu lesen.
»Im Auftrag Seiner Hochwohlgeboren Lord Keith …«
Während er die vertrauten Formulierungen wiederholte, die jetzt immens an praktischer Bedeutung gewonnen hatten, kehrte sein Glücksgefühl zurück; es überlagerte den Ernst der Situation, sodass er mit feurigem Schwung schloss: »Vorstehendem haben Sie und alle Ihre Untergebenen zu gehorchen, wobei Sie im Fall der Zuwiderhandlung Gefahr laufen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.« Damit faltete er das Schreiben wieder zusammen, nickte der Besatzung zu und steckte es ein. »Sehr gut«, sagte er. »Lassen Sie die Männer wegtreten. Und jetzt wollen wir das Schiff inspizieren.«
An der Spitze einer respektvoll schweigenden Prozession sah Jack genau das, was er erwartet hatte: ein zur Inspektion aufgeklartes Schiff, das den Atem anzuhalten schien, damit nichts die Perfektion des wunderschön getrimmten Riggs mit seinen sauber aufgeschossenen Schoten und genau senkrechten Fallen störte. Mit dem Alltagsgesicht der Sophie hatte das alles nicht mehr Ähnlichkeit als der steife, schwitzende Bootsmann in seinem Uniformrock, der wie mit der Breitaxt zurechtgehauen wirkte, mit dem gewöhnlichen Unteroffizier, der bei rauer See in Hemdsärmeln auf der Großbramrah balancierte. Und doch ließen sich Gemeinsamkeiten nicht völlig leugnen, und der Schwung der schneeweißen Decksplanken, das warme Funkeln der beiden bronzenen Vierpfünder auf dem Achterdeck, die Präzision der Walzen in der Taulast und die Paradeformation der Töpfe und Pfannen in der Kombüse besaßen alle eine tiefere Bedeutung. Jack hatte selbst schon zu viele schwarze Schafe weiß angestrichen, als dass man ihn leicht täuschen konnte. Er war angetan von dem, was er sah. Er sah und billigte alles, was er sehen sollte, und verschloss klug die Augen vor dem, was er nicht sehen sollte: das Stück Speck, das eine pfiffige Vorschiffskatze hinter einer Pütz hervorzerrte; die Frauen, die, von den Bootsmannsgehilfen in der Segellast versteckt, neugierig über die Tuchberge schielten; er ignorierte die Ziege hinter dem vorderen Waschbord, die ihn aus ihren teuflischen Pupillenschlitzen herausfordernd anstarrte und das Deck absichtsvoll beschmutzte; ebenso übersah er die undefinierbare, an einen Pudding erinnernde Masse, die jemand in der Panik der letzten Minute hinter die Bugsprietzurring gestopft hatte.
Dabei besaß Jack einen sehr scharfen, professionellen Blick – schließlich fuhr er offiziell seit seinem neunten und tatsächlich seit seinem zwölften Lebensjahr zur See –, und dieser Blick registrierte eine Vielzahl anderer Eindrücke. Der Segelmeister war ganz anders, als er erwartet hatte: ein großer, gut aussehender, tüchtiger Mann mittleren Alters – die Schnapsdrossel Baldick musste da einiges missverstanden haben. Den Charakter des Bootsmanns konnte Jack vom Rigg ablesen: vorsichtig, solide, gewissenhaft und traditionell. Zahlmeister und Stückmeister wirkten unauffällig, wobei Letzterer offenbar zu krank war, um sich von seiner besten Seite zu zeigen, und sich auf halbem Weg heimlich verdrückte. Die Fähnriche fand Jack brauchbarer als erwartet: auf Briggs und Kuttern waren ihresgleichen oft ein ziemlich jämmerlicher Haufen. Nur dieses Kind namens Babbington ließ man besser in den Kleidern, die es trug, nicht an Land; seine Mutter musste mit einem Wachstum gerechnet haben, das ausgeblieben war, und allein schon der Hut deckte das Kerlchen so lächerlich zu, dass es das Schiff zum Gespött gemacht hätte.
Jacks Haupteindruck war der einer soliden Betulichkeit. Die Sophie wirkte irgendwie altmodisch, als hätte sie ihr Unterwasserschiff lieber mit Nägeln beschlagen als mit Kupferblech und ihre Bordwände lieber geteert als mit Farbe gestrichen. Ihre Besatzung – die eigentlich gar nicht so alt, sondern im Durchschnitt um die zwanzig war – sah ebenfalls altmodisch aus; einige trugen Kniehosen und Schuhe aus Öltuch, was schon seit Jahrzehnten aus der Mode war. Doch die Männer bewegten sich behände und entspannt, stellte er fest; sie schienen recht neugierig zu sein, aber nicht im Geringsten aufsässig, verbittert oder kriecherisch. Jawohl: Die Sophie war altmodisch. Zwar liebte er sie schon aufrichtig – hatte sie sofort geliebt, als er mit den Augen zum ersten Mal ihre sanft geschwungenen Deckslinien gestreichelt hatte –, aber sein Verstand sagte ihm, dass sie ein langsames Schiff war, ein altes Schiff und eines, mit dem er kaum sein Glück machen konnte. Unter seinem Vorgänger hatte sie sich in einigen Gefechten achtbar geschlagen, einmal sogar gegen einen französischen Freibeuter aus Toulon, ein Vollschiff von zwanzig Kanonen. Ein andermal hatte sie bei Flaute in der Straße von Gibraltar ihren Konvoi erfolgreich gegen einen Schwarm bewaffneter Galeeren aus Algeciras verteidigt. Aber soweit er feststellen konnte, hatte sie niemals eine Prise von größerem Wert erobert.
Sie standen wieder vor dem Aufbau des seltsamen kleinen Achterkastells, und Jack trat mit eingezogenem Kopf in seine Kajüte. Gebückt ging er zur Truhenbank unter den Fenstern, die das Heck in seiner ganzen Breite einnahmen und einen elegant geschweiften Rahmen für das Panorama des Hafens von Mahón bildeten; wie eine Vedute von Canaletto leuchtete es in der lautlosen Mittagssonne und schien einer anderen Welt anzugehören. Jack setzte sich mit einer vorsichtigen seitlichen Bewegung, merkte, dass er sich ohne Probleme wieder aufrichten konnte – die Kopffreiheit im Sitzen betrug gut vier Spannen –, und sagte: »Das wär’s also, Mr Marshall. Ich kann Ihnen zum Zustand der Sophie nur gratulieren. Sehr ordentlich, sehr shipshape.« So weit glaubte er gehen zu können, falls er sich eines offiziellen Tons befleißigte, weiter aber nicht. Mehr Lob würden sie von ihm nicht zu hören bekommen, wie er auch keine Rede an die Besatzung halten oder einen Umtrunk ausgeben würde, um seinen Dienstantritt zu feiern. Nichts war ihm mehr zuwider als ein sich anbiedernder Kommandant.
»Danke, Captain«, sagte der Master.
»Ich gehe jetzt an Land, werde aber natürlich an Bord übernachten. Bitte schicken Sie deshalb ein Boot um meine Seekiste und das andere Gepäck. Ich bin in der Crown abgestiegen.«
Jack blieb noch eine Weile sitzen, um den Komfort seiner Tageskajüte zu genießen. Die sonst üblichen Heckkanonen fehlten darin, denn wegen Sophies seltsamer Bauweise hätten sich ihre Mündungen nur sechs Zoll über der Wasseroberfläche befunden. Deshalb standen die beiden sperrigen Vierpfünder an Deck, direkt über seinem Kopf. Trotzdem blieb nur Platz für einen querschiffs aufgestellten Tisch mit Stühlen, einige Wandschränke und die Heckbank. Jack hatte jedoch mehr Lebensraum zur Verfügung, als er je zuvor auf See genossen hatte, und dieses Gefühl wärmte sein Herz. Besonders entzückten ihn die edel eingefassten, nach innen gewölbten Fenster, die so klar waren, wie Glas nur sein konnte: sieben Scheiben in eleganter Flucht und ein Schmuck für den ganzen Raum.
Noch nie hatte er ein so komfortables Logis sein Eigen genannt; es war weitaus bequemer, als er in diesem frühen Stadium seiner Karriere hatte hoffen können. Woher also kam dieses leichte Unbehagen, das trotz aller Begeisterung an ihm nagte wie das aliquid amari seiner Schulzeit? Als er an Land zurückkehrte, in seiner eigenen Kommandantengig und gepullt von seinen eigenen Bootsgasten in weißem Leinen und mit Strohhüten, auf deren Bändern der Namenszug Sophie eingestickt war, während ein Fähnrich steif neben ihm auf der Heckducht saß und die Pinne bediente, da wurde ihm der Grund für sein Unbehagen endlich klar: Er war nicht länger »einer von uns«, er war jetzt einer von »denen«. Ab sofort verkörperte er die allgegenwärtige, allmächtige Autorität. Als er die Brigg inspiziert hatte, war er in Ehrerbietung eingesponnen gewesen wie in einen Kokon, man hatte ihm einen ganz anderen Respekt entgegengebracht als einem Leutnant.
Er hatte sich gefühlt wie unter einer Glasglocke, abgeschnitten vom Rest der Besatzung. Ihm war nicht entgangen, dass die Männer der Sophie, als er von Bord ging, einen kollektiven Seufzer der Erleichterung ausgestoßen hatten, den er nur zu gut kannte: »Jehova sucht uns nicht länger heim.«
Das war eben der Preis, den er bezahlen musste, sagte er sich und »Danke, Mr Babbington« zu dem Kind, als er auf die Kaitreppe sprang.
Das Boot stieß ab und pullte durch den Hafen davon, geleitet von Mr Babbingtons hohem Stimmchen: »Ruder an, wird’s endlich? Schlaf bloß nicht ein, Simmons, du Rumdrossel!«
Es ist der Preis, den ich dafür zahlen muss, wiederholte Jack in Gedanken, und die Sache weiß Gott wert. Als er sich das klargemacht hatte, begann sein Gesicht wieder vor geheimem Glück und mühsam unterdrückter Begeisterung zu glühen. Und doch verriet der zielstrebige Schritt, mit dem er sich zum Rendezvous in die Crown begab – zu einem Rendezvous mit seinesgleichen –, sehr viel mehr Entschlossenheit, als sie noch vor Kurzem den Schritt des ehemaligen Leutnants Aubrey ausgezeichnet hatte.
Der runde Tisch in Jacks Zimmer stand in einem Erker, der an der Rückfront der Crown so weit übers Hafenwasser vorsprang, dass sie die Austernschalen mit einer knappen Drehung des Handgelenks durchs Fenster in ihr altes Element zurückbefördern konnten. Von der Tartane, die fünfzig Meter unter ihnen entladen wurde, drang ein vertrautes Duftgemisch zu ihnen herauf: nach Stockholmer Teer, Hanf, Segeltuch und Chian-Terpentin.
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen noch eines von diesen Hammelrippchen vorlege, Sir?«, fragte Jack.
»Wenn Sie darauf bestehen«, antwortete Stephen Maturin. »Sie sind wirklich vorzüglich.«
»Eine Spezialität der Crown«, fuhr Jack fort. »Obwohl ich darüber eigentlich ungehalten sein müsste, denn ich hatte Entenpastete, Rinderbraten à la mode und Schweinskopfsülze bestellt, dazu ganz andere Beilagen. Wahrscheinlich hat mich der Wirt missverstanden. Weiß der Himmel, was diese Schüssel neben Ihnen enthält, Sülze ist es jedenfalls nicht. Visage de porco habe ich gesagt, ein ums andere Mal, und der Kerl hat so eifrig genickt wie ein chinesischer Mandarin. Es ist wirklich ärgerlich, wenn man fünf Gänge bestellt, sie auf Spanisch ganz genau erklärt – cinco platos – und dann feststellen muss, dass nur drei Gänge aufgetischt werden, wovon zwei sogar falsch sind. Ich bin tief beschämt, dass ich Ihnen nichts Besseres anbieten kann, aber ich versichere Ihnen, es liegt nicht an mangelndem gutem Willen meinerseits.«
»Oh, ich habe seit Tagen nicht mehr so gut gegessen, und dann noch«, mit einer Verbeugung, »in so angenehmer Gesellschaft. Mein Wort darauf!«, versicherte Stephen Maturin. »Könnte das Missverständnis vielleicht darauf beruhen«, fuhr er nach einer Pause fort, »dass Sie die Bestellung in kastilischem Spanisch aufgegeben haben?«
»Wieso?« Jack goss nach, hob sein Glas und blinzelte durch den Rotwein in die Sonne. »Es ist doch nur vernünftig, dass ich mein bestes Spanisch hervorkrame, wenn ich mit Spaniern etwas Wichtiges bespreche.«
»Gewiss. Aber Sie haben wahrscheinlich nicht berücksichtigt, dass Katalanisch das Idiom dieser Inseln ist.«
»Was ist Katalanisch?«