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Ein inklusiver Mathematikunterricht zielt auf die Teilhabe und Partizipation aller Lernenden im Unterricht. Zudem sollen mathematische Kompetenzen vermittelt werden, die grundlegend für außer- und nachschulische Teilhabe sind. In den Blick geraten dabei - über die fachliche Logik des Gegenstands "Mathematik" hinaus - die individuellen Zugangsmöglichkeiten zur Mathematik, die Rolle von Sprache sowie die Bedeutung des Lerngegenstands für den Einzelnen. Das Buch liefert den Grundriss einer inklusiven Fachdidaktik, der die fachlichen sowie die sonder- und inklusionspädagogischen Wissensbestände gewinnbringend miteinander verknüpft.
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Seitenzahl: 214
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Prof. Dr. Birgit Werner lehrt an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg am Institut für Sonderpädagogik. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Pädagogik und Didaktik im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt ›Lernen‹. Besonders widmet sie sich den Fragen des Erwerbs mathematischer Kompetenzen mit seinen vielfältigen Beeinträchtigungen bzw. Lernhürden (z. B. Dyskalkulie/Rechenschwäche; Sprache) unter Berücksichtigung der jeweiligen sozialen Kontexte (Schule, Alltag, Ausbildung, Beruf).
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1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033864-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033865-4
epub: ISBN 978-3-17-033866-1
mobi: ISBN 978-3-17-033867-8
Inklusion ist nicht nur eine der schönsten pädagogischen Visionen überhaupt, sondern auch eine gesellschaftliche Vorstellung, die vor allem auf humanistischen Werten und Normen beruht. Im Vordergrund stehen Begriffe wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstwert, Teilhabe und Partizipation.
Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer Inklusionskampagne 2013 einen kurzen Animationsfilm mit dem Titel Inklusion ist … entworfen, der aufzeigt, mit welchen Hoffnungen der Begriff verbunden ist.
Inklusion ist …
… wenn alle mitmachen dürfen.
… wenn keiner mehr draußen bleiben muss.
… wenn Unterschiedlichkeit zum Ziel führt.
… wenn Nebeneinander zum Miteinander und Ausnahmen zur Regel werden.
… wenn anders sein normal ist.
Anders ausgedrückt: Bei Inklusion geht es also darum, die auf der gesetzlich-strukturellen Ebene formulierten Bestimmungen im täglichen Zusammenleben in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar und wirksam werden zu lassen.
Inklusion ist Utopie, Weg, Wertbegriff, Methode und Zielvorstellung zugleich und weckt vielfältige Wünsche und Hoffnung auf Veränderungen und gesellschaftliche Entwicklung. Dabei beschränkt sich Inklusion keinesfalls auf Schule. Dies verdeutlicht auch der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Inklusion, der Bildung als eines von zwölf verschiedenen Handlungsfeldern (u. a. Arbeit und Beschäftigung, Bauen und Wohnen oder Kultur und Freizeit) behandelt.
Viele Autoren verbinden mit Inklusion weitreichende Vorstellungen und Hoffnungen, die sich auf verschiedenen Ebenen lokalisieren lassen.
Auf gesellschaftlicher Ebene ist das Ziel eine solidarische und sozial gerechte, diskriminierungs- und barrierefreie Gesellschaft ohne Ausgrenzung, die Diversität als Normalität ansieht. Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderung soll unter anderem ermöglicht werden, indem keine Unterscheidungen zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen vorgenommen werden und Behinderung als Zuschreibung und Kategorisierung erkannt wird.
Innerhalb des Bildungssystems soll eine chancen- und bildungsgerechte und weniger selektionsorientierte Schule für ausnahmslos alle Schüler entstehen. Inklusiver Unterricht ist kultur-, sprach- und gendersensibel und begreift Heterogenität nicht als Belastung, sondern als Chance und Bereicherung.
Personenbezogen steht Inklusion für den Versuch, Abhängigkeiten und Barrieren zu reduzieren und so u. a. Teilhabe und Partizipation und einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt zu erreichen.
Dem geneigten Leser wird schnell deutlich, welch anspruchsvolle und zum Teil idealistische Vorstellungen an Inklusion herangetragen werden. Möglicherweise handelt es sich dabei sogar um eine Aufgabe, die eigentlich nicht zu erfüllen ist: Inklusion soll einen Umbruch, eine gesellschaftliche Transformation bzw. Emanzipation oder gar einen Neuanfang des menschlichen Zusammenlebens markieren, der in eine noch nie vorhandene Dimension vorzustoßen vermag und dabei die zahlreichen Verfehlungen in der Geschichte vergessen macht.
In der vor Ihnen liegenden Buchreihe geht es keinesfalls darum, Inklusion oder ihre Idee schlecht zu reden. Vielmehr soll vor überzogenen Ansprüchen gewarnt werden, an denen letztendlich jede große Idee scheitern muss. Zu diesem Zwecke erfolgt zunächst eine grundlegende Beschäftigung mit der Thematik, bevor die weiteren Bände konkrete schulische Felder der Inklusion beleuchten und Umsetzungshilfen für Förder- und Regelschullehrkräfte bereitstellen.
Wir hoffen, Sie als Leserinnen und Leser für eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der Inklusion begeistern zu können und wünschen Ihnen eine abwechslungsreiche Lektüre!
Würzburg, im Mai 2018
Prof. Dr. Stephan Ellinger und Dr. Traugott Böttinger
Band 1: Inklusion. Gesellschaftliche Leitidee und schulische Aufgabe
Band 2: Exklusion durch Inklusion? Stolpersteine bei der Umsetzung
Band 3: Sonderpädagogische Förderung in der Regelschule
Band 4: Schulische Inklusion entwickeln. Arbeitshilfe für Schulleitungen
Band 5: Kollegiale Kooperation in inklusiven Settings
Band 6: Umgang mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in heterogenen Lerngruppen
Band 7: Mathematik inklusive. Grundriss einer inklusiven Fachdidaktik
Band 8: Teilhabe durch Grundbildung. Die Förderung Benachteiligter im Sekundarbereich I
Band 9: Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen
Band 10: Lehrergesundheit in inklusiven Settings
Vorwort zur Reihe
Inklusion praktisch
Einleitung
1 Mathematik als ›fundamentale Idee‹ und mathematische Kompetenzen
1.1 Mathematik: eine Wissenschaft, ein Unterrichtsfach oder eine Kulturtechnik?
1.2 Mathematik als ›fundamentale Idee‹
1.3 Mathematische Kompetenzen
2 Mathematikunterricht als sozial-kommunikative Situation
3 Ausgewählte Aspekte sprachlich-kommunikativer Strukturen des Mathematikunterrichts: Sprache als Unterrichtsmedium und Lerngegenstand
3.1 Sprache als Lerngegenstand
3.2 Sprache als Unterrichtsmedium
3.3 Mathematikunterricht als kommunikationsfördernder und sprachsensibler Fachunterricht
4 Ausgewählte Befunde aus den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten Lernen und Sprache
4.1 Forschungsbeitrag: »Mathe versteh ich nich …« – eine explorative Studie zum Verbalisieren mathematischer Inhalte bei Grund-, Sprachheil- und Förderschülern
Gastbeitrag von Margit Berg, Rebecca Höhr und Birgit Werner
4.2 Forschungsbefunde zur Beschreibung mathematischer Kompetenzen im Sekundarbereich I resp. bei Schülern im Förderschwerpunkt ›Lernen‹
4.3 Diskussion
5 Diskursanalyse
5.1 Mathematiklernen unter dem Aspekt Behinderung resp. sonderpädagogischer Förderbedarf
5.2 Umgang mit Heterogenität aus fachdidaktischer Perspektive
5.3 Schulische vs. außerschulische Bildungsangebote in den Kernbereichen Deutsch und Mathematik
5.4 Fachdidaktik vs. Sonderpädagogik? Überlegungen zur Diagnostik und zum ›gemeinsamen‹ Gegenstand
5.5 Vom Fach- zum inklusiven Curriculum
5.6 Fazit
6 »Mit Unterschieden muss gerechnet werden« – Konturen eines inklusiven Mathematikunterrichts
Literatur
Inklusion ist in aller Munde. Die Debatten bewegen sich im Spektrum zwischen normativen Setzungen, Ansprüchen und realer Machbarkeit, zwischen »Rhetorik und Realität« (Speck 2010) bzw. zwischen »Vision und Wirklichkeit« (Ellger-Rüttgardt 2016). Inklusion aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive intendiert die Etablierung einer ›Schule für alle‹, d. h. einer Schule mit dem Anspruch, der Verschiedenheit aller gerecht zu werden. Entsprechend der guideline for inclusion der UNESCO (2005) zeichnet sich inklusiver Unterricht neben der Anwesenheit und Akzeptanz aller Schüler1 unabhängig von ihren individuellen Lernvoraussetzungen und Entwicklungsmöglichkeiten durch gewinnbringende und entwicklungsförderliche Teilhabe und Partizipation aus (zit. nach Kunz, Luder, Gschwend & Diezi-Duplain 2005). Neben zahlreichen Debatten auf bildungstheoretischer, -politischer und schulorganisatorischer Ebene ist inzwischen ein breiter Diskurs über eine inklusive Didaktik zu beobachten (Feuser 2011; Geiling & Hinz 2005; Markowetz 2008; Prengel 2013; Reich 2014; Seitz 2009; Werning & Lütje-Klose 2016; Ziemen 2008 u. a.). Im Mittelpunkt steht die Frage nach einer Didaktik, die den Rahmen einerseits für die Gestaltung eines wissenschaftlich fundierten Fachunterrichts und andererseits für die Sicherung der Teilhabe und Partizipation aller Schüler bildet. Dieser Diskurs ist derzeit vor allem von didaktischen Theoriebildungen, Grundlegungen von Prinzipien und auch fächerübergreifenden Aspekten gekennzeichnet (Amrhein & Dziak-Mahler 2014; DGfE 2017; Musenberg & Riegert 2016; Musenberg & Riegert 2015). Begriffe wie Differenzierung, ›Gemeinsamer‹ Unterricht, Individualisierung, kooperatives Lernen, inklusives Fördern, Co-teaching und didaktische Integration aber auch Momente der Schulentwicklung werden als wesentliche Bausteine einer inklusiven Didaktik benannt. Als ebenso bedeutsame Elemente einer inklusiven Schul- und Unterrichtsgestaltung werden die Haltungen aller am pädagogischen Prozess Beteiligten, die Diagnostik sowie eine individuelle Lernbegleitung und Leistungsrückmeldungen sowie die personellen, sächlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen herausgestellt. Inklusion gilt zudem als Leitprinzip für Schule und Unterricht. Breiten Raum nehmen die Auseinandersetzungen mit den Aspekten Lese-, Lese-Rechtschreib- und Rechenschwierigkeiten (noch außerhalb der Kategorie ›Sonderpädagogischer Förderbedarf‹) sowie Zweisprachigkeit, Behinderungen und auch herausfordernde Verhaltensweisen ein.
Dies begründet die Forderung nach heterogenitätssensiblen Modellen im Fachunterricht (Moser & Kipf 2015, 33). Diese Heterogenitätsebenen dürfen sich nicht nur auf die herkömmliche Unterscheidung zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung konzentrieren, sondern müssen auch Differenzlinien wie Ethnie, Geschlecht, Migration, sozioökonomischer Status sowie sprachlich-kommunikative Kompetenzen berücksichtigen.
Die didaktischen Empfehlungen münden häufig in den Merkmalen ›guten Unterrichts‹ bzw. eines fachlich bedeutsamen und kindgerecht gestalteten Mathematikunterrichtes, die als grundlegend für inklusiven Unterricht gelten (vgl. Häsel-Weide & Nührenbörger 2017, 9f.; Käpnick 2016b; Lütje-Klose & Miller 2015). Eine fundierte, empirisch abgesicherte Theoriebildung für eine inklusive Fachdidaktik stellen die bisherigen Überlegungen jedoch nicht dar. Ebenso ist eine evidenzbasierte, inklusive Didaktik in Deutschland erst im Entstehen (Amrhein & Reich 2014, 32).
Während aus dem Primarbereich zu Fragen der Lern- und Sozialentwicklung, der Einstellungsforschung, der Professionalisierung, der fachdidaktischen Gestaltung und inklusiven Schulentwicklung relativ viele empirische Befunde vorliegen, trifft dies für den Sekundarbereich weniger zu. Dies begründet sich schon bildungsstatistisch mit den derzeitigen Inklusionsquoten von ca. 40 % im Primar- gegenüber 22 % im Sekundarbereich (Klemm 2015). Die schulischen Angebote in dieser Schulstufe bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Abschluss- und Anschlussorientierung bzw. zwischen schulischen Standards (Bildungszertifikaten/Schulabschlüssen) und anschlussfähigen individuellen Kompetenzen. Bisherige Befunde zeigen, dass die Leistungsdifferenz im Sekundarbereich zunimmt und nach Art des sonderpädagogischen Förderbedarfs variiert. Die konzeptionelle Herausforderung gerade in dieser Schulstufe besteht darin, in einem auf Segregation ausgelegtem Schulsystem inklusiv zu arbeiten. Hier sind vor allem Forschungsdesiderate hinsichtlich fachdidaktischer Themen, zu Fragen des Übergangs Schule – Beruf bzw. Berufsausbildung sowie zur Gestaltung zielgruppenspezifischer, auch zieldifferenter Bildungsangebote zu verzeichnen. Der Fokus der Inklusion muss sich stärker als bislang in dieser Schulstufe den Fragen des Übergangs Schule – Beruf bzw. Berufsausbildung zuwenden.
Die Umsetzung inklusiver Bildungsangebote und die damit verbundenen didaktisch-methodischen Aufgaben und Herausforderungen fokussieren sich auf die Frage nach den konzeptionellen Grundlagen einer inklusiven Fachdidaktik Mathematik.
In einem inklusiven Fachunterricht sind die fachdidaktischen Ansprüche des jeweiligen Unterrichtsfaches mit den individuellen Bildungsbedarfen sowie den Lernausgangslagen und -möglichkeiten der Schüler miteinander in Beziehung zu setzen. Sonderpädagogische bzw. förderschwerpunktspezifische Unterstützungsmaßnahmen sollen sich als subsidiäre, unterrichtsbegleitende, adaptive Maßnahmen zur Sicherung der Teilhabe am Unterricht verstehen.
Auch in der Fachdidaktik liegen für den Primarbereich deutlich mehr Konzepte und Modelle für inklusive Settings vor als im Sekundarbereich I.
Die bisherigen mathematikdidaktischen Überlegungen und Konzepte lassen sich mehrheitlich von dem Gegenstand Mathematik bzw. dem Auftrag, mathematische Kompetenzen zu vermitteln, leiten. Sie konzentrieren sich auf Modifikationen und Adaptionen herkömmlicher (fach-)didaktischer Zugänge wie z. B. über das Material, die Zeit, den Umfang der Aufgaben, den Einsatz technischer Hilfsmittel. Weit verbreitet ist gegenwärtig die Ausdifferenzierung der Bildungsangebote auf drei Niveaustufen, jeweils entsprechend der intendierten Schulabschlüsse (Haupt-, Realschule, Gymnasium). Die Konzepte orientieren auf einen zielgleichen Unterricht, d. h. auf die Anpassung des Lernenden bzw. die Adaption des individuellen Lernprozesses an den Lerngegenstand. Im Mittelpunkt stehen dabei häufig lern- bzw. rechenschwache Schüler. Hinweise auf beispielsweise alternative Lösungsstrategien, basierend auf situativem Erfahrungswissen außerhalb mathematikdidaktischer Überlegungen oder auch kritische Überlegungen zur Relevanz einzelner Inhalte, finden sich kaum. Ebenso ist eine Debatte um Mindeststandards bzw. Lernziele und -inhalte jenseits von Regelstandards derzeit nicht zu beobachten.
Im Gegenzug ist zu konstatieren, dass auch innerhalb der Sonderpädagogik fachdidaktische Forschungen noch eher selten sind. Hier standen und stehen seit vielen Jahren Fragen nach ethischen Grundlagen, Bildungsgerechtigkeit, Organisations- und Institutionsfragen, Klassifizierungen, Grundlage der Heterogenität, spezifische Entwicklungs- und Lebensbereiche im Vordergrund (vgl. u. a. Hedderich, Biewer, Hollenweger & Markowetz 2016). Förderschwerpunktspezifische, mathematikdidaktische Überlegungen liegen vor allem für den Primarbereich vor (Lang, Hofer & Beyer 2011; Leuders 2012; Ratz 2009; Ratz 2011; Scherer 1995; Walter, Suhr & Werner 2001; Werner 2009).
Die zentrale Herausforderung einer inklusiven Fachdidaktik Mathematik ist es, einen Unterricht zu gestalten, der alle Schüler zu Adressaten dieses Unterrichts macht. D. h. einerseits soll deren Teilhabe und Partizipation im Unterricht selbst als auch in außer- und nachschulischen Kontexten gesichert werden. Gleichzeitig aber darf der Lerngegenstand Mathematik bzw. das Lernziel ›mathematische Kompetenz‹ nicht aus dem Auge verloren werden. Eine theoretische Fundierung einer Fachdidaktik, die sowohl die fachdidaktischen als auch die sonderpädagogischen Ansprüche miteinander verknüpft, fehlt derzeit.
Diese Monografie versucht, dieses Desiderat für den schulischen Lernbereich Mathematik zu beheben. Im Gegensatz zur traditionellen Fachdidaktik Mathematik stellen die nachfolgenden Überlegungen nicht den Gegenstand Mathematik (fachwissenschaftliche Perspektive) einschließlich ihrer fachdidaktisch- und methodischen Variationen (fachdidaktische Perspektive) oder die Heterogenität der Schüler bzw. die individuellen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten (sonderpädagogische Perspektive) in den Mittelpunkt. Die Argumentationen konzentrieren sich auf die Lehr- und Lernsituation innerhalb des Mathematikunterrichts selbst. Als Basis dieser Konzeption dient das Verständnis von Unterricht als konkret ablaufende Kommunikations- und Interaktionssituation (Werner 2009). Dieses kommunikative Geschehen lässt sich – analog zum »Didaktischen Dreieck« (Bönsch 2006) – durch die drei Komponenten Sache/Gegenstand – Lehrer – Schüler beschreiben. Zwischen diesen Komponenten besteht eine enge, wechselseitige Abhängigkeit und Durchdringung, die durch das Moment der Kommunikation miteinander verbunden sind.
Als Basis für den ›gemeinsamen Gegenstand‹ Mathematik wird hier auf das Kompetenzstrukturmodell der Bildungsstandards (KMK 2004) zurückgegriffen. Dieses Modell findet auch international Anerkennung und Anwendung und begründet u. a. die Aufgabenformate der PISA-Studie. In diesem Verständnis geht mathematische Kompetenz über die bloße Anhäufung von Verfahren und Regeln, also einem grundlegenden Basiswissen, hinaus und gilt als Kulturtechnik, die – neben den schriftsprachlichen Kompetenzen – eine notwendige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe darstellt.
Teilhabe bzw. Partizipation am Mathematikunterricht erfordert umfangreiches und differenziertes sozial-kommunikatives Handeln. In diesem Verständnis von Mathematik und Mathematiklernen nimmt die Sprachkompetenz eine zentrale Stellung ein (vgl. Linneweber-Lammerskitten 2014). Sprachkompetenz berücksichtigt, dass Sprache einerseits Voraussetzung für die Partizipation am Unterricht, gleichzeitig integraler Bestandteil des Konstruktes Mathematik sowie relevant für die Anwendung und Vertiefung der erworbenen Kompetenzen ist. Ein inklusiver Unterricht muss kommunikations- bzw. sprachbedingte Barrieren identifizieren, minimieren oder kompensieren. Zur Realisierung barrierefreier (Bildungs-)Angebote wird der Fokus auf die Modellierung eines kommunikationsfördernden und sprachsensiblen Fachunterrichts gelegt.
Um die Vielfalt sprachlich-kommunikativer Heterogenität auf der Seite der Lernenden exemplarisch abzubilden, werden die Anforderungen aus dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkten »Lernen« und »Sprache« dargelegt. Die Gemeinsamkeit beider Förderschwerpunkte besteht darin, dass die Schüler im Unterricht resp. im Mathematikunterricht an der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können. Zahlreiche Studien belegen, dass in beiden Schülergruppen das Erlernen mathematischer Inhalte durch sprachlich-kommunikative Hürden sowie durch sprachlich-sozial begründete Ungleichheiten z. T. erheblich beeinträchtigt wird (u. a. Berg 2015; Donlan, Cowan, Newton & Lloyd 2007; Fazio 1996; Haag 2015; Krajewski, Schneider & Nieding 2008; Michalczyk, Krajewski, Preßler & Hasselhorn 2013; Paetsch 2016; Walzebug 2015; Werner & Berg 2015).
Dies wird durch den gemeinsamen Forschungsbeitrag von Margit Berg, Rebecca Müller und Birgit Werner – » Mathe versteh ich nich …« – Eine explorative Studie zum Zusammenhang zwischen Sprache und Mathematik bei Grund-, Sprachheil- und Förderschülern – untermauert. In der Studie wurden die mathematischen Kompetenzen, der Sprachstand sowie die mathematische Verbalisierungsfähigkeit von Schülern an Grund-, Sprachheil- und Förderschulen (n=38) erhoben. Diese Befunde wurden über ein induktiv abgeleitetes, dreigliedriges Kategoriensystem systematisiert und analysiert. Damit konnte ein theoriegeleitetes Erhebungs- und Auswertungsverfahren grundgelegt werden, das die Komplexität der Zusammenhänge zwischen mathematischen und sprachlichen Kompetenzen im Kontext Schule auch zielgruppenspezifisch auszudifferenzieren vermag (Kap. 4).
Die exemplarische Auseinandersetzung mit diesen beiden Förderschwerpunkten begründet sich zum anderen mit einem gravierenden schulrechtlichen Unterschied. Während Schüler im Förderschwerpunkt »Sprache« zielgleich unterrichtet werden, haben Schüler im Förderschwerpunkt »Lernen« einen Anspruch auf ein zieldifferentes Lernangebot. In zielgleichen Bildungsgängen folgt der Unterricht primär der Logik des angestrebten Schulabschlusses. Zieldifferente Bildungsgänge hingegen orientieren sich stärker an der Anschlussfähigkeit an nachschulische Bildungsangebote, vorrangig auf dem Ausbildungsmarkt. Die zentrale Intention ist hier nicht die Frage, ›welcher Abschluss‹, sondern ›welcher Anschluss‹ möglich ist. Beide Zugänge – abschluss- oder anschlussorientiert – provozieren eine spannungsreiche Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der jeweiligen Fachdisziplinen (Fachdidaktik, Sonderpädagogik, Erziehungswissenschaft u. a.).
Unterschiedlich sind auch die jeweiligen Ausgangsbedingungen in den Förderschwerpunkten. Für den Förderschwerpunkt »Sprache« ist festzuhalten, dass das sprachliche Handeln der Schüler bzw. ihr schulisches Lernen aufgrund ihrer spezifischen Voraussetzungen in den Bereichen Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache und Kommunikation erschwert ist. Die pädagogische Ausgangslage von Kindern und Jugendlichen im Förderschwerpunkt ›Lernen‹ »stellt sich vielfach in Verbindung mit Beeinträchtigungen der motorischen, sensorischen, kognitiven, sprachlichen sowie sozialen und emotionalen Fähigkeiten dar« (KMK Förderschwerpunkt ›Lernen‹ 1999, 3). Hier sind es vorrangig soziokulturell bedingte Benachteiligungen resp. entwicklungshemmende soziale Umwelt- und Umfeldbedingungen, brüchige Bildungsbiografien und prekäre Lebenslagen, die neben sozialer Randständigkeit, psychosozialen Verletzungen und Ausgrenzungsprozessen die Teilhabe am Unterricht erschweren. Ebenso charakteristisch sind sprachlich-kulturell bedingte Differenzen sowie psychologische Momente wie Misserfolgsorientierung, ungeeignete Lern- und metakognitive Strategien und auch lernhinderliche Selbst- und Begabungskonzepte.
Diesen Ausführungen schließen sich fachdidaktische und -methodische Überlegungen aus einzelnen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten an. Sie skizzieren in den Förderschwerpunkten evaluierte didaktisch-methodische Konzepte, die auf ihre Eignung in inklusiven Settings geprüft werden.
Nachfolgend wird der inklusionspädagogische Diskurs innerhalb der Fachdidaktik skizziert. In der Mathematikdidaktik werden Konzepte zum inklusiven Unterricht aus der fachlichen Logik des Gegenstandes ›Mathematik‹ gedacht. Die Überlegungen konzentrieren sich derzeit auf Modifikationen und Adaptionen (fach-)didaktischer Zugänge wie z. B. über das Prinzip der ›natürlichen Differenzierung‹.
Diskutiert wird des Weiteren die Relevanz außerschulischer, privater Bildungsangebote für individuelle Bildungsbiografien. Stellt die Inanspruchnahme dieser Bildungsangebote eine Form der exkludierenden Inklusion oder der inkludierenden Exklusion dar? Ermöglichen oder verhindern diese Bildungsangebote die Teilhabe am Mathematikunterricht?
Die abschließenden Überlegungen in Kapitel 6 skizzieren dann die Konturen eines inklusiven Mathematikunterrichts. Die bisherigen Befunde aus den Fachdidaktiken, der inter- bzw. transkulturellen Pädagogik, der Benachteiligten- und Sonderpädagogik, der Lern- und Entwicklungspsychologie, der Erziehungswissenschaften und anderen Disziplinen vermögen sich in ihrer Synthese diesen Ansprüchen anzunähern.
Dieses hier grundgelegte kommunikationstheoretische Konzept einer inklusiven Fachdidaktik vermag die vorhandenen fachlichen, fachdidaktischen sowie sonder- und inklusionspädagogischen Wissensbestände gewinnbringend zu verknüpfen.
1 Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, wird im Text durchgehend die männliche Sprachform verwendet.
• Die Mathematik handelt ausschließlich von den Beziehungen der Begriffe zueinander ohne Rücksicht auf deren Bezug zur Erfahrung (Albert Einstein)
• Der Mangel an mathematischer Bildung gibt sich durch nichts so auffallend zu erkennen wie durch maßlose Schärfe im Zahlenrechnen (Carl Friedrich Gauß)
• Die Mathematik als Fachgebiet ist so ernst, daß man keine Gelegenheit versäumen sollte, dieses Fachgebiet unterhaltsamer zu gestalten (Blaise Pascal)
All diese Zitate – entnommen einer online abrufbaren Zitatensammlung – dienen als Anregung, darüber nachzudenken, was Mathematik eigentlich ist (vgl. http://www.arndt-bruenner.de/mathe/Allgemein/zitate.htm o. J.). Was charakterisiert das Wesen von Mathematik? Ist Mathematik eine Natur- oder Geisteswissenschaft? Gäbe es die Mathematik, wenn es die Menschen nicht gäbe? In Wikipedia findet sich folgende Definition: Die Mathematik ist die Wissenschaft, welche aus der Untersuchung von Figuren und dem Rechnen mit Zahlen entstand. Für Mathematik gibt es keine allgemein anerkannte Definition; heute wird sie üblicherweise als eine Wissenschaft beschrieben, die selbst durch logische Definitionen geschaffene abstrakte Strukturen mittels der Logik auf ihre Eigenschaften und Muster untersucht (Wikipedia, o. J.).
Die nachfolgenden Überlegungen dienen dazu, sich dem gemeinsamen Gegenstand ›Mathematik‹ als fachlichen Kern des inklusiven Mathematikunterrichts anzunähern. Der Gegenstand ›Mathematik‹ entpuppt sich bei näherer Betrachtung als äußerst vielschichtig und komplex. Die weit verbreitete Annahme, dass Mathematik ein festgefügtes, nahezu unumstößliches, monolithisches Wissenschaftssystem ist, erweist sich als falsch.
Ein Blick auf die Entstehung bzw. Geschichte zeigt, dass Mathematik ein mehrere tausend Jahre altes Kulturgut ist. Schon aus den ältesten Kulturen sind zusammen mit den Schriftzeichen auch Dokumente mathematischer Berechnungen überliefert. Die Mathematik (griech.: mathema) ist die »ursprünglich aus den Aufgaben des Rechnens und Messens erwachsene Wissenschaft, der praktische Fragestellungen zu Grunde liegen und zu deren Behandlung Zahlen und geometrische Figuren herangezogen wurden« (dtv-Lexikon; Bd. 11 1997, 312). Mathematik und Schriftsprache sind kulturelle Erscheinungen. Sie spiegeln das Ergebnis kultureller Entwicklungen wider, deren Entwicklungen zwar zeitlich parallel, aber in deutlich unterschiedlicher Qualität verliefen (vgl. Ifrah 1998). Während sich in der Schriftsprache interkulturelle Unterschiede immer deutlich abzeichnen (werden), ist Mathematik in ihrer heutigen Form eine globale Erscheinung.
Mathematik ist eine der ältesten Wissenschaften und auch aufgrund ihrer kontinuierlichen Entwicklung sehr gut begründet. Sie nimmt heute eine zentrale Stellung im System der Wissenschaften ein und bildet eine Basis für andere Wissenschaftsbereiche wie Physik, Biologie, Mikroelektronik, Astronomie sowie Natur- und Sozialwissenschaften.
Der Kern der Mathematik sind nicht die in der Umwelt beobachtbaren Objekte, Phänomene und Ereignisse. Mathematik als Wissenschaft schreibt diesen Objekten bestimmte Eigenschaften quantitativer, räumlicher und zeitlicher Art zu, die nicht direkt von diesen abzuleiten sind. Diese Eigenschaften sind unabhängig von den Gegenständen und können wiederum auf andere Objekte angewendet werden. Für diese beobachtbaren Kategorien entwickelten die Menschen ein strenges, konventionelles Zeichen- und Begriffssystem, das den eigentlichen Gegenstand ›Mathematik‹ charakterisiert. Mathematik beschäftigt sich also nicht mit real existierenden Gegenständen, sondern mit den Zeichen und Begriffen, die sie diesen Gegenständen zuschreibt, die aber nicht Eigenschaften der Gegenstände selbst sind. Damit sind diese Zuschreibungen wiederum unabhängig von den Objekten und können auf beliebig andere angewendet werden.
Inklusiver Unterricht geht von einem Lernen am ›gemeinsamen Gegenstand‹ aus. In der Mathematikdidaktik wird als Kern dafür der Gedanke sogenannter ›fundamentaler Ideen‹ der Mathematik (vgl. Häsel-Weide & Nührenbörger 2017; Heymann 1996; Rezat 2013; Schweiger 1992; Winter 2001;) diskutiert. Jedoch gibt es bis heute keinen Konsens darüber, was diese fundamentalen Ideen genau charakterisieren.
»Zwar wird der Ausrichtung des Mathematikunterrichts an zentralen Aspekten von Mathematik aktuell durch die Leitideen und Kompetenzen in den deutschen Bildungsstandards ein hoher Stellenwert eingeräumt, doch repräsentieren gerade diese ,Ideen‹ nicht die Reichhaltigkeit der mathematikdidaktischen Diskussion« (von der Bank 2016, 223).
Die Leitideen der Bildungsstandards sollen die herkömmlichen Themen der Schulmathematik vor allem mit den prozessbezogenen Kompetenzen zu einem stimmigen Gesamtkonstrukt vernetzen. Anhand der Leitideen soll »sachgebietsübergreifendes, vernetzendes Denken und Verständnis grundlegender mathematischer Begriffe erreicht werden« (KMK 2004, S. 6). Die von den einzelnen Autoren genannten Konstrukte ›fundamentaler Ideen‹ allerdings differieren sehr stark, so dass die Erarbeitung eines konsensfähigen theoriegestützten Ideenkatalogs noch aussteht (vgl. von der Bank 2016, 284).
Fundamentale Ideen sollen ein valides Konstrukt von Mathematik abbilden, aus dem zentrale Aspekte von Mathematik wieder rekonstruierbar sind. Dass derzeit kein einheitliches Verständnis für den Gegenstand vorherrscht, macht ein knapper historischer Rückblick auf diese Debatte deutlich. Nach Schweiger (1992) sind fundamentale Ideen ein »Bündel von Handlungen, Strategien oder Techniken, die
1. in der historischen Entwicklung der Mathematik aufzeigbar sind,
2. tragfähig erscheinen, curriculare Entwürfe vertikal zu gliedern,
3. als Ideen zur Frage, was ist Mathematik überhaupt, zum Sprechen über Mathematik, geeignet erscheinen, den Mathematikunterricht beweglicher und zugleich durchsichtiger machen können,
4. in Sprache und Denken des Alltags einen korrespondierenden sprachlichen oder handlungsmäßigen Archetyp besitzen« (Schweiger 1992, 207).
Heymann möchte anhand ausgewählter Inhalte die »Universalität der Mathematik« (1996, 158) und »ihre Bedeutung für die Gesamtkultur« für den Schüler erfahrbar werden lassen. Sein Katalog fundamentaler Ideen umfasst:
• Idee der Zahl,
• Idee des Messens,
• Idee des räumlichen Strukturierens,
• Idee des funktionalen Zusammenhangs,
• Idee des Algorithmus,
• Idee des mathematischen Modellierens (a. a. O.)
Winter (2001) formulierte folgende Schwerpunkte fundamentaler Ideen für die Grundschule:
• Stellenwertdarstellung von Zahlen,
• Symmetrie,
• Algorithmus,
• Messung,
• Näherung,
• Funktion,
• Teil-Ganzes-Relation (vgl. Winter 2001)
In der internationalen Untersuchung PISA (Programme in Student Assessment) werden die fundamentalen Ideen unter dem Begriff »big ideas« zusammengefasst, worunter fachübergreifende mathematische Konzepte verstanden werden, z. B. »Veränderung und Wachstum«, »Raum und Form« oder »quantitatives Denken« (Deutsches PISA-Konsortium 2001).
Vohns (2007) verweist auf die Notwendigkeit, den Gegenstand über drei Forschungszugänge auszudifferenzieren und begründet dies mit dem Spannungsfeld zwischen »ideologischer Überhöhung und pragmatischer Aushöhlung« (2007, 169). Um das Dilemma aufzulösen, wären drei (Forschungs-)Perspektiven zu berücksichtigen:
1. die Reflexion zur Vorauswahl der grundlegenden Ideen (z. B. Zahl, Messen, Strukturieren in der Ebene und im Raum) insbesondere auch ihres vorläufigen Charakters;
2. die Berücksichtigung der bildungstheoretischen Debatte, d. h. die Frage nach dem symbolischen Gehalt des Gegenstandes selbst als Repräsentation gesellschaftlicher Verhältnisse;
3. die Diskussion um einen notwendigen bzw. verbindlichen »Vorrat an lokalen begriffs- und verfahrensbezogenen vs. heuristischen Subkonzepten« (Vohns 2007, 171).
Im Gegensatz zu den Versuchen, die ›fundamentalen Ideen‹ als Inhaltskatalog zu begreifen, geht Rezat (2013) der Frage nach, ob sich diese fundamentalen Ideen als Charakteristikum der wissenschaftliche Disziplin ›Mathematikdidaktik‹ identifizieren lassen. Für die Mathematikdidaktik bedeutet dies, dass ihre fundamentale Ideen gekennzeichnet sind durch
• eine Zeitdimension, die in der historischen Entwicklung der Mathematikdidaktik eine Rolle spielen,
• eine horizontale Dimension, die in verschiedenen Teilgebieten der Mathematikdidaktik bedeutsam sind,
• eine vertikale Dimension, in der unterschiedliche Diskurse der Mathematikdidaktik wiederzufinden sind,
• eine menschliche Dimension, die diese Idee im Alltagsdenken und -sprache verankert (vgl. Rezat 2013, o. S.).
Trotz dieser Jahrzehnte langen Überlegungen scheint es derzeit keinen Konsens darüber zu geben, was nun den Gegenstand ›Mathematik‹ genau umfasst bzw. charakterisiert. Um den ›gemeinsamen Gegenstand‹ Mathematik für schulpädagogische resp. inklusive Settings zu umreißen, wird das kulturhistorisch und fachwissenschaftlich begründete Verständnis von Mathematik um die Funktion des Mathematikunterrichts erweitert. Dies begründet sich u. a. mit der Intention einer »erfolgreichen Bildung« (KMK 2011). Als übergeordnete Intention von Bildung wird neben dem Schulabschluss die »aktive Teilhabe an der Gesellschaft« (KMK 2011, 8) gesehen. Dieser funktionale Charakter von Bildung schlägt sich gegenwärtig in der Kompetenzorientierung nieder.
Kompetenzen erfassen sowohl aktuale als auch potentielle Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler, die jeweils situations-, d. h. anforderungsabhängig sind. In Anlehnung an Weinert (2001) werden Kompetenzen definiert als »die bei dem Individuum verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (d. h. absichts- und willensbezogenen) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001, 27). Sie verstehen sich als Verhaltensdisposition, stellen die Verbindung zwischen Wissen und Können her und sind als Befähigung zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen zu sehen (vgl. Klieme 2004, 13). Individuelle Kompetenz umfasst demzufolge all jene Teile der Persönlichkeit (Wissen, Fähigkeiten, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung, Motivation), die eine Person dazu befähigen, konkrete Anforderungssituationen zu bewältigen (u. a. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Erpenbeck & Rosenstiel 2003; Klieme 2004).
Bei aller Unterschiedlichkeit in der Kompetenzdiskussion lassen sich folgende Merkmale von Kompetenzen als charakteristisch festhalten: