MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken - Robert McCammon - E-Book

MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken E-Book

Robert McCammon

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Beschreibung

Robert McCammons einzigartige historische Kriminalreihe um den ›Problemlöser‹ Matthew Corbett im noch jungen Amerika des 17. Jahrhunderts. Wir befinden uns im Winter des Jahres 1703 und Matthew Corbett wird noch immer von den Schatten seines Aufeinandertreffens mit dem berüchtigten Massenmörder Tyranthus Slaughter verfolgt. Als eine Reihe unerklärlicher Explosionen Manhattan erschüttert, sieht sich Matthew mit einem neuen Problem konfrontiert. Irgendwer versucht offenbar sehr nachdrücklich, seine Aufmerksamkeit zu erregen … Hinter diesen Explosionen steckt eine geheimnisvolle Person aus Matthew Corbetts Vergangenheit: der betrügerische Professor Fell. Nicht ohne Grund hat der Professor doch mit einem ganz eigenen Problem zu kämpfen und benötigt Matthews Hilfe. Auf seiner abenteuerlichen Reise zu den abgelegenen Bermudainseln begegnet Matthew Corbett skurrilen Charakteren, wie sie auch einem Roman von Charles Dickens entsprungen sein könnten – dem Riesen Sirki, einem flüsternden indischen Mörder, einem Experten für exotische Tinkturen mit einem Suchtproblem, der wunderschönen wie gefährlichen Aria Chillany und natürlich dem meisterhaften Manipulator Professor Fell höchstpersönlich. "Wow, McCammon ist zurück und zeigt mit "Matthew Corbett in den Fängen des Kraken" eindrucksvoll, dass er noch immer zu den Besten gehört. Historisch, außergewöhnlich, unheimlich und fesselnd, so wie alle Werke McCammons. Ich kann es nur wärmstens empfehlen." - Joe R. Lansdale Robert McCammons "Matthew Corbett"-Reihe sind nicht nur sprachgewaltige, historisch umfangreich recherchierte Kriminalromane, sondern ein in ihrer Form beispielloses Experiment – versucht Robert McCammon doch mit jeder Erzählung in ein anderes literarisches Genre abzutauchen, von Mystery über Serienmörderhatz, Abenteuerroman und Thriller bis hin zu Elementen des Pulp-Romans. In Kombination mit einem erfrischend unverbrauchten Setting in den noch jungen amerikanischen Kolonien des 17. Jahrhunderts schuf McCammon ein fesselndes und einzigartiges Leseabenteuer, das in den USA Leser wie Kritiker zu beeindrucken wusste und nun endlich auch in deutscher Sprache miterlebt werden kann.  

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Matthew Corbett in den Fängen des Kraken

Robert McCammon

Copyright © 2005 by Robert McCammon Published by Arrangement with THE MCCAMMON CORPORATION

This Work was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE PROVIDENCE RIDER Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Nicole Lischewski

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-502-6

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Matthew Corbett in den Fängen des Kraken
Impressum
Der Tod erscheint dem reichen Mann
Lord Mortimers Hoffnung
Der beste Mann
Sünden und Gräuel
Ein Engel bin ich nicht
Teil I
DAS GRAUE TAL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil II
DAS HAAR IN DER SUPPE
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Teil III
DIE AUF DEN KOPF GESTELLTE WELT
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Teil IV
DAS FRÜHSTÜCK DES TEUFELS
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Über den Autor

Für kc dyer

Der Tod erscheint dem reichen Mann

eine Kurzgeschichte

Lord Mortimers Hoffnung

Während der Dezember an der Schwelle zum neuen Jahr 1703 stand, fand sich ein blässlicher, weißhaariger Mann in schwarzem Anzug, schwarzem Dreispitz und schwarzem Mantel an der Türschwelle der Stone Street 7 in der Stadt New York ein. Es war mitten am Nachmittag und doch lag blaues Abendlicht über den Hügeln und Straßen. Der blässliche Mann begann die Treppe zu seiner Zusammenkunft mit den Problemlösern unter dem Dach zu erklimmen.

Sein Anstieg endete im Reich von Hudson Greathouse und Matthew Corbett. Sie erwarteten ihn aufgrund seines Briefes, den er in der vergangenen Woche aus der in New Jersey gelegenen Stadt Oak Bridge aufgegeben hatte. So kam es, dass die beiden Mitarbeiter der Herrald-Vermittlung im blauen Licht, das durch die Fenster fiel, unter den acht brennenden Talglichtern des schmiedeeisernen Kronleuchters nebeneinander an ihren Schreibtischen saßen, während im beige-grauen steinernen Kamin ein höfliches Feuer brannte und der blässliche Mann sich den Mantel auszog. Er hängte ihn an einen Wandhaken, setzte sich dann auf einen Stuhl in der Mitte der Stube und nahm seinen Hut ab, den er in seinen knorrigen Händen behielt. Er sah Matthew und Greathouse mit traurigen und wässerigen grauen Augen an. Mit den hoffnungsvollsten Grüßen, Jesper Oberley, hatte er seinen Brief unterzeichnet. Ohne zu zögern, beantwortete er Hudsons erste Frage, Wie können wir Euch helfen?

»Ich bin als Diener bei einem sehr wohlhabenden Herrn verdingt. Bei Lord Brodd Mortimer«, sagte der Mann mit den traurigen Augen. »Seit elf Jahren jetzt. Es schmerzt mich, es zu sagen, aber der Tod ist ihm auf der Spur.«

»Das ist er doch jedem, nicht wahr?«, fragte Greathouse mit einem schnellen Blick auf Matthew. Nach dem Zwischenfall in Fort Laurens im Herbst humpelte Hudson immer noch am Stock, und was Matthew am meisten zusetzte, war das Geräusch, wie er sich die Treppe hochkämpfte – und oben angekommen um Atem rang, bevor er an seinen Schreibtisch ging. Matthew fragte sich, ob Hudson jemals wieder zu dem verwegenen und abenteuerlichen Draufgänger werden würde, der er einst gewesen war. Natürlich gab er sich selbst die Schuld dafür, und nichts, das Hudson sagte, konnte Matthews bedrücktes Gewissen von dem Gedanken befreien, dass er seinen Freund im Stich gelassen hatte.

»Lord Mortimer ist der Hand des Todes näher als die meisten«, sagte Jesper Oberley mit dem schwachen Hauch eines Lächelns, das an seinem ernsten Gesichtsausdruck nichts änderte. »Sein Arzt prophezeit, dass es mit ihm in ein paar Tagen zu Ende gehen wird. Lord Mortimer ist schon seit einiger Zeit krank. Er hat die Schwindsucht. Da kann man nicht helfen.«

»Unser herzliches Beileid«, sagte Matthew. Er musterte Oberleys Gesicht, die Hängebacken und tiefen Furchen. Matthew fand, dass Oberley wie ein treuer Hund aussah, der oft schlecht behandelt worden war, aber immer wieder zu seinem Herrn zurückkehrte, um ihm die Hand zu lecken, weil das in der Natur eines treuen Hundes lag. »Eine tragische Krankheit. Aber … wie Mr. Greathouse schon fragte … wie können wir Euch helfen?«

Jesper Oberley saß eine Weile da und starrte ins Leere, als hinge die Antwort auf diese Frage wie ein Spinnennetz in irgendeiner Ecke. Schließlich holte er tief Luft. »Mein Herr glaubt … ist überzeugt davon … dass der Tod ihn in verkörperter Form holen kommen wird. In Form eines Mannes. Mein Herr glaubt, dass der Tod das Haus in dieser körperlichen Form betreten und in sein Schlafzimmer kommen wird. Und dort wird der Tod nicht zögern, die Seele meines Herrn zu stehlen und seinen Körper leer liegenzulassen. Mein Herr wünscht Euch zu verpflichten, um … sagen wir … dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.«

»Dem Tod ein Schnippchen zu schlagen«, sagte Hudson Greathouse mit Grabesstimme, bevor Matthew es wiederholen konnte.

»Jawohl, Sir. Genau das.«

»Hmmm.« Greathouse tippte sich an sein Grübchen im Kinn. »Nun ja … normalerweise … liegt es in niemandes Macht, das zu tun, was Euer Herr sich wünscht. Damit will ich sagen … der Tod ist sein eigener Herr und letztendlich der eines jeden Menschen, nicht wahr?«

»Lord Mortimer hofft«, sagte Oberley, »dass Ihr in diesem speziellen Fall Eure Überzeugungskraft einsetzen könnt. Denn es wäre doch tatsächlich ein Problem, das eine Lösung braucht, nicht wahr? Die hier wäre, dass der Tod – wenn er auf dem Landsitz ankommt – überzeugt werden kann, Lord Mortimer noch etwas Zeit zu schenken? Vielleicht ein paar Tage oder auch nur ein paar Stunden? Für meinen Herrn wäre das von großer Bedeutung.«

»Darf ich fragen, warum?«, fühlte Matthew nach.

»Lord Mortimers Tochter Christina ist Lehrerin an der Schule von Grainger, ungefähr sechs Meilen von Oak Bridge entfernt. Aber … es gibt schon seit vielen Jahren Spannungen zwischen den beiden, Gentlemen. Sie ist zweiunddreißig und unverheiratet. Sie ist … ein Freigeist, könnte man wohl sagen.«

»Das muss wohl an ihrem Beruf liegen«, meinte Matthew.

Natürlich verstand Oberley die Anspielung auf eine gewisse rothaarige junge Frau nicht, die oft ohne jegliche Vorwarnung in Matthews Alltag und Gedanken auftauchte. Oberley nickte einfach, als ergäbe die Bemerkung Sinn. »Lord Mortimer möchte sich mit seiner Tochter wieder versöhnen, bevor er aus dieser Welt scheidet«, sagte Oberley in seinem trockenen, leise krächzenden Tonfall. Der Blick der wässerigen Augen wanderte auf der Suche nach Mitgefühl und Verständnis zwischen Matthew und Greathouse hin und her. »Es ist von entscheidender Bedeutung für seinen Seelenfrieden. Es ist entscheidend«, wiederholte er, »dass Lord Mortimer seine Tochter sieht und einige Dinge klärt, bevor der Tod ihm zuvorkommt.«

Einen Augenblick lang bewegten sich weder Matthew noch Greathouse. Dann knirschte die Treppe, und Matthew dachte, dass es vielleicht eins der Arbeitszimmergespenster war, das sich neugierig fragte, wie diese Konsultation wohl ausgehen würde – und möglicherweise von Neid geplagt wurde, dass es selbst niemandem diese Mühe wert gewesen war.

Schließlich räusperte sich Greathouse. »Ich frage mich, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind«, sagte er.

»Wenn nicht Ihr«, kam die Antwort, »wer dann?«

»Die Tochter«, schlug Matthew vor. »Würde sie nicht vielleicht ihren Vater besuchen wollen?«

»Ich habe vor vier Tagen mit ihr gesprochen. Sie denkt noch immer über die Einladung nach.«

»Aber ob sie kommen wird, ist ungewiss?«

»In der Tat«, gab Oberley zu. »Weshalb Ihr Gentlemen so dringend gebraucht werdet.«

»Unsere Überzeugungskraft bei Christina einzusetzen wäre vermutlich erfolgreicher als bei irgendeiner Vision oder Illusion des Todes«, sagte Matthew. »Ich würde denken, dass ein lebendiges Ohr eher gewillt ist, zuzuhören.«

»Vision?« Oberleys weiße Augenbrauen schossen in die Höhe wie Signalflaggen. »Illusion? Mein Herr ist vollkommen überzeugt davon, dass der Tod das Kostüm eines Mannes tragen wird, Sir, und dass dieser Mann nicht zögern wird, Lord Mortimers Leben ein Ende zu setzen. Ich sollte wohl sagen … dass es ein bewegtes Leben gewesen ist, sowohl für ihn als auch andere. Er bereut vieles.« Ein dünnes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Sollte er auch.« Das Lächeln verblasste. »Nichts, das ich, die Dienerschaft oder selbst Vikar Barrington sagen kann, bringt ihn von seiner Meinung oder seinem Glauben ab. Er ist überzeugt davon, dass ihn der Tod auf diese Art ereilen wird. Und er fürchtet sich sehr vor dem Moment der Abrechnung, Gentlemen.«

»So, wie ich Euch verstehe«, sagte Greathouse, »ist er nicht nur reich, sondern auch alles andere als tugendhaft?«

»Sein Reichtum ist aus seiner Unersättlichkeit entstanden«, antwortete Oberley. Seine Miene war emotionslos. »Viele andere sind daran zugrunde gegangen.«

Matthew und Greathouse wechselten einen Blick, sagten aber nichts zu dieser vernichtenden Behauptung.

»Ich bin befugt, Euch Geld anzubieten.« Oberley zog einen Lederbeutel aus einer Tasche in seiner schwarzen Samtweste. »Einhundert Pfund, Sirs. Ich hoffe, dass Christina heute Abend oder morgen auf den Landsitz kommt. Alles andere wird zu spät sein, befürchte ich.«

Greathouse gab ein Geräusch von sich, das halb wie ein Schnauben und halb wie ein Pfiff klang. Wie Matthew wusste, waren einhundert Pfund für zwei Abende Arbeit eine äußerst generöse Summe, aber … es war eine absurde Aufgabe. Den Tod auf seinem Weg zu Brodd Mortimers Schlafzimmer abzufangen? Ein ungreifbares Phantom überzeugen, den Mann noch ein paar Stunden leben zu lassen? Es war wirklich …

»Ein feines Problem, das wir da lösen sollen«, sagte Greathouse. Seine Miene war ernst wie Granit, aber Matthew konnte das wölfische Grinsen darunter geradezu spüren. Greathouses schwarze Augen funkelten. »Wir werden es übernehmen. Oder … vielmehr … Mr. Corbett wird es übernehmen, da es mir noch nicht gut genug geht, um eine Reise anzutreten, und mir dieses kalte, nasse Wetter verrät, dass etwas Unangenehmes in der Luft liegt.«

»Oh ja«, sagte Matthew gepresst. »Unangenehmes liegt in der Luft.«

Greathouses Lachen klang nicht fröhlich. Er wandte seine Aufmerksamkeit nicht von Jesper Oberley ab. »Wir nehmen diese würdige Herausforderung an, Sir. Wenn wir nun das Geld erhalten könnten?«

»Fünfzig Pfund jetzt«, sagte Oberley und lehnte sich vor, um den Beutel in Greathouses ausgestreckte Hand zu drücken. »Fünfzig Pfund, wenn die Aufgabe erfüllt ist.«

»Wenn sie zufriedenstellend erfüllt worden ist«, sagte der große Mann.

»Zufriedenstellend oder gar nicht«, sagte Matthew.

»Es gibt ein paar Papiere zu unterzeichnen.« Greathouse zog sie aus seiner Schreibtischschublade und schob Feder und Tinte über den Tisch.

Viel zu eifrig, dachte Matthew.

Oberley stand auf und unterschrieb die Dokumente. »Ich habe unten eine Kutsche warten.« Er sah Matthew an. »Wenn Ihr für ein oder zwei Nächte packen möchtet, werde ich den Kutscher anweisen, Euch zu Eurem Haus zu fahren.«

»Das wäre gut, danke.« Auch Matthew erhob sich. Oberley holte sich seinen Mantel und zog ihn sich über. Der schwarze Dreispitz wanderte zurück auf seinen Kopf und die Knochenknöpfe seines Mantels wurden geschlossen. »Mr. Oberley«, sagte Matthew. »Darf ich Euch schon zur Kutsche vorgehen lassen, während ich noch kurz mit meinem Kollegen spreche?«

»Natürlich. Ich werde warten.« Der blässliche Diener verließ die Amtsstube und kurz darauf erklang das Geräusch seiner Stiefel auf den Treppenstufen.

Bist du von allen guten Geistern verlassen?, wollte Matthew fragen, aber Greathouse sprach zuerst: »Jetzt beruhige dich schon. Entspann dich.«

»Ich soll mich entspannen? Du schickst mich auf eine Reise, um mit dem Tod zu reden? Für einen sterbenden Mann, der mindestens halb so verrückt wie du sein muss!«

Greathouse war damit beschäftigt, den Beutel zu öffnen, um die Goldmünzen darin zu inspizieren. »Schön. Guck, wie sie im Licht glänzen.«

»Das Geglitzer hat mich schon mal geblendet. Hudson, ist das dein Ernst? Das ist doch der reinste … Straßenraub!« Eine Arbeit, für die Greathouse gut geeignet zu sein schien, dachte Matthew.

»Falsch.« Greathouse richtete den Blick seiner schwarzen Augen wie Pistolenmündungen auf Matthew. »Es ist eine lohnenswerte Aufgabe, die für einen im Sterben liegenden Mann erledigt wird. Versetz dich doch nur in seine Lage.«

»Lieber nicht.«

»Nur für einen Moment.« Der große Mann konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine Handvoll Münzen auf die grüne Schreibtischunterlage zu werfen. »Du – also, du als Lord Mortimer – hast Angst davor, dass der Tod in greifbarer Form bei dir auftaucht. Du möchtest mit deiner Tochter reden und alte Fehler wieder gutmachen. Es wird dir ein Trost in deinen letzten Stunden sein, dich neben deinem Bett sitzen zu haben, Matthew.« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als wollte er sich von Ohrenstöpseln befreien. »Du weißt schon, was ich meine. Außerdem hast du mit Verrückten ja bereits Erfahrung. Also geh und beweise, wozu die Herrald-Vermittlung fähig ist.«

»Ich finde, es ist falsch …«

»Na, na!«, kam die Antwort, von heftigem Händewedeln begleitet. »Hinfort mit dir!«

Kurzerhand entlassen zu werden, hatte Matthew noch nie leicht hingenommen. Daher fühlte er Verärgerung in sich hochsteigen, als er seinen grauen Umhang, die schwarzen Wollhandschuhe und seinen schwarzen Dreispitz mit dem schmalen roten Hutband anzog. Er war bereits auf dem Weg zur Tür, als sein profitsüchtiger Kollege sagte: »Es wird kalt werden. Vielleicht wird es frieren. Pass auf, dass du kein Gespräch mit dem Tod über dich selbst führen musst.«

»Wenn ich von diesem Auftrag zurück bin«, sagte Matthew mit roten Wangen, »werde ich bei Sally Almond als dein Gast speisen – vom Wein bis zum Bröselkuchen.«

»Gern. Und jetzt hör auf zu jammern und zerbrösele das Problem.«

Der beste Mann

Kalter Regen zog aus dem Westen heran und gefror auf der Erde und den Bäumen zu Eis, während die schwarze Kutsche mit den edlen roten Ledersitzen die Straße entlangrumpelte. Das Wetter konnte Matthew nichts anhaben, da die Kutsche geschlossen und an der Wand neben seinem Kopf eine Kerzenlaterne befestigt war, aber das drückende Gewicht der dunklen Wolken über New Jersey spürte er trotzdem. Ihm gegenüber döste Jesper Oberley ungeachtet der holperigen Fahrt. Der dem Eisregen ausgesetzte Kutscher war so tief in Mäntel und Schals verpackt, dass nur noch seine Augen freilagen – und die waren hinter vereisten Brillengläsern zusammengekniffen. Hin und wieder rutschten die vier Pferde auf einem gefährlichen Wegstück aus, aber sie schnaubten große Dampfwolken, brachten ihre Hufe wieder unter sich und zwangen sich in die dunkler werdende Nacht hinein.

»Es kann doch nicht wirklich sein, dass Lord Mortimer glaubt, der Tod würde ihn in menschlicher Gestalt heimsuchen«, sagte Matthew, während die Kutsche schaukelte und das Eis in den Fugen knirschte.

Die Augen des Dieners öffneten sich. Auch wenn er eben tatsächlich gedöst hatte, war er jetzt hellwach. »Wäre es anders, Mr. Corbett, dann säßet Ihr jetzt nicht hier.«

»Es ist eine Wahnvorstellung. Sicherlich durch seine Krankheit bedingt.«

»Er liegt im Sterben, aber er halluziniert nicht. Er ist bei vollem Verstand.«

»Hm«, machte Matthew und runzelte im gelben Kerzenlicht die Stirn. »Ich muss sagen, ich komme mir vor, als würde ich einen sterbenden Mann ausrauben.«

»Lord Mortimer kann es sich leisten, ausgeraubt zu werden.« Die Augenlider hingen wieder auf Halbmast. »Er hat selbst so viele Menschen beraubt.«

Auf diese kalte Feststellung fiel Matthew keine Antwort ein. Ihm schien, dass Oberley seinen Herrn gleichzeitig mochte und verachtete. »Womit hat Lord Mortimer sein Vermögen gemacht?«, fragte Matthew.

Die Augen schlossen sich. Vielleicht zehn Sekunden lang kam keine Antwort. Dann: »Mit vielem. Bergminen. Hausbau. Forstwirtschaft. Schiffsbau. Geldverleih. Er hat mehrere Vermögen angehäuft. Und er hat sein Geld mit eiserner Faust für sein eigenes Vergnügen festgehalten.«

»Ein egoistischer Mann«, meinte Matthew.

»Er würde sagen, dass er sich immer ganz nach sich selbst richtet. Ich würde sagen, er hat die Fähigkeit …«, er machte eine Pause, um den Gedanken zu formulieren, »… andere dazu zu benutzen, sich immer ganz nach sich selbst zu richten«, sagte Oberley schließlich.

Matthew ließ sowohl das Thema als auch Jesper Oberley in Ruhe. Die Kutsche schaukelte über einen steinigen Weg. Gefrierender Regen peitschte gegen die mit schwarzen Vorhängen zugehängten Fensteröffnungen. Matthew spürte das Bedrückende des Sturms und des Winters; eine tückische Kombination. Irgendwann rutschten die Kutschenräder zwei beängstigende Sekunden lang nach links weg, bevor die Pferde sie weiterzogen. Matthew wurde sich bewusst, wie er seine Knie so hart umklammerte, dass er zehn blaue Flecke bekommen würde. Es war schwer, sich an einem Abend zu entspannen, an dem der Tod sein Unwesen trieb. Aber es gab ein Licht am Ende dieses Tunnels: Eine Weile würde er es genießen können, New York und der Gegenwart von zwei Schatten in seinem Leben entronnen zu sein, dem teuflisch gutaussehenden Dr. Jason Mallory und seiner schönen Gattin Rebecca. Die beiden schienen ihm in letzter Zeit ständig an den Fersen zu kleben. Wohin Matthew auch ging – in Sally Almonds Schänke, in die Trinity Church, ins Trot Then Gallop, oder auch nur von seinem ehemaligen Kühlhaus zur Arbeit – tauchten diese beiden auf und beobachteten ihn mit ihren dunklen Augen. Matthew wusste, dass Mrs. Mallory wollte, er möge zu ihnen zum Essen kommen, was mit einem gewissen Professor für Verbrechen zu tun hatte … aber was wollten sie wirklich von ihm?

Er hatte keinerlei Zweifel daran, dass es sich mit der Zeit zeigen würde.

Matthew schob den einen schwarzen Vorhang beiseite und wurde dafür mit einer Ladung Schneeregen im Gesicht belohnt. Als er sich die Augen abgewischt hatte, sah er, dass sie immer noch auf einem zerfurchten, schlecht zu befahrenden Waldweg unterwegs waren. Die Anstrengungen der Pferde, in einer Nacht wie dieser die Kutsche zu ziehen, waren heldenhaft. Plötzlich tauchte eine überdachte Brücke über einem geschwollenen Bach auf – die Eichenbrücke, nach der das Dorf Oak Bridge benannt war, nahm Matthew an –, und die Hufschläge hallten zwischen dem Dach und den Planken wider. Abgesehen von einem Brettergeländer waren beide Seiten der Brücke offen und Eis bildete sich sogar auf den rauen Bodenplanken. Es war ein Abend, an dem man weder Mensch noch Tier vor die Tür jagte, dachte Matthew. Sicherlich würde selbst der Tod in einer solchen Nacht nicht unterwegs sein wollen.

Gleich hinter der Brücke lag der kleine Ort, den sie schnell hinter sich ließen. Er schien Matthew nur aus einigen Geschäften, ein paar weiß verputzten Wohnhäusern, einer Kirche, einem Friedhof und einem Stall zu bestehen, sowie einer Schänke, aus deren Fenstern sich Lampenlicht ergoss. Sie kamen noch an einem langen Gebäude mit mehreren Schornsteinen vorbei, bei dem es sich um irgendeine Werkstatt handeln mochte, und dann waren sie bereits wieder aus dem Dorf hinaus.

Die Kutsche fuhr weiter. Jesper Oberley war jetzt wach und spähte ebenfalls aus dem Fenster. »Nun ist es nicht mehr weit«, beantwortete er Matthews gedachte Frage, die er gerade hatte stellen wollen, denn selbst die gut gepolsterten Ledersitze konnten einen Arsch auf einer steinigen Straße nicht schonen. Und Matthew kam sich in seiner Situation definitiv wie ein Arsch vor; wie jemand, der einen Sterbenden ausraubt, auch wenn Lord Mortimer nach Oberleys Meinung selbst ein Räuber war.

Bald darauf durchfuhr die Kutsche eine Kurve und begann sich einen steilen Hügel hochzuarbeiten. Doch das gelang nicht, denn Matthew hörte und spürte, wie die Räder auf vereistem Kies wegrutschten und die Pferde der Peitsche zu gehorchen versuchten, obwohl ihre Hufe ausglitten.

»Na los! Los, zieht!«, brüllte der Kutscher durch seine Vermummung. Die Peitsche knallte und die Kutsche bebte, aber voran kamen sie nicht. Dann gab der Kutscher anscheinend auf und ließ die Pferde vorsichtig rückwärtsgehen, denn der Wagen rutschte den Hang hinunter, und als er hielt, ertönte das Klunk der Bremsenspitze, die, so tief es möglich war, in der gefrorenen Erde versenkt wurde.

»Tja«, sagte Oberley bedrückt. »Anscheinend sind wir …«

»Kommen die Steigung nicht hoch in diesem Mist!« Der eingehüllte Kopf des Kutschers war beunruhigend plötzlich im Fenster aufgetaucht. »Die Pferde können’s nicht ziehen!«

»… angekommen«, beendete Matthew Oberleys Satz, nachdem der Kutscher verschwunden war, um sich, so gut es ging, um sein Gespann zu kümmern.

Gegen die beißende Kälte vermummt und mit seinen in einer Ledertasche verpackten Sachen für zwei Nächte in der Hand folgte Matthew Oberley den Hügel hoch. Unter ihren Stiefeln knirschte das Eis. Der bittere Regen fiel noch, klopfte auf die Krempe von Matthews Dreispitz. Seine Stiefel rutschten aus und drohten mehr als einmal, ihn zu Boden zu befördern. Als sie die Hügelkuppe erreichten, konnte Matthew durch die Bäume die Umrisse einer riesigen – man könnte auch sagen monströsen – Villa sehen. Aus einigen Fenstern strahlte Kerzenschein, aber viele andere – die meisten – waren tintenschwarz. Ein Dutzend gemauerte Schornsteine stach aus den spitzen Dächern, aber nur aus zweien strömte Rauch. Wenn dieses Herrenhaus ein Monster war, dann lag das Biest tatsächlich im Sterben.

Als Matthew und Oberley sich dem Haus näherten, sah der Problemlöser, dass es von toten Bäumen umgeben war. Die nassen dunklen Steinmauern waren von verfilzten abgestorbenen Rankpflanzen bedeckt, die wie das braune Netz einer ebenso monströsen Spinne wirkten. Matthew entschied, dass er in einem solchen Haus vielleicht eine Nacht verbringen konnte – aber zwei? Nein.

Sie erreichten die Haustür. Oberley pochte zweimal mit dem Türklopfer, der wie ein Stück Kohle geformt war. Immer noch fiel der Eisregen und bildete eine Kruste auf Matthew Umhang. Schließlich wurde ein Riegel zurückgeschoben, die Tür geöffnet und eine schlanke Frau mit einem straffen grauen Dutt und traurigen, aber wachsamen Augen spähte hinaus. Sie trug ein schwarzes Kleid, das mit grauer Spitze verziert war, und hielt einen dreiarmigen Kerzenleuchter in der Hand.

»Ich habe jemanden mitgebracht«, sagte Oberley. Diese einfache Erklärung schien Bände zu sprechen, denn die Dienstmagd mit dem Gesicht, das einer zerknitterten Tasche glich, nickte und trat zurück, um ihnen Eintritt zu gewähren.

»Sir? Ich werde das tragen«, sagte ein anderer Diener, der mit einer brennenden Kerze aus der Halbfinsternis kam, und nahm Matthews Tasche. Er half Matthew aus seinem Umhang heraus und nahm auch den Dreispitz entgegen, bevor er wieder ging.

»Wie steht’s um ihn, Bess?« Oberley sprach mit der Frau, die die Tür zugemacht und den Riegel wieder vorgeschoben hatte.

»Schlechter«, antwortete die Frau, deren schmallippiger Mund sich gerade so viel bewegte, dass sie dieses eine Wort hinauspressen konnte.

»Dann gehen wir jetzt zu ihm. Wollen wir, Mr. Corbett?«

»Ja.« Hatte er denn eine Wahl?

»Bess, macht Mr. Corbett einen Tee. Und bringt ihm einen Teller Maisbrot und Schinken. Ich bin mir sicher, dass unser Gast Hunger hat.« Als die Frau durch die Eingangshalle verschwand, nahm Oberley einen Kerzenhalter mit einem brennenden Talglicht von einem Tisch. »Folgt mir bitte«, sagte er. Es klang weniger wie eine Einladung als wie eine ernste und gefürchtete Pflicht.

Matthew lief Oberley durch einen von Ritterrüstungen flankierten Korridor hinterher. Die Helme und Brustplatten reflektierten die einsame Kerzenflamme. Matthew fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass solche Rüstungen gemacht waren, um den darin befindlichen Körper vor gefährlichen Schlägen und Stößen zu schützen. Lord Brodd Mortimers Körper konnte ein solcher Schutz jetzt nicht mehr gewährt werden. Matthew konnte die gefürchtete Krankheit in diesem Haus bedrückend deutlich spüren. Die an den Wänden angebrachten Hirsch- und Wildschweinköpfe und gekreuzten Degen, und auch die Kollektion von Musketen in einem Glaskabinett entgingen ihm nicht. Lord Mortimer war ein Jäger gewesen, ein lebhafter Mann der Tat. Aber jetzt tickte eine vergoldete Standuhr in der Ecke und jede verstreichende Sekunde klang so laut wie ein Schuss.

Am Ende des Korridors befand sich eine Treppe. Matthew folgte Oberley nach oben und erreichte schon bald eine Tür. Der Knauf wurde gedreht und die beiden Männer betraten einen Raum, in dem selbst das mildeste Kerzenlicht harte Grausamkeit war.

In dem Schlafzimmer brannten ein paar Talglichter. Es war ein großer Raum, dessen Fußboden von einem roten Teppich mit goldenen Verzierungen bedeckt war. Die Möbel waren dunkel und wuchtig. Die Zimmerdecke war hoch, und von den freiliegenden Balken hingen Flaggen, auf die Wappen und Symbole wie von Geschäften und Wirtschaftszweigen gestickt zu sein schienen. Riesige Gemälde schmückten die Wände. Auf einem kämpfte ein Dreimaster vor mondbeschienenem Himmel gegen die Wellen an, auf einem anderen saßen vier Gentlemen in ein Kartenspiel vertieft um einen Tisch herum, auf dessen Mitte Goldmünzen aufgehäuft waren.

Das Himmelbett befand sich so weit von der Tür entfernt, dass man fast eine Kutsche rufen musste, um hinzugelangen. Neben dem Bett stand ein schwarzer Lederstuhl im Kerzenlicht, und von diesem Stuhl erhob sich ein silberhaariger Mann in grauem Anzug, als Matthew hinter Oberley eintrat.

»Dr. Zachary Baker«, stellte Oberley ihn vor. »Er hat die letzten Tage an der Seite meines Herrn verbracht.«

Sie gingen ans Bett. Baker, der um die sechzig war, trug eine Brille mit quadratischen Gläsern. Er hatte eine schlanke, gerade Figur. Seine silbernen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Er hatte einen ausgeprägten Kiefer und die klaren, blauen Augen eines Menschen jugendlicher Natur. Das ist kein Landarzt, dachte Matthew. Vermutlich stammte er aus Boston oder war vielleicht sogar aus England geholt worden.

»Guten Abend«, sagte Baker und nickte Matthew zu. Sein Blick war neugierig, aber nicht unhöflich. »Ihr seid …?« Er streckte die Hand aus.

»Matthew Corbett, zu Euren Diensten.« Matthew schüttelte ihm die Hand und spürte eine Kraft, die einen Mann zehn Jahre zuvor noch in die Knie hätte zwingen können.

»Aha. Ich nehme an, Ihr seid aus New York geholt worden, um Euch dem Tod in den Weg zu stellen?«

»Ja, das scheint wohl meine Aufgabe zu sein.«

»Nun dann.« Ein kurzer Blick durchbohrte Oberley. »Unsinn und nichts als Unsinn, aber gut, so ist es nun mal.«

»Corbett?«

Dann wieder: »Corbett?«

Die Stimme hatte den Namen wie das Rascheln von trockenem Schilfgras im Wind geächzt. Sie klang wie ein einsames Echo in einem ausgeräumten Zimmer. Sie war wie das Klappern von Knochen in einer leeren Suppenschüssel. Sie klang wie der traurigste Ton einer Geige und das Winseln, das vor dem Schluchzen kommt.

»Sprecht nur mit Lord Mortimer«, sagte Dr. Baker und wedelte mit der Hand in Richtung Bett.

Matthew hatte noch keinen Blick aufs Bett geworfen. Er zögerte es absichtlich hinaus. Er war sich bewusst gewesen, dass unter den Laken und der roten Decke etwas lag, aber sein Verstand hatte seinen Augen noch nicht erlaubt, sich darauf zu richten.

Aber jetzt drehte er den Kopf ein paar Zentimeter nach links und sein Blick fiel auf den reichen Mann.

Konnte Haut flüssig werden, wenn sie sich noch an den Knochen festhielt? Konnte sie gerinnen und glitzern und wie eine überreife Birne kurz vor dem Verfaulen mit dunklen Flecken überzogen sein? Es sah tatsächlich so aus. Und dann waren da noch die Pflaster, die wohl offene Wunden bedeckten, und dann die offenen Wunden, die so groß waren, dass weder Pflaster noch Verband sie bedecken konnten. Und es schien, als gäbe es davon unzählbar viele.

Lord Mortimer hatte seit seinem letzten Jagdausflug mit Sicherheit abgenommen, denn seine stöckchendünnen Arme konnten niemals eine Muskete oder auch nur eine Handvoll Musketenkugeln halten, und solch skeletöse Beine konnten selbst einen so gebrechlichen Körper nicht tragen. Spinnenhafte Hände waren auf der knochigen Brust gefaltet und über der Brust ragten der von Adern überzogene Hals und das bartstoppelige, kadaverartige Gesicht empor. Die Nase schien bereits nach innen einzufallen. Die Lippen waren weiß mit irgendeiner Salbe beschmiert, die die Schmerzen der roten wunden Stellen in den Mundwinkeln lindern sollte. Unter den spärlichen weißen Haaren und der schweißbesetzten Stirn starrten zwei Augen voller Angst und Hoffnung zu Matthew hoch. Das linke Auge war dunkelbraun, das rechte unter einem hellen, austernfarbenen Schleier blind.

Der Geruch nach Krankheit, den Matthew bei Betreten des Schlafzimmers sofort gerochen hatte, war hier am Bett so durchdringlich, als würde ihm jemand einen Teller mit verfaultem, madendurchzogenem Rindfleisch unter die Nase halten. Matthew zweifelte an seinem Mut, als er die Ruine von Lord Mortimers Gesicht musterte. Er konnte nicht anders als sich fragen, ob sein Leben eines Tages auch so enden würde. Möge Gott ihn davor bewahren, dass er auch nur einen Augenblick als feuchtes, sich auflösendes Fleisch im faulig grünen Dunst von Krankheit und Pisse und Exkrementen durchleben musste.

»Helft mir, Mr. Corbett«, wisperte der reiche Mann. »Ich weiß, Ihr könnt es.«

Matthew brauchte einen Moment, um seine Sprache wiederzufinden. »Ich werde mein Bestes tun, Sir.« Aber bei was?, fragte er sich. Der kaltherzigen Ausbeutung eines solchen armen Kerls?

»Euer Bestes.« Bakers Stimme klang verzerrt. »Oberley«, wandte er sich an den Diener. »Ich muss gegen diese … diese Lächerlichkeit protestieren. Eine Reise nach New York, um diesen Jungen herzuholen? Schaut ihn Euch an! Grün wie Gras hinter den Ohren!«

»Zachary!« Selbst so kurz vor seinem Ende konnte Lord Mortimer noch eine Art von Donner heraufbeschwören. »Ich vertraue darauf … dass Oberley meiner Bitte gefolgt ist. Den … besten Mann geholt hat. Ich kenne …« Er musste innehalten, um Atem zu schöpfen. Wenn man sein Keuchen denn so nennen konnte. »Ich kenne Eure Einwände. Sie sind zur Kenntnis genommen worden.«

»Das ist doch lächerlich. Jemanden zu bezahlen, damit …«

»Die Einwände sind zur Kenntnis genommen«, sagte Lord Mortimer. Und diese Stimme kam dem Donner ferner Kanonenschüsse nahe. Sie veranlasste den Arzt, seine schwarz glänzenden Schuhspitzen zu betrachten und dann seine manikürten Fingernägel zu inspizieren.

»Mr. Corbett«, sagte der sterbende Mann. »Ihr müsst nur … hier bei mir sein. Um mir zu helfen … mir mehr Zeit zu verschaffen. Für mich mit dem Tod reden … wenn er vor der Tür steht.«

»Ach herrje«, sagte der Arzt, aber leise hinter seiner Hand.

»Sie wird kommen.« Das Gesicht nickte. »Ja. Ich glaube, sie wird heute Abend kommen. Ich glaube … sie wird kommen.«

»Bei diesem Wetter, Sir?« Oberley beugte sich vor, um die Bettdecke zurechtzuzupfen. »Es ist sehr übel draußen. Ich weiß nicht, ob Miss Christina …«

»Sie wird kommen«, sagte Lord Mortimer, was die Diskussion beendete. Trotz seiner schweren Krankheit hatte der Mann in seinem Haus noch das Sagen.

»Jawohl, Sir.« Oberley ging seiner Arbeit mit geübter Hand nach. Sein Gesicht war ernst und traurig; als treuer Hund kannte er seinen Platz. Er zog sich auf eine respektvolle Distanz zurück, einsatzbereit, falls er gebraucht wurde.

Eine der Spinnenhände bewegte sich. Langsam, wie in großer Qual. Zitternd hob sie sich und winkte den besten Mann zu sich heran.

»Dr. Baker glaubt es nicht«, sagte der sterbende Mann zu Matthew Corbett. »Er … weiß nicht … was ich weiß.« Das eine Auge blinzelte. Es lag noch ein roter Funke Feuer darin. »Hört Ihr mir zu?«

»Ja, Sir«, kam die feste Antwort.

»Der Tod wird herkommen. In menschlicher Gestalt. Wie er auch … zu meinem Vater gekommen ist. Und auch … zu meinem Großvater. Ja. Da bin ich mir sicher.«

Matthew sagte nichts, denn es gab keinen Grund zu einem Kommentar. Er hatte die offene Arzttasche auf dem Nachttisch betrachtet und all die glänzenden Instrumente und Arzneifläschchen und Kräuterpäckchen und Salben und geheimnisvollen Tiegel. Doch keine menschliche Hand oder Arznei, selbst keine aus London, konnte das bevorstehende Ereignis aufhalten. Und so, wie Lord Mortimers Lungen kämpften, schien es äußerst bald einzutreten.

»Hört jetzt«, sagte die Stimme vom Bett, als könnte der Mann die Menschen noch immer so gut lesen wie zu der Zeit, als er wie ein Gott durch die arbeitenden Massen stolziert war. »Hört mir zu«, beharrte er. »Der Tod kam als Mann zu meinem Vater. Mein Vater … hat dasselbe … mit seinem Vater erlebt. Meinem Poppa«, hauchte der leise Atem. »Immer … immer … so beschäftigt.«

»Brodd, Ihr solltet Euch ausruhen«, sagte Arzt.

»Ausruhen? Für was?«, fuhr Lord Mortimer ihn an und musste dann eine Weile ganz langsam und ruhig atmen, um, so vermutete Matthew, seinen schwachen Halt an dieser Welt nicht zu verlieren. »Mr. Corbett«, ertönte die Stimme, als sie es wieder konnte. »Ich habe einen Mann das Zimmer betreten sehen … in dem mein Vater im Sterben lag. Als ich zehn Jahre alt war. Einen jungen Mann … gut gekleidet. Er ging in das Zimmer … und als er herauskam, war mein Vater tot. Kannte irgendwer diesen Mann? Oder … von wo er kam? Nein. Ich stand draußen … im Regen … als er an mir vorbeiging. Und er sah mich an und lächelte … und ich wusste … ich wusste … dass gerade der Tod an mir vorbeigegangen war. Mein Vater hatte immer gewusst, dass dieser Mann kommen würde. Oh ja … ich habe ihn … oft von dem Mann erzählen hören … den er ins Schlafzimmer seines eigenen Vaters … hatte gehen sehen. Einen jungen Mann … gut gekleidet. Selbstbewusst, sagte er. Ging zu Fuß weg … kein Wagen, keine Kutsche, kein Pferd. Der, den ich auch gesehen habe. Der bald hier sein wird … sehr bald schon.« Die Hand griff nach Matthews Ärmel. »Ihr müsst mit ihm sprechen. Dass er mir Zeit lässt … mich mit Christina zu versöhnen.« Ein Schluchzen stieg in ihm auf und überwältigte seine Stimme beinahe, aber Lord Mortimer schluckte es hinunter. »Meine Tochter«, sagte er schwach, fast am Ende. »Ich muss meine Tochter sehen.«

Oberley trat ans Bett. »Das Wetter, Sir. Es ist so furchtbar.«

»Sie wird kommen«, sagte Lord Mortimer schläfrig. Seine Kraft verebbte immer mehr. »Ich weiß, sie wird kommen … mit welchen Mitteln sie auch kann.«

Matthew sah Oberley an, der traurig den Kopf schüttelte. Ein Blick auf Dr. Baker wurde mit Schulterzucken quittiert.

Auf der anderen Seite des Schlafzimmers waren hohe Fenster, die mit schweren roten Vorhängen verhängt waren. Matthew ging an eines davon, zog den Vorhang zur Seite und spähte hinaus. Das Fenster war von einer Eisschicht überzogen. Außer Dunkelheit war nichts zu sehen. Er spürte, dass jemand hinter ihn trat, und wusste, wer es sein musste. »Kann sie heute Abend noch eintreffen?«, fragte Matthew leise. »Sie lebt sechs Meilen weit entfernt von hier, nicht wahr?« In einer Nacht wie dieser war das eine große Entfernung. Er nahm an, dass er seine eigene Frage beantwortet hatte. »Vielleicht kommt sie morgen.«

»Vielleicht«, sagte Oberley. »Aber morgen ist es zu spät.«

Matthew nickte. Brodd Mortimer war sicherlich ein sehr starker und zielstrebiger Mann, aber sein Leben ging dem Ende zu. Matthew durchquerte das Zimmer, um wieder in die Nähe des Himmelbettes zu gelangen – und dann hörte er das leise, hohle Klock … Klock … Klock.

Es war das Kohlestück, erkannte er; der Türklopfer. Jemand war gekommen.

Lord Mortimer stemmte sich plötzlich auf seine Ellbogen. Sein feuchtes Gesicht mit den grässlichen offenen Wunden verzerrte sich. Das eine Auge fand Matthew.

»Ich bitte Euch!« Seine Stimme klang trotz seines Flehens harsch. »Helft mir! Wenn sie es ist, dann bringt sie hoch! Wenn er es ist … oh, mein lieber Gott … dann überredet ihn, mir noch ein paar Stunden zu schenken!«

»Sir, ich …«

»Bitte! Jetzt ist es soweit! Bitte!«

»Also gut«, sagte Matthew. »Ich gehe runter.« Er wandte sich vom Bett und dem ab, was von einem reichen Mann übriggeblieben war, und plötzlich war Dr. Baker an seiner Seite. Der Arzt flüsterte Matthew ins Ohr. »Die Schwindsucht hat ihm den Verstand geraubt. Das wisst Ihr, nicht wahr?«

»Ich weiß, dass ich bezahlt worden bin, eine Arbeit zu verrichten. Die ich ausführen werde, so gut ich kann.« Matthew war an der Schlafzimmertür angelangt. Mit der Kerze in der Hand kam Oberley und öffnete sie. Zusammen verließen sie das Zimmer und gingen nach unten, um den abendlichen Besucher zu begrüßen.

Sünden und Gräuel

Während sie die Treppe hinuntergingen, begann die Standuhr zu schlagen. Sie verstummte beim neunten Schlag, als Oberley Bess anwies, nicht zur Tür zu gehen. Matthew zog den Riegel zurück, öffnete und wurde von eisigem Regen und eiskaltem Wind bombardiert.

»Ich bin gekommen, um ihn zu sehen«, sagte die in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt.

»Oh … bitte.« In seinem Eifer stieß Oberley Matthew beiseite. »Bitte tretet ein, Miss Christina.«

Sie überquerte die Türschwelle und erschauderte. Oberley machte hinter ihr wieder zu.

»Euer Umhang. Darf ich?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Mir ist sehr kalt. Noch nicht.«

»Tee und Maisbrot sind fertig«, bot Bess ihr an.

»Ich habe keinen Durst und keinen Hunger«, antwortete Christina Mortimer kurz angebunden. »Ich will das nur hinter mich bringen … und dann gehe ich nach Hause.«

»Ich trinke gern einen Tee, danke«, sagte Matthew zu Bess. »Mit ein wenig Zucker, wenn möglich.« Dann konzentrierte er seine Aufmerksamkeit ganz auf die Tochter des reichen Mannes, die der Verzweiflung nahe versuchte, wieder Wärme in ihre Arme zu reiben.

»Mir ist noch nie in meinem Leben so kalt gewesen«, sagte sie. Ihre Augen, genauso braun wie die ihres Vaters, betrachteten die Eingangshalle. »Herr im Himmel, was mache ich in diesem Haus?«

»Das Richtige und Anständige, glaube ich«, sagte Matthew, woraufhin Christina ihn ansah, als wäre er zuvor nur ein kaum vom Kerzenschein beleuchteter Schatten gewesen, den sie erst jetzt bemerkte. Ihre braunen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wer seid Ihr?«

»Mein Name ist Matthew Corbett. Ich bin aus New York angereist.«

»Das sagt mir nichts. Woher kennt Ihr meinen Vater?«

»Er hat mich engagiert.«

»Für was, Sir?«

Es nützte nichts, es zu verschweigen. »Um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Oder vielmehr … um den Tod zu bitten, Eurem Vater noch so viel Zeit zu schenken, dass er mit Euch reden kann.«

»Ach … die alte Geschichte.« Christina bedachte ihn mit der leichten, äußerst verächtlichen Andeutung eines Lächelns. »Dann seid Ihr also hier, den Auftrag eines Verrückten zu erfüllen.«

»So oder so ist es ein Auftrag.«

»Hm«, machte sie, dann schienen sie sich gegenseitig zu mustern.

Christina Mortimer nahm die Haube ihres Umhangs ab, vielleicht, damit Matthew besser sehen konnte, mit wem er es zu tun hatte. Ihre dichten rotbraunen Haare fielen über ihre Schultern. Ihr Gesicht war blass, ihr Kinn fest, ihre Augen durchbohrend. Sie war durchschnittlich groß und kräftig gebaut, eine undurchdringliche Mauer aus Stolz. Irgendetwas an ihr machte Matthew nervös. Ihr auf seine Augen gerichteter Blick flackerte nicht. »Ihr haltet das nicht für Unsinn, Sir?«

Bess kam mit einer Tasse braunen Tee, von dem Matthew trank, bevor er antwortete. »Hier geht es nicht um meine Meinung, sondern um das, was Euer Vater denkt.«

»Ich verstehe.« Sie begann ihre schwarzen Handschuhe auszuziehen und besann sich dann blinzelnd eines Besseren. »Kalt«, murmelte sie. »Ich hätte heute Abend nicht kommen sollen.«

»Gott sei Dank, dass Ihr gekommen seid«, sagte Oberley. »Möchtet Ihr wirklich keinen Tee, um Euch aufzuwärmen?«

»In diesem Haus gibt es keine Wärme«, antwortete sie. »Selbst wenn mir der Bauch brennen würde, wäre mir kalt.«

»Und doch seid Ihr hier«, sagte Matthew. Sie bedachte ihn wieder mit ihrem durchbohrenden, beunruhigenden Blick. »Ihr habt Euch durch Wind und Wetter geschlagen, um herzukommen. Das bedeutet, dass Euch zumindest interessiert, was Euer Vater zu sagen hat.«

Sie schwieg. Ihr Mund öffnete sich und schloss sich dann wieder. Sie neigte den Kopf zur Seite. »Wind und Wetter«, sagte sie und wirkte ein paar Sekunden lang gedankenverloren. Dann: »Ja. Verzeiht … meine Gedanken sind …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich mag das Haus nicht. Ich bin schon bei Tageslicht daran vorbeigefahren, da hat es mir bereits Unwohlsein bereitet. Abends, da …« Ihre behandschuhten Finger strichen über ihren Nacken. »… tut es mir weh«, sagte sie.

»Wollen wir zu Lord Mortimer gehen?«, fragte Oberley leise und besorgt.

»Ja. Nun gut. Ich bin hier … für wie lange noch, weiß ich nicht, aber ich bin hier.«

»Sicherlich lange genug, um einem im Sterben liegenden Mann die letzte Ehre zu erweisen?«, bemerkte Matthew.

»Ehre.« Sie verlieh dem Wort einen hässlichen Klang. »Ihr wisst offenbar nicht, was das Wort bedeutet, Sir. Bringt mich zu ihm«, sagte sie zum Diener.

Sie gingen auf die Treppe zu. »Euer Pferd hat es die Steigung hoch geschafft?«, fragte Oberley.

»Mein Pferd?« Im Kerzenlicht zog Christina die Augenbrauen zusammen. »Mein Pferd ist … davongelaufen, glaube ich.« Ihre Augen waren frostig geworden wie Eis auf Glas. »Ich habe versucht … nach den Zügeln zu greifen, aber … ich glaube, es ist weggelaufen.«

Oberley und Matthew tauschten einen kurzen Blick miteinander aus. »Geht es Euch nicht gut, Miss?«, fragte Oberley.

»Ich … weiß nicht, wie ich mich fühle. Ich glaube … ich sollte nicht hier sein. Ich glaube, es ist falsch.« Sie blieb am Fuße der Treppe stehen und spähte nach oben. Matthew sah, dass sie zitterte.

»Es wird gutgehen«, sagte Matthew.

»Es ist falsch«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Falsch. Alles ist …« Sie fasste sich an die Stirn und schwankte. Als die beiden versuchten, sie zu stützen, wich sie vor ihnen zurück. »Fasst mich nicht an! Ich will nicht angefasst werden!«, sagte sie so vehement, dass sowohl Matthew als auch Oberley sofort die Hände sinken ließen.

Matthew meinte, dass diese Frau entweder kurz davor stand, verrückt zu werden, oder etwas wesentlich Stärkeres als den süßen Tee brauchte, um ihre Nerven zu beruhigen. Er selbst begann sich inzwischen nach flüssigem Mut in Form eines Grogs zu sehnen. Mit viel Rum.

»Ich kann weitergehen«, sagte Christina leise, aber doch mit Tapferkeit in der Stimme. »Ich kann weitergehen.« Und damit begann sie, die Treppe hochzusteigen.

Als sie fast oben angekommen war, schwankte sie wieder und sah mit wilden Blicken um sich. Matthew und Oberley blieben ein paar Stufen unter ihr.

»Miss Christina?«, fragte Oberley.

»Habt Ihr das gehört?«, erwiderte die Frau. »Das Geräusch.«

»Das Geräusch, Miss?«

»Ja!« Mit bleichem Gesicht und angsterfüllten Augen schien sie sich suchend umzuschauen. »Ich habe gehört … wie etwas zerbrochen ist. Wie … ich weiß nicht.« Sie fing Matthews Blick auf. »Habt Ihr es nicht gehört?«

»Ich befürchte nicht«, gab Matthew zurück und dachte sich, dass die Tochter des reichen Mannes nicht ganz bei Trost war.

Sie nickte und schien sich wieder zu fangen. Dann setzte sie sich erneut in Bewegung, und die beiden Männer kamen ihr nach.

Oberley öffnete ihr die Tür. Sie schlüpfte ins Zimmer. Die Gestalt im Bett saß bereits hoffnungsvoll an die durchweichten Kissen gelehnt – ein unglaublicher Sieg eines zerfallenden Verstandes über zerfallendes Fleisch, dachte Matthew. Er trank seinen Tee aus, fühlte sich etwas gestärkt und stellte die Tasse auf einen Tisch. Er beobachtete, wie Christina leise über den Teppich schritt. Der Arzt ging beiseite, um ihr Platz zu machen und seinen Stuhl anzubieten, sollte sie ihn brauchen. Am Bett blieb sie stehen und sah auf das, was dort lag, während Matthew und Oberley zu ihr traten.

Außer dem keuchenden Atem des reichen Mannes war alles still. Es war ein Moment, der sich eisig und heimtückisch wie die Welt hinter den Fensterscheiben erstreckte. Alles hing im Ungewissen.

»Tochter«, krächzte Lord Mortimer.

Sie gab keine Antwort. Wieder fasste sie sich mit ihrer behandschuhten Hand an die Stirn und schwankte. Sie sah sich auf eine Art im Zimmer um, die Wände und die Decke hoch, dass Matthew sich an ein gefangenes Tier erinnert fühlte, das sich nirgendwo mehr verstecken kann.

»Rede mit mir.« Die Stimme flehte fast. »Bitte.«

Sie sagte nichts.

»Christina«, sagte Lord Mortimer, als kniete er vor dem Altar.

Matthew sah, wie ihr Blick auf ihren Vater fiel. Er sah sie zurückzucken. Er sah, wie ihre Handschuhe sich zu Fäusten ballten. Aber sie war sein Fleisch und Blut und vielleicht gleicher Natur. Sie blieb gefasst.

»Wovon soll ich denn reden?«, fragte sie leise mit schauderhaft beherrschter Stimme. »Soll ich über meine Mutter sprechen … deine Frau … und wie du sie in den Selbstmord getrieben hast? Soll ich davon reden, wie Morgan an deiner Unzufriedenheit zerbrochen ist? Soll ich von all den Malen sprechen, die Morgan und ich liebevoll auf dich zugegangen sind und du uns den Rücken zugedreht hast? Weil du … immer so viel zu tun hattest, Poppa?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern machte auf diese halsstarrige, vernichtende Weise weiter. »Soll ich von den Hunderten von Menschen reden – oder Tausenden vielleicht –, die in deinen Minenschächten und Arbeitshäusern, auf deinen Feldern und in deinen Lagerhallen gelitten haben?

Soll ich von der Scham sprechen, die wir gefühlt haben, als wir entdeckten, wie du die Menschen ausnutzt – und wie du Freude daran hast? Soll ich von den Nances, den Copelands und den Engelburghs reden? Die Freunde unserer Familie waren … bis du in deiner Gier die Unternehmen ihrer Väter und alle Träume, die die Kinder vielleicht gehegt hatten, zerstört hast? Soll ich von der Wittersen-Halle sprechen und den Arbeitern, die darin umgekommen sind? Und von den Rechtsanwälten, die du Jahr um Jahr eingestellt hast, um nicht das Schadensgeld zahlen zu müssen, das gerecht gewesen wäre, wie du wissen musstest? Wovon soll ich also reden? Davon oder von anderen Sünden und Gräueln? Von anderen Schand- und Missetaten? Sag es mir.«

Der sterbende Mann erschauderte. Matthew fragte sich, ob er über die Tatsache nachdachte, dass zwar der Tod noch nicht gekommen war, die Wahrheit ihn aber eingeholt hatte.

Christina Mortimer bohrte noch tiefer in der Wunde. »Und du wagst es, mich herzubestellen? Deinen Diener loszuschicken, mich zu überreden? Damit ich vergessen soll, wie schrecklich es ist, deine Tochter zu sein? Zu vergessen, wie du meine Mutter, meinen Bruder und fast alles zerstört hast, das mir wichtig war?« Sie blinzelte. Wilde Angst sprang in ihre Augen. Sie sah sich um und schrie fast: »Warum bin ich hier? Was mache ich hier? Ich weiß nicht … ich weiß nicht!«

»Miss Christina«, sagte Oberley und streckte die Hand aus, um ihre Schulter zu berühren, aber sie zuckte vor ihm zurück. »Bitte. Lasst doch ein bisschen Gnade gegen ihn walten.«

»Nein«, sagte Lord Mortimer klar und deutlich. »Nein«, wiederholte er mit einem schiefen Lächeln auf seinen grimmigen Lippen. »Keine Gnade. Deswegen … deswegen habe ich dich nicht hergebeten, Tochter. Ich habe in meinem Leben niemandem Gnade geschenkt … und ich bitte um keine für mich selbst.« Sein gutes Auge glänzte feucht. »Niemand hat mir je welche geschenkt. Ich wüsste auch nicht, warum. Ich kann damit nichts anfangen. Es ist nichts als Schwäche. Eine Krücke. Fressen oder gefressen werden … so kenne ich es und nicht anders, mein ganzes Leben lang. Selbst mein Vater … es war ein Kampf um Leben und Tod mit ihm … denn er hat versucht, mich zu zerstören … um herauszufinden, was in mir steckte. Hat mich in einem Schrank eingeschlossen. Du redest von armen Arbeitern, Tochter? In einen Schrank hat er mich gesperrt … weil ich irgendwelche seiner Regeln nicht genau befolgt hatte. Und ich konnte nicht mehr heraus … konnte kein Essen oder Trinken bekommen … bis ich ihn um Vergebung angefleht habe. Weißt du, wie lange ich in dem Schrank blieb … im Dunkeln? In meiner Pisse und Scheiße? Weißt du … wie lange?« Er nickte, als wäre er immer noch stolz auf diesen Triumph aus seiner Kindheit. »Der Butler hat mir gesagt … dass es fünf Tage und vierzehn Stunden waren. Gegen den Willen meines Vaters haben sie mich rausgeholt. Und als es mir wieder gut genug ging … hat er mich gleich wieder drin eingesperrt. Da habe ich … fast eine ganze Woche lang ausgehalten. Aber ich habe dabei gelernt, Tochter. Ich habe gelernt, dass ein Mann – oder ein Junge – allein mit einem guten Herzen nicht überleben kann. Er überlebt nur durch seine Willenskraft. Ja. Darum lebe ich heute noch. In diesem Moment. Denn ich wollte dich sehen … um mit dir zu reden und dich reden zu hören … und ich werde nicht sterben, bevor ich damit zufrieden bin.«

»Fressen oder gefressen werden?«, fragte sie. »Was hat Mutter dir je angetan, dass du so wütend wurdest? Was hat Morgan getan? Oh Gott, Vater …« Ihre Stimme brach. »Was habe ich getan?«

Lord Mortimer antwortete nicht. Vielleicht, so dachte Matthew, konnte er nicht.

»Waren wir dir nicht gut genug?«, fragte sie. »Waren wir nicht stark genug?«

Schließlich kam die hohl gekrächzte, harte Antwort. »Ihr wart zu gut für mich. Jetzt weiß ich das … wo ich durch den Spiegel … der Zeit zurückschauen kann. Und ich war zu schwach … um diese Dinge … in mir … loszulassen. Zu schwach. Und dabei dachte ich … dass ich so ungemein stark bin. Jetzt sieh dir an, Tochter … was ich bin und was ich habe …. seht es als Warnung an«, sagte er zu Matthew, Oberley und dem Arzt, »was aus einem Mann werden kann … der nie ganz … aus dem kleinen dunklen Schrank herausgekommen ist … und immer noch … still und verängstigt drinsitzt.«

Der Mund mit den offenen Wunden im schweißglänzenden Gesicht bewegte sich. »Ich werde nicht um Gnade bitten. Aber ich werde sagen … was ich nie zu meinem Vater und auch keinem anderen Menschen auf dieser Erde je gesagt habe … dass es mir leidtut.« Das Auge schloss sich wieder und Lord Mortimer sank zurück in die Kissen. »Es tut mir leid«, keuchte er. »Es tut mir leid.«

Christina stand bewegungslos da. Sie starrte ihren Vater mit Augen an, die Eisen hätten schmelzen können, dachte Matthew. Es war genauso schwer, sie anzusehen, wie ihn. Etwas in ihrem Gesicht bewegte sich. Oder etwas darunter. Es war schwer zu sagen, was. Matthew fragte sich, ob ihre Erinnerungen je gelindert werden konnten, denn sie war in den Qualen – und Fehlern – der Vergangenheit genauso gefangen wie Lord Mortimer. Sie waren sich tatsächlich sehr ähnlich.

Von unten erklang das Klack … Klack … Klack des Türöffners.

Der reiche Mann öffnete die Augen. Er schnappte nach Luft. Sein Blick suchte den von Matthew und fand ihn.

»Er ist gekommen«, wisperte Lord Mortimer. »Bitte. Ich flehe Euch an … haltet ihn auf. Nur eine kurze Weile. Wir sind noch nicht fertig. Noch nicht fertig. Oder … Tochter?«

Sie tat einen langen, schluchzenden Atemzug. Sie war die am meisten Gequälte, und doch versuchte etwas tief in ihr – vielleicht Willensstärke – sich zu behaupten.

»Nein«, antwortete sie, ebenfalls im Flüsterton. »Nein, Poppa … wir sind noch nicht fertig.«

»Bitte … Corbett … haltet ihn auf, nur noch einen Augenblick …«

»Ja, Sir«, sagte Matthew, wandte sich ab und ließ Oberley und Dr. Baker im Schlafzimmer zurück, während er in der Erwartung nach unten ging, den Vikar oder jemanden ähnliches aus Oak Bridge anzutreffen. Doch in der Eingangshalle stand ein junger, gutaussehender Mann, den Bess gerade ins Haus gelassen hatte. Der in einen dunklen Umhang und Dreispitz mit lila Hutband gekleidete junge Mann lächelte Matthew an. »Seid gegrüßt, Sir. Ich bin gekommen, um Lord Mortimer zu sehen.«

»Lord Mortimer ist krank.«

»Ja, das weiß ich.«

»Sterbenskrank«, sagte Matthew.

»Auch das weiß ich. Die Zeit drängt, Sir. Könnt Ihr mich zu ihm führen?«

»Und weswegen seid Ihr gekommen?«

»Ich bin gekommen, um dem Leiden ein Ende zu setzen«, sagte der junge, gutaussehende Mann mit freundlichem Lächeln.

Ein Engel bin ich nicht

Vielleicht war Matthew einen Schritt zurückgewichen. Er wusste es nicht. Der junge Mann – der vielleicht nur zwei oder drei Jahre älter als Matthew war – hatte ein freundliches, offenes Gesicht und eine umgängliche Art. Er nahm seinen Dreispitz mit schwarzbehandschuhten Händen ab. Seine Haare waren blond und fein wie Seide, seine Augen hatten die Farbe von Rauch. Er knöpfte seinen Umhang auf. Darunter trug er einen gut geschneiderten schwarzen Anzug und eine dunkellila Weste.

»Ihr habt doch wohl keine Angst vor mir … oder, Mr. Corbett?«

»Was?«, fragte Matthew.

»Ihr tratet einen Schritt zurück. Habe ich etwas gesagt, das Euch beunruhigt?«

»Mein Name. Woher wusstet Ihr …?«

»Aus New York, nicht wahr? Eine hübsche Stadt. Immer sehr viel los. Nein, ich behalte meinen Umhang und Hut bei mir«, sagte er zu Bess. »Aber danke trotzdem.«

Die rauchfarbenen Augen richteten sich wieder auf Matthew. »Es ist spät, Sir. Ich habe noch andere Termine. Bitte bringt mich zu Lord Mortimer.«

Matthew spürte seinen Atem in den Lungen stottern. »Wer seid Ihr?«

»Ich bin nur ein einfacher Bote. Ein Überbringer von Botschaften. Aber jetzt … ich bin von weither gekommen. Ich würde meinen Termin mit Lord Mortimer gern beschließen und mich dann so schnell wie möglich wieder auf den Weg machen. Diese Dinge sollte man nicht unnötig hinauszögern.«

»Diese Dinge? Welche Dinge?«

»Erledigungen wie meine«, sagte der gutaussehende Mann. Sein Lächeln hatte nichts von seinem Strahlen verloren, auch wenn Matthew meinte, dass die Augen sich verdunkelt hatten. »Also wirklich, Sir, für mich geht es hier um ein zu erledigendes Geschäft. Ich bedauere Lord Mortimers Zustand natürlich, aber …« Er zuckte die Achseln. »Auch das ist ein Teil des Lebens, nicht wahr?«

»Ein furchtbarer Teil«, sagte Matthew vorsichtig. Er wusste nicht, was zuerst nachgeben würde … seine Knie oder sein Verstand.

»Ganz und gar nicht!«, kam die lebhafte Antwort. »Von den Pflichten, Sorgen und Problemen des Lebens befreit zu werden soll furchtbar sein? Einen Blick aufs andere Ufer werfen zu können ist furchtbar? Sich des Sklavenjochs der Schmerzen und Makel des Fleisches zu entledigen ist furchtbar? Ach, Mr. Corbett … Ihr und ich, wir sollten eines Tages zusammen ein Glas Bier trinken und uns lange darüber unterhalten, wie schön es ist, aus dieser Welt erlöst zu werden.«

»Ganz sicher nicht allzu bald … denke ich«, sagte Matthew.

Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. »Wie Ihr wollt. So, nun aber … versucht Ihr etwa, mich aufzuhalten?«

»Äh …« Er war wie vor den Kopf geschlagen und benebelt. Sein Magen schlug Purzelbäume. Sein gesamter Oberkörper fühlte sich fiebrig heiß an und sein ganzer Unterkörper wie eingefroren. Er konnte – konnte – es nicht glauben, dass er sich mit dem Tod in Menschengestalt unterhielt. Er konnte es nicht. Es war einfach unmöglich.

»Von wo seid Ihr gekommen, Sir?«, schaffte er zu fragen.

»Von meinem Herkunftsort.«

»Wo ist der?«

»Einen langen Ritt von hier entfernt.«

»Ihr seid zu Pferde gekommen?«

»Ja, natürlich. Erwartet Ihr, dass ich die Arme ausstrecke und fliege? Man nennt mich ja vieles, aber ein Engel bin ich nicht. Bitte, Sir … es ist am besten, wenn wir das hinter uns bringen. Habt Mitleid mit einem einsamen Reisenden, ja?«

»Wo ist Euer Pferd?«

»Mein Pferd habe ich unten am Hügel gelassen. Wo die Kutsche steht. Dieses ganze Eis ist … schlimm. Mein Pferd heißt Somnus, wenn Ihr’s wissen wollt.«

»Und wie ist Euer Name?«

»All diese Fragen … aber das sollte man wohl von einem Problemlöser erwarten. Na gut! Ich heiße Clifton. Kenyard mit Vornamen. Passt Euch das?«

»Ist das Euer echter Name?«

»So echt, wie Ihr meint«, sagte der Mann. »Also wirklich! Es hilft nicht, es herauszuzögern! Ich habe einen Termin bei Lord Mortimer!« Ein Stirnrunzeln flackert über sein Gesicht. »Die Nacht neigt sich dem Ende zu, Sir! Ich habe noch viele Meilen vor mir. So … ich habe Geduld … aber ich mag nicht, wenn man mit mir spielt. Ich mag nicht, wenn man mich zurückweist, denn dies muss erledigt werden. Um dem Leiden ein Ende zu setzen, wie ich schon sagte! Ich bin aus einem guten Grund hier, könnt Ihr das denn nicht verstehen?«

Matthew wünschte sich, er hätte eine Wand im Rücken, an die er sich lehnen konnte, aber da war keine. Immerhin schien Kenyard Clifton, oder wie er sich auch nannte, wirklich genug zu sein, um im Kerzenlicht einen riesigen Schatten zu werfen.

»Lord Mortimers Tochter ist bei ihm«, brachte Matthew heraus. »Er möchte nur noch ein bisschen mehr Zeit mit ihr haben. Werdet Ihr dies ihm gewähren?«

»Ein wie langes bisschen?« Verärgerung flammte in der Stimme auf und das Lächeln verging ihm endlich.

»Ich bin mir nicht sicher. Er ist sehr schwach, aber er nimmt sich mit aller Kraft zusammen, um …« Matthew fehlten die Worte und plötzlich kam ihm die ganze Situation geradezu absurd vor. »Hört mal, Sir! Ihr seid nicht der, als den Ihr Euch ausgebt! Ihr könnt es nicht sein!«

»Und Ihr, Sir, habt kaum genug Verstand, um den letzten Nagel in Lord Mortimers Sarg zu hämmern, wenn ich das so deutlich sagen darf. Ich habe gesagt, mein Name ist Kenyard Clifton! So heiße ich! Und bei diesem Wetter bin ich unterwegs! Und möchte wenigstens noch vor dem Morgengrauen wieder bei meiner Frau und unseren zwei Kindern sein! Wollt Ihr mir nicht die Freundlichkeit erweisen, mich zu ihm zu lassen, bevor er stirbt?« Zusammengezogene Augenbrauen schoben den letzten Rest des Lächelns weg. »Na, also gut! Hier!« Er steckte eine Hand unter seinen Umhang und zog einen braunen Umschlag heraus. »Gebt ihm den selbst, aber dem Gesetz und den Vorgaben meines Dienstherren nach muss ich anwesend sein, wenn er ihm gegeben wird!«

Matthew wurde immer verwirrter. Hatte der Tod soeben gesagt, dass er eine Frau und zwei Kinder hatte? Matthew starrte den Umschlag an. »Was ist das?«

»Vertrauliche Dokumente. Wenn Ihr das unbedingt wissen müsst. Die ein Gerichtsverfahren betreffen, das sich über viele Jahre hingezogen hat. Ich bin von meinem Dienstherrn, der Kanzlei Pierce, Campbell und Blunt geschickt worden. Aus Boston, was schrecklich weit von hier entfernt ist. Soviel ich weiß, sind die Anwälte zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen, und die Arbeiter, die verletzt wurden, werden Schadensgeld erhalten – und die Witwen, die ihre Männer verloren haben, werden auch entschädigt. So das denn möglich ist.«

Matthew erkannte, wovon der Mann sprach. »Es geht um den Unfall in dem Gebäude. In der Wittersen-Halle.«

»Korrekt. Lord Mortimer hat seinen Anwalt vor einigen Wochen davon in Kenntnis gesetzt, dass er zu einer Einigung bereit ist, und soviel ich weiß, hat er eine große Summe Geld zur Verfügung gestellt, um den Arbeitern gerecht zu werden. Daher bin ich gekommen, um entweder ihn oder seinen bevollmächtigten Vertreter die letzten Papiere unterschreiben zu lassen.«

»Oh«, machte Matthew. Es war ein verblüfftes Geräusch, kaum zu hören. Im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen. »Aber … woher wusstet Ihr meinen Namen? Und meinen Beruf?«

»Ganz einfach. Ich habe den Kutscher unten am Hügel gefragt, wen er heute Abend bei diesem Wetter hergebracht hat. Der arme Kerl ist entschlossen, da unten bei seinen Pferden zu bleiben. Ist es nicht faszinierend, wie äußerst wohlhabende Männer ihre Villen immer auf den Kuppen der höchsten Hügel bauen? Leider müssen sie für diese luftige Lage oft einen Preis bezahlen. Aber jetzt … wenn Ihr mich bitte zu …«

»Mr. Corbett?«

Matthew drehte sich zu der Stimme um, die hinter ihm lautgeworden war.

Jesper Oberley stand mit einem dreiarmigen Kerzenleuchter da. Sein Gesicht war lang und ernst und voller tiefer Schatten. Sein Blick wanderte zu Kenyard Clifton, blieb ein paar Sekunden an ihm hängen und richtete sich dann wieder auf Matthew.

»Lord Mortimer ist vor ein paar Minuten verschieden«, sagte Oberley. »Miss Christina war bei ihm. Es freut mich, sagen zu können … dass Miss Christina ihrem Vater während seiner letzten Atemzüge vergeben hat … und am Ende seine Hand gehalten hat. Ich denke, es hat sie große Überwindung gekostet … ihm das zu sagen und seine Hand zu nehmen … aber Miss Christina war ganz ruhig und sehr gefasst. Ich habe sie für die Nacht zu ihrem Zimmer gebracht.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Und dieser Gentleman ist … jemand, den wir erwartet haben?«

»Er ist von einer Kanzlei in Boston«, sagte Matthew. »Er hat Papiere gebracht, die unterschrieben werden müssen. Wichtige Papiere, sollte ich sagen. Die … Leiden ein Ende setzen«, beschloss Matthew zu sagen. Ihm kam plötzlich ein Gedanke. »Vielleicht wäre es angebracht, wenn Miss Christina sie unterschreibt?«

»Sie hat über Schwindelanfälle geklagt und dass ihr der Kopf … schwimmt, wie sie es ausdrückte. Sie wollte weder etwas essen noch trinken, sondern nur alleingelassen werden. Ich glaube, das Erlebnis hat ihr alle Kraft geraubt. Aber ich danke Gott, dass sie gekommen ist. Lord Mortimer mag keine strahlend reine Seele besessen haben, aber vielleicht hat er sich zuletzt von seiner Tochter doch noch ein bisschen Frieden und Vergebung verdient.« Oberley hielt die Kerzen hoch, um Kenyard Clifton besser zu beleuchten. »Ich bedaure, dass Ihr nicht mehr rechtzeitig zu Lord Mortimer gekommen seid, Sir.«