MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 2) - Robert McCammon - E-Book

MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 2) E-Book

Robert McCammon

4,0

Beschreibung

Sandra Brown hat sein episches Meisterwerk "Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal" über die Hexenjagd in einer amerikanischen Koloniestadt begeistert als "zutiefst überzeugend … mit unvergleichlicher Kenntnis der menschlichen Seele erzählt" charakterisiert. Nun bringt Robert McCammon seinen Helden Matthew Corbett ins New York des frühen achtzehnten Jahrhunderts: Ein Mörder übt über die geschäftige Stadt, die ihre unverwechselbare Identität noch entwickelt, eine blutige und entsetzliche Macht aus – und auch über Matthews eigene unsichere Zukunft. Inhalt: Der ungelöste Mordfall an einem angesehenen Arzt versetzt die Bewohner der noch jungen Stadt New York in Angst und Schrecken. Wer hat das Leben des respektablen Mannes mit einem Messerschnitt auf mitternächtlicher Straße ausgelöscht? Der Herausgeber von New Yorks erster und einziger Zeitung tauft das Monster "Den Maskenschnitzer" und gießt damit nur noch mehr Öl auf die Flammen des ungelösten Rätsels. Als der Maskenschnitzer ein neues Opfer fordert, wird der junge Gerichtsdiener Matthew Corbett in einen Irrgarten aus forensischen Anhaltspunkten und gefährlichen Nachforschungen gelockt, die sowohl sein Talent für Ermittlungen als auch seinen Gerechtigkeitssinn wecken. Am seltsamsten ist aber, dass die Informationen zur Enttarnung des Maskenschnitzers womöglich in einem Tollhaus zu finden sind, in dem die "Königin der Verdammten" regiert – und nur jemand mit Matthews Verstand und Einfühlsamkeit hat eine Chance, ihre Geheimnisse aufzudecken. Matthews Ehrgeiz führt ihn vom Hafen bis zur Wall Street, von vornehmen Herrenhäusern bis zu den mit Blut beschmierten Rinnsteinen … und zu Antworten, vor denen niemand entkommen kann.

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Matthew Corbett und die Königin der Verdammten

– Band 2 –

Robert McCammon

übersetzt von Nicole Lischewski

Copyright © 2003 by Robert McCammon Published by Arrangement with THE MCCAMMON CORPORATION

This Work was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30827 Garben Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE QUEEN OF BEDLAM Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Nicole Lischewski

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-329-9

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Matthew Corbett und die Königin der Verdammten - Band 2
Impressum
DREI
Die Botschaft
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
VIER
Methoden des Mordens
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Über den Autor

DREI

Eins

Mancherorts war der Fuhrweg nach Philadelphia eine richtige Straße, anderswo kaum mehr als ein Wunschtraum. Auf ihrem Ritt durch Jerseys bewaldete Hügellandschaft durchquerten Matthew und Greathouse eine Welt im Umbruch: An einigen Stellen war der Beginn eines Dorfes von vielleicht zehn Häusern mit einer Kirche in der Mitte aus dem Wald gehackt worden und nur etwas weiter eroberten grüne Kletterpflanzen und Gestrüpp die Überreste eines anderen Weilers zurück. Viele Bauernhöfe gediehen und beeindruckten durch gepflegte Mais- und Bohnenfelder, aber andere waren verfallen. Ein kahler, gemauerter Schornstein stand inmitten der schwarz verbrannten Ruine eines Hauses. Am Rande einer weiteren Siedlung – mit einer ganzen Anzahl von Gebäuden, darunter auch eine Pferdevermietung, eine Schmiede und ein geweißtes Wirtshaus – begrüßte das Schild Willkommen in New Town die Reisenden. Ein kleines Heer von Kindern schwärmte aus, rannte neben den Reitern her und befeuerte sie mit Fragen nach ihrem woher und wohin, bis die Straße sich wieder in den Wald hinein wand. Die Kinder fielen zurück und gaben die Verfolgung auf.

Die Luft war schwer und feucht. Nebelschleier verfingen sich in den Kronen der höchsten Bäume. Ab und zu erstarrte ein Hirsch im Wald, beobachtete, wie die Reiter vorüberzogen, oder sprang vor ihnen über den Weg. Matthew fand es erstaunlich, dass einige der Hirschböcke sich unter ihrem ausladenden Geweih überhaupt auf den Beinen halten konnten. Wenn die Straße es zuließ, trieben Greathouse und Matthew ihre Pferde zum Galopp an, um so schnell wie möglich voranzukommen. Als sie etwa vier Stunden geritten waren und ein Schild passiert hatten, das Inians Fähre 8 Meilen ankündigte, kreuzte sich ihr Weg mit einer im Pferdewagen nach New York reisenden Familie. Greathouse sprach den Vater an und erfuhr, dass Westerwicke noch zwölf Meilen entfernt lag, am anderen Ufer des mit der Fähre zu überquerenden Raritan Rivers.

Eilig ritten sie weiter. Als sie sich dem Fluss näherten, wich der Wald Bauernhöfen und Werkstätten wie einer Sägemühle, einer Schreinerei, einem Fassbinder und einer am Rande eines riesigen Apfelgartens gelegenen Brauerei. Häuser drängten sich aneinander und das Balkenwerk für neue Gebäude wurde aufgestellt: Unter dem Einfluss des Raritan Rivers und dem ins Landesinnere führenden Verkehrs wuchs eine Stadt heran.

Am Fähranleger mussten Matthew und Greathouse zwanzig Minuten auf das Boot warten. Fasziniert beobachteten sie dann, wie vier schweigsame Indianer in mit bunten Perlen und anderen Verzierungen dekorierter Kleidung die Fähre verließen und in einem Tempo nach Nordosten verschwanden, das ein Bleichgesicht keine hundert Meter weit japsend nach Atem hätte schnappen lassen.

Das trübe Tageslicht schwand bereits dahin, als ein Schild schließlich die Stadt Westerwicke ankündigte. Der Weg wurde zu Westerwickes von Holz- und Ziegelhäusern gesäumter Hauptstraße. Hinter den Gebäuden lagen gepflegte Felder und Obstgärten. Pferde und Kühe teilten sich eingezäunte Weiden und auf einem fernen Hügel grasten Schafe. Westerwicke hatte zwei Kirchen, zwei Schänken und einen kleinen Ortsteil mit Geschäften, in dem die Einwohner bei ihren Erledigungen und Gesprächen innehielten, um die vorbeireitenden Fremden zu mustern. Vor einem der Wirtshäuser, auf dessen Schild eine offene Hand und der Schriftzug The Constant Friend prangten, stoppte Greathouse sein Pferd und rief einen jungen Mann zu sich herüber, der gerade aus der Schänke kam. Die Wegbeschreibung zum Hospital ließ darauf schließen, dass ihre Reise in einer halben Meile an einer Allee enden würde, die rechts von der Hauptstraße abzweigte.

Für Matthews Steißbein war es eine große Wohltat, als sie endlich auch diese letzte halbe Meile hinter sich gebracht hatten. Die Seitenstraße führte sie durch ein kleines Wäldchen zu drei Gebäuden. Das erste, aus Holz gebaut und mit geweißten Wänden, stand neben einem Brunnen und war so groß wie ein normales Haus. Ein Pferdetrog und Anbindebalken standen davor und an einem Nagel neben der Haustür hing eine brennende Laterne. Das zweite Haus war wesentlich größer als das erste, mit dem es durch einen gut ausgetretenen Pfad verbunden war. Es war aus grob behauenen Steinen gebaut worden. Aus dem spitzen Dach ragten zwei Schornsteine und mehrere der Fensterläden waren geschlossen. Matthew nahm an, dass dort die Patienten untergebracht waren – obwohl das Gebäude aussah, als wäre es ursprünglich als Getreidelager oder Versammlungshaus gebaut worden. Er fragte sich, ob es hier vor Westerwickes Entstehung ein Dorf gegeben hatte, dessen Einwohner einem Fieber oder anderem Unglück erlegen waren, und ob es sich hier um die Überreste davon handelte – vielleicht gab es ja noch ein paar Ruinen im Wald.

Das dritte Haus lag fünfzehn oder zwanzig Meter hinter dem Steingebäude, war etwas größer als das erste und ebenfalls weiß gestrichen. Matthew fiel auf, dass auch dort zwei der Fensterläden geschlossen waren. Ein Blumengarten mit Statuen und zwischen Büschen aufgestellten Bänken war unweit angelegt worden. Ein Weg führte nach hinten zu einem Stall und mehreren kleineren Gebäuden. Es war ganz anders als der traurige und chaotische Ort, den Matthew sich vorgestellt hatte. In den Bäumen sangen die Vögel ihr Nachmittagslied, das Tageslicht verdunkelte sich zu blau und die Atmosphäre des Hospitals und des gesamten Grundstücks war ungleich friedlicher als die Szenen schrecklicher Verrücktheit in den Londoner Tollhäusern, über die Matthew in der Gazette gelesen hatte. Trotzdem entdeckte er Gitter an einigen der offenen Fenster des Steingebäudes, durch die jetzt ein paar weiße Gesichter spähten. Hände erschienen, um die Gitter zu umklammern, aber die Musterung der Besucher fand schweigend statt.

Greathouse stieg ab und band sein Pferd am Balken an. Noch während Matthew es ihm gleichtat, öffnete sich die Haustür des Steingebäudes, und ein grau gekleideter Mann trat heraus. Er blieb kurz stehen und machte sich an der Tür zu schaffen – Matthew nahm an, dass er sie abschloss – und erschreckte sich, als er die Besucher bemerkte. Grüßend hob er die Hand und schritt schnell auf sie zu.

»Zum Gruße!«, rief Greathouse. »Seid Ihr Dr. Ramsendell?«

Der Mann kam weiter auf sie zu. Mit schiefem Grinsen hielt er eine Armlänge vor Matthew abrupt an und begann stockend zu reden. »Jacob ist mein Name. Seid Ihr gekommen, um mich heimzubringen?«

Matthew schätzte den Mann auf nur fünf oder sechs Jahre älter als sich selbst, auch wenn das wegen seines von einem entbehrungsreichen Leben sehr faltigem Gesicht schwer zu sagen war. Auf der rechten Wange des Mannes prangte eine alte gezackte Narbe, die sich bis über eine eingedellte Stelle an seinem Kopf hinzog, auf der keine Haare mehr wuchsen. Seine Augen strahlten glasig und sein unbewegliches Grinsen hatte etwas Abstoßendes und doch Bemitleidenswertes an sich.

»Mein Name ist Jacob«, sagte er wieder auf genau die gleiche Art wie zuvor. »Seid Ihr gekommen, um mich heimzubringen?«

»Nein.« Greathouses Stimme klang fest, aber vorsichtig. »Wir sind gekommen, um mit Dr. Ramsendell zu sprechen.«

An Jacobs Grinsen veränderte sich nichts. Er streckte die Hand aus. Bevor Matthew zurückweichen konnte, berührte er die Narbe an dessen Stirn. »Seid Ihr verrückt wie ich?«, fragte er.

»Jacob! Lass den Gentlemen doch bitte etwas mehr Platz.« Die Tür des ersten Gebäudes hatte sich geöffnet und zwei Männer kamen heraus, die beide in dunkle Kniehosen und weiße Hemden gekleidet waren. Jacob wich sofort zwei Schritte zurück, starrte aber weiterhin Matthew an. Der Mann, der gesprochen hatte, war groß und schlank mit rotbraunem Haar und einem sauber gestutzten Bart. Er trug eine beigefarbene Weste. »Ich habe meinen Namen gehört. Was kann ich für die Gentlemen tun?«, fragte er.

»Ich glaube, der hier ist verrückt.« Jacob zeigte auf Matthew. »Jemand hat ihm den Kopf kaputtgemacht.«

Mit einem Seitenblick auf den offensichtlich hier wohnenden Jacob, um sicherzugehen, dass er sich ihm nicht näherte, sagte Greathouse: »Ich bin Hudson Greathouse und dies ist Matthew Corbett. Wir sind von der Herrald Vertretung aus New York gekommen, um …«

»Wunderbar!«, sagte der bärtige Mann erfreut. Er warf seinem grauhaarigen Begleiter, der kleiner und dicker war und auf der Hakennase eine Brille trug, einen Blick zu. »Ich habe Euch doch gesagt, dass sie kommen werden! Ihr habt stets zu viele Zweifel!«

»Ich sehe mich korrigiert und gerügt«, sagte der Mann zu Greathouse und Matthew. »Und auch sehr von der Geschwindigkeit beeindruckt, mit der Ihr auf diese Angelegenheit reagiert habt, Gentlemen.«

»Ich war heute in New York«, warf Jacob ein. »Ich bin auf einem Vogel hingeflogen.«

»Entschuldigt meine schlechten Manieren.« Der Bärtige streckte erst Greathouse und dann Matthew seine Hand hin. »Ich bin Dr. Ramsendell, und dies ist Dr. Curtis Hulzen. Danke, dass Ihr gekommen seid, Gentlemen. Ich kann Euch gar nicht genug danken. Ich weiß, dass Ihr eine lange Reise hinter Euch habt. Darf ich Euch zu einer Tasse Tee in mein Arbeitszimmer einladen?«

Greathouse zeigte ihm den Briefumschlag. »Ich würde gern mehr hierüber wissen.«

»Aha. Ja, der Brief. Ich habe ihn gestern im Dock House Inn abgegeben. Kommt, lasst uns im Arbeitszimmer reden.« Ramsendell gestikulierte in Richtung Tür. Matthew war sich nur zu bewusst, dass Jacob ihm folgte und fast auf die Hacken trat.

»Ich saß auf einem Vogel«, sagte Jacob an niemanden gewandt. »Dick und glänzend war der und hat Leute in seinem Magen verschluckt.«

»Jacob?« Ramsendell blieb an der Tür stehen. Er sprach freundlich mit dem kranken Mann, so wie mit einem launischen Kind. »Die Gentlemen, Dr. Hulzen und ich haben etwas Wichtiges zu besprechen. Ich möchte gern, dass du deine Arbeit erledigst.«

»Ich habe schlimme Träume«, sagte Jacob.

»Ja, das weiß ich. Nun geh. Je früher du fertig bist, desto früher kannst du essen.«

»Ihr werdet über die Königin reden.«

»Das stimmt. Und nun geh. Von allein faltet sich die Wäsche nicht.«

Jacob schien darüber nachzudenken, nickte dann und grunzte. Er drehte sich um und ging an dem Steinhaus vorbei auf den Weg zu, der zu den anderen kleinen Gebäuden führte.

»Vor drei Jahren war er Vorarbeiter bei der Sägemühle am Fluss«, erklärte Ramsendell leise, als Matthew und Greathouse Jacob nachschauten. »Er hat eine Frau und zwei Kinder gehabt. Ein fahrlässiger Unfall – er hat ihn übrigens nicht verursacht –, und seine Verletzung hat ihn zu einer zweiten Kindheit reduziert. Er macht Fortschritte und übernimmt für kleinere Arbeiten auch die Verantwortung, aber da draußen wird er nie mehr leben können.«

Da draußen. Matthew fand, dass er gesprochen hatte, als sei nicht dieses Tollhaus ein beängstigender Ort, sondern der Rest der Welt.

»Bitte, tretet ein.« Ramsendell hielt ihnen die Tür des Arbeitszimmers auf.

Der Raum hätte auch die Amtsstube eines Richters in New York sein können. Zwei Schreibtische standen darin, dazu ein größerer Tisch mit sechs Stühlen für Beratungen, ein Aktenschrank und Regale voller Bücher. Ein einfacher dunkelgrüner Webteppich zierte die Fußbodenbretter. Hinten im Zimmer stand eine zweite Tür offen, durch die Matthew etwas sehen konnte, das wie ein Untersuchungstisch sowie ein Schrank aussah, in dem er Arzneien oder medizinische Instrumente vermutete. Ihm fiel dort eine Bewegung auf. Er sah eine grau gekleidete Frau mit langen schwarzen Haaren, die mit einem blauen Tuch Glasfläschchen abwischte. Sie schien zu spüren, dass jemand sie ansah, denn sie drehte den Kopf. Für ein paar Sekunden betrachtete sie Matthew mit ausdruckslosen, eingesunkenen Augen. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit, als gäbe es keine Menschen auf der Welt und keine wichtigere Aufgabe.

»Setzt Euch doch.« Ramsendell wartete, bis Matthew, Greathouse und Hulzen an dem großen Tisch Platz genommen hatten. »Darf ich Euch etwas Tee anbieten?«

»Wenn es Euch nichts ausmacht«, sagte Greathouse, »könnte ich auch etwas Stärkeres vertragen.«

»Oh, bitte entschuldigt. Wir haben keine alkoholischen Getränke auf dem Gelände. Aber es ist noch Apfelmost da. Wäre das etwas?«

»Gerne«, sagte Greathouse, obwohl Matthew wusste, dass der Mann sich einen Krug Starkbier wünschte.

»Für mich bitte auch«, sagte Matthew.

»Mariah?«, rief Ramsendell, und die schwarzhaarige Frau hörte mit dem Saubermachen auf und spähte ins Zimmer. Ihr Mund hing schlaff und ihr linkes Auge zuckte. »Würdet Ihr bitte in die Küche gehen und unseren Gästen zwei Becher Apfelmost eingießen? Wenn Ihr bitte die Zinnbecher nehmen könntet. Curtis, möchtet Ihr irgendetwas?«

Hulzen schüttelte den Kopf. Er war damit beschäftigt, Tabak aus einem Hirschlederbeutel in eine Tonpfeife zu stopfen, die mit einem Rautenmuster verziert war.

»Für mich bitte eine Tasse Tee«, fügte Ramsendell hinzu.

»Jawohl, Sir«, gab die Frau zurück und verschwand hinten im Haus.

»Diese Menschen brauchen eine Arbeit«, erklärte Ramsendell und setzte sich an den Tisch. »Damit sie sich ihre Handfertigkeiten bewahren und eine Herausforderung haben. Wobei manche ihre Hände nicht so gut beherrschen können. Und natürlich gibt es auch die, die entweder nicht aus dem Bett können oder wollen. Jeder Fall ist anders, versteht Ihr?«

Greathouse räusperte sich. Matthew fand, dass er trotz seiner sonstigen Abgebrühtheit aussah, als fühlte er sich hier äußerst unwohl. »Ich befürchte, dass ich das nicht verstehe. Woher kommen diese Menschen? Und wie viele sind hier?«

»Nun, zurzeit haben wir vierundzwanzig Männer und acht Frauen als Patienten. Sie sind natürlich in getrennten Teilen des Hospitals untergebracht. Und dann haben wir noch Räume für die, die gewalttätig sind, oder die … wie soll ich es ausdrücken … ihren Nachttopf ignorieren. Wir versuchen ihnen hier beizubringen, dass sie trotz ihres verwirrten Geisteszustands noch die Macht haben, Entscheidungen zu treffen. Sie können weiterhin lernen.«

»Leider haben nicht alle diese Fähigkeit behalten.« Hulzen hatte ein Streichholz angezündet und steckte sich die Pfeife an. Als er weitersprach, quoll blauer Rauch von seinen Lippen. »Manchen kann man nicht helfen. Die müssen wir fesseln, damit sie sich und auch niemand anderen verletzen können, aber zumindest bekommen sie hier Essen und haben ein Dach über dem Kopf.«

»Womit wir sagen wollen, dass wir unsere Patienten nicht wie Tiere behandeln.« Ramsendell sah von Greathouse zu Matthew, um diese Feststellung zu betonen. »Sowohl Curtis als auch ich haben in London Erfahrungen mit Geistesgestörten gesammelt und uns beiden ist die übliche Methode, Patienten durch Fesseln und Anketten unter Kontrolle zu halten, zutiefst zuwider.«

»Woher kommen diese Patienten?«, wiederholte Matthew Greathouses Frage.

»Manche sind aus New Jersey, manche aus New York, andere aus Pennsylvania«, sagte Ramsendell. »Sowohl aus kleinen Dörfern als auch aus Städten. Manche haben einen gerichtlichen Vormund, andere sind hier von Verwandten eingewiesen worden. Manche haben wie Jacob einen Unfall erlitten, der die Geistesfähigkeiten beschädigt hat. Und andere sind anscheinend unter einem Unglücksstern geboren worden. Seit der Finanzkrise ist das Hospital in Philadelphia, das von den Quäkern geführt wird, in Schwierigkeiten geraten, sodass wir mehrere Patienten von dort übernommen haben. Außerdem gibt es noch Menschen, die man einfach in einem Wald oder Feld umherlaufend gefunden hat und über deren Namen und Geschichte nichts bekannt ist. In manchen dieser Fälle hat ein furchtbarer Schock das Gedächtnis blank gewischt, zum Beispiel, wenn sie einen Unfall, ein Gewaltverbrechen oder Mord mitangesehen haben. Bei erfolgreicher Behandlung können sie durchaus wieder ins normale Leben zurückkehren.«

Greathouse runzelte die Stirn. »All diese Leute zu versorgen, muss gewaltige Kosten verursachen.«

»Das Grundstück wurde uns von der Kolonie geschenkt und wir haben großzügige christliche Wohltäter, die uns bei der Erstattung der Kosten helfen«, sagte Hulzen durch seine schwebende Rauchwolke. »Die Stadt Westerwicke unterstützt uns ebenfalls. Der Arzt dort, Dr. Voormann, kümmert sich für eine nominelle Summe um die körperlichen Krankheiten unserer Patienten. Ein paar Frauen aus Westerwicke bereiten für ein wenig Geld die Mahlzeiten zu. Von daher – ja, es kostet etwas, aber wir wissen, dass unsere Patienten einfach auf die Straße gesetzt werden würden, wenn es dieses Hospital nicht mehr gäbe.«

»Nun«, sagte Greathouse, und vielleicht spürte niemand außer Matthew sein Unbehagen, »das wird ganz sicher niemand wollen.«

»Unsere Vorgehensweise ist modern«, sagte Ramsendell. Mariah trug ein Tablett mit zwei Zinnbechern Apfelmost und einer Holztasse Tee ins Zimmer. Sie stellte das Tablett auf den Tisch. Ramsendell bedankte sich bei ihr und nachdem sie zu ihrer Arbeit zurückgekehrt war, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Greathouse zu. »Euch wird aufgefallen sein, dass weder Curtis noch ich karierte Hemden tragen.«

Greathouse hatte bereits seinen Becher Apfelmost in der Hand und einen Schluck genommen. »Wie bitte?«, fragte er.

»Karierte Hemden«, wiederholte Ramsendell. »Im Mittelalter trugen Ärzte, die sich einer geistesgestörten Person näherten, karierte Hemden. Sie glaubten, dass die dämonischen Geister der Tollheit kein kariertes Hemd durchfahren konnten, um in ihre Seele zu gelangen.«

»Das ist gut zu wissen«, sagte Greathouse und verzog schnell das Gesicht zu einer Grimasse, die ein höfliches Lächeln darstellen sollte.

»Ich bin mir sicher, dass Ihr mit Eurer Arbeit hier viel Gutes tut«, meldete Matthew sich zu Wort. »Aber ich sehe nicht, wie wir Euch behilflich sein können.«

»Das Wichtigste zuerst.« Ramsendell trank einen Schluck Tee und drehte die Tasse zwischen seinen Händen hin und her. »Ich möchte mich nochmals bedanken, dass Ihr so schnell gekommen seid, aber ich denke, dass Curtis und ich zuerst etwas mehr über die Herrald Vertretung, Eure Nachforschungsstelle, hören möchten, bevor wir uns auf mehr einlassen.«

Matthew nickte und schwieg, während Greathouse die nächsten fünf Minuten über die Geschichte und den Zweck der Herrald Vertretung sprach. Er betonte ihre hohen Maßstäbe und die Erfolge im Bereich der Problemlösung. Er zählte Fälle auf, in denen Juwelen, Kunstgegenstände, gestohlene Gerichtsdokumente, vermisste Personen und gefälschte Diplomatenpapiere wiedergefunden worden waren und erwähnte auch ein versuchtes Attentat in London, das er im Dezember höchstpersönlich vereitelt hatte. »Ich muss die Gentlemen aber darüber in Kenntnis setzen«, schloss er, »dass unsere auf diesen zahlreichen Erfahrungen beruhenden Fähigkeiten nicht billig sind. Unsere Zeit ist wertvoll, genau wie Ihre. Für Nachforschungen stellen wir eine Grundgebühr in Rechnung und müssen auch alle Spesen vergütet bekommen. Die Gebühr hängt natürlich von der Art der Aufgabe ab.«

»Stellt Ihr auch in Rechnung, Euch die Details des Problems anzuhören?«, fragte Hulzen, der bereits seine zweite Pfeife paffte.

»Nein, Sir«, sagte Greathouse. »Wir stellen einen Vertrag auf und berechnen unsere Leistungen dementsprechend.«

Die beiden Ärzte schwiegen. Matthew trank seinen Apfelmost aus und wartete, dass sie etwas sagten. Hulzen starrte zur Decke hoch und rauchte, während Ramsendell auf der Tischplatte die Finger verschränkte.

»Wir sind uns nicht sicher, dass Ihr uns behilflich sein könnt«, sagte Ramsendell schließlich. »Ganz und gar nicht sicher.«

»Ihr müsst zumindest gedacht haben, dass wir helfen können.« Greathouse lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sodass die Beine knackten. »Wir sind einen weiten Weg gekommen. Wir würden zumindest gern hören, worum es geht.«

Ramsendell hob an zu sprechen und warf Hulzen einen Blick zu. Der sog noch einmal an seiner Pfeife, stieß einen dünnen Rauchfaden aus und sagte: »Wir haben einen jungen Mann – einen Einwohner von Westerwicke –, der für uns nach New York reitet und in der Smith Street Apotheke Arzneien kauft. Seine letzte Reise war Donnerstag gewesen. Er hat in Eurer Stadt in einem Gasthaus übernachtet und ist Freitag zurückgekommen. Er hat etwas mitgebracht, das … nun ja …« Er sah Ramsendell an, als ob der nun weitersprechen sollte.

»Er hat in einer Schänke gefrühstückt«, sagte Ramsendell. »Und hat uns eine Eurer Zeitungen mitgebracht.«

»Den Ohrenkneifer?«, fragte Matthew.

»Genau den.« Ramsendell rang sich ein schmallippiges Lächeln ab, das schnell verflog. »Wir haben eine Patientin hier, die sich gern vorlesen lässt. Eine besondere Patientin, könnte man wohl sagen.«

Greathouse spannte die Muskeln an. »Besonders? Inwiefern?«

»Oh, sie ist ganz und gar nicht gewalttätig. Sie ist sogar extrem fügsam. Die anderen nennen sie die Königin.«

»Die Königin?« Matthew erinnerte sich, dass Jacob das Wort draußen benutzt hatte.

»Ganz genau.« Ramsendell suchte in Matthews Augen nach einer Reaktion. »Habt Ihr jemals gedacht, dass Ihr eine Königin kennenlernen könntet? Die Königin der Verdammten, sozusagen?«

»Unser Problem ist«, sagte Hulzen, »dass wir herausfinden möchten, wer sie ist. Ihren wahren Namen und wo sie herkommt. Was ihre Vergangenheit war und … warum sie sich in ihrem jetzigen Zustand befindet.«

»Und was für ein Zustand ist das?« Greathouse bekam fast Zuckungen, während er auf die Antwort wartete.

»In sich eingeschlossen«, gab Ramsendell zurück.

Schweigen breitete sich aus. Rauch kräuselte sich der Decke entgegen und hinten im anderen Zimmer polierte die Frau weiter die glänzenden Glasfläschchen.

»Ich denke, wir sollten sie kennenlernen«, sagte Matthew.

»Ja.« Ramsendell rückte seinen Stuhl nach hinten und stand auf. »Ich werde Euch vorstellen.«

Zwei

Sowohl Matthew als auch Greathouse waren überrascht, als die beiden Ärzte sie vom Arbeitszimmer nicht zu dem Steingebäude führten. Stattdessen machten sie sich auf einem Pfad am Hospital entlang auf den Weg zu dem Haus, das am Rande des Gartens stand.

Es wurde immer dunkler. Wie in New York waren auch hier in regelmäßigen Abständen Pfosten mit Laternen aufgestellt und ein graugekleideter Mann mit Glatze steckte gerade die Kerzen an. »Guten Abend, Sirs«, sagte der Mann fröhlich, als sie an ihm vorbeigingen.

»Guten Abend, Charles«, gab Dr. Ramsendell zurück.

»Das war auch ein Patient?«, fragte Greathouse, als sie sich ein Stück von dem Mann entfernt hatten. Ramsendell nickte, und Greathouse sagte: »Nennt mich dumm, aber ich verstehe nicht ganz, warum Ihr die Verrückten herumlaufen lasst, wenn sie doch hinter Schloss und Riegel sitzen sollten.«

»Wie gesagt, wir verwenden aufgeklärte Methoden – im Gegensatz zu den Londoner Tollhäusern, wobei die ehrlich gesagt so überfüllt sind, dass den Ärzten kaum eine andere Wahl bleibt, als alle Patienten zusammen einzuschließen. Ich gebe zu, dass wir mit den besonderen Privilegien und Verantwortungen, die wir manchen Patienten geben, ein gewisses Risiko eingehen. Aber das geschieht nicht, bevor wir sie einer gründlichen Einschätzung unterzogen haben.«

»Versuchen nicht welche von ihnen wegzulaufen, wenn sie die Gelegenheit haben?«

»Wir sind sehr wählerisch, was das Zugeständnis von Freiheiten angeht«, sagte Hulzen, der eine Rauchfahne hinter sich herzog. »Es stimmt schon, vor sieben Jahren sind zwei Patienten weggelaufen. Das war unser erstes Jahr. Aber insgesamt freuen sich die Patienten, denen wir Arbeiten zuteilen. Und wir überzeugen uns natürlich zuerst davon, dass ihr Verstand sicher genug arbeitet, um die Konsequenzen unvorsichtiger Handlungen zu begreifen.«

»Die da wären?«, hakte Greathouse nach. »Werden sie ausgepeitscht, bis der Rücken blutet?«

»Ganz und gar nicht!« Die Antwort wurde etwas hitzig gegeben und der Pfeifenrauch trieb Greathouse fast ins Gesicht. »Uns sind solche primitiven Vorgehensweisen zuwider. Die drastischste Strafe hier ist, allein in einem Zimmer eingeschlossen zu werden.«

»Vielleicht interessiert es Euch zu hören«, fügte Ramsendell hinzu, während sie immer noch an der Mauer des Hospitals entlanggingen, »dass Charles und zwei andere Patienten als Nachtwächter arbeiten. Natürlich haben wir tagsüber zwei Männer aus Westerwicke als Wachtmänner, die dafür auch bezahlt werden.«

»Dr. Ramsendell!«, rief jemand. Es war eine heisere Stimme, aber mit angenehm seidigem Klang. »Dr. Ramsendell, dürfte ich Euch kurz sprechen?«

Die Stimme eines Verkäufers, dachte Matthew.

Ramsendell wirkte sofort verspannt. Seine Schritte wurden langsamer und fast wäre Matthew mit ihm zusammengestoßen.

»Dr. Ramsendell, mögt Ihr einem kranken, leidenden Mann nicht ein wenig christliche Nächstenliebe schenken?«

Matthew sah ein Gesicht durch die Fenstergitter des Hospitals spähen. Die Augen fanden seinen Blick und hielten ihn mit fast unwiderstehlicher Kraft fest, so stark, dass Matthew merkte, wie er unwillkürlich stehen blieb.

»Oh!«, sagte der Mann. Er grinste. »Zum Gruße, junger Dandy.«

»Kommt, Mr. Corbett«, drängte Ramsendell ihn.

»Ach, Mr. Corbett also?« Das Grinsen wurde breiter und entblößte sehr große Zähne. »Dr. Ramsendell ist ein sehr feiner Mann und ein wunderbarer Arzt, Mr. Corbett. Wenn er sagt, dass Ihr hierbleiben müsst, solltet Ihr glauben, dass es nur zu Eurem Besten und dem Besten der Gesellschaft ist. Aber hütet Euch vor seinem Zorn, denn ein kleiner Ausrutscher kann zur Folge haben, dass Ihr ganz allein speisen müsst.«

Die anderen waren vor Matthew stehen geblieben und jetzt kam Hulzen zurück zu ihm und sagte leise: »Es ist besser, nichts zu sagen.«

»Und Dr. Hulzen denkt, dass ich nicht nur verrückt bin, sondern auch noch taub!« Der Mann schnalzte und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Schande!« Er umklammerte das Gitter mit grobknochigen Händen und drückte sein Gesicht dagegen. Er hatte ein breites Gesicht mit einem kantigen Unterkiefer und blassblaue Augen, in denen solch Fröhlichkeit von solcher Reinheit glänzte, dass sie niemand für das Mondlicht der Tollheit hätte halten mögen. Seine Haare waren strohfarben, in der Mitte gescheitelt und an den Schläfen grau. Sein buschiger Schnauzbart war mehr grau als strohblond. Er wirkte wie ein großer Mann: Sein Kopf reichte fast bis an die Oberkante des Fensters und seine Brust wirkte in der grauen Hospitaluniform wie eine massive Tonne. Seine fleischigen Lippen waren nass von Spucke. »Ich wiederhole mein Angebot, Euch zu rasieren, Dr. Ramsendell. Ich poliere Euch den Bart weg. Gebe mir an Eurem Kinn und Hals auch besondere Mühe, hm?« Er fing an zu lachen, ein froschartiges Geräusch, das aus der Tiefe seines Rumpfes kam, und plötzlich glitzerte es in seinen Augen rot auf. Für einen kurzen Moment hatte Matthew das Gefühl, in das Gesicht des Teufels höchstpersönlich zu sehen. Dann erlosch das Glitzern wie ein Feuer unter einer Falltür und die Stimme des Mannes, jetzt wieder weich wie die eines Verkäufers, angelte nach ihm. »Kommt näher, Dandy. Lasst uns mal einen Blick auf Eure Kehle werfen.«

»Mr. Corbett?« Ramsendell stellte sich vor Matthew und sah in sein Gesicht, als wollte er ihn vor einem bösen Fluch beschützen. »Wir sollten jetzt wirklich weitergehen.«

»Ja«, stimmte Matthew ihm zu. Er spürte Schweiß an seinen Schläfen. »Gut.«

»Ich werde mich an Euch erinnern!«, rief der Mann, als sein Publikum entschwand. »Oh, ich werde mich an Euch alle erinnern!«

»Wer, zur Hölle, war das?«, fragte Greathouse, warf einen Blick zurück und traute sich dann nicht, noch einmal hinzuschauen, denn die großen Hände schoben sich die Eisenstangen hoch und runter, als suchten sie nach einer Schwachstelle, die sie zerbrechen konnten.

»Das«, antwortete Ramsendell, und zum ersten Mal hörten Matthew und Greathouse Abscheu – und vielleicht ein Zittern von Angst – in seiner Stimme, »war ein Problem, das wir uns bald vom Hals schaffen werden. Er ist uns vor fast einem Jahr aus dem Quäker-Hospital in Philadelphia geschickt worden. Ich kann Euch sagen, dass er mehr verschlagen als verrückt ist. Er hat mich dazu verleitet, ihm Arbeitsprivilegien zu geben, und bei der ersten Gelegenheit hat er versucht, die arme Mariah hinten bei der roten Scheune zu ermorden.« Er deutete auf die Straße, die zu den andern Gebäuden führte. »Tja, die Quäker haben herausgefunden, dass er anscheinend in London als Barbier gearbeitet hat und womöglich in Dutzende Mordfälle verwickelt war. Wir erwarten, im Herbst einen Brief mit der Anweisung zu erhalten, ihn ins Gefängnis von New York zu überführen, damit er nach England verschifft werden kann. Natürlich wird ein Wachtmann mitreisen, damit er auch in Fußeisen ankommt.«

»Wenn ich das zu entscheiden hätte, würde ich ihm das Hirn wegschießen«, sagte Greathouse. »Eine Pistole könnte eine Menge weggeworfenes Geld sparen.«

»Leider haben wir den Quäkern einen Vertrag unterschrieben, dass er bei guter Gesundheit nach New York gebracht wird. Und es bei unserer christlichen Ehre geschworen.« Ramsendell ging zwei Schritte und sagte dann überlegend: »Wisst Ihr, falls die Sache mit der Königin gut verläuft, könntet Ihr Gentlemen Euch überlegen, ob Ihr Euch von uns engagieren lassen wollt, Mr. Slaughter nach New York zu eskortieren.«

»Mr. Slaughter?«, fragte Matthew.

»Ja. Tyranthus Slaughter. Ein verhängnisvoller Name, aber eventuell wohlverdient. Überlegt Euch doch, ob das eine machbare Aufgabe wäre, Sirs. Nur etwas über dreißig Meilen. Was könnte da schon schiefgehen? So, hier sind wir nun.«

Sie hatten das Haus am Garten erreicht. Matthew konnte Geißblatt und Minze riechen. In den Zweigen der Ulmen hinter dem Garten glimmten ein paar Glühwürmchen. Ramsendell holte eine Lederschnur voller Schlüssel aus der Westentasche, steckte einen Schlüssel ins Schloss der Haustür und machte auf. »Passt auf, wo Ihr hintretet, Gentlemen«, sagte er, was sich als unnötige Warnung herausstellte – denn der mit einem langen dunkelblauen Teppich ausgelegte Flur hinter der Tür war von Lampen beleuchtet. Eine Laterne stand auf einem Tisch und auf ungefähr der halben Strecke des Flurs leuchtete ein aus vier Lampen bestehender Lüster, den, so vermutete Matthew, wohl Charles oder ein anderer der mit Privilegien ausgestatteten Patienten angesteckt hatte. Als Matthew hinter den Ärzten das Haus betrat – Greathouse blieb ein paar Schritte zurück, als traute er diesem unvertrauten und so normal wirkenden Haus nicht –, fielen ihm zu beiden Seiten des Korridors zwei geschlossene Türen auf.

»Hier entlang, bitte.« Ramsendell ging zu der letzten Tür auf der rechten Seite. Er klopfte leise, wartete ein paar Sekunden und sagte dann: »Madam? Wir sind es, Dr. Ramsendell und Dr. Hulzen. Wir haben Euch zwei Besucher mitgebracht.« Nichts war zu hören. Er sah Matthew an. »Sie antwortet nie, aber wir glauben, dass sie Höflichkeit zu schätzen weiß.« Er steckte einen anderen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. »Und wir respektieren ihre Privatsphäre.« Etwas lauter an die Dame im Zimmer gewandt sagte er: »Ich öffne jetzt die Tür, Madam.«

Auch darauf kam kein Wort oder Geräusch einer Bewegung. Die Ärzte gingen zuerst hinein, dann Matthew und schließlich ein äußerst zaghafter Greathouse. Matthew fiel ein süßlicher Duft auf, diesmal nicht vom Garten, sondern von einem blumigen Parfüm oder Öl im Zimmer. Hier brannten noch keine Lampen. Das blaue Dämmerlicht fiel durch zwei offene Fenster hinein. Matthew sah, dass sich keine Gitter davor befanden. Die scheibenlosen Fenster standen dem Abend und der Außenwelt offen. Eins ging zum Garten hinaus, während das andere zum Wald hin schaute, wo die Glühwürmchen blinkten.

Hulzen riss ein Streichholz an und zündete die drei Dochte einer Laterne auf dem Tisch an, der unter dem Gartenfenster stand. Die Flammen wurden stärker und tauchten das Zimmer, das wie der Salon eines vornehmen New Yorker Hauses aussah, in ein goldenes Licht. Mehr als vornehm, fand Matthew, als er sich umsah. Fast schon opulent, denn auf dem Boden lag ein schöner, mit kleinen lila, grauen und blauen Quadraten gemusterter Teppich, und an den hellblau gestrichenen Wänden hingen Gemälde in vergoldeten Rahmen. Hulzen zündete eine zweite dreidochtige Laterne an, die am anderen Ende des Zimmers auf einem Sockel stand, und beleuchtete dadurch ein mit verschnörkelten Schnitzereien verziertes weißes Himmelbett, zwei grau gepolsterte Stühle mit hoher Lehne und einen runden Eichentisch, in dessen Mitte eine Holzschale mit reifen Äpfeln und Birnen stand. Neben dem Bett stand ein großer Schrank, der derartig kunstfertig aus dunklem, sattem Holz gefertigt war, dass Matthew dachte, er musste von einem absoluten Meister gebaut worden sein und ein halbes Vermögen gekostet haben. Die Ränder der Schranktüren waren sorgfältig mit kleinen aufgemalten roten Blumen und grünen Blättern verziert und die Griffe sahen aus wie Gold.

Hulzen machte eine dritte Laterne an. Sie warf Licht auf die Matthew und Greathouse gegenüberliegende Seite des Zimmers; auf einen kleinen Kamin, der jetzt, mitten im Sommer, kalt war. Der Funkenschirm davor war bemerkenswert, ein kompliziertes goldenes Metallgeflecht, das in Primärfarben bemalte Vögel auf Ästen darstellte, Rotkardinale, Amseln, Hüttensänger und weiße Tauben. Über dem Kaminsims hing ein gerahmtes Gemälde. Matthew trat näher heran, um es zu betrachten: Es stellte die Kanäle von Venedig in ähnlich blauem Sonnenuntergangslicht wie am Horizont vor dem Fenster dar.

Matthews Blick schweifte über andere Objekte im Zimmer. Er prägte sich einen wahren Reichtum an Details ein. Auf einer Kommode standen kleine Fläschchen, die mit Blumen aus geblasenem Glas verschlossen waren. Daneben lagen eine silberne Haarbürste und ein Handspiegel. Sechs kleine, anscheinend aus Elfenbein geschnitzte Pferde standen neben einer akkurat aufgestellten Reihe von Fingerhüten hinter einer Brille. Auf einem kleinen Tisch lagen eine Bibel, ein Stapel dünner Hefte und – tatsächlich, auch die neueste Ausgabe des Ohrenkneifers.

»Darf ich Euch vorstellen?«, fragte Dr. Ramsendell.

Matthew sah zu ihm hinüber. Ramsendell stand neben dem Fenster, das auf den Wald hinausging. Neben ihm war die hohe Rückenlehne eines dunklen, lilafarbenen Sessels, und jetzt konnten Matthew und Greathouse sehen, dass eine weißhaarige Person darin saß.

Ramsendell sprach mit der Dame im Sessel. »Madam«, sagte er leise. »Ich möchte Euch Mr. Hudson Greathouse und Mr. Matthew Corbett vorstellen. Sie sind aus New York hierher geritten, um Eure Bekanntschaft zu machen. Wenn Ihr bitte vortreten könntet, Gentlemen?«

»Nach Euch«, murmelte Greathouse.

Matthew ging zu Ramsendell hinüber. Hulzen trat einen Schritt zurück und beobachtete die Szene.

»Dies ist unsere Königin, Sirs. Der Höflichkeit halber nennen wir sie Madam.«

Matthew blieb stehen. Er sah auf eine zierliche, gebrechlich wirkende Frau hinunter, die ihn überhaupt nicht beachtete, sondern weiter aus dem Fenster auf die blinkenden Lichter in den Bäumen sah. Er schätzte sie auf einige Jahre über sechzig. Vielleicht fünfundsechzig. Oder schon fast siebzig? Es war schwer zu sagen. Sie versank fast in ihrem seidenen Hausmantel, der die rosafarbene Schattierung der hellsten Rosen hatte. Ihre Füße steckten in Hausschuhen aus dem gleichen Material in der gleichen Farbe und waren mit kleinen Schleifen verziert. Ihre Wolke dichten weißen Haares war ordentlich gebürstet, und ihr Gesicht, das Matthew im Profil sehen konnte, war sehr faltig, jedoch von unschuldigem und fast kindlichem Ausdruck. Sie starrte geradeaus. Ihre Augen glitzerten im Lampenlicht. Sie war ganz auf den Tanz der Glühwürmchen konzentriert. Als Matthew sie musterte, zuckte ihr Mund unter der eleganten Himmelsfahrtnase, als stellte sie sich Fragen oder machte Beobachtungen, die ihre Besucher nicht hören konnten. Ihre Hände umklammerten die Armlehnen. Sie trug keine Ringe, auch keine Halskette oder anderen persönlichen Schmuck. Und auch nichts, das Aufschluss über ihre Person gab, dachte Matthew.

»Hat sie einen Ehering?«, sprach er seine Gedanken aus.

»Sie ist ohne Schmuck zu uns gekommen«, sagte Ramsendell. »Aber mit den Möbeln. Wir haben uns die Freiheit genommen, nach Briefen oder anderen Papieren zu suchen, um herauszufinden, wer sie ist. Nichts hat uns einen Hinweis gegeben, obwohl sie offensichtlich eine wohlhabende Frau war – ist.«

»In der Bibel steht kein Name? Keine Initialen?«

»Es sieht nach einem neuen Buch aus. Ganz unbenutzt.«

»Sind an den Möbeln nicht die Initialen des Schreiners zu sehen?«

»Daran hatte bereits jemand gedacht«, sagte Hulzen. »Die sind entweder abgeschmirgelt worden oder da, wo sie eingebrannt waren, hat sie jemand herausgemeißelt.«

Greathouse trat zu ihnen und stellte sich neben Matthew. »Kann sie uns hören?« Für seine Verhältnisse flüsterte er fast.

»Ihr Gehör funktioniert einwandfrei. Aber sie reagiert so gut wie nie, wenn sie angesprochen wird, und wenn doch, dann nur mit einem schnellen Ja oder Nein. Oder mit einem rätselhaften Satz, der weder Curtis noch mir einen Sinn ergibt.«

Matthew sah, dass die Frau ihren Kopf leicht nach links neigte, ganz, als würde sie jetzt interessierter zuhören. Aber an ihrem ruhigen Blick änderte sich nichts und sie machte keine weiteren Bewegungen. Da Hudson Greathouse in der Gegenwart von Geistesgestörten in eine Art Lähmung zu verfallen schien, beschloss Matthew, das Ruder zu übernehmen. »Ich glaube, Ihr müsst uns die ganze Geschichte erzählen.«

Ramsendell nickte. Er sah die Frau fast zärtlich an, als er zu reden begann. »Sie ist im April 1698 zu uns gekommen …«

»Zu Euch gekommen?«, unterbrach Matthew ihn. Jetzt war er ganz in seinem Element, er spürte das Blut förmlich in sein Gehirn fluten. »Wie denn?«

»Sie wurde zu uns gebracht«, korrigierte sich Ramsendell. Er beantwortete die nächste Frage, bevor Matthew sie stellen konnte. »Von einem Anwalt aus Philadelphia, Icabod Primm aus der Market Street. Er hatte uns angeschrieben und kam vorher auf einen Besuch vorbei, um sicherzustellen, dass sein Klient zufrieden sein würde.«

»Moment.« Greathouse war komplett verwirrt. »Sein Klient? Ich dachte, Ihr sagtet, dass Ihr nicht wisst, wer sie war. Ist, meine ich.«

»Wissen wir auch nicht.« Hulzens angesäuerte Miene ließ den Schluss zu, dass er Greathouse für einen Tölpel zu halten begann. »Das versuchen wir gerade, Euch zu erklären.«

»Dann bitte etwas klarer«, sagte Matthew scharf. »Wie kommt es, dass diese Frau hier ohne Namen eintraf, aber von einem Anwalt aus Philadelphia vertreten wurde?«

»Mr. Primm«, gab Ramsendell Antwort, »hat sie nie anders als Madam oder Lady genannt. Wenn er überhaupt mit ihr gesprochen hat – soweit ich mich entsinne, war das eher selten der Fall, und sie befand sich sowieso in demselben Zustand, den Ihr jetzt seht. In seinen Briefen wurde ein Klient erwähnt, aber kein Name. Uns wird alljährlich eine Geldsumme bezahlt – übrigens ein beträchtlicher Betrag –, um Madam in diesem Zimmer zu betreuen, wo sie von den andern Patienten getrennt und von Gegenständen aus ihrem … soll ich es ihrem früheren Leben nennen … umgeben ist. Besuch hat sie nie bekommen, aber immer am 16. April wird uns das Geld von Mr. Primm per Bote zugestellt. Vor vier Jahren, bei der ersten Zahlung, hat er uns zu verstehen gegeben, dass jeglicher Versuch unsererseits, Madams Namen und Vergangenheit aufzudecken, ihn sofort dazu veranlassen wird, sie aus diesem Hospital zu entfernen. Er sagte, dass sein Klient ihm eine Generalvollmacht ausgestellt hat. Und so haben wir die Einweisung mit all seinen Bedingungen unterschrieben.«

»Sein Klient.« In Greathouses Stimme schwang leichte Abscheu mit. »Irgendein ein junger Schurke, der eine wohlhabende ältere Frau geheiratet und sie dann hierhin abgeschoben hat, als sie den Verstand verlor? Er behält das Vermögen und nimmt ihr sogar den Ehering ab?«

»Das hatten wir uns auch überlegt, die Idee dann aber verworfen.« Hulzen hatte seine Pfeife wieder angesteckt und stand neben dem Fenster mit der Gartenaussicht. »Ihr müsst verstehen, Mr. Greathouse, dass wir hier mit Behandlungsmethoden experimentieren. Wir glauben, dass Menschen mit Geisteskrankheiten vielleicht geholfen werden kann und dass sie eines Tages möglicherweise in die Gesellschaft zurückkehren können. Deshalb haben wir in diesem Haus vier Räume, in denen wir Patienten behandeln können, die davon profitieren, in einer altvertrauten Umgebung statt der Kargheit des Hospitals zu leben. Zumindest war das zu Anfang unsere Hoffnung.«

»Wie ich bereits sagte, ist ein Zimmer in diesem Teil unseres Hospitals sehr teuer«, fuhr Ramsendell fort. »Wir bezweifeln, dass jemand ein Familienmitglied hierhin abschieben würde, wie Ihr es nanntet, oder sich die Mühe geben würde, all diese schönen Möbel zur Verfügung zu stellen. Nein, wir sind uns sicher, dass Mr. Primms Klient sehr viel am Wohlbefinden von Madam liegt. Primm muss sich die Quäker-Hospitäler angesehen haben und hat dort wohl von uns erfahren.«

»Ist diese Dame die einzige Patientin hier im Haus?«, fragte Matthew.

»Nein, im ersten Zimmer wohnt ebenfalls eine ältere Dame. Leider ist sie bettlägerig. Aber ihren Namen und ihre Vorgeschichte kennen wir und ihr Sohn und die beiden Töchter kommen sie regelmäßig besuchen. Wir freuen uns sehr, dass wir ihr helfen konnten, wieder ein wenig zu sprechen.«

»Das macht doch alles keinen Sinn«, sagte Greathouse ein wenig zu laut. »Warum versucht Ihr denn, etwas über diese Frau herauszufinden, wenn …« Er verstummte, denn die Dame im Sessel hatte den Hauch eines Seufzers von sich gegeben. Ihr Mund bewegte sich erneut, ohne dass ein Ton herauskam. Matthew sah, dass ihr Blick einem Blauhäher folgte, der am Fenster vorbeigeflogen war. Als Greathouse weitersprach, war es, als würde er auf Eiern gehen. »Wenn«, sprach er seinen Satz zu Ende, »Euch das von Mr. Primm verboten wurde?«

»Um es vulgär auszudrücken«, gab Ramsendell zurück, »wir verkaufen uns nicht für Geld wie Huren.«

»Na«, meinte Greathouse mit einem nervösen Lachen. »Das habe ich auch nicht behauptet.«

»Was ich damit sagen will – wir sind Ärzte. Professionelle Heiler. Madam ist seit vier Jahren hier und ihr Zustand ist unverändert. Curtis und ich glauben, dass wir, wenn wir etwas über ihre Vergangenheit wüssten …«, er hielt inne, um sich die Worte zurechtzulegen, »… ihr aus dieser Zelle heraushelfen können, in die sie sich eingeschlossen hat, um die Welt von sich fernzuhalten. Wir glauben, dass sie einen schweren Schock erlitten hat, und dass dies die Art ist, auf die ihr Verstand überlebt.« Er wartete, um sich zu vergewissern, dass Greathouse und Matthew seine Diagnose verstanden. »Ja, wir haben das Geld von Mr. Primm gern entgegengenommen und es zu gutem Zweck in unserem Hospital eingesetzt. Und ja, wir waren uns über seine Bedingungen im Klaren, als wir die Einweisung unterschrieben haben. Aber das war vor vier Jahren. Ihr seid heute hier, Gentlemen, weil wir möchten, dass Ihr Madams Identität und Vorgeschichte aufdeckt, ohne Mr. Primm dazu heranzuziehen.«

Matthew und Greathouse tauschten einen Blick aus. Ihre unausgesprochene Frage war: Ist das zu schaffen?

»Da ist noch etwas, das Euch vielleicht interessieren wird.« Ramsendell ging an den Tisch, auf dem der Ohrenkneifer lag. Er nahm die Zeitung und hielt sie hoch, sodass die Besucher sie sehen konnten. »Wie ich schon sagte, Madam mag es, wenn ihr jemand vorliest. Wenn ich aus der Bibel oder einem der anderen Bücher vorlese, nickt sie manchmal oder gibt einen leisen Ton von sich, den ich für Zustimmung halte. Freitag nach dem Abendessen habe ich ihr aus dieser Zeitung vorgelesen. Und zum ersten Mal hat sie ein Wort wiederholt, das ich gesagt habe.«

»Ein Wort? Welches?«, fragte Greathouse.

»Es war ein Name, um ganz genau zu sein.« Ramsendell legte den Finger auf einen Artikel in der Zeitung. »Deverick.«

Matthew enthielt sich eines Kommentars.

»Ich habe ihr den Artikel noch mal vorgelesen, aber es kam keine Reaktion mehr«, sagte Ramsendell. »Das heißt, keine verbale. Im Licht der Lampen konnte ich sehen, dass Madam weinte. Habt Ihr jemals einen Menschen weinen sehen, der dabei kein Geräusch macht, Sirs? Oder der dabei nicht den Gesichtsausdruck verändert? Und doch liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie hat auf den Namen mit Gefühl reagiert – und das ist außerordentlich bemerkenswert, denn in den vier Jahren, die sie schon hier lebt, haben wir sie nie irgendein Gefühl äußern sehen.«

Matthew starrte das Profil der Frau an. Sie saß völlig bewegungslos da; nicht einmal ihre Lippen bewegten sich und verrieten ihre geheimen Gedanken.

»Ich habe ihr den Artikel noch mehrmals vorgelesen und nichts ist passiert. Ich habe ihr den Namen genannt und nur einen Seufzer oder ein Verlagern ihrer Haltung geerntet. Aber mir ist Eure Anzeige aufgefallen und ich habe angefangen, mich zu fragen, ob Ihr uns helfen könnt. Denn hier handelt es sich wahrlich um ein Problem, das eine Lösung braucht. Curtis und ich haben darüber gesprochen, Samstag bin ich nach New York geritten und gestern zurückgekommen.«

»Die Erwähnung eines einzigen Namens bedeutet nichts«, widersprach Greathouse. »Ich bin ganz sicher kein Fachmann, aber warum sollte ihr der Name etwas bedeuten, wenn sie nicht ganz richtig im Kopf ist?«

»Es geht darum, dass sie einen Versuch gemacht hat.« Hulzen riss ein weiteres Streichholz an, um seine erloschene Pfeife neu anzuzünden. Sein Gesicht wurde in orangefarbenes Licht getaucht. »Wir sind davon überzeugt, dass ihr der Name vertraut ist und dass sie auf ihre Weise versucht, uns etwas mitzuteilen.«

Jetzt begann Greathouse sich zu ärgern. »Mit Verlaub, aber wenn diese Überzeugung Polsterung für eine Matratze wäre, würdet Ihr auf einem Brett schlafen.«

Matthew beschloss, etwas zu tun, um einen Streit zu verhindern. Er kniete sich neben die Frau, sah ihr Profil an, das so regungslos wie ein Gemälde war, und sagte leise: »Pennford Deverick.«

Flackerte etwas in ihrem Auge auf? Spannte der Mund sich leicht an, sodass sich eine Falte im Mundwinkel fast unmerklich vertiefte?

»Pennford Deverick«, wiederholte er.

Die beiden Ärzte und Hudson Greathouse beobachteten ihn stumm.

Matthew nahm an Madam keine Reaktion wahr, und doch … umklammerte ihre linke Hand die Armlehne mit ein wenig mehr Druck?

Er lehnte sich näher zu ihr heran. »Pennford Deverick ist tot.«

Plötzlich drehte sie geschmeidig den Kopf und Matthew sah ihr ins Gesicht. Die abrupte Art der Bewegung hatte ihn nach Luft schnappen und zusammenzucken lassen, aber er zwang sich, die Ruhe zu bewahren.

»Junger Mann«, sagte sie mit klarer, fester Stimme, und obwohl ihre Mimik sich vom Betrachten der Glühwürmchen nicht verändert hatte, lag in ihrem Ton etwas Hartes wie Verärgerung. »Ist die Antwort des Königs inzwischen eingetroffen?«

»Die … Antwort des Königs?«

»Das war meine Frage. Wenn Ihr bitte antworten würdet?«

Matthew sah hilfesuchend zu den Ärzten hoch, aber sie sagten nichts und boten ihm keinerlei Beistand. Hulzen paffte weiter an seiner Pfeife. Matthew beschlich das Gefühl, dass sie diese Frage schon gehört hatten. »Nein, Madam«, antwortete er nervös.

»Kommt mich holen, wenn sie eintrifft«, sagte sie und wandte ihr Gesicht wieder dem Fenster zu. Matthew spürte, wie sie sich von ihm entfernte, obwohl sich ihre körperliche Position um keinen Millimeter verschob. Ein paar Sekunden später war sie wie in weiter Ferne.

»Deshalb wird sie die Königin genannt«, sagte Ramsendell. »Diese Frage stellt sie mehrmals jede Woche. Eines Tages hat sie Charles gefragt, ob die Antwort des Königs eingetroffen ist, und er hat den anderen davon erzählt.«

Matthew machte einen neuerlichen Versuch. »Madam, welche Frage habt Ihr dem König denn gestellt?«

Sie reagierte nicht.

Matthew erhob sich. Er betrachtete immer noch grüblerisch ihr Gesicht, das nun so starr wie das einer Statue war. »Habt Ihr ihr jemals gesagt, dass die Antwort gekommen ist?«

»Ja«, sagte Hulzen. »Nur als Experiment. Sie schien darauf zu warten, dass ich irgendetwas tat. Als ich nicht so handelte, wie sie es zu erwarten schien, ist sie wieder in ihren Traumzustand verfallen.«

»Traumzustand«, brummelte Greathouse flüsternd.

Während Matthew die Königin der Verdammten anstarrte, wurde er sich mit einem Mal bewusst, dass er wiederum von vier anderen Augenpaaren scharf beobachtet wurde. Er wandte sich von der alten Dame ab. Sein Blick fiel auf etwas, das das gelbe Lampenlicht nahe dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand beleuchtete.

Sein Mund wurde trocken.

Mit Mühe fragte er: »Was ist das da?«

»Oh.« Ramsendell schwenkte die Hand. »Ihre Masken.«

Matthew ging bereits am Sessel der Königin, an Greathouse und den beiden Ärzten vorbei auf die vier an der Wand hängenden Masken zu. Er war zuvor so auf die alte Dame konzentriert gewesen, dass sie ihm nicht aufgefallen waren. Zwei der Masken waren in einfachem Weiß gehalten, eine war rot mit schwarzen Rauten auf den Wangen und die vierte war schwarz mit roten Rauten um die Augenlöcher herum.

»Die sind mit ihr eingetroffen«, sagte Ramsendell. »Ich glaube, dass sie vielleicht aus Italien sind.«

»Zweifelsohne«, murmelte Matthew. Er dachte an das, was Ashton McCaggers ihm gesagt hatte: In der italienischen Kultur werden Karnevalsmasken manchmal mit farbigen Rauten oder Dreiecken über den Augen verziert. Insbesondere die Harlekinmasken von …

»Venedig«, sagte Matthew und schaute zur anderen Seite des Zimmers auf das bläuliche Gemälde, das die Stadt der Kanäle zeigte. »Vielleicht ist sie irgendwann einmal dort gewesen.« Er sprach hauptsächlich zu sich selbst. Wieder betrachtete er das Maskenquartett. Dann das Gesicht der Frau. Und dann den Ohrenkneifer, den Ramsendell noch immer in der Hand hielt.

Es war fast, als würde Matthew die Distanz zwischen diesen Dingen so unbeirrt wie ein Landvermesser berechnen. Nicht in Metern, sondern was der zwischen ihnen liegende Abstand bedeutete: Das ruhige Gesicht der Königin, die Masken an der Wand, die Zeitung – und hin und her und her und hin. Von Deverick zu den Masken, dachte er. Oder von Deverick zum Maskenschnitzer?

»Was ist?«, fragte Greathouse, der Matthews Aufregung spürte.

Matthew fuhr mit dem Finger über die roten Rauten, die um die Augen der schwarzen Maske gemalt waren. Ja, sie waren ähnlich wie die Wunden der Maskenschnitzer-Opfer – ähnlich oder identisch? Er drehte sich wieder um und musterte die Königin, versuchte zu begreifen, was da gerade in seinem Kopf Gestalt annahm: Dass sie, eine traurige und doch beeindruckende Person, genau in der Mitte dieser unbekannten Geometrie zwischen Pennford Deverick und seinem Mörder in ihrem Sessel saß.

Zwei Dinge ließen sein Gehirn brodeln.

Derjenige, der sie hier eingewiesen hatte, mochte – liebte? – sie sehr und wollte, dass man sich in einer ähnlich prunkvollen Umgebung um sie kümmerte, wie sie von früher her gewohnt sein musste. Und doch hatte dieselbe Person sich die Mühe gemacht, die Initialen der Möbelbauer zu entfernen, damit niemand herausfinden konnte, wer sie war.

Warum?

Hatte sie in dem verschlossenen Raum, in dem sich ihr Verstand befand, tatsächlich Devericks Namen erkannt? Wenn ja, warum hatte der Name sie zum Weinen gebracht?

Von Deverick zum Maskenschnitzer und vom Maskenschnitzer zu Deverick. Aber verlief die richtige geometrische Linie tatsächlich von der Königin der Verdammten zum Maskenschnitzer, zu Dr. Godwin, zu Pennford Deverick, zu Eben Ausley?

»Darf ich fragen, was Ihr denkt?« Es war Ramsendell, der sprach.

»Ich denke, dass ich vielleicht ein Fünfeck vor mir habe«, gab Matthew zurück.

»Was?«, fragte Hulzen und ein Rauchfaden glitt ihm über das Kinn.

Matthew antwortete nicht, denn er war noch mit seinen Kalkulationen beschäftigt. Diesmal nicht über die Entfernungen zwischen den verschiedenen Bedeutungen, sondern ob es eine Chance gab, dieses Rätsel zu lösen. Wo sollte man anfangen? Wie sollte man anfangen?

»Also.« Greathouse sprach das Wort wie ein Omen aus. »Hält sie sich für Queen Mary? Sie wartet auf eine Botschaft von King William?« Er kratzte sich das Kinn, das einer Rasur bedurfte. »Mag sich denn niemand trauen ihr zu sagen, dass William tot ist?«

Matthew war zu einer Schlussfolgerung gekommen. »Ich denke, dass wir uns dieses Problems annehmen werden, Sirs.«

»Jetzt aber mal langsam!«, brauste Greathouse auf, bevor die Ärzte antworten konnten. »Ich habe dem nicht zugestimmt!«

»Und?« Matthew betrachtete ihn mit kühlem Blick. »Was sollte Euch davon abhalten?«

»Dass … dass wir erst mal darüber reden sollten, das hält mich davon ab!«

»Gentlemen, wenn Ihr morgen früh mit einer Antwort zu uns zurückkommen wollt, wären wir Euch sehr verbunden«, sagte Ramsendell. »Zimmer könnt Ihr im Constant Friend finden, doch ich muss sagen, dass das Essen in Mrs. DePauls Gaststube besser schmeckt.«

»Aber nur, damit ich ein sehr großes und sehr starkes Getränk zu mir nehmen kann«, knurrte Greathouse. Und lauter, an Ramsendell gewandt: »Unser Lohn würde sich auf drei Kronen plus Spesen belaufen. Eine Krone ist zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zahlbar.«

Ramsendell sah Hulzen fragend an, der die Schultern zuckte. »Teuer«, meinte Ramsendell. »Aber ich glaube, dass wir das verkraften können, solange Eure Spesen sich in Grenzen halten.«

»Das werden sie vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Es kommt darauf an.«

Matthew wusste, dass Greathouse versuchte, das Zustandekommen einer Vereinbarung zu verhindern. Die Dunkelheit der Tollheit verunsicherte das degenschwingende Raubein – schließlich war das etwas, gegen das er sich weder mit den Fäusten, der Pistole, noch dem Degen wehren konnte.

Ramsendell nickte. »Wir vertrauen darauf, dass die Spesen den Umständen entsprechend ausfallen. Schließlich seid Ihr Fachmänner.«

»Ja.« Greathouses Brust schwoll vielleicht etwas an, aber Matthew war klar, dass man sich über die Bezahlung geeinigt hatte. »Ja, das sind wir.«

Bevor sie das Zimmer verließen, blieb Matthew kurz stehen, um sich nochmals das vornehme Ambiente und die eleganten Möbel anzusehen. Wer war der Gatte dieser Frau?, fragte er sich. Hier war eine Menge Geld zu sehen. In welchem Beruf war es verdient worden?

Er warf noch einen Blick auf die italienischen Masken und das unbewegliche Profil der Frau. Sie trug ihre eigene Maske, dachte er. Dahinter mochte alles leer sein – oder ein gequältes Gedächtnis liegen.

Junger Mann, ist die Antwort des Königs inzwischen eingetroffen?

»Einen angenehmen Abend noch«, wünschte Matthew der schweigenden Königin der Verdammten und folgte den anderen aus dem Zimmer.

Drei

»Meiner Meinung nach«, sagte Hudson Greathouse und brach damit das Schweigen, das sich schon über eine halbe Stunde hinzog, »ist das unmöglich zu schaffen, egal, was Ihr darüber denkt. Schließlich habe ich in diesem Beruf etwas mehr Erfahrung als Ihr.«

Matthew ließ die Bemerkung so stehen. Sie ritten auf der Philadelphia-Straße zurück nach New York. Matthews Uhr zufolge war es kurz nach zehn. Die Sonne sah hinter den grauen Wolken hervor und das Licht brach sich an den nassen Bäumen und Pfützen auf der Straße. Sie hatten Westerwicke am Morgen nach einer Frühstücksbesprechung mit den beiden Ärzten in Mrs. DePauls Gaststube verlassen. Am Abend zuvor, während ein Gewitter heranzog und Regen gegen die Fensterläden des Constant Friend trommelte, hatten Matthew und Greathouse sich über die Erfolgsaussichten, die Identität der Queen zufriedenstellend zu klären, in den Haaren gelegen. Greathouse hatte darauf beharrt, dass Mrs. Herrald es für ein aussichtsloses Unterfangen halten würde, während Matthew darauf bestanden hatte, dass nichts aussichtslos war, solange es nicht aufgegeben wurde. Als Greathouse schließlich merkte, dass Matthew sich von seiner Position nicht abbringen lassen würde, hatte er die Achseln gezuckt und gesagt: »Das ist dann Eure Aufgabe und nicht meine«, und sich mit einer Flasche Rum nach oben in sein Zimmer zurückgezogen. Matthew hatte noch eine Weile dem Sturm gelauscht, eine letzte Tasse Ingwertee getrunken und war dann ins Bett gegangen, um über die Verbindungslinien dieses Fünfecks zu grübeln, bis ihn nach Mitternacht endlich der Schlaf von seinen Gedanken erlöst hatte.

»Wo wollt Ihr denn anfangen?«, fragte Greathouse, der neben Matthew ritt. »Habt Ihr überhaupt irgendeine Idee?«

»Habe ich.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»In Philadelphia«, sagte Matthew. Er lenkte Dante an einer riesigen Pfütze vorbei, die wie ein pferdeverschlingendes Sumpfloch aussah. »Um ganz genau zu sein, in der Kanzlei von Icabod Primm.«

»Ach, tatsächlich?« Greathouse lachte rau. »Na, das wird unseren Klienten aber sehr gefallen, was? Habt Ihr nicht gehört, wie sie sagten, dass Primm nichts davon erfahren darf?«

»Ich bin ebenfalls ganz Ohr, aber ich glaube nicht, dass Mr. Primm …« Er suchte nach dem richtigen Wort.

»Ganz ehrlich ist?«, schlug Greathouse vor.

»Genau. Wenn Primms Klient das Wohl dieser Dame so sehr am Herzen liegt, wird er – oder vielleicht ist es auch eine sie – die Königin nicht aus diesem Hospital holen lassen. Egal, womit Primm droht. Wo sollte sie denn sonst hin, wo man sie derart königlich behandelt? Primms Klient will zwei Dinge: Die Dame soll versteckt und beschützt werden.«

»Ich glaube nicht, dass diese Ärzte das gutheißen werden.«

»Sie müssen ja nichts davon erfahren, oder?«

Greathouse schwieg. Immer mehr Sonnenschein strömte durch den Wald und die feuchte Luft wurde wärmer. »Diese ganze Sache stinkt, wenn Ihr mich fragt«, fing Greathouse wieder an. »Diese Verrückten, die ohne Ketten an den Füßen frei herumlaufen. Und all dieser Mist über Geistesgestörtheit und Traumzustände und all das. Wisst Ihr, was mein Vater getan hätte, wenn ich mich in einen verdammten Traumzustand versetzt hätte? Ausgepeitscht hätte er mich! Mir scheint, das ist, was manche dieser Leute brauchen. Und nicht verwöhnt zu werden, als wären sie zarte Veilchen.«

»Dann nehme ich an«, sagte Matthew trocken, »dass Ihr Jacob mit der Peitsche behandeln würdet?«

»Ihr wisst, was ich meine! Zur Hölle noch mal, man soll einen Verrückten einen Verrückten nennen und fertig!«

»Ich bin mir sicher, dass es in Englands Tollhäusern sogenannte Ärzte gibt, die Euch beipflichten würden. Aber die würden auch unsere Dienste nicht brauchen.« Matthew warf einen Seitenblick auf Greathouse, um seine Miene zu mustern – mürrisch –, und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. »Findet Ihr es nicht bewundernswert, dass Ramsendell und Hulzen ihren Patienten helfen wollen?«

»Ich finde, dass es idiotisch ist und dass es ein Fehler war, herzukommen. Menschen mit Kopfkrankheit kann man nicht helfen.«

»Aha. Die Kopfkrankheit ist das also?«

»Ja, und tut nicht so aufgeblasen. Ich hatte einen Onkel mütterlicherseits, der die Kopfkrankheit bekam. Mit fünfzig hat er nur noch herumgesessen und kleine Holzpferde geschnitzt. Er hat mir von den Zwergen erzählt, die er bei sich im Garten gesehen hat. Und er war früher in der Armee Rittmeister gewesen! Wisst Ihr, in gewisser Hinsicht erinnert Ihr mich an ihn.«

»In welcher Hinsicht?«

»Er hat auch immer Schach gespielt. Allein. Er hat die Figuren aufgestellt und beide Seiten gespielt und die ganze Zeit dabei mit sich selbst geredet.«

»Man stelle sich das vor«, sagte Matthew und sah zu Greathouse hinüber.

»Also gut. Nehmen wir an, Ihr reitet nach Philadelphia und trefft Euch mit diesem Primm-Bastard. Es gibt kein Gesetz, das ihn dazu verpflichtet, Euch zu sagen, wer diese Frau ist. Ich schätze, er wird Euch wegen Geisteskrankheit rauswerfen. Und was macht Ihr dann? Hm?« Als Matthew nicht antwortete, sprach Greathouse weiter. »Werdet Ihr die Straßen ablaufen und Euch die Leute vorknöpfen? Sie fragen, ob sie eine kleine weißhaarige alte Dame kennen, die in einem Tollhaus sitzt und sich einbildet, dass sie Queen Mary ist und auf eine Botschaft von King William wartet? Ich sehe schon, dass die Quäker einen neuen Gast in ihrem Hospital bekommen werden. Nebenbei bemerkt ist Philadelphia auch eine größere Stadt als New York. Wenn Ihr Euch mit allen Einwohnern treffen wollt, wird Euch ein grauer Bart bis zu den Füßen gewachsen sein, wenn ich Euch das nächste Mal sehe.«

»Was? Ihr werdet nicht mitkommen und mir helfen, alle Einwohner Philadelphias zu befragen?«

»Ich meine es ernst! Ich habe gestern Abend gesagt, dass dies Eure Aufgabe ist. Wenn Mrs. Herrald davon hört – dass ich Euch diesen Fall habe annehmen lassen –, kann es gut sein, dass ich die nächsten sechs Monate mit einem stumpfen Messer Bleistifte anspitzen muss. Von daher – nein, ich werde nicht für einen aussichtslosen Fall nach Philadelphia reiten.«

»Mir scheint, dass Ihr ihnen das Geld aber bereitwillig abgenommen habt«, sagte Matthew und durchbohrte Greathouse mit einem kalten Blick. »Und wollt Ihr mir nach all Euren Predigten über die Wichtigkeit, einen harten Körper, Verstand und Geist zu haben sagen, dass Ihr vor einer Herausforderung schwächelt?«

»Eine Herausforderung ist eine Sache. Aber das hier ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und passt auf, wen Ihr des Schwächelns bezichtigt, mein Junge, denn ich könnte Euch mit meinem kleinen Finger vom Pferd stoßen.«

Bevor Matthew sich beherrschen konnte, trieb er Dante vor Greathouses Pferd. Matthews Wangen brannten, sein Herz schlug hart und er hatte die Nase gestrichen voll von Greathouses Benehmen. Greathouses Pferd schnaubte und ging rückwärts, während Dante keinen Schritt zur Seite wich. Kochend vor Wut saß Matthew im Sattel.

»Was zum Teufel ist mit Euch los?«, brüllte Greathouse. »Ihr hättet mein Pferd zum …«

»Schweigt«, sagte Matthew.

»Was?«

»Ich habe gesagt, dass Ihr schweigen sollt.«

»Na, na.« Greathouse grinste grimmig. »Nun ist der Junge durchgedreht.«

»Ich bin nicht durchgedreht, sondern soweit, Euch jetzt zu sagen, was ich von Euch halte.«

»Ach ja? Na, das wird aber interessant. Soll ich absteigen und Euch um den Baum da hinten wickeln?«

Matthew spürte, wie ihn der Mut verließ. Er musste weitermachen und sprechen, bevor ihn seine Vernunft daran hinderte. »Ihr bleibt da jetzt im Sattel sitzen und hört zu. Wenn Ihr mich um einen Baum wickeln wollt, wenn ich fertig bin, dann von mir aus. Ich bezweifle nicht, dass Ihr das tun könnt, und ebenso wenig, dass Ihr mich mit Eurem kleinen Finger vom Pferd stoßen könnt, wie Ihr so wunderbar gesagt habt, aber ich werde mich von Euch verdammt noch mal nicht länger wie einen Idioten behandeln lassen.«

Greathouse verengte die Augen. »Was steckt Euch denn im Arsch verquer?«

»Mrs. Herrald hat mich aus einem bestimmten Grund ausgesucht. Einem sehr guten Grund. Ich bin recht intelligent und habe Dinge erlebt und getan, die sie sehr interessant findet. Nein, ich bin mehr als recht intelligent. Ich bin äußerst gescheit, Mr. Greathouse, vermutlich gescheiter als Ihr, und Ihr wisst das. Stimmt, ich kann nicht so gut kämpfen wie Ihr und bin völlig nutzlos mit dem Degen, und ich habe in den letzten Monaten auch keine Attentate verhindert. Aber ich habe eine Frau vor dem Scheiterhaufen gerettet und ich habe einen Mörder und einen Plan entblößt, der eine ganze Stadt zerstören sollte. Ich denke, das ist etwas, das zählt. Meint Ihr nicht?«

»Ich denke, es …«

»Ich bin noch nicht fertig«, redete Matthew weiter und Greathouse verstummte. »Ich habe weder Eure Erfahrung, noch Eure Körperstärke – und werde sie vielleicht auch nie haben –, aber etwas will ich von Euch haben, das Ihr anscheinend nicht zu geben bereit seid: Euren Respekt. Nicht dafür, dass ich so werde, wie Ihr mich haben wollt, sondern dass ich so bin, wie ich bin. Mrs. Herrald scheint meinem Urteilsvermögen zu vertrauen. Warum solltet Ihr das also nicht auch, wenn ich Euch sage, dass ich herausfinden kann