Swans Song: Nach dem Ende der Welt - Robert McCammon - E-Book

Swans Song: Nach dem Ende der Welt E-Book

Robert McCammon

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Beschreibung

Swans Song - Buch 1: Nach dem Ende der Welt Der legendäre Endzeit-Thriller. Düster, brutal und mit epischer Wucht erzählt. In diesem Endzeit-Thriller beschreibt der Bestsellerautor die Welt nach der atomaren Apokalypse. Die menschliche Zivilisation bricht zusammen und die wenigen Überlebenden werden in eine vorindustrielle Welt katapultiert, in der sie zu hungrigen Bestien mutieren. Der nukleare Winter senkt sich wie ein Leichentuch über die verkohlte Erde. Durch dieses verstrahlte Land wandert Swan – das neunjährige Mädchen spürt, dass etwas Übernatürliches am Werk ist: das personifizierte Böse, das die Menschheit endgültig vernichten will. Swan erlebt die ultimative Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse. Dean Koontz: 'Ein irrer Sturz in den Terror. Eine große und erschreckende Geschichte.' Stephen King: 'Einer der besten Horror- und Thrillerautoren …'

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Seitenzahl: 779

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Swan Song erschien 1987.

Copyright © 1987 by Robert McCammon

1. Auflage Mai 2015

Copyright © dieser Ausgabe 2015 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von The McCammon Corporation

Literarische Agentur: Thomas Schlück GmbH, 30872 Garbsen

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-354-9

www.Festa-Verlag.de

Kein Zurück mehr

Es war einmal

Sister Creep

Black Frankenstein

Das gruselige Kind

Ritter des Königs

1

16. Juli

22:27 Uhr Eastern Daylight Time

Washington, D. C.

Es war einmal vor langer Zeit, da verliebten wir uns in das Feuer, dachte der Präsident der Vereinigten Staaten, als das Streichholz, mit dem er seine Pfeife anzünden wollte, zwischen seinen Fingern aufflackerte.

Er starrte in die Flamme, hypnotisiert von ihrer Farbe – und als sie größer wurde, sah er eine Feuersäule vor sich, 1000 Meter hoch, die durch das Land toste, das er so liebte, die Städte und Dörfer in Flammen aufgehen und Flüsse verdampfen ließ, die durch Farmruinen fegte und die Asche von 70 Millionen Menschen in einen schwarzen Himmel wirbelte. Fasziniert sah er zu, wie die Flamme am Streichholz entlangwanderte, und ihm wurde bewusst, dass er dort, in winzigem Maßstab, die Kraft der Schöpfung und zugleich der Zerstörung vor sich sah; sie konnte Nahrung zubereiten, die Dunkelheit erhellen, Eisen schmelzen und Menschen verbrennen. Aus der Mitte der Flamme schien ihn ein winziges, scharlachrotes Auge unverwandt anzustarren und er hatte den Wunsch, zu schreien. Heute Morgen um zwei war er aus einem Albtraum des Infernos aufgeschreckt; er hatte geweint und gar nicht mehr aufhören können. Die First Lady hatte versucht, ihn zu beruhigen, aber er hatte gezittert und geschluchzt wie ein Kind. Danach hatte er bis zum Morgengrauen im Oval Office gesessen und wieder und wieder die Karten und Geheimdienstberichte studiert, aber sie alle liefen auf das Gleiche hinaus: Erstschlag.

Die Flamme verbrannte ihm die Finger. Er schüttelte das Streichholz aus und ließ es in den Aschenbecher mit dem Präsidentensiegel fallen. Ein winziger Rauchfaden kräuselte sich nach oben zum Gitter des Luftfiltersystems.

»Sir?«, sagte jemand. Er blickte auf und sah eine Gruppe von Fremden, die mit ihm im Kontrollraum saßen, sah die hochauflösende Weltkarte auf dem Computermonitor vor sich, sah die wie im Cockpit eines Kampfjets halbkreisförmig um ihn angeordneten Telefone und Bildschirme, und er wünschte bei Gott, jemand anders säße auf diesem Stuhl und er selbst wäre nur ein einfacher Senator und wüsste nicht die Wahrheit über die Welt. »Sir?«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Seine Haut fühlte sich feucht an. Großartiger Zeitpunkt für eine Erkältung, dachte er und beinahe hätte er laut gelacht, weil der Gedanke so absurd war. Der Präsident konnte nicht krankfeiern, denn ein Präsident wurde niemals krank. Er versuchte sich zu konzentrieren. Wer hatte ihn gerade angesprochen? Die Männer am ovalen Tisch beobachteten ihn – der Vizepräsident, nervös und listig; Admiral Narramore, stocksteif in seiner Uniform, die ganze Brust voller Orden und Auszeichnungen; General Sinclair, mürrisch und wachsam, die Augen wie zwei Stücke blaues Glas in seinem harten, zerfurchten Gesicht; Verteidigungsminister Hannan, der wie ein lieber, freundlicher Großvater aussah, aber von der Presse und seinen Mitarbeitern »der eiserne Hans« genannt wurde; General Chivington, der führende Experte für Sowjetmilitär; Stabschef Bergholz, mit Bürstenhaarschnitt und wie immer im makellosen dunkelblauen Nadelstreifenanzug; diverse weitere Militärbeamte und Berater.

»Ja?«, wandte sich der Präsident an Bergholz.

Hannan griff nach einem Glas Wasser, trank einen Schluck und sagte: »Sir? Ich fragte gerade, ob ich fortfahren soll.« Er tippte auf die aufgeschlagene Seite des Berichtes, aus dem er vorgelesen hatte.

»Oh.« Meine Pfeife ist ausgegangen, dachte er. Habe ich sie nicht gerade angezündet? Er starrte das verbrannte Streichholz im Aschenbecher an und hatte keine Ahnung, wie es dorthin gekommen war. Für einen kurzen Augenblick tauchte das Gesicht von John Wayne vor seinem inneren Auge auf, eine Szene aus einem Schwarz-Weiß-Film, den er als Kind gesehen hatte; der Duke sagte etwas von einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gebe. »Ja«, antwortete der Präsident. »Machen Sie weiter.«

Hannan ließ seinen Blick über die anderen Anwesenden schweifen. Alle hatten eine Kopie des Berichts vor sich liegen, dazu ganze Stapel weiterer als Vertraulich markierter Berichte, die frisch von NORAD und SAC hereingekommen waren. »Vor nicht ganz drei Stunden«, fuhr Hannan fort, »fiel unser letzter funktionstüchtiger SKY-EYE-Aufklärungssatellit aus, als er Khatyrka in der UdSSR überflog. Wir verloren alle optischen Sensoren und Kameras, und wieder – wie schon im Fall der anderen sechs SKY EYEs – vermuten wir, dass der Satellit von einem landgestützten Laser außer Gefecht gesetzt wurde, wahrscheinlich von einem Stützpunkt in der Nähe von Magadan. 20 Minuten, nachdem es SKY EYE 7 erwischte, gelang es uns, mit unserem Malmstrom-AFB-Laser einen sowjetischen Spionagesatelliten zu blenden, als dieser Kanada überflog. Nach unseren Berechnungen bleiben den Russen damit noch zwei Satelliten, von denen sich einer über dem Nordpazifik befindet und der andere über der iranisch-irakischen Grenze. Die NASA versucht, SKY EYE 2 und 3 zu reparieren, aber die anderen sind nur noch Weltraumschrott. Und das bedeutet, Sir, dass wir seit etwa drei Stunden Ostküsten-Sommerzeit …«, Hannan warf einen Blick auf die Digitaluhr an der grauen Betonwand des Kontrollraums, »… blind sind. Die letzten Aufklärungsfotos wurden um 18:30 Uhr über Jelgava aufgenommen.« Er aktivierte ein Mikrofon, das sich im Bedienpult vor ihm befand, und sagte: »SKY-EYE-Aufnahme 7/16 bitte.«

Es gab eine Pause von drei Sekunden, bis der Informationscomputer die angeforderten Daten gefunden hatte. Auf dem großen Wandschirm verblasste die Weltkarte und wurde von einem aus großer Höhe aufgenommenen Satellitenfoto ersetzt, das ein ausgedehntes sowjetisches Waldgebiet zeigte. In der Mitte des Bildes war eine Ansammlung stecknadelkopfgroßer Punkte zu sehen, die durch die winzigen Linien eines Straßennetzes verbunden waren. »Vergrößerung 12«, befahl Hannan. Das Bild spiegelte sich in den Gläsern seiner Hornbrille.

Die Aufnahme wurde zwölffach vergrößert, bis man schließlich Hunderte von Raketensilos so deutlich erkennen konnte, als wäre die Wand des Kontrollraums ein riesiges Glasfenster. Auf den Straßen waren Lkws unterwegs, von deren Reifen Staub aufgewirbelt wurde, und neben den Bunkern und Radarschüsseln der Raketenbasis erkannte man sogar einzelne Soldaten. »Wie Sie sehen können«, fuhr Hannan mit seiner ruhigen, distinguierten Stimme fort – die er sich aus seinem früheren Beruf als Dozent für Militärgeschichte und Wirtschaftslehre in Yale bewahrt hatte –, »bereiten die Russen irgendetwas vor. Wahrscheinlich wird weitere Radarausrüstung herangeschafft und die Sprengköpfe werden scharf gemacht. Wir haben allein in diesem Stützpunkt 263 Raketensilos gezählt, in denen vermutlich mehr als 600 atomare Sprengköpfe untergebracht sind. Zwei Minuten später wurde unser SKY EYE außer Gefecht gesetzt. Doch diese Aufnahme bestätigt nur noch einmal, was wir bereits wissen: Die Sowjets haben ihr Militär in höchste Bereitschaft versetzt und wollen nicht, dass wir das neue Material sehen, das sie heranschaffen. Und das bringt uns zu General Chivingtons Bericht. General?«

Chivington brach das Siegel einer grünen Aktenmappe, die vor ihm lag, und die anderen taten es ihm nach. In der Mappe befanden sich Berichte, Diagramme und Schaubilder. »Gentlemen«, sagte er mit rauer Stimme, »die sowjetische Kriegsmaschinerie wurde in den letzten neun Monaten bis auf 85 Prozent ihrer Kapazität mobilisiert. Über Afghanistan, Südamerika oder den Persischen Golf brauche ich Ihnen nichts zu erzählen, aber ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf Dokument 66-33 richten. Dieses Diagramm zeigt die Menge der Versorgungsgüter, die in das russische Zivilverteidigungssystem eingeflossen sind. Wie Sie selbst sehen können, ist die Kurve in den letzten zwei Monaten steil angestiegen. Von unseren sowjetischen Quellen wissen wir, dass mittlerweile mehr als 40 Prozent der städtischen Bevölkerung entweder die Ballungsräume verlassen haben oder in Schutzräume umgezogen sind …«

Während Chivington weiter über die sowjetische Zivilverteidigung sprach, wanderten die Gedanken des Präsidenten acht Monate zurück zu den entsetzlichen letzten Tagen Afghanistans mit ihren Nervengaseinsätzen und taktischen Nuklearschlägen. Und eine Woche nach dem Fall Afghanistans war in einem Beiruter Mietshaus ein Nuklearsprengsatz von zwölfeinhalb Kilotonnen detoniert und hatte die leidgeprüfte Stadt in eine Mondlandschaft aus radioaktiven Trümmern verwandelt. Fast die Hälfte der Bevölkerung war sofort tot. Eine Vielzahl terroristischer Gruppierungen hatte sich voll hämischer Freude zu dem Anschlag bekannt und weitere Manifestationen von Allahs Zorn versprochen.

Die Detonation dieser Bombe hatte die Büchse der Pandora geöffnet und ihre Schrecken auf die Welt losgelassen.

Am 14. März griff Indien Pakistan mit chemischen Waffen an. Pakistan rächte sich mit einem Raketenangriff auf die Stadt Jaipur. Drei indische Nuklearraketen machten Karachi dem Erdboden gleich und die Fronten fraßen sich in der Thar-Wüste fest.

Am zweiten April feuerte der Iran einen ganzen Schwarm aus sowjetischer Produktion stammender Nuklearraketen auf den Irak ab. Amerikanische Streitkräfte, die den iranischen Vormarsch aufhalten sollten, wurden vom Strudel der Vernichtung verschlungen. Sowjetische und amerikanische Kampfjets bekämpften sich über dem Persischen Golf und die gesamte Region stand kurz davor, in die Luft zu gehen.

Grenzkriege brachen in Nord- und Südafrika aus. Selbst die kleinsten Länder plünderten ihre Staatskassen, um bei Waffenschiebern chemische und nukleare Waffen zu kaufen. Bündnisse wechselten über Nacht, manche aufgrund militärischen Drucks, andere dank der Kugeln von Attentätern.

Keine 20 Kilometer vor Key West feuerte am vierten Mai ein schießwütiger amerikanischer F-18-Pilot eine Luft-Boden-Rakete auf ein manövrierunfähiges russisches U-Boot ab. Auf Kuba stationierte russische MiG-23 kamen jaulend über den Horizont geschossen und holten den amerikanischen Piloten sowie zwei weitere Maschinen eines Geschwaders, das zur Verstärkung anrückte, vom Himmel.

Neun Tage später kollidierten ein sowjetisches und ein amerikanisches U-Boot bei einem Katz-und-Maus-Spiel in der Arktis. Und zwei Tage später fing der Radar des kanadischen Frühwarnsystems die Signale von 20 anfliegenden Flugzeugen auf; alle Luftwaffenstützpunkte der westlichen USA wurden in Alarmbereitschaft versetzt, doch die Eindringlinge drehten wieder ab und konnten entkommen, bevor es zum Kontakt kam.

Am 16. Mai wurden alle amerikanischen Luftwaffenstützpunkte in den Alarmzustand Defcon 1 versetzt, zwei Stunden später zogen die Sowjets nach. Zu den Spannungen des Tages trug noch ein nuklearer Anschlag auf den Fiatkomplex in Mailand, Italien, bei, zu dem sich eine kommunistische Terrororganisation namens Roter Stern der Freiheit bekannte.

Im Mai und Juni kam es im Nordatlantik und Nordpazifik immer wieder zu Zwischenfällen mit Schiffen, U-Booten und Flugzeugen. Die amerikanischen Luftwaffenstützpunkte wurden in Defcon 2 versetzt, als ein Kreuzer aus unbekannten Gründen 30 Seemeilen vor der Küste Oregons explodierte und sank. Die Sichtungen sowjetischer U-Boote in amerikanischen Hoheitsgewässern nahmen dramatisch zu, im Gegenzug wurden amerikanische U-Boote ausgeschickt, um die russische Verteidigung zu sondieren. Die Aktivitäten an den russischen ICBM-Stützpunkten wurden von SKY-EYE-Satelliten aufgezeichnet, bevor sie von Abwehrlasern ausgeschaltet wurden, und der Präsident wusste, dass die Sowjets die Aktivitäten an den US-Basen mitbekamen, bevor ihre Satelliten ebenfalls außer Gefecht gesetzt wurden.

Am 13. Juni dieses »Grimmigen Sommers«, wie die Medien ihn nannten, meldete das Kreuzfahrtschiff Tropic Panorama, das mit 700 Passagieren von Hawaii nach San Francisco unterwegs war, dass es von einem nicht identifizierten U-Boot verfolgt werde.

Das war die letzte Nachricht von der Tropic Panorama.

Von dem Tag an patrouillierte die amerikanische Marine im Pazifik mit scharfen und abschussbereiten Nuklearwaffen.

Jetzt fiel dem Präsidenten der Titel des Filmes wieder ein: Es wird immer wieder Tag. Es ging darin um ein Flugzeug, das technische Probleme hatte und abzustürzen drohte. John Wayne war der Pilot und er erklärte der Besatzung, was es mit dem Point of no Return auf sich hatte – dem Punkt, an dem das Flugzeug nicht mehr umkehren, sondern nur noch weiterfliegen könne, egal wie die Sache endete. Der Präsident hatte in letzter Zeit oft über den Point of no Return nachgedacht; immer wieder hatte er geträumt, am Steuerknüppel eines manövrierunfähigen Flugzeugs zu sitzen, das über einen dunklen, abweisenden Ozean flog, auf der Suche nach den Lichtern der Küste. Aber die Instrumente waren zerstört und das Flugzeug sank immer tiefer und tiefer, während die entsetzten Schreie der Passagiere durch seinen Kopf hallten.

Ich will wieder ein Kind sein, dachte er, während die anderen Männer am Tisch ihn beobachteten. Lieber Gott, ich will nicht mehr am Steuerknüppel sitzen.

General Chivington hatte seinen Bericht beendet. Der Präsident bedankte sich bei ihm, obwohl er gar nicht richtig mitbekommen hatte, was Chivington eigentlich gesagt hatte. Er spürte die Blicke der anderen, sie warteten darauf, dass er sprach, sich bewegte, irgendetwas tat. Der Präsident war Ende 40, dunkelhaarig und auf eine schroffe Art gut aussehend. Er war selbst Pilot gewesen, hatte das NASA-Shuttle Olympian geflogen und war einer der Ersten gewesen, die einen Weltraumspaziergang mit einem Jetpack unternommen hatten. Der Anblick der Wolkenstreifen vor der riesigen Erdkugel hatte ihn zu Tränen gerührt, und sein emotionaler Funkspruch »Houston – ich glaube, ich weiß jetzt, wie Gott sich fühlen muss« hatte mehr als alles andere dazu beigetragen, ihm den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen zu sichern.

Aber er hatte die Fehler der Präsidentengenerationen vor ihm geerbt und eine geradezu lächerlich naive Einstellung zur Welt am Vorabend des 21. Jahrhunderts besessen.

Die Wirtschaft war, nachdem sie sich Mitte der 80er-Jahre vorübergehend erholt hatte, gänzlich außer Kontrolle geraten. Die Kriminalitätsrate war erschreckend hoch, die Gefängnisse waren überfüllte Schlachthäuser. Hunderttausende von Obdachlosen – die »Lumpennation«, wie die New York Times sie nannte – irrten durch die Straßen Amerikas, außerstande sich eine Unterkunft zu leisten oder psychisch mit einer aus den Fugen geratenen Welt zurechtzukommen. Das ›Star-Wars‹-Militärprogramm, das etliche Milliarden Dollar verschlungen hatte, erwies sich als grandioser Fehlschlag, da man zu spät erkannte, dass Maschinen nur so gut arbeiteten wie die Menschen, die sie bedienten, und die Komplexität der Orbitalplattformen überforderte den menschlichen Geist und sprengte das Budget. Waffenschieber hatten eine unausgereifte, instabile Nukleartechnologie an Dritte-Welt-Länder und größenwahnsinnige Machthaber verkauft, die nach einer größeren Rolle in der verführerischen und gefährlichen globalen Arena dürsteten. Zwölf-Kilotonnen-Bomben, die etwa die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe besaßen, waren mittlerweile so verbreitet wie Handgranaten und konnten in einer Aktentasche transportiert werden. Die erneuten Aufstände in Polen und die Straßenkämpfe in Warschau hatten die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen auf Minustemperaturen abgekühlt; der wenig später spektakulär fehlgeschlagene Versuch der CIA, die Anführer der polnischen Freiheitsbewegung umzubringen, trug nicht gerade zur Verbesserung der Situation bei.

Wir stehen ganz dicht vor dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, dachte der Präsident und verspürte den übermächtigen Drang zu lachen, aber er presste seine Lippen fest zusammen. Sein Verstand war in einem komplizierten Netz aus Berichten und Meinungen gefangen, die alle nur einen entsetzlichen Schluss zuließen: Die Sowjetunion bereitete einen Erstschlag vor, der die Vereinigten Staaten von Amerika komplett vernichten würde.

»Sir?«, brach Hannan das unbehagliche Schweigen. »Admiral Narramores Bericht ist der nächste. Admiral?«

Eine weitere Aktenmappe wurde entsiegelt. Admiral Narramore, ein hagerer, drahtiger Mittsechziger, ging die streng vertraulichen Daten durch: »Um 19:12 Uhr warfen britische Aufklärungshubschrauber des Raketenzerstörers Fife Sonarbojen ab, welche die Anwesenheit von sechs nicht identifizierten U-Booten 117 Kilometer nördlich der Bermudas verzeichneten, Kurs 300 Grad. Wenn diese U-Boote sich der Nordostküste nähern, sind sie bereits in Zielreichweite von New York City, Newport News, der Luftwaffenbasen an der Ostküste, des Weißen Hauses und des Pentagons.« Er sah den Präsidenten an. Seine Augen waren rauchig grau unter buschigen weißen Brauen. Das Weiße Haus befand sich 15 Meter über ihren Köpfen. »Wenn wir sechs Stück entdeckt haben, können Sie darauf wetten, dass die Iwans mindestens das Dreifache da draußen haben. Sie können innerhalb von fünf bis neun Minuten mehrere Hundert Sprengköpfe abschießen.« Er blätterte um. »Vor einer Stunde hielten die sowjetischen Delta-II-U-Boote 420 Kilometer nordwestlich von San Francisco noch immer ihre Position.«

Der Präsident fühlte sich benommen, wie in einem Wachtraum. Denk nach!, befahl er sich. Verdammt, denk nach! »Wo sind unsere U-Boote, Admiral?«, hörte er sich fragen. Seine Stimme klang wie die eines Fremden.

Der Admiral ließ eine weitere Computerkarte auf den Wandschirm projizieren. Sie zeigte eine Reihe blinkender Punkte etwa 300 Kilometer nordöstlich von Murmansk in der UdSSR. Die nächste Karte zeigte die Ostsee und eine weitere Kette von Nuklear-U-Booten nordwestlich von Riga. Auf einer dritten Karte war die russische Ostküste zu sehen sowie eine Reihe von U-Booten, die im Beringmeer zwischen Alaska und der Sowjetunion positioniert waren. »Wir haben die Iwans in einer eisernen Umklammerung«, sagte Narramore. »Geben Sie den Befehl, und wir versenken alles, was durchzubrechen versucht.«

»Ich glaube, das Bild ist klar.« Hannans Stimme war ruhig und fest. »Wir müssen den Sowjets zuvorkommen.«

Der Präsident schwieg. Er versuchte einen zusammenhängenden logischen Gedanken zu fassen. »Und … wenn sie nun keinen Erstschlag vorhaben? Wenn sie glauben, dass wir einen planen? Wenn wir jetzt Härte demonstrieren – würden wir sie damit nicht zum Äußersten treiben?«

Hannan nahm eine Zigarette aus einem silbernen Etui und zündete sie an. Wieder wurde der Blick des Präsidenten magisch von der Flamme angezogen. »Sir«, antwortete Hannan sanft, als spräche er mit einem zurückgebliebenen Kind, »wenn die Sowjets eines respektieren, dann Härte. Das wissen Sie so gut wie jeder andere in diesem Raum, vor allem seit dem Zwischenfall im Persischen Golf. Die Russen wollen Territorium, und sie sind bereit, uns dafür zu vernichten und selbst hohe Verluste in Kauf zu nehmen. Verdammt, ihrer Wirtschaft geht es noch schlechter als unserer! Sie werden uns immer weiter unter Druck setzen, bis wir entweder zusammenbrechen oder zuschlagen – und wenn wir warten, bis wir zusammenbrechen, dann gnade uns Gott!«

»Nein.« Der Präsident schüttelte den Kopf. Sie hatten es immer wieder durchgesprochen und der Gedanke widerte ihn an. »Nein. Wir werden keinen Erstschlag ausführen.«

»Die Sowjets«, fuhr Hannan geduldig fort, »verstehen die Diplomatie der eisernen Faust. Ich sage doch nicht, dass wir die Sowjetunion zerstören sollen. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass jetzt die Zeit gekommen ist, ihnen klarzumachen – und zwar mit aller Entschiedenheit –, dass wir uns nicht einschüchtern lassen und dass wir nicht zulassen, dass ihre U-Boote vor unseren Küsten lauern und auf die Abschusscodes warten!«

Der Präsident starrte auf seine Hände. Der Knoten seiner Krawatte fühlte sich wie ein Henkersknoten an und unter seinen Achseln und im Kreuz spürte er Schweiß. »Heißt was?«, fragte er.

»Heißt, dass wir diese verdammten U-Boote sofort abfangen. Wir zerstören sie, wenn sie nicht umkehren. Wir gehen in allen Luftwaffenbasen und ICBM-Stützpunkten auf Defcon 3.« Hannan ließ seinen Blick schnell über die Anwesenden schweifen, um abzuschätzen, wer auf seiner Seite stand. Nur der Vizepräsident wandte den Blick ab, aber Hannan wusste, dass er ein Schwächling war und seine Meinung kein Gewicht hatte. »Wir fangen jedes sowjetische Nuklearschiff und -U-Boot ab, das Riga, Murmansk oder Wladiwostok verlässt. Wir übernehmen wieder die Kontrolle über die See – und wenn das begrenzten nuklearen Kontakt bedeutet, dann soll es eben sein.«

»Eine Blockade«, meinte der Präsident. »Würde sie das nicht noch mehr provozieren?«

»Sir?« General Sinclair sprach mit einem breiten ländlichen Virginia-Akzent. »Es ist doch so: Wir müssen die Iwans davon überzeugen, dass wir bereit wären, unseren Arsch zu riskieren, um sie alle zur Hölle zu schicken. Und um ehrlich zu sein, Sir, ich glaube nicht, dass hier auch nur ein Mann ist, der still sitzen und zusehen wird, wie die Iwans uns mit SLBMs bewerfen, ohne dass wir ihnen selber ein paar versetzen – wie hoch die Verlustrate auch sein mag.« Er beugte sich vor und durchbohrte den Präsidenten mit seinem durchdringenden Blick. »Ich kann SAC und NORAD innerhalb von zwei Minuten nach Ihrem Okay auf Defcon 3 bringen. Ich kann innerhalb einer Stunde eine Staffel B-1-Bomber an Iwans Hintertür schicken. Um mal ’n bisschen anzuklopfen, verstehen Sie?«

»Aber … sie werden glauben, dass wir sie angreifen!«

»Es geht darum, ihnen zu zeigen, dass wir keine Angst haben.« Hannan streifte seine Zigarette im Aschenbecher ab. »Wenn das Wahnsinn ist – meinetwegen. Aber bei Gott, die Russen respektieren Wahnsinn mehr als Angst! Wenn wir, ohne einen Finger zu krümmen, zulassen, dass sie Nuklearraketen an unsere Küsten bringen, unterzeichnen wir damit das Todesurteil der Vereinigten Staaten von Amerika!«

Der Präsident schloss die Augen. Und riss sie wieder auf. Er hatte brennende Städte gesehen und verkohlte schwarze Dinge, die einmal menschliche Wesen waren. Mühsam brachte er heraus: »Ich … ich will nicht der Mann sein, der den Dritten Weltkrieg anfängt. Verstehen Sie das?«

»Er hat schon angefangen«, meldete Sinclair sich wieder. »Zur Hölle noch mal, die ganze verdammte Welt liegt im Krieg und alle warten darauf, dass entweder die Iwans oder wir den K.-o.-Schlag austeilen. Vielleicht hängt die gesamte Zukunft der Welt jetzt davon ab, wer bereit ist, am wahnsinnigsten zu sein! Ich bin mit Hans einer Meinung; wenn wir nicht ganz schnell was unternehmen, wird ein verdammt harter Regen auf unser Blechdach fallen.«

»Sie werden sich zurückziehen«, prophezeite Narramore. »Sie haben sich immer zurückgezogen. Wenn wir Hunter-Killer-Einheiten auf ihre U-Boote ansetzen und sie aus dem Wasser pusten, wissen sie, wo wir die Linie ziehen. Also: Sitzen wir herum und warten, oder lassen wir unsere Muskeln spielen?«

»Sir?«, drängte Hannan. Er warf einen weiteren Blick auf die Uhr, die 58 Minuten nach 22 Uhr zeigte. »Ich glaube, die Entscheidung liegt jetzt bei Ihnen.«

Ich will sie aber nicht!, hätte er beinahe geschrien. Er brauchte Zeit, er musste nach Camp David fahren oder auf eine dieser langen Angeltouren, die er als Senator so genossen hatte. Aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Seine Finger waren fest ineinander verkrallt; seine Gesichtshaut fühlte sich so straff an, als könnte sie jeden Moment aufplatzen und zerbrechen wie eine Maske – und er wollte nicht wissen, was sich darunter verbarg. Als er aufblickte, waren diese mächtigen Männer immer noch da und warteten auf seine Entscheidung, und sein Verstand drohte ihn im Stich zu lassen.

Die Entscheidung. Die Entscheidung musste getroffen werden. Jetzt sofort.

»Okay.« Das Wort hatte noch nie so grauenvoll geklungen. »Also gut. Wir gehen auf …« Er hielt inne, atmete tief durch. »… wir gehen auf Defcon 3. Admiral, verständigen Sie Ihre Einheiten. General Sinclair, ich will diese B-1-Bomber keinen Zentimeter auf russischem Boden sehen. Ist das klar?«

»Meine Crews kennen die Grenze im Schlaf.«

»Geben Sie Ihre Codes ein.«

Sinclair machte sich an seiner Computertastatur zu schaffen, dann nahm er den Telefonhörer ab, um seine Stimmidentifizierung an das Strategische Luftwaffenkommando in Omaha und die Festung der North American Air Defense im Cheyenne Mountain durchzugeben. Admiral Narramore hob das Telefon ab, das ihn augenblicklich mit dem Marinekommando im Pentagon verband. Innerhalb von Minuten würde es zu verstärkten Aktivitäten in allen Luftwaffen- und Marinestützpunkten kommen. Die Defcon-3-Codes würden durch die Drähte schwirren und noch einmal würden alle Radargeräte, Sensoren, Monitore, Computer und unzählige weitere militärische Hightechgeräte überprüft werden, ebenso wie Dutzende von Marschflugkörpern und Tausende von nuklearen Sprengköpfen, die sich in Raketensilos im Mittleren Westen von Montana bis Kansas versteckten.

Der Präsident fühlte sich wie betäubt. Die Entscheidung war gefallen. Stabschef Bergholz hob die Sitzung auf und kam herüber, um ihm auf die Schulter zu klopfen und ihn zu seiner guten, beherzten Entscheidung zu beglückwünschen. Als die Militärberater und Amtsträger den Kontrollraum verließen und zum Aufzug im äußeren Korridor gingen, blieb der Präsident allein sitzen. Seine Pfeife war kalt und er machte sich nicht die Mühe, sie wieder anzuzünden.

»Sir?«

Er schreckte auf und sah sich nach der Stimme um. Hannan stand neben der Tür. »Sind Sie okay?«

»Top.« Der Präsident lächelte schwach. Eine Erinnerung an seine glorreichen Zeiten als Astronaut war gerade vor seinem geistigen Auge vorübergezogen. »Nein. Großer Gott, ich weiß es nicht. Ja, wahrscheinlich bin ich okay.«

»Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Das wissen Sie so gut wie ich. Die Sowjets müssen erkennen, dass wir keine Angst haben.«

»Aber ich habe Angst, Hans! Ich habe eine gottverdammte Angst!«

»Genau wie ich. Genau wie wir alle, aber wir dürfen uns nicht von der Angst beherrschen lassen.« Er ging zum Tisch und blätterte in einigen der Mappen. In ein paar Minuten würde ein junger CIA-Mann kommen und alle Dokumente schreddern. »Ich denke, Sie sollten Julianne und Cory noch heute Nacht in den Keller schicken – so schnell, wie sie ihre Sachen packen können. Wir überlegen uns was für die Presse.«

Der Präsident nickte. Der Keller war ein unterirdischer Atombunker in Delaware, wo die First Lady, der 17-jährige Sohn des Präsidenten, führende Kabinettsmitglieder und andere Stabsangehörige vor – so hoffte man zumindest – allem außer einem Direkttreffer eines Megatonnen-Sprengkopfes sicher sein würden. Seit die Öffentlichkeit vor einigen Jahren Wind von diesem Hochsicherheitsbunker bekommen hatte, waren ähnliche unterirdische Anlagen überall im ganzen Land angelegt worden, einige in alten Bergwerksschächten und andere in Bergen. Die Survival-Branche boomte.

»Da ist noch eine Sache, über die wir reden müssen«, sagte Hannan. Der Präsident konnte sein eigenes Gesicht sehen, müde und hohläugig, wie es sich in den Brillengläsern des anderen spiegelte. »FAUST.«

»So weit ist es noch nicht!« Sein Magen verkrampfte sich. »Noch lange nicht!«

»Doch. Es ist so weit. Ich denke, ab jetzt sind Sie in der Fliegenden Kommandozentrale besser aufgehoben. Eines der ersten Ziele wird das Weiße Haus sein. Ich werde Paula auch in den Keller schicken, und Sie haben, wie Sie wissen, die Befehlsgewalt, jede Person Ihrer Wahl dorthin zu schicken. Aber ich würde Sie lieber in die Fliegende Zentrale begleiten, wenn Sie einverstanden sind.«

»Ja. Natürlich. Ich will Sie bei mir haben.«

»Und«, fuhr Hannan fort, »es wird ein Offizier der Air Force an Bord sein, der einen Aktenkoffer an Handschellen trägt. Kennen Sie Ihre Codes?«

»Ich kenne sie.« Diese speziellen Codes waren mit das Erste gewesen, was er nach der Amtsübernahme auswendig gelernt hatte. Eine eiserne Klammer schien sich um seinen Nacken zu legen. »Aber … ich werde sie nicht benutzen müssen, oder, Hans?«, fragte er, fast schon flehentlich.

»Sehr wahrscheinlich nicht. Aber wenn es so weit kommt – falls es dazu kommt –, müssen Sie immer daran denken, dass das Amerika, das wir lieben, dann bereits nicht mehr existiert, und kein Eindringling hat jemals, oder wird jemals einen Fuß auf amerikanischen Boden setzen.« Er drückte die Schulter des Präsidenten in einer großväterlichen Geste. »Habe ich recht?«

»Der Point of no Return«, murmelte der Präsident. Seine Augen waren glasig und in die Ferne gerichtet.

»Was?«

»Wir sind kurz davor, den Punkt zu überschreiten, an dem es keine Umkehr mehr gibt. Vielleicht haben wir ihn auch schon überschritten. Gott steh uns bei, Hans; wir fliegen im Dunkeln und wissen nicht, wohin die Reise geht.«

»Das werden wir herausfinden, wenn wir dort sind. Das ist uns bisher noch immer gelungen.«

»Hans?« Die Stimme des Präsidenten klang leise wie die eines Kindes. »Wenn … wenn Sie Gott wären … würden Sie diese Welt vernichten?«

Einen Moment lang antwortete Hannan nicht. Dann sagte er: »Ich schätze … ich würde abwarten und zusehen. Wenn ich Gott wäre, meine ich.«

»Was abwarten?«

»Wer gewinnt. Die Guten oder die Bösen.«

»Gibt es da noch einen Unterschied?«

Hannan setzte zu einer Antwort an, doch dann wurde ihm klar, dass er keine hatte. »Ich rufe den Aufzug«, sagte er und verließ den Kontrollraum.

Der Präsident löste seine verkrampften Finger. Die Lichter über ihm funkelten auf den Manschettenknöpfen, die er immer trug, die mit dem Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten.

»Alles top«, sagte er zu sich selbst. »Alle Systeme auf Go.«

Etwas zerbrach in ihm und beinahe hätte er geweint. Er wollte nach Hause, aber sein Zuhause war weit, weit weg von diesem Stuhl.

»Sir?«, rief Hannan ihn.

Langsam und steif wie ein alter Mann erhob sich der Präsident und ging hinaus, um sich der Zukunft zu stellen.

2

23:19 Uhr Eastern Daylight Time

New York City

Fump!

Jemand trat von der Seite gegen ihren Pappkarton. Sie bewegte sich unwillig und nahm ihre Reisetasche fester in den Arm. Sie war müde und wollte schlafen. Ein Mädchen braucht seinen Schönheitsschlaf, dachte sie und schloss wieder die Augen.

»Ich sagte: raus da!«

Hände packten ihre Füße und zerrten sie grob aus dem Karton auf das Straßenpflaster. Sie trat wild um sich und schrie: »Du Arschloch Dreckskerl Arschloch lass mich in Ruhe du Arschloch!«

»Scheiße, sieh dir das an!«, sagte eine der Gestalten, die vor ihr standen, dunkle Silhouetten vor der roten Neonreklame des vietnamesischen Imbisses auf der anderen Seite der 36. West. »Das ist ’ne Frau!«

Der andere, der sie über ihren schmutzigen Turnschuhen an den Fußgelenken gepackt und herausgezogen hatte, knurrte mit einer dunkleren, gemeineren Stimme: »Mir egal, ich tret sie trotzdem in ’n Arsch.«

Sie richtete sich auf, die Tasche, die ihre weltlichen Besitztümer enthielt, fest an sich gedrückt. Im roten Schein der Neonlichter war gut zu erkennen, dass ihr kantiges, derbes Gesicht tiefe Furchen hatte und mit dem Dreck der Straße geschminkt war. In ihren blassen, wässrig-blauen Augen, die tief in rot umrandeten Höhlen lagen, glimmten Furcht und Wut. Auf dem Kopf trug sie eine blaue Kappe, die sie gestern in einer aufgeplatzten Mülltüte gefunden hatte. Ihre Kleidung bestand aus einer dunkelgrauen, kurzärmligen bedruckten Bluse und einer sackartigen braunen Männerhose mit Flicken an den Knien. Sie war eine kräftige, füllige Frau und über ihrem Bauch und ihren Hüften spannte sich der grobe Stoff der Hose; ihre Kleidung hatte sie, genau wie die Reisetasche, von einem freundlichen Pfarrer bei der Heilsarmee bekommen. Das grau gesträhnte braune Haar unter der Kappe hing ihr unordentlich um die Schultern, hier und da waren ungleichmäßige Lücken, wo sie es mit einer Schere bearbeitet hatte. In die Reisetasche hatte sie eine bunte Mischung von Dingen gestopft: eine Rolle Angelschnur, einen abgetragenen grellorangen Pullover, ein Paar Cowboystiefel, denen die Absätze fehlten, ein ramponiertes Kantinentablett, Pappbecher und Plastikbesteck, eine Ausgabe der Cosmopolitan vom letzten Jahr, ein Stück Metallkette, mehrere Päckchen Juicy-Fruit-Kaugummi und diverse andere Gegenstände, die tief in der Tasche vergraben waren und an die sie sich gar nicht mehr erinnerte. Als die beiden Männer sie jetzt anstarrten – einer in offenkundig bedrohlicher Absicht –, umklammerte sie die Reisetasche fester. Ihr linkes Auge und der linke Wangenknochen waren angeschwollen und blutunterlaufen und ihre Rippen schmerzten, seit sie vor drei Tagen bei der Christusmission von einer anderen Obdachlosen eine kurze Treppe hinuntergeschubst worden war; sie war aufgesprungen, die Stufen hinaufgestapft und hatte der Frau mit einem rechten Schwinger zwei Zähne ausgeschlagen.

»Das ist mein Karton!«, schimpfte der Mann mit der dunklen Stimme. Er war groß und mager und trug nur eine Jeans. Auf seiner Brust glänzte der Schweiß. Sein Gesicht war bärtig, seine Augen voller Schatten. Der zweite Mann, kleiner und schwerer, trug ein verschwitztes T-Shirt und eine grüne Armeehose, die voller Brandlöcher war. Er hatte öliges dunkles Haar und kratzte sich ständig im Schritt. Der erste Mann stieß sie mit der Stiefelspitze in die Seite. Der Schmerz, der durch ihre Rippen fuhr, ließ sie zusammenzucken. »Bist du taub, Miststück? Ich hab gesagt, das ist mein Scheißkarton!«

Der Pappkarton, in dem sie geschlafen hatte, lag auf der Seite inmitten eines Meeres aus undichten Müllsäcken – eine Folge des Müllabfuhrstreiks, der seit mehr als zwei Wochen die Straßen und Rinnsteine Manhattans verstopfte. In der erstickenden Hitze der 40-Grad-Tage und 30-Grad-Nächte waren die Säcke aufgequollen und geplatzt. Ratten feierten wahre Festgelage und überall lagen Berge von Müll herum, der in einigen Straßen sogar den Verkehr behinderte.

Benommen blickte sie zu den beiden Männern hoch. Der Inhalt einer halben Flasche Red Dagger gluckerte noch in ihrem Magen. Ihre letzte Mahlzeit hatte aus ein paar halb abgenagten Hühnerknochen und den Überresten eines weggeworfenen Fertiggerichts bestanden. »Was?«

»Mein Karton!«, brüllte ihr der Bärtige ins Gesicht. »Das ist mein Platz! Bist du plemplem oder was?«

»Die kapiert nix«, sagte der andere. »Die ist völlig durchgeknallt.«

»Und potthässlich. He, was hast du in der Tasche da? Lass mal sehen!« Er griff danach und zog, aber die Frau stieß ein lautes Heulen aus und weigerte sich, sie loszulassen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und voller Angst. »Hast du da Geld drin? Was zu trinken? Gib schon her, du Miststück!« Fast riss der Mann sie ihr aus den Armen, aber sie wimmerte und hielt sie weiter fest umklammert. Rotes Licht spiegelte sich auf etwas an ihrem Hals – einem kleinen billigen Kruzifix, das an einer Halskette aus ineinander verhakten Büroklammern hing.

»He!«, rief der Zweite. »Sieh mal einer an! Ich weiß, wer sie ist! Hab sie auf der 42. Straße betteln sehen. Die hält sich für ’ne verdammte Heilige, predigt den Leuten immer was vor. Sie nennen sie Sister Creep.«

»Yeah? Na, vielleicht können wir diesen Anhänger verpfänden.« Er streckte die Hand aus, um ihr das Kruzifix vom Hals zu reißen, aber sie drehte den Kopf zur Seite. Der Mann packte sie im Nacken, knurrte und ballte seine andere Hand zur Faust, um sie zu schlagen.

»Bitte!«, flehte sie, beinahe schluchzend. »Bitte tut mir nicht weh! Ich hab was für euch!« Sie wühlte in der Reisetasche.

»Komm da raus, und zwar schnell! Ich sollte dir die Rübe einschlagen, weil du in meinem Karton gepennt hast!« Er ließ ihren Kopf los, hielt die Faust aber weiter schlagbereit.

Sie stieß leise wimmernde Laute aus, während sie suchte. »Irgendwo hier drin«, murmelte sie. »Hab’s hier irgendwo.«

»Gib her!« Er hielt seine offene Hand hin. »Dann schlag ich dich vielleicht nicht zu Brei.«

Ihre Hand schloss sich um das Gesuchte. »Hab’s gefunden«, sagte sie. »Ja, hab ich.«

»Dann gib’s her!«

»Okay«, antwortete die Frau. Das Wimmern war verschwunden, ihre Stimme klang jetzt so hart wie in der Sonne getrocknetes Leder. Mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung zog sie ein Rasiermesser aus der Tasche, ließ es aufschnappen und fuhr mit der Klinge über die ausgestreckte Hand des Bärtigen.

Blut quoll aus dem Schnitt. Der Mann erbleichte. Er packte sein Handgelenk mit der anderen Hand, sein Mund formte sich zu einem O und dann stieß er einen Schrei aus, der klang wie von einer gewürgten Katze. Sofort sprang die Frau auf ihre stämmigen Beine, hielt die Reisetasche wie einen Schild vor sich und schlug mit dem Messer nach den beiden Männern, die stolpernd zurückwichen und auf dem schmierigen Pflaster ausrutschten. Der Bärtige, dem das Blut nur so über die Hand strömte, sprang wieder auf; in der unverletzten Hand hielt er ein Stück Holz, aus dem Nägel herausragten. Seine Augen funkelten vor Wut. »Dir werd’ ich’s zeigen!«, schrie er. »Ich mach dich fertig!«

Er hieb nach ihr, aber sie duckte sich und schlug mit dem Rasiermesser zu. Erneut taumelte er zurück und starrte entgeistert auf das Blut, das an seiner Brust hinunterrann.

Sister Creep verlor keine Zeit; sie drehte sich um und rannte los – rutschte fast in einer Pfütze aus, konnte sich aber gerade noch fangen –, während die beiden Männer hinter ihr herschrien. »Ich krieg dich!«, schwor der Bärtige. »Ich finde dich, du Miststück! Wart’s nur ab!«

Sie wartete nicht. Sie lief weiter, ihre Turnschuhe klatschten auf das Pflaster, bis sie an eine Barriere aus tausend aufgeplatzten Müllsäcken kam. Sie kletterte hinüber, nahm sich dabei aber die Zeit, ein paar interessante Gegenstände einzusammeln und in ihre Tasche zu stopfen – einen zerbrochenen Salzstreuer und eine durchweichte Ausgabe von National Geographic. Dann war sie auf der anderen Seite und ging weiter, mit rasselndem Atem und zitterndem Leib. Das war knapp, dachte sie. Die Dämonen hätten mich fast erwischt! Aber Jesus sei gepriesen, und wenn er kommt, in seiner Fliegenden Untertasse vom Planeten Jupiter, werde ich mit ihm gehen zu den goldenen Gestaden und seine Hand küssen!

Sie stand an der Ecke 38. und 7., versuchte wieder zu Atem zu kommen und beobachtete den Verkehr, der wie eine panische Viehherde an ihr vorbeipreschte. Der gelbe Dunst der Mülldämpfe und Autoabgase wogte wie die Oberfläche eines schleimigen Tümpels, und die feuchte Hitze war unglaublich drückend. Der Schweiß lief Sister Creep übers Gesicht. Ihre Kleider waren feucht; sie wünschte, sie hätte etwas Deodorant, aber den letzten Rest Secret hatte sie schon aufgebraucht. Sie sah sich die Gesichter der Fußgänger an, die im Schein des grellen Neonlichts die Farbe von klaffenden Wunden hatten. Sie wusste nicht, wohin sie ging, und sie konnte sich kaum daran erinnern, wo sie gewesen war. Aber sie wusste, dass sie nicht die ganze Nacht an dieser Ecke bleiben konnte. Wenn sie zu lange auf offener Fläche herumstand, das hatte sie schon vor langer Zeit erkannt, dann trafen die dämonischen Röntgenstrahlen ihren Kopf und versuchten, ihr Gehirn in Unordnung zu bringen. Sie brach nach Norden auf, den Kopf gesenkt und die Schultern hochgezogen, in Richtung Central Park.

Ihre Nerven waren noch ganz kribbelig von dem Erlebnis mit den beiden Heiden, die sie auszurauben versucht hatten. Die Sünde ist überall!, dachte sie. Im Boden, in der Luft, im Wasser – nichts als wuchernde, schwarze, böse Sünde! Und sie war in den Gesichtern der Menschen, oh ja! Man konnte sehen, wie die Sünde über die Gesichter der Menschen kroch, wie sie ihre Augen verschleierte und ihnen die Münder verzerrte. Die Welt und die Dämonen waren es, die Unschuldige in den Wahnsinn trieben, das wusste sie. Nie zuvor waren die Dämonen so eifrig gewesen und so gierig nach unschuldigen Seelen.

Sie dachte an den magischen Ort, drüben in der Fifth Avenue, und ihre besorgte, düstere Miene wurde sanfter. Sie ging oft dorthin, um sich die wunderschönen Dinge in den Fenstern anzusehen. Die kunstvollen Objekte, die dort ausgestellt wurden, besaßen die Macht, ihre Seele zu trösten, und auch wenn der Wachmann an der Tür sie nicht hineinlassen wollte, war sie damit zufrieden, einfach nur draußen zu stehen und sich alles anzuschauen. Sie erinnerte sich an einen Glasengel in dem Fenster – eine mächtige Figur: Das lange Haar des Engels flatterte wie heiliges, loderndes Feuer und sein starker, schlanker Körper war gerade dabei, seine Flügel zu entfalten. Und im lieblichen Gesicht dieses Engels glitzerten die Augen in einem vielfarbigen, wunderbaren Licht. Sister Creep war einen Monat lang jeden Tag dorthin gegangen, um den Engel zu betrachten, bis er durch einen Glaswal ersetzt wurde, der aus einem stürmischen blau-grünen Glasozean sprang. Natürlich gab es noch andere Orte mit Schätzen an der Fifth Avenue und Sister kannte auch ihre Namen – Saks, Fortunoff’s, Cartier, Gucci, Tiffany –, aber am meisten zogen sie die Figuren im Schaufenster von Steuben Glass an, dem magischen Ort der seelentröstenden Träume, wo ihr der seidige Glanz des polierten Glases unter den sanften Lichtern eine Ahnung davon verschaffte, wie wunderschön es im Himmel sein würde.

Jemand stieß sie an und holte sie in die Realität zurück. Sie blinzelte im Licht der grellen Neonreklame. In der Nähe versprach eine Reklametafel Girls! Girls! Girls! und ein Pornokino lockte mit Steife Brise. Die Leuchtschriften blinkten in allen Nischen und Hauseingängen: Sexbücher! Erotikbedarf! HiFi-Zubehör! Asiatische Waffen! Ein Donnergrollen basslastiger Musik kam aus dem Eingang einer Bar, und weitere stampfende, misstönende Rhythmen dröhnten aus Lautsprechern über einer Ladenzeile mit Buchläden, Bars, Striplokalen und Pornokinos. Um halb zwölf nachts war die 42. Straße, nicht weit vom Times Square, ein Panoptikum der Menschheit. Ein junger Latino neben Sister Creep warf die Hände in die Luft und schrie: »Koks! Poppers! Crack!« Ein rivalisierender Drogendealer öffnete seinen Mantel, um die Plastiktüten zu zeigen, die er bei sich hatte; er rief: »Ich mach euch high, eins, zwei, drei! Gut und billig, billig, billig!«

Andere Dealer riefen zu den Autos hinüber, die langsam die 42. entlangfuhren. Junge Frauen in Tops, Jeans, Hot Pants oder hautengen Lederhosen trieben sich an den Türen der Erotikläden und Kinos herum oder winkten den Autofahrern; einige hielten, und Sister Creep sah den Frauen nach, wie sie mit Fremden in der Nacht verschwanden. Der Lärm war ohrenbetäubend, und auf der anderen Straßenseite rauften sich zwei junge Schwarze vor einer Peepshow, während die Umstehenden lachten und sie zu mehr Gewalt anfeuerten. Das Aroma von Marihuana schwebte durch die Luft, der Weihrauch der Realitätsflucht. »Springmesser!«, rief ein Straßenhändler. »Hier gibt es Springmesser!«

Sister Creep ging weiter, ließ wachsam den Blick hin und her schweifen. Sie kannte diese Straße, diese Lasterhöhle der Dämonen. Schon oft war sie hier gewesen, um zu predigen. Aber sie hatte nie etwas erreicht und ihre Stimme wurde jedes Mal vom Dröhnen der Musik und den Rufen der Leute, die etwas zu verkaufen hatten, übertönt. Sie stolperte über den Körper eines Schwarzen, der ausgestreckt auf dem Bürgersteig lag; seine Augen waren offen und Blut lief ihm aus der Nase. Sie ging weiter, stieß mit anderen zusammen, wurde geschubst und beschimpft, und das grelle Neongeblinke machte sie fast blind. Ihr Mund öffnete sich wie von selbst und sie rief: »Rettet eure Seelen! Das Ende ist nah! Gott sei euren Seelen gnädig!«

Aber niemand beachtete sie. Sister Creep schob sich durch den Strudel der Leiber und plötzlich stand ein alter, krummer Mann mit Erbrochenem auf seinem Hemd direkt vor ihr. Er spie ihr einen Fluch ins Gesicht und griff nach ihrer Reisetasche, riss ein paar Sachen heraus und rannte schon wieder weg, bevor sie die Chance hatte, einen Schlag zu landen. »Du wirst zur Hölle fahren, du Arschloch!«, kreischte sie – und dann fuhr eine Welle von Eiseskälte in ihre Knochen und ließ sie zusammenschrecken. Das Bild eines Güterzuges, der mit voller Geschwindigkeit auf sie zuraste, zuckte ihr durch den Kopf.

Sie sah nicht, wer sie rammte, sie spürte nur unmittelbar vorher, dass es passieren würde. Eine harte, knochige Schulter stieß sie so mühelos zur Seite, als wäre ihr Körper plötzlich zu Stroh geworden, und im Augenblick des Körperkontakts wurde ein unauslöschliches Bild in ihren Geist gebrannt: ein Berg aus zerbrochenen, verkohlten Puppen – nein, nicht Puppen, erkannte sie, als sie vom Bürgersteig gestoßen wurde; Puppen hatten keine Eingeweide, die aus ihren Leibern brachen, keine Gehirne, die ihnen aus den Ohren quollen, keine Zähne, die sich zum starren Grinsen des Todes verzerrten. Sie stürzte auf den Asphalt und ein Taxi musste ausweichen, um sie nicht zu überfahren. Der Fahrer schimpfte und hupte wie verrückt. Ihr war nichts passiert, nur die Luft blieb ihr weg und ihre verletzte Seite schmerzte. Mühsam rappelte sie sich hoch, um sich umzusehen, wer sie so geschubst hatte, aber niemand achtete auf sie. Und doch klapperten Sister Creeps Zähne von der Kälte, die sie nicht loslassen wollte, dort in der heißesten Nacht des Mittsommers, und sie tastete an ihrem Arm nach dem blauen Fleck, der sich ganz sicher dort bilden würde, wo der Bastard sie angerempelt hatte. »Du gottverdammter Heide!«, schrie sie ziellos in die Menge, aber das Bild eines Berges aus verkohlten Leichen stand ihr immer noch lebhaft vor Augen, und kalte Angst griff nach ihrem Magen. Wer mochte das gewesen sein, der da über den Bürgersteig gestürmt war, fragte sie sich. Was für ein Ungeheuer, verkleidet wie ein Mensch? Sie sah die Programmtafel eines Kinos vor sich, auf dem eine Doppelvorstellung von Das Antlitz des Todes, Teil 4 und Mondo Bizarro angekündigt wurde. Als sie näher trat, sah sie, dass das Plakat für Das Antlitz des Todes, Teil 4 mit »Szenen vom Obduktionstisch! Verkehrsopfer! Tod durch Verbrennen! Ungekürzt und Ungeschnitten!« warb.

Kälte hing in der Luft vor der geschlossenen Tür des Kinos. Treten Sie ein!, lockte ein Schild an der Tür, Wir sind klimatisiert! Aber es war nicht nur die Klimaanlage, spürte sie. Das war eine feuchte, düstere Kälte – die Kälte von Schatten, in denen bunte Giftpilze wuchsen, die mit ihren roten Farbtönen ein Kind lockten: Komm … komm und iss mich!

Die Kälte ließ jetzt nach, verflog allmählich in der schwülen Hitze. Sister Creep stand vor dieser Tür, und obwohl sie wusste, dass Jesus ihr Leben war und dass Jesus sie beschützen würde, war ihr auch klar, dass sie auf gar keinen Fall einen Fuß in diese Tür setzen würde, auch nicht für eine volle Flasche Red Dagger – nicht einmal für zwei volle Flaschen!

Sie wich von der Tür zurück und stieß mit jemandem zusammen, der sie fluchend zur Seite schob, dann ging sie weiter – wohin, wusste sie nicht, es war ihr auch egal. Ihre Wangen brannten vor Scham. Sie hatte sich gefürchtet, schalt sie sich, obwohl doch Jesus, der Heiland, auf ihrer Seite war. Sie hatte sich davor gefürchtet, dem Bösen ins Auge zu schauen, und sie hatte wieder einmal gesündigt.

Zwei Blöcke hinter dem unheimlichen Kino sah sie, wie ein junger Schwarzer eine Bierflasche in einen Berg überquellender Mülltonnen warf, die im Eingang eines heruntergekommenen Gebäudes standen. Sie tat so, als würde sie etwas in ihrer Tasche suchen, bis er weitergegangen war, dann trat sie in den Hauseingang und suchte nach der Flasche. Ihre Kehle lechzte nach einem Schluck, einem Tropfen, irgendetwas Flüssigem.

Ratten fiepten und huschten über ihre Hände, aber das störte sie nicht; Ratten sah sie jeden Tag, oft weitaus größere als diese hier. Eine von ihnen hockte auf dem Rand einer Mülltonne und quiekte sie mit wilder Empörung an. Sister warf einen alten Tennisschuh nach ihr und das Biest floh.

Der Müll roch nach Verwesung, es war der Geruch von Fleisch, das schon länger verdorben war. Sie fand die Bierflasche und freute sich, als sie im trüben Licht sah, dass noch ein paar Tropfen drin waren. Schnell hielt sie sie an die Lippen, ihre Zunge versuchte, in die Flasche hineinzukriechen, um das Aroma des Bieres einzufangen. Die zwitschernden Ratten ignorierend, setzte sie sich mit dem Rücken an die raue Ziegelwand. Als sie sich mit der Hand auf dem Boden abstützte, berührte sie etwas Weiches und Feuchtes. Sie schaute zur Seite – aber als sie erkannte, was es war, hielt sie sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.

Es war in mehrere Lagen Zeitungspapier eingewickelt, aber das hatten die Ratten bereits aufgerissen. Und dann hatten sie sich über das Fleisch hergemacht. Sister Creep konnte nicht erkennen, wie alt es war oder ob es ein Junge oder ein Mädchen war, aber die Augen in dem winzigen Gesicht standen halb offen, als wäre das Kind kurz vorm Einschlafen. Es war nackt. Jemand hatte es in diesen Haufen aus Mülltonnen und -säcken und gärendem Abfall weggeworfen wie ein kaputtes Spielzeug.

»Oh«, flüsterte sie und dachte an einen regenüberströmten Highway und rotierendes blaues Licht. Sie hörte die Stimme eines Mannes: »Geben Sie sie mir, Lady. Sie müssen sie jetzt mir geben.«

Sister Creep hob das tote Kind auf und wiegte es in ihren Armen. Aus der Ferne hörte man das Wummern geistloser Musik und die Rufe der Dealer auf der 42. Straße, und Sister Creep sang mit erstickter Stimme: »Schlafe, mein Kindlein, schlaf ein …« An den Rest konnte sie sich nicht erinnern.

Das blaue Licht rotierte und die Stimme des Mannes überbrückte Zeit und Raum: »Geben Sie sie mir, Lady. Der Krankenwagen ist da.«

»Nein«, flüsterte Sister Creep. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starr und eine Träne lief ihr über die Wange. »Nein, ich werde sie … nicht loslassen …«

Sie presste das Kind gegen ihre Schulter und der winzige Kopf rollte zur Seite. Die Leiche war kalt. Um Sister Creep herum zwitscherten und quiekten die Ratten voller Enttäuschung.

»Oh Gott«, hörte sie sich sagen. Und dann hob sie den Kopf zu dem winzigen Streifen Himmel über sich und spürte, wie sich ihr Gesicht verzerrte, und dann brach die Wut aus ihr heraus und sie schrie: »Wo bist du?« Ihre Stimme hallte die Straße entlang und wurde vom geschäftigen Treiben einige Blocks weiter verschluckt. Mein Jesus ist spät dran, dachte sie. Er ist spät dran und dabei ist das doch so eine wichtige Verabredung! Sie kicherte hysterisch und weinte gleichzeitig, bis die Geräusche, die aus ihrer Kehle kamen, wie die Laute eines verletzten Tieres klangen.

Es dauerte lange, bis sie begriff, dass sie weiter musste und das Kind nicht mitnehmen konnte. Sie wickelte es sorgfältig in den knallorangen Pullover aus ihrer Reisetasche, dann legte sie es vorsichtig in eine der Tonnen und häufte so viel Müll wie möglich darauf. Eine große graue Ratte kam dicht an sie heran und fletschte die Zähne, aber sie schlug mit der leeren Bierflasche nach dem Tier.

Sie fand nicht die Kraft, aufzustehen, also kroch sie aus dem Hauseingang, mit gesenktem Kopf, während heiße Tränen der Scham, des Ekels und der Wut über ihr Gesicht liefen. Ich kann nicht mehr, sagte sie sich. Ich kann nicht mehr in dieser finsteren Welt leben! Mein geliebter Jesus, komm herunter in deiner Fliegenden Untertasse und nimm mich mit! Sie legte ihre Stirn auf das Pflaster; sie wollte tot und im Himmel sein, wo alle Sünden ausgetilgt wurden.

Etwas klimperte auf den Bürgersteig, es klang fast wie Musik. Sie blickte auf. Ihre Augen waren geschwollen und verschleiert von den Tränen, aber sie sah, wie jemand von ihr fortging. Die Gestalt bog um die Ecke und war verschwunden.

Nicht weit von ihr lagen ein paar Münzen auf dem Pflaster – drei Vierteldollar, zwei Zehner und ein Fünfer. Da hatte wohl jemand geglaubt, sie würde betteln. Schnell sammelte sie die Münzen ein, bevor ein anderer ihr zuvorkam.

Sie setzte sich auf und versuchte zu überlegen, was sie jetzt tun sollte. Sie fühlte sich krank, schwach und müde und fürchtete sich davor, ungeschützt auf der Straße zu liegen. Muss einen Platz finden, wo ich mich verstecken kann, entschied sie. Einen Platz, wo ich mir ein Loch graben und mich verstecken kann.

Ihr Blick landete auf der Treppe auf der anderen Seite der 42. Straße, die hinunter zur U-Bahn führte.

Sie hatte schon früher in der U-Bahn geschlafen. Sie wusste, dass die Cops sie aus der Station jagen oder, noch schlimmer, wieder zurück zum Asyl bringen würden. Aber sie wusste auch, dass es ein riesiges Labyrinth an Versorgungstunneln und unfertigen Gängen gab, die von den Hauptrouten abgingen und bis tief unter Manhattan führten. So tief, dass keiner der Dämonen in Menschengestalt sie finden würde. Sie konnte sich in der Dunkelheit zusammenrollen und vergessen. Ihre Hand hielt das Geld umklammert; es war genug, um sie durch das Drehkreuz zu bringen, und dann konnte sie die sündige Welt hinter sich lassen, in die ihr geliebter Jesus nicht kommen wollte.

Sister Creep stand auf, überquerte die 42. Straße und stieg in die Unterwelt hinab.

3

22:22 Uhr Central Daylight Time

Concordia, Kansas

»Bring ihn um, Johnny!«

»Mach ihn platt!«

»Reiß ihm den Arm ab und schlag ihm damit die Fresse ein!«

Die stickige, verrauchte Sporthalle der Concordia High School hallte von den Schreien der mehr als 400 Zuschauer wider. In der Mitte der Halle kämpften in einem Wrestling-Ring zwei Männer, ein Schwarzer und ein Weißer, gegeneinander. Im Moment hatte der weiße Wrestler – ein junger Lokalmatador namens Johnny Lee Richwine – das Monster, das sich Black Frankenstein nannte, gegen die Seile gedrängt und bearbeitete es mit Schlägen, während das Publikum nach Blut schrie. Aber Black Frankenstein, der gute 1,90 Meter groß war, über 130 Kilo wog und eine elfenbeinfarbene Maske mit ›Narben‹ aus Leder und ›Schrauben‹ aus Gummi trug, streckte seine tonnenförmige Brust vor; er stieß ein donnerndes Brüllen aus und packte Johnny Lee Richwines Faust mitten im Schlag, dann drehte er die gefangene Hand und zwang den jungen Mann damit in die Knie. Black Frankenstein knurrte und versetzte seinem Gegner mit einem Stiefel Größe 47 einen Tritt gegen den Kopf, der ihn auf dem Ringboden aufschlagen ließ.

Der Ringrichter hüpfte unbeachtet um die beiden herum, und als er dem Monster warnend einen Finger vors Gesicht hielt, schob Black Frankenstein ihn so mühelos zur Seite, als würde er einen Grashüpfer von seinem Arm schnippen. Das Monster stellte sich vor den Niedergestreckten und trommelte sich auf die Brust. Es drehte den Kopf hin und her wie ein Wahnsinniger, während die Menge vor Wut schrie. Zerdrückte Colabecher und Popcorntüten regneten in den Ring. »Ihr dämlichen Missgeburten!«, brüllte Black Frankenstein mit einem Bassdröhnen, das die Schreie der Menge übertönte. »Passt mal auf, was ich mit eurem Kleinen hier mache!«

Höhnisch grinsend stampfte das Monster mit dem Fuß in Johnny Lee Richwines Rippen. Der junge Mann krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht, während der Ringrichter vergebens versuchte, Black Frankenstein von ihm fortzuziehen. Mit einem mühelosen Armwischer schleuderte das Monster den Unparteiischen in eine Ecke, wo er in die Knie ging. Die tobende Menge war jetzt aufgesprungen, Pappbecher und Eiswürfel flogen in den Ring, und die örtlichen Polizisten, die zum Dienst bei der Wrestling-Veranstaltung eingeteilt waren, traten nervös von einem Bein aufs andere. »Wollt ihr mal einen Kansas-Bauernlümmel bluten sehen?«, brüllte Black Frankenstein, als er den Stiefel hob, um seinem Gegner den Schädel einzutreten.

Aber im allerletzten Moment erwachte Johnny wieder zum Leben. Er packte den Fuß des Riesen und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, dann kickte er das andere Bein unter ihm weg. Mit seinen massigen Armen rudernd, krachte Black Frankenstein mit einer Wucht auf die Matte, dass der ganze Boden erzitterte. Der Lärm der Menge ließ die Halle beben.

Black Frankenstein kauerte auf seinen Knien, die Hände erhoben und um Gnade flehend, als der junge Mann auf ihn zustürmte. Doch dann wandte Johnny sich ab, um dem verletzten Ringrichter zu helfen, und unter dem Aufschrei der Menge sprang Black Frankenstein auf und ging von hinten auf Johnny los, seine gewaltigen Hände verschränkt, um einen tödlichen Hammerschlag zu landen.

Die entsetzten Schreie der Fans ließen Johnny Lee Richwine im letzten Augenblick herumwirbeln, und er versetzte dem Monster einen heftigen Tritt in seine fettgepolsterte Bauchregion. Die Luft, die aus Black Frankensteins Lungen wich, klang wie das Pfeifen eines Dampfschiffes. Der Schwarze stolperte mit trunkenen, unsicheren Schritten um den Ring herum und versuchte seinem Schicksal zu entgehen.

Aber Johnny Lee Richwine erwischte ihn, bückte sich und hievte sich Black Frankenstein für einen Airplane Spin auf die Schultern. Die Fans verstummten für einen Moment, als dieses riesige Gewicht von der Matte gehoben wurde, aber als Johnny sich mit dem Monster auf den Schultern im Kreis drehte, brüllten sie wieder los. Black Frankenstein jaulte wie ein kleines Kind, dem der Hintern versohlt wurde.

Es gab einen Knall wie von einem Pistolenschuss. Johnny Lee Richwine schrie auf und knickte ein. Bein gebrochen, konnte der Mann, der sich Black Frankenstein nannte, noch denken, bevor er von der Schulter des jungen Mannes fiel. Das Geräusch brechender Knochen kannte er nur zu gut. Er war dagegen gewesen, dass der Junge einen Airplane Spin versuchte, aber Johnny hatte die Einwohner seiner Heimatstadt unbedingt beeindrucken wollen. Black Frankenstein krachte neben ihm auf die Matte, und als er sich aufsetzte, sah er, dass der junge Wrestler auf dem Boden lag, sein Knie umklammert hielt und stöhnte, diesmal vor echten Schmerzen.

Der Ringrichter war wieder auf den Beinen, wusste aber nicht, was er tun sollte. Eigentlich hätte Black Frankenstein am Boden liegen und Johnny Lee Richwine den Hauptkampf des Abends gewinnen sollen; so sah es das Drehbuch vor und bei der Generalprobe hatte auch alles wunderbar geklappt.

Black Frankenstein stand auf. Er wusste, dass der Junge große Schmerzen litt, aber er musste in seiner Rolle bleiben. Er hob die Arme über den Kopf und stolzierte in einem Regen aus Bechern und Popcorntüten um den Ring herum, und als er am bestürzten Ringrichter vorbeikam, sagte er mit ruhiger Stimme, die so ganz anders klang als sein schurkisches Gebrüll: »Disqualifizieren Sie mich und bringen Sie den Jungen zum Arzt!«

»Hä?«

»Beeilen Sie sich!«

Schließlich machte der Ringrichter – ein Einheimischer, der einen Haushaltswarenladen im benachbarten Belleville führte – eine winkende Bewegung mit beiden Armen, die Black Frankensteins Disqualifikation signalisierte. Der riesige Wrestler machte eine große Show daraus, etwa eine Minute lang voller Wut auf und ab zu springen, dann trat er schnell aus dem Ring und ließ sich von einer Phalanx aus Polizisten in seine Garderobe begleiten. Auf dem langen Weg nach hinten bekam er Popcorn ins Gesicht, Eiswürfel und Papierkügelchen und obszöne Gesten von Kindern, aber auch von etlichen Erwachsenen. Besonderen Respekt hatte er vor großmütterlichen alten Damen, denn vor einem Jahr hatte ihn in Waycross, Georgia, eine mit einer Hutnadel angegriffen und zu allem Überfluss auch noch versucht, ihn zwischen die Beine zu treten.

In seiner ›Garderobe‹, die aus einer Bank und einem Spind im Umkleideraum des Footballteams bestand, versuchte er, so viele Verspannungen wie möglich aus seinen Muskeln zu strecken. Einige der Schmerzen und Wehwehchen waren dauerhaft und sein Nacken fühlte sich so hart an wie versteinertes Holz. Er schnallte die Ledermaske ab und betrachtete sich in dem gesprungenen Spiegel, der in seinem Spind hing.

Als gut aussehend konnte man ihn kaum bezeichnen. Sein Haar war kurz geschoren, damit die Maske besser saß, sein Gesicht war von den Narben vieler Ringunfälle gezeichnet. Er wusste noch genau, woher jede dieser Narben stammte – ein falsch berechneter Turnbuckle Blow in Birmingham, ein etwas zu überzeugend geschwungener Stuhl in Winston-Salem, ein Zusammenstoß mit der Ringecke in Sioux Falls, eine Begegnung mit einem Betonboden in San Antonio. Fehler beim Timing konnten im professionellen Wrestling zu echten Verletzungen führen. Johnny Lee Richwine war nicht gut genug ausbalanciert gewesen, um sein Gewicht zu tragen, und sein Bein hatte dafür bezahlt. Er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, aber er konnte nichts für den Jungen tun. Die Show musste weitergehen.

Er war jetzt 35 Jahre alt. Die letzten zehn Jahre seines Lebens hatte er auf der Wrestling-Tour verbracht, immer die Highways und Landstraßen entlang von einer Stadthalle, High-School-Sporthalle oder Kirmes zur nächsten. In Kentucky kannte man ihn als Lightningbolt Jones, in Illinois als Brickhouse Perkins und in einem Dutzend weiterer Staaten unter anderen furchteinflößenden Pseudonymen. Sein richtiger Name lautete Joshua Hutchins, und heute Abend war er weit weg von seiner Heimatstadt Mobile, Alabama.

Seine breite, flache Nase war dreimal gebrochen und sah auch so aus; beim letzten Mal hatte er sich gar nicht mehr die Mühe gemacht, sie richten zu lassen. Seine Augen, die tief in ihren Höhlen unter den buschigen schwarzen Brauen lagen, hatten das blasse Grau von Holzrauch. Eine weitere kleine Narbe schlang sich um seine Kinnspitze wie ein umgekehrtes Fragezeichen und die harten Kanten und Linien seines Gesichtes ließen ihn wie einen kriegsmüden afrikanischen König aussehen. Er war beinahe schon unnatürlich groß und massig, was immer wieder die Blicke der Passanten auf sich zog, wenn er durch die Straßen ging. Riesige Muskelpakete wölbten sich an seinen Armen, Schultern und Beinen, doch sein Bauch wurde allmählich schlaff – das Ergebnis von zu vielen Donuts mit Zuckerglasur in zu vielen einsamen Motelzimmern –, aber selbst mit einem Rettungsring um die Mitte bewegte sich Josh Hutchins noch mit Anmut und Kraft und wirkte wie eine straff gespannte Feder, die jeden Moment losgehen konnte. Wenigstens das war von der explosiven Kraft übrig geblieben, über die er als Linebacker der New Orleans Saints verfügt hatte, viele Jahre und eine halbe Welt entfernt.

Josh duschte und wusch sich den Schweiß ab. Morgen Abend musste er in Garden City, Kansas, auftreten – eine lange, staubige Fahrt quer durch den Bundesstaat. Und eine heiße Fahrt, denn die Klimaanlage seines Wagens hatte vor ein paar Tagen den Geist aufgegeben und eine Reparatur konnte er sich nicht leisten. Sein nächster Scheck war erst Ende der Woche fällig, in Kansas City, wo er an einem Sieben-Mann-Freistil-Match teilnehmen würde. Er trat aus der Dusche, trocknete sich ab und zog sich an. Als er seine Sachen zusammenpackte, kam der Promoter zu ihm und unterrichtete ihn davon, dass man Johnny Lee Richwine ins Krankenhaus gebracht hatte und er wieder in Ordnung kommen würde, aber dass Josh ein bisschen aufpassen sollte, wenn er die Sporthalle verließ, weil die Einheimischen manchmal ein bisschen ruppig sein konnten. Josh dankte ihm mit seiner leisen Stimme, zog den Reißverschluss der Reisetasche zu und verabschiedete sich.

Sein ramponierter grauer, sechs Jahre alter Pontiac stand auf dem Parkplatz eines rund um die Uhr geöffneten Food-Giant-Supermarktes. Er wusste aus Erfahrung und von zu vielen aufgeschlitzten Reifen, dass es besser war, nicht näher am Veranstaltungsort zu parken. Wo er schon einmal da war, ging er noch schnell in den Supermarkt und kam einige Minuten später mit einer Schachtel Donuts, einer Packung Oreo-Keksen und einer Flasche Milch zurück. Er fuhr auf dem Highway 81 Richtung Süden zum Rest Well Motel.

Sein Zimmer lag zum Highway und das Rumpeln der vorbeifahrenden Lkws klang, als würden dort wilde Tiere durch die Dunkelheit streifen. Er schaltete den Fernseher ein, dann zog er sein T-Shirt aus und schmierte sich etwas Salbe auf die schmerzenden Schultern. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal ein Fitnessstudio besucht hatte, aber er nahm sich immer wieder vor, bald wieder mit dem Joggen zu beginnen. Sein Bauch war so weich wie Marshmallows; er wusste, dass er dort ernsthaft Verletzungen davontragen konnte, wenn seine Gegner ihre Tritte und Schläge nicht gut genug kontrollierten. Aber er beschloss, sich morgen darüber Gedanken zu machen – es gab immer ein Morgen –, also zog er seinen knallroten Schlafanzug an und machte es sich auf dem Bett bequem, um sein Abendessen einzunehmen und ein bisschen fernzusehen.